Читать книгу Die Schlangengrube - Victoria Holt - Страница 4
Die Gouvernante
ОглавлениеDer ganze Haushalt stand kopf. Zillah Grey setzte alle in Erstaunen, und das unglaubliche war, daß mein Vater sie persönlich eingestellt hatte.
Sie war eine Frau, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehten. Ihre Kleidung, ihre Gestik, alles an ihr schien zu sagen: »Seht mich an!«
Sie war keinesfalls, was Mrs. Kirkwell als »damenhaft« bezeichnen würde, aber sie war liebenswürdig zu jedermann, und schon nach kurzer Bekanntschaft nannte sie mich »Liebes«. Ich hatte gedacht, daß ich Lilias’ Nachfolgerin hassen würde, aber Zillah Grey konnte ich nicht hassen. Ich konnte sie nur bestaunen. Sie hatte eine Menge Kleider mitgebracht – samt und sonders entschieden ungewöhnlich, wie ich zunächst fand.
Als ich ihr bei der Ankunft ihr Zimmer zeigte, sah sie sich um und meinte, hier werde sie glücklich sein. Dann setzte sie ihren Hut ab und entfernte die Hutnadeln, schüttelte ihre Haare, so daß sie in verführerischen Wellen wie eine rote Flut über ihre Schultern fielen. »So«, sagte sie, »du siehst, ich fühle mich hier schon zu Hause.«
Ich staunte über die Tiegel und Fläschchen, die sie alsbald auf der Frisierkommode aufstellte. Ich hatte erwartet, daß sie etliche Bücher im Gepäck hätte, aber es kam kein einziges zum Vorschein. Sie hängte ihre Kleider auf und bat um mehr Kleiderbügel.
Bess war höchst erstaunt. Ich konnte mir denken, was sie in der Küche erzählte.
Als mein Vater heimkam, erkundigte er sich, ob Miss Grey eingetroffen sei, und als man es ihm bestätigte, sagte er, er wolle sie unverzüglich in seinem Studierzimmer sehen.
Ich sah sie die Treppe hinuntergehen. Sie hatte die Haare hochgesteckt, was sie sehr groß erscheinen ließ, und die Lippen rot angemalt.
Ich war überzeugt, mein Vater würde sie für absolut ungeeignet befinden. Das hätte ich bedauert, denn obschon Lilias’ Fortgang mich zutiefst betrübte, war eine Gouvernante wie Miss Grey bestimmt interessanter als eine von der üblichen Art.
Ich fragte mich, was die Dienstboten denken mochten. Lilias war nicht mehr da, um mir zu erzählen, was sie tratschten. Gewiß würden die Kirkwells schärfste Mißbilligung bekunden. Die Unterredung Miss Greys mit meinem Vater dauerte zu meiner Verwunderung über eine Stunde. Am Ende schickte er nach mir. Er sah recht vergnügt aus, und ich fragte mich, was das bedeuten mochte.
»So«, sagte er, »deine neue Gouvernante ist da. Ihr habt euch schon bekannt gemacht, wie ich höre.«
»Ja. Ich habe ihr ihr Zimmer gezeigt, und wir haben uns ein bißchen unterhalten.«
»Schön. Ich bin überzeugt, sie wird ein großer Gewinn für dich sein.«
Ich traute meine Ohren nicht. Was bewog ihn zu dieser Ansicht?
»Sie wird mit uns speisen«, fuhr er fort. »Das erscheint mir höchst angemessen.«
»Sie ... hm ... sie sagt dir zu?«
Er machte ein betretenes Gesicht. »Ich denke, sie wird dir eine Menge Dinge beibringen, die du wissen solltest.« Es war nicht zu fassen. Kam sie mir nur deswegen so ungewöhnlich vor, weil ich sie mit der doch recht konventionellen Lilias verglich? Mein Vater fand sie offensichtlich überhaupt nicht ungewöhnlich.
An diesem Abend erschien sie zum Essen in einem eng anliegenden schwarzen Kleid. Sie hatte eine »Wespentaille«, wie Lilias gesagt haben würde. Die roten Haare hatte sie um den Kopf gewunden, eigentlich eine strenge, schlichte Frisur, doch an ihr wirkte sie sehr mondän.
Mein Vater war äußerst liebenswürdig. Er verhielt sich, als hätten wir einen Gast zu Tisch und nicht eine Gouvernante.
Er sagte: »Sie hatten natürlich noch keine Gelegenheit, Davinas Kenntnisse zu prüfen. Sobald Sie sich ein Bild gemacht haben, können Sie entscheiden, wo es noch hapert.«
»Davina und ich werden großartig miteinander auskommen«, erwiderte sie lächelnd.
»Ihre letzte Gouvernante hat uns ziemlich überstürzt verlassen. Sie war wohl auch kein großes Licht.«
Ich konnte nicht umhin, mich einzumischen. »Miss Milne war eine sehr gute Gouvernante, Papa. Sie hat das Lernen interessant gemacht.«
»Und so sollte es selbstverständlich auch sein«, sagte Miss Grey. »Ich gedenke es genauso zu halten.«
»Meine Tochter wird bald in die Gesellschaft eingeführt werden. Nun, es ist schon noch ein Weilchen ... Wir können bis nach ihrem siebzehnten Geburtstag warten, ehe wir uns darüber Gedanken machen.«
»Gewiß.«
Die Unterhaltung bewegte sich in konventionellen Bahnen. Ich erfuhr, daß Miss Grey erst vor kurzem nach Edinburgh gekommen war. Sie stammte aus London.
»Und was halten Sie von unserer schottischen Art?« fragte mein Vater beinahe neckisch.
»Ich finde sie göttlich«, erwiderte sie.
Ich sah ihn an, gespannt, ob er diese Antwort gotteslästerlich finden würde. Es war ein seltsamer Ausdruck. Doch sie schlug die Augen nieder, so daß sich die fächerartigen schwarzen Wimpern sittsam auf ihre Wangen legten; die vollen roten Lippen lächelten, und die kleine Nase und die lange Oberlippe ließen das Gesicht kätzchenhafter denn je wirken. Die Miene meines Vaters war nachsichtig. Seine Lippen zuckten ein wenig, wie sie es zu tun pflegten, wenn meine Mutter etwas sagte, das ihn amüsierte und zugleich leicht empörte.
»Ich hoffe«, sagte er, »daß Sie bei dieser Meinung bleiben werden.«
Beim Kaffee im Salon ließ ich die beiden allein. Es war ein außergewöhnlicher Abend gewesen. Alles war jetzt so anders ... sogar mein Vater.
Obwohl ich in den folgenden Wochen viel mit Zillah Grey zusammen war, hatte ich nicht das Gefühl, ihr näherzukommen. Sie schien zwei verschiedene Personen zu sein – nein, sogar noch mehr. Sie konnte anscheinend mühelos in verschiedene Charaktere schlüpfen. Bei meinem Vater spielte sie die Dame, die sich plötzlich gezwungen sieht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das war das Schicksal der meisten Gouvernanten; doch mit ihr war es anders. Jene waren gewöhnlich still und zurückgezogen und sich ihrer beschränkten Verhältnisse voll bewußt, unsicher, wohin sie gehörten, in der Schwebe zwischen den oberen und unteren Etagen. Zillah Grey aber machte trotz ihrer Angewohnheit, die Augen niederzuschlagen, auf mich keinen demütigen Eindruck. Ich mutmaßte, diese Geste diente vor allem dazu, das Augenmerk auf ihre langen, dichten Wimpern zu lenken. Sie war gewiß nicht ohne List; sie wußte genau, wie sie sich meinem Vater gegenüber verhalten mußte, und er war sehr von ihr angetan. Das war nicht zu übersehen.
Ihr Umgang mit mir war lockerer. Manchmal ließ sie jegliche Verstellung fallen. Dann lachte sie schallend, und ihre Redeweise veränderte sich ein wenig – ihre Sprache wurde urwüchsiger. .
Bald zeigte sich, daß sie mir keinen Schulunterricht erteilen würde. »Dein Vater sagt, es ist meine Aufgabe, dich auf die Einführung in die Gesellschaft vorzubereiten«, verkündete sie. Ich war baß erstaunt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie in der Edinburgher Gesellschaft großen Erfolg haben oder auch nur anerkannt werden würde. Was wollte sie mir denn beibringen? Ich fragte sie, was ich wissen müsse.
»Zum einen mußt du etwas von Kleidern verstehen«, sagte sie. »Du mußt das Beste aus dir machen. Du könntest recht gut aussehen.«
»Könnte? Man sieht entweder gut aus oder nicht, nein?«
Sie zwinkerte mir zu. Das tat sie oft, wenn sie gut aufgelegt war. »Das gehört zu den Dingen, die ich dir beibringen werde. Oh, wir werden viel Spaß miteinander haben.«
Sie meinte, ich müsse tanzen lernen. »Natürlich die Gesellschaftstänze, die im Ballsaal getanzt werden. Gibt es hier jemanden, der Klavier spielen kann?«
»Ich glaube nicht. Aber ich hatte Klavierstunden. Miss Milne, meine letzte Gouvernante, spielte sehr gut.«
»Nun, du kannst nicht gleichzeitig spielen und tanzen, oder? Mal sehen, was ich tun kann. Ich bringe selbst ein paar Melodien zustande. Wir brauchen aber einen Partner für dich.«
»Vielleicht eins von den Hausmädchen?«
»Das wird sich zeigen. Ich werde dich gehen lehren.«
»Gehen?«
»Anmutig. Um das Beste aus dir zu machen.«
»Und was ist mit dem Schulunterricht? Mit Büchern und so weiter?«
Sie zog ihre Kätzchennase kraus und lachte. »Das wird sich zeigen.«
Sie machte sich ihre eigenen Regeln. Oft ging sie aus und blieb stundenlang fort. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie ging.
»Das sind mir komische Methoden, wenn Sie mich fragen«, sagte Mrs. Kirkwell. »Ich hab’ den Herrn darauf angesprochen, aber der hat mir was gehustet. Ich weiß nicht, was das noch werden soll.«
Miss Grey war erst eine Woche bei uns, als sie eines Nachmittags um die Kutsche bat. Hamish fuhr vor dem Haus vor, ganz so, als gehöre die Gouvernante zur Familie.
Die Kirkwells beobachteten es vom Fenster, als ich zu ihnen stieß. »Was hat das zu bedeuten?« wollte Mrs. Kirkwell von ihrem Mann wissen. Sie hatten meine Anwesenheit nicht bemerkt.
»Da ist was faul, wenn du mich fragst«, erwiderte er.
Dann sahen sie mich. »Diese Miss Grey ist mit der Kutsche weggefahren«, sagte Mrs. Kirkwell.
»Ja, ich weiß.«
»Die denkt wohl, das Haus gehört ihr. Bin gespannt, was der Herr dazu zu sagen hat.«
Aber der sagte gar nichts dazu.
Während der Fahrt in der Kutsche mußte Miss Grey wohl zu dem Schluß gekommen sein, daß Hamish ein geeigneter Tanzpartner für mich sei.
Ich war entsetzt, als sie nach ihm schickte. Ich hatte ihn immer abstoßend gefunden, und daß er mich beim Tanzen berühren sollte, war mir äußerst unangenehm. Das Bild von ihm und Kitty im Bett wollte mir nicht aus dem Kopf.
Miss Grey machte die Tanzschritte vor, zuerst mit mir, dann mit Hamish. Das tat sie überaus anmutig. Sie schwebte beinahe, die Arme ausgestreckt, und murmelte dabei: »Sieh her! Eins-zwei, eins-zwei, drei ... die Dame dreht sich.. .der Herr führt sie ... so. Jetzt probiere ich es mit Ihnen, Hamish, während Davina zusieht. Dann mache ich’s mit Davina, und Hamish schaut zu ... und dann könnt ihr zwei es zusammen probieren. O je, ich wollte, wir hätten jemanden, der Klavier spielen kann.«
Sie wandte sich mir zu und hielt mich locker im Arm. Sie duftete nach Moschus und Rosenöl. Ich sah ihre weißen Zähne und sinnlichen Lippen dicht vor mir. Es war wundervoll, mit ihr zu tanzen.
Mit Hamish war es weniger schön. Er grinste mich an. Ich glaube, er wußte, was ich empfand, und machte sich darüber lustig. Ohne Hamish hätten mir die Tanzstunden viel mehr Spaß gemacht.
Als Mrs. Kirkwell erfuhr, wer mein Tanzpartner war, empörte sie sich dermaßen, daß sie sich in das Studierzimmer meines Vaters wagte, um ihm über diese Vorgänge zu berichten. Sie kam ebenso entrüstet wieder heraus, nahm ausnahmsweise keine Rücksicht auf meine Jugend und erzählte Bess in meiner Gegenwart, was sich zugetragen hatte. »Ich hab’ ihm gesagt: ›Er hat mit Miss Davina getanzt, der Kerl, der genausoviel Schuld hatte wie Kitty, als das damals passiert ist.‹ Und was, glaubst du, hat er mir geantwortet? Er sagte ganz kühl und gelassen: ›Ich wünsche nichts mehr davon zu hören, Mrs. Kirkwell.‹ Ich hab’ kein Blatt vor den Mund genommen und ihm tüchtig Kontra gegeben, weil ich wußte, es war richtig und anständig. Ich hab’ zu ihm gesagt: ›Aber Sir, zu sehen, wie der Kerl Miss Davina im Arm hält, wie er’s beim Tanzen nun mal tun muß, also das ist mehr, als der Mensch verdauen kann...‹ Er ließ mich nicht ausreden. Er sagte: ›Ich setze mein vollstes Vertrauen in Miss Grey, daß sie tut, was das Beste für meine Tochter ist. Sie benötigt einen Tanzpartner für die Übungsstunden, und er ist der einzige junge Mann, der zur Verfügung steht. Damit ist der Fall erledigte Er war kalt wie ein Fisch. Nun, mehr kann ich nicht tun. Aber ich hab’ ihm meine Meinung gesagt, und damit hab’ ich meine Pflicht getan.«
Und Hamish blieb mein Tanzstundenpartner.
Doch beim Vorführen der zahlreichen Schrittfolgen tanzte Miss Grey öfter mit Hamish als ich.
Nach einigen Wochen erhielt ich den ersten Brief von Lilias.
Meine liebe Davina,
ich bin sehr unglücklich. Mir ist, als hätte ich Schande über meine Familie gebracht, obwohl ich unschuldig bin. Zuweilen kann ich nicht glauben, daß dies alles geschehen ist, und ich bin von Haß erfüllt gegen die Person, die mir diesen bösen Streich gespielt hat. Nein, Streich ist ein viel zu harmloses Wort ... Jemand muß mich fast so sehr gehaßt haben, wie ich diese Person jetzt hasse, obwohl ich nicht weiß, gegen wen mein Haß sich richtet.
Mein Vater ist wunderbar. Er veranlaßt mich, mit ihm zu beten. Er sagt, ich muß diesem Feind vergeben, aber das kann ich nicht, Davina. Diese gemeine Person hat mein Leben zerstört.
Ich weiß, Du glaubst mir, und das ist mir ein großer Trost. Aber ich bin nun zu Hause und werde nie wieder eine Stellung annehmen können. Diese entsetzliche Schande wird auf immer an mir haften. Im Moment gehe ich Alice und Jane zur Hand. Alice tritt demnächst einen Posten als Gouvernante an ... somit trete ich im Pfarrhaus in ihre Fußstapfen. Obwohl meine Familie mir glaubt, fühle ich mich elend. Ich weiß, ich sollte dankbar sein für ihr Vertrauen, und bin es auch, trotzdem leide ich unter dieser gemeinen Beschuldigung.
Unlängst habe ich Kitty gesehen. Sie hat sich schon in Haus Lakemere eingewöhnt. Das ist eines der beiden großen Häuser hier – das andere ist das Gutshaus. Kitty scheint ganz gut zurechtzukommen. Wir sind zwei in Ungnade Gefallene, doch ich glaube, sie wird, obwohl sie sich schuldig gemacht hat, leichter über die schändliche Demütigung hinwegkommen als ich, die ich unschuldig bin. Meine liebe Davina, ich werde immer an Dich denken. Schreib mir, wie es Dir ergeht. Vielleicht können wir uns eines Tages wiedersehen.
Laß es Dir gutgehen, in Liebe
Deine Lilias
Ich ließ Lilias nicht warten, sondern schrieb sofort zurück.
Liebe Lilias,
danke für Deinen Brief, über den ich mich sehr gefreut habe.
Ich denke sehr viel an Dich. Ich will versuchen herauszufinden wer Dir das Furchtbare angetan hat. Du weißt, wen ich in Verdacht habe, aber ich kann mir keinen Grund denken. Ich verabscheue den Kerl. Meine neue Gouvernante hat ihn als meinen Tanzpartner ins Haus geholt. Ich lerne nämlich tanzen. Es sei kein anderer da, sagt Miss Grey. Er vergällt mir die Freude an den Tanzstunden.
Miss Grey ist die neue Gouvernante. Sie kam ziemlich bald, nachdem Du fort warst. Sie ist schwer zu beschreiben, weil sie mehr als eine einzige Person ist. Sie ist so schön, daß die Leute sich nach ihr umdrehen. Sie hat rote Haare und grüne Augen. Mein Vater scheint von ihr angetan. Das erstaunt mich, denn wir haben keinen üblichen Schulunterricht. Sie sagt mir, was ich anziehen muß, wie ich gehen soll, und ich lerne – wie gesagt – tanzen. Das alles soll mich auf die Einführung in die Gesellschaft vorbereiten. Ich denke, ich werde alt.
Ach Lilias, wie ich Dich vermisse! Ich wünschte, Du könntest zurückkommen.
In immerwährender Liebe
Deine Davina
Miss Grey meinte, ich solle kein Schwarz mehr tragen. »Es paßt nicht zu deinem Teint, Davina«, sagte sie. »Dunkle Haare und blaue Augen. Eine reizvolle Kombination, aber nicht zu Schwarz. Ich kann es tragen, obwohl es nicht meine Lieblingsfarbe ist. Zu düster. Ich bin hellhäutig. Es gibt kaum eine hellere Haut als die der Rothaarigen. Deswegen kann ich mir Schwarz erlauben, aber zu dir paßt es nicht.«
»Mrs. Kirkwell meint, ich soll es ein Jahr lang tragen.«
Miss Grey hob in gespieltem Entsetzen die Hände. »Aber ich sage, kein Schwarz ... und dabei bleibt’s.«
Ich hatte nichts dagegen. Ich haßte die schwarzen Kleider. Ich brauchte sie nicht, um mich an meine Mutter zu erinnern.
Die Kirkwells waren natürlich entrüstet, doch mein Vater erhob keine Einwände.
Miss Grey bekundete großes Interesse an meiner Familie. Sie wollte alles über meine Mutter und meine gesamte Verwandtschaft wissen.
Die Familie sei nicht groß, es gebe keine Verwandten außer Tante Roberta, erklärte ich ihr. Ich redete ganz freimütig, denn sie verstand es, mich aus der Reserve zu locken. Ich schilderte ihr, wie Tante Roberta uns nach dem Tod meiner Mutter überfallen und wie sie Hamish und Kitty zusammen im Schlafzimmer erwischt hatte. Ich dachte, daraufhin würde Miss Grey einsehen, daß Hamish kein geeigneter Tanzpartner für mich sei.
Sie wurde nachdenklich. »So ein kleiner Teufel«, sagte sie schließlich.
»Ja. Es war schockierend. Tante Roberta und ich waren zu dem Zeitpunkt zufällig beisammen. Sie öffnete die Tür ... und da waren sie.«
»Auf frischer Tat ertappt! Und du warst Zeugin. O Davina, welch ein Anblick für dich!« Sie lachte und lachte, den sinnlichen Mund geöffnet, die grünen Augen voll Tränen – so groß war ihre Heiterkeit: »Und die kleine Kitty bekam den Laufpaß, wie? ›Laß dich hier nie wieder blicken!‹«
»Es war gar nicht lustig für Kitty.«
»Nein, sicher nicht.«
»Lilias’ – Miss Milnes– Vater ist Pfarrer. Er hat Kitty aufgenommen.«
»Ein gottesfürchtiger Mann, wie?«
»Er war gut zu Kitty. Er hat ihr in seiner Nachbarschaft eine Stellung besorgt.«
»Hoffen wir, daß dort keine gutaussehenden jungen Männer wie Hamish in der Nähe sind.«
»Finden Sie, daß er gut aussieht?«
»Er hat was Gewisses, ganz ohne Zweifel. Kitty war bestimmt nicht die einzige, die nicht nein sagen konnte.«
Ich wollte nicht über Hamish sprechen. Ich könnte womöglich zuviel sagen und verraten, daß ich ihn verdächtigte, die Halskette entwendet und in Lilias’ Schublade gelegt zu haben. Ich durfte niemandem von meinem Verdacht erzählen, da ich keinen Beweis hatte.
Irgendwann entdeckte ich, daß Miss Grey in ihrem Zimmer eine Flasche Schnaps aufbewahrte. Sie stand in einem Schränkchen, das sie verschlossen hielt. Eines Tages weihte sie mich in das Geheimnis ein. An diesem Tag war sie zum Mittagessen ausgewesen. Ich wußte nicht, mit wem. Sie unternahm gelegentlich solch mysteriöse Ausflüge, und diesmal war sie mit gerötetem Gesicht und überaus redselig zurückgekehrt. Ihre Sprechweise kam mir verändert vor, und sie war liebenswürdiger denn je.
Ich ging unter einem Vorwand in ihr Zimmer und fand sie voll angekleidet auf dem Bett, auf mehrere Kissen gestützt.
»Ah, Davina«, sagte sie. »Setz dich zu mir und unterhalte dich mit mir.«
Ich nahm Platz. Sie erzählte mir, sie habe mit einer wunderbaren Freundin sehr gut zu Mittag gespeist – zu gut sogar.
»Ich bin schläfrig«, sagte sie. »Ich könnte ein Stärkungsmittel gebrauchen. Hier, nimm den Schlüssel aus dieser Schublade und schließe das Schränkchen auf. Bring mir daraus die Flasche und ein Glas. Schenke ein ganz klein wenig ein, ja? Das ist genau, was ich brauche.«
Ich konnte riechen, daß das »Stärkungsmittel« Schnaps war. Ich schenkte ein und reichte ihr das Glas. Sie trank hastig.
»Schon besser«, sagte sie. »Laß das Glas da, Liebes. Ich spüle es nachher ab. Nimm wieder Platz. So ist’s gut. Wir wollen uns unterhalten. Ich habe vorzüglich gespeist, und der Wein war köstlich. Ich mag Menschen, die einen guten Tropfen zu schätzen wissen. Das gehört auch zu den Dingen, die ich dir beibringen muß, Davina.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß ich solche Dinge lernen muß. Von Wein verstehe ich absolut nichts.«
»Wenn du mit einem netten Ehemann ein großes Haus bewohnst und er Gäste mitbringt, mußt du wissen, wie man sie bewirtet.«
»Deswegen muß ich das lernen?«
»Das ist ein so guter Grund wie jeder andere.«
»Was wollen Sie damit sagen, das ist ein so guter Grund wie jeder andere?«
Sie zögerte. Ich sah, wie schläfrig sie war. Sie hatte offensichtlich Mühe, sich wach zu halten. »Ich rede bloß so daher. Ich unterhalte mich gerne mit dir, Davina. Wir sind Freundinnen geworden ... das freut mich. So hatte ich es mir gewünscht. Du bist ein nettes Mädchen. Ein nettes unschuldiges Mädchen. Genauso sollten junge Mädchen sein, nicht wahr?«
»Das nehme ich an.«
Sie fuhr fort: »Das muß eine schöne, beschauliche Zeit für dich gewesen sein, Davina. Dein ganzes Leben hast du in diesem Haus verbracht, mit der gütigen Frau Mama und dem gestrengen Herrn Papa, der ein wohlhabender Bankier, eine Stütze der Gesellschaft in einer großen Stadt ist.« Sie lachte. »Du solltest London sehen.«
»Das möchte ich gern.«
»Wir haben stattliche Häuser. Sogar stattlichere als eures hier. Aber es gibt auch weniger großartige.«
»Das ist hier genauso. Ich nehme an, so ist es überall.«
»In Großstädten sind die Gegensätze größer.«
»Edinburgh ist eine Großstadt.«
»Ich dachte an London.«
»Dort sind Sie zu Hause, nicht wahr?« fragte ich. »Warum sind Sie hierhergekommen?«
»Ich kam für ein Weilchen und beschloß zu bleiben ... vorerst zumindest.« Sie hörte sich an, als sei sie kurz vorm Einschlafen.
»Haben Sie schon mal als Gouvernante gearbeitet?« fragte ich. Sie lachte. »Als Gouvernante, ich? Sehe ich wie eine Gouvernante aus?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich stand auf den Brettern«, sagte sie. »Den Brettern?«
Sie lachte wieder. »Varietetheater« sagte sie mit nuschelnder Stimme. »Gesangs- und Tanznummern. Es lief eine Zeitlang gut, wie das bei solchen Nummern so ist. Eine recht lange Zeit sogar.«
»Sie waren auf der Bühne?«
Sie nickte verträumt. »Das waren noch Zeiten ...«
»Warum sind Sie dann hierhergekommen?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich liebe die Abwechslung. Außerdem ... ach, egal. Ich war in Glasgow bei den ›Lustigen Rotschöpfen‹. Wir waren zu dritt, alle rothaarig. Das hat uns überhaupt auf die Idee gebracht, zusammenzuarbeiten. Wir kamen mit wehenden Haaren auf die Bühne. Wir hatten immer volles Haus ... am Anfang. Doch das Publikum ermüdet. Das ist das Problem. Die Leute sind launisch. Wir sind durch die Provinz getingelt, dann kamen wir nach Glasgow. Da lief es ganz gut. Aber es ist eine elende Plackerei. Irgendwann kommt die Zeit, da möchte man sich zur Ruhe setzen ...«
»Und haben Sie das vor, Miss Grey?«
»Ja«, murmelte sie.
»Ich lasse Sie jetzt allein, dann können Sie schlafen.«
»Nein, geh nicht. Ich hör’ dir so gerne zu. Du bist ein nettes Mädchen, Davina. Ich hab’ dich gern.«
»Danke. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie auf der Bühne standen.«
»Wirklich nicht, Liebes? Weil du ein lieber kleiner Unschuldsengel bist.«
Ihre Stimme wurde immer leiser. Ich war sicher, daß sie schon fast schlief.
Ich sagte: »Als ich Sie das erste Mal sah, fand ich, daß Sie überhaupt nicht wie eine Gouvernante aussehen.«
»Danke. Das ist ein Kompliment. Und wie mache ich mich?« »Was meinen Sie«?
»Als Gouvernante.«
»Sie sind eine sehr eigenartige Gouvernante.«
»Hm«, murmelte sie.
»Ganz anders als Miss Milne.«
»Die die Halskette gestohlen hat?«
»Sie hat sie nicht gestohlen. Jemand hat sie in ihre Schublade gelegt.«
Sie öffnete die Augen, und die Schläfrigkeit war vorübergehend verflogen. »Du meinst, jemand hat ihr den Diebstahl untergeschoben?«
»Ja. Jemand hat sie in Schwierigkeiten bringen wollen.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Niemand. Ich weiß es einfach.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil Miss Milne unmöglich etwas stehlen konnte.«
»Ist das der einzige Grund für dein Wissen?«
Ich nickte. »Ich wünschte, ich könnte die Wahrheit finden.«
»Die Menschen sind unergründlich, Liebes. Sie machen die seltsamsten Sachen. Man weiß nie, was in ihnen vorgeht. Sie zockeln immer im gleichen Trott, und eines Tages brechen sie plötzlich aus und tun etwas, das man nie von ihnen gedacht hätte.« Sie glitt wieder in ihre Verträumtheit zurück.
»Sie interessieren sich wohl nicht für gewöhnliche Dinge«, sagte ich.
»Zum Beispiel?«
»Mathematik, Geographie, Englisch, Geschichte. Miss Milne war ganz versessen auf Geschichte. Meine Mutter auch. Sie wußte über die Vergangenheit genau Bescheid und erzählte mir davon. Das war sehr aufregend. Ich bin einmal im Holyrood Palace gewesen.«
»Was ist das?«
Ich war fassungslos. »Aber das müssen Sie doch wissen. Es ist der alte Palast. Maria, die schottische Königin, hat dort residiert. Rizzio ist dort ermordet worden. Und dann ist da das Schloß, wo König Jakob geboren wurde ... Jakob VI. von Schottland, er war gleichzeitig Jakob I. von England. Seine Mutter war Maria, die Königin von Schottland.«
Zillah war fast eingeschlafen. Dann fing sie plötzlich zu singen an:
Schändliches hat man ihr angetan,
Maria, Königin der Schotten.
Man schleppte sie nach Fotheringay,
und ließ sie dort verrotten.
Ich hörte verblüfft zu. Sie ist betrunken, dachte ich.
Wie konnte mein strenger, konventioneller Vater eine solche Frau in seinem Hause dulden, ja, wie hatte er sie überhaupt hierherbringen können? Freilich, er hatte sie nie auf dem Bett liegen und das Lied »Maria, Königin der Schotten« singen hören. Sie wechselte ihre Persönlichkeit, wenn er zugegen war. Das schwarze Kleid trug sie oft. Ich hatte das Gefühl, sie konnte sich jedem Anlaß anpassen.
Sie kam irgendwann auf jenen Nachmittag zurück. »Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, Liebes. Schau, ich hatte mit einer guten Freundin zu Mittag gegessen. Sie war in Schwierigkeiten gewesen ... es handelte sich um eine Liebesgeschichte, und plötzlich war alles gut geworden. Ich habe mich so für sie gefreut. Das wollte sie feiern. Sie erzählte mir, was geschehen war, wie es beinahe schiefgegangen wäre und sich dann eingerenkt hat. Und zur Feier des Tages gab es Champagner. Ich mußte mit ihr trinken. Und Alkohol bin ich nicht gewöhnt.«
Der Schnaps in dem verschlossenen Schränkchen fiel mir ein, und sie mußte meine Gedanken erraten haben, denn sie fuhr geschwind fort: »Ich halte bloß ein bißchen vorrätig für den Fall, daß mir unwohl ist. Ich sehe zwar robust aus, aber mir wird rasch flau im Magen, wenn mir etwas nicht bekommt, und ein Schlückchen bringt das stets wieder in Ordnung. Ich mußte mit ihr trinken. Es wäre unhöflich gewesen abzulehnen. Verstehst du das?«
»O ja«, versicherte ich ihr bereitwillig.
»Ich muß eine Menge albernes Zeug geplappert haben, nicht?«
»Sie haben ein Lied gesungen von Maria, Königin der Schotten.«
»Oh, das alte Spottlied. War das alles? Hab’ ich sonst noch was getan?«
»Bloß, daß Sie bei den ›Lustigen Rotschöpfen‹ waren.« Sie blickte etwas nachdenklich drein. »Man sagt eine Menge dummes Zeug, wenn man sich törichterweise überreden ließ, zuviel zu trinken. Es tut mir leid, Davina, Liebes. Vergiß es, ja?« Ich nickte, und sie umarmte mich in einer Wolke von Parfüm. »Ich habe dich sehr gern, Davina«, sagte sie.
Mich beschlich ein leichtes Unbehagen, und ich verspürte eine verzweifelte Sehnsucht nach den alten Zeiten mit Lilias. Kurze Zeit später waren wir auf der Princes Street beim Einkaufen, und sie sagte zu mir: »Schön ist es hier, nicht wahr? Sieht das alte Schloß nicht grandios aus? Du mußt mir einmal die ganze Geschichte darüber erzählen. Ich möchte sie gerne hören.« Sie war gewiß die ungewöhnlichste Gouvernante, die ein Mädchen je gehabt hat.
An diesem Nachmittag kaufte sie ein Kleid, grün mit eng anliegendem Mieder, wie sie es gerne trug. Der mit rubinrotem Samt gepaspelte Rock bauschte sich weit unter der eingeschnürten Taille.
Sie probierte es an und spazierte vor der Verkäuferin und mir auf und ab.
»Madame sind ... hinreißend«, rief das Mädchen entzückt. Und auch ich muß gestehen: Sie sah ungemein attraktiv aus. Bevor wir an diesem Abend zum Essen hinuntergingen, kam sie in dem neuen Kleid in mein Zimmer. »Wie sehe ich aus?« fragte sie.
»Sehr schön.«
»Findest du, es eignet sich fürs Abendessen? Was meinst du, was dein Vater sagen wird?«
»Ich nehme an, er wird gar nichts sagen. Ich glaube nicht, daß er bemerkt, was die Leute anhaben.«
Sie gab mir unversehens einen Kuß. »Davina, du bist ein Schatz.«
Wenige Abende später trug sie das Kleid abermals, und während des Essens fiel mir ein wunderschöner Rubinring an ihrem Finger auf. Ich mußte ihn unentwegt anschauen, denn ich war sicher, ihn schon mal gesehen zu haben. Er sah genauso aus wie einer, den meine Mutter getragen hatte.
Am nächsten Tag sprach ich sie darauf an. »Das war ein hübscher Ring, den Sie gestern abend trugen.«
»Oh, mein Rubin.«
»Meine Mutter hatte genauso einen. Eines Tages wird er mir gehören. Mein Vater meint bloß, ich bin noch nicht alt genug, um ihn jetzt schon zu tragen. Ich vermute, es ist nicht genau derselbe Ring. Aber er sieht ganz ähnlich aus.«
»Sie stammen vermutlich aus derselben Zeit.«
»Darf ich ihn mal sehen?«
»Aber natürlich.«
Sie nahm ein Kästchen aus ihrer Schublade.
»Das Kästchen sieht auch so aus wie das meiner Mutter«, sagte ich.
»Diese Kästchen sind doch alle gleich, oder?«
Ich streifte den Ring über meinen Finger. Er war mir zu groß. Ich erinnerte mich an einen Anlaß, als meine Mutter ihren Rubinring trug. Ich bewunderte ihn, und sie nahm ihn vom Finger und streifte ihn über meinen. »Eines Tages wird er dir gehören«, sagte sie dabei. »Bis dahin sind deine Finger vielleicht ein bißchen dicker.«
Miss Grey nahm mir den Ring ab und legte ihn ins Kästchen zurück.
Ich sagte: »Der Rubin paßte gut zu den Paspeln an Ihrem neuen Kleid.«
»Ja. Deshalb habe ich ihn ja angezogen.« Sie schloß die Schublade und lächelte mich an. »So, und jetzt wollen wir unseren Tanz üben«, sagte sie.
Als sie das Kleid das nächste Mal trug, hatte sie den Rubinring nicht an.
Zuweilen hatte ich das Gefühl, in eine völlig andere Welt katapultiert worden zu sein. Seit dem Tod meiner Mutter hatte sich alles so verändert. Die Dienstboten waren wie ausgewechselt, sie waren abweisend und mißgestimmt. Solange meine Mutter lebte, schien das Leben immer so weiterzugehen, wie es seit Generationen verlaufen war.
Nicht zuletzt Lilias’ Fortgang hatte vieles verändert. Sie war genauso gewesen, wie man es von einer Gouvernante erwartete. Daß wir in enger Freundschaft verbunden waren, bedeutete nicht, daß wir kein strikt konventionelles Leben führten. Wenn ich an die alten Zeiten dachte, den sonntäglichen Kirchgang, das anschließende Mittagsmahl, die Andachten, die liebenswerte, dennoch Abstand wahrende Beziehung zwischen den oberen und unteren Etagen des Hauses – das alles war so natürlich und wohlgeordnet, wie es seit Generationen gewesen sein mußte. Jetzt war es, als sei ein Wirbelwind durchs Haus gefahren und habe die alte Ordnung zerstört.
Nach wie vor wurde jeden Morgen die Andacht abgehalten, und der ganze Haushalt nahm daran teil. Miss Grey, dezent und demütig, betete mit uns. Doch es war anders als früher. Mein Vater ging sonntags mit mir zur Kirche, und Miss Grey – wie einst Lilias – begleitete uns. Aber vor der Kirche wurde nicht geplaudert, außer daß Vater und ich hier und da guten Morgen wünschten.
Unmut schwelte in der Küche. Die Kirkwells äußerten ihn freimütig. Sie verstanden sowenig wie ich, warum Miss Grey im Hause geduldet wurde oder weshalb sie überhaupt eingestellt worden war. Sie besaß einen schädlichen Einfluß, nicht so sehr durch ihr Verhalten – sie gab sich wirklich Mühe, sich mit uns allen gut zu stellen –, sondern weil sie so anders war. Die Leute sind mißtrauisch gegen alles, was nicht der Norm entspricht.
Neun Monate waren seit dem Tod meiner Mutter vergangen. Wie oft wünschte ich, Lilias wäre bei mir, damit ich jemanden hätte, mit dem ich offen reden konnte. Das allgemeine Unbehagen, das das Haus durchdrang, nahm mich gefangen. Und dann stolperte ich plötzlich über einen Hinweis, der mir vieles erklärte. Es war, als hätte ich einen Schlüssel gefunden, der mir die Türe zur Wahrheit öffnete.
Es war Nacht. Ich lag wieder einmal schlaflos im Bett und wälzte mich hin und her, als ich plötzlich ein leises Geräusch vernahm. Ich setzte mich auf und lauschte. Ich war sicher, leise Schritte im Flur vor meinem Zimmer gehört zu haben. Ich stieg aus dem Bett und öffnete ganz vorsichtig die Türe, gerade noch rechtzeitig, um eine Gestalt auf der Treppe zu sehen. Ich schlich auf Zehenspitzen zum Treppengeländer und erkannte deutlich, daß es Miss Grey war. Sie war in einem Nachtgewand, das sich sehr von meinem bis zum Hals zugeknöpften Nachthemd unterschied. Das ihre war durchsichtig, blaßgrün mit Spitze und Bändern. Ihre Haare hingen ihr lose um die Schultern.
Was machte sie? Wandelte sie im Schlaf? Ich mußte vorsichtig sein, um sie nicht zu wecken. Ich hatte irgendwann gehört, daß das für Schlafwandler gefährlich sein kann. Ganz leise folgte ich ihr.
Sie war die Treppe hinuntergestiegen und ging durch den Flur. An der Türe zum früheren Elternschlafzimmer blieb sie stehen. Dort schlief mein Vater.
Sie öffnete die Türe und ging hinein. Ich stand still und starrte ihr nach. Was hatte sie vor? Was würde jetzt geschehen? Sie würde meinen Vater sicher aufwecken. Ich wartete beklommen. Nichts geschah. Ich stand da und starrte die Türe an. Er mußte unterdessen aufgewacht sein. Ich wartete. Meine nackten Füße waren kalt. Nichts geschah.
Ich stieg die Treppe hinauf, stellte mich oben hin und sah hinunter. Minuten vergingen ... und sie war immer noch drinnen. Und auf einmal wußte ich, weshalb sie hierhergekommen war, warum sie anders als andere Gouvernanten war. Ein Blitz der Erkenntnis offenbarte mir die Wahrheit: Sie war keine Gouvernante, sie war die Geliebte meines Vaters.
Ich legte mich wieder hin und überlegte, was das bedeutete. Er war doch so fromm! Wie konnte er über Kittys Benehmen so erbost gewesen sein, wenn er selber ganz ähnlich handelte? Wie kann ein Mensch so scheinheilig sein? Mir war übel vor Abscheu.
Deswegen hatte er sie hierhergeholt. Sie besuchte ihn nachts in seinem Zimmer. Er hatte ihr den Rubinring meiner Mutter geschenkt, der mir gehören sollte. Und das war nun mein Vater, der würdevolle Staatsbürger, der bei den Bewohnern dieser Stadt so angesehen war. Schon setzte er Miss Grey an die Stelle meiner Mutter.
Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Am liebsten wäre ich bei ihnen hereingeplatzt– so wie Tante Roberta bei Kitty und Hamish. Ich hätte ihnen gerne gesagt, was ich von ihnen dachte. Nicht so sehr um dessentwillen, was sie taten – von diesen Dingen verstand ich ja nichts –, sondern weil es verabscheuungswürdig ist, andere Menschen wegen einer Tat zu verurteilen, die man selbst begeht.
Was konnte ich tun? Das Haus verlassen? Wie töricht! Wohin sollte ich denn gehen? Zu Lilias? Ebenso töricht. Das Pfarrhaus von Lakemere war kein Obdach für alle, die Kummer haben. Außerdem war mein Kummer von anderer Art. Ich hatte ein Heim, genug zu essen, Behaglichkeit. Doch ich hatte das Gefühl, meinem Vater nie wieder ins Gesicht sehen zu können. Und Miss Grey? Um sie machte ich mir nicht so viele Gedanken. Sie war keine Dame. Zugegeben, sie war ausnehmend schön und anziehend. Aber mein Vater ... wie konnte er nur?
Was sollte ich zu ihnen sagen? Gar nichts, sagte mir die Vernunft. Zumindest vorläufig nicht, solange ich mir nicht darüber klargeworden war, wie ich mich verhalten sollte.
Mein Vater hatte gewünscht, daß Miss Grey ins Haus kam. Welch ein Zufall, daß man Lilias kurz zuvor für ein Vergehen entlassen hatte, an dem sie meiner Überzeugung nach unschuldig war.
Meine Gedanken verwirrten sich. Ich fühlte mich verloren, ich war durcheinander, vollkommen erschüttert über diese plötzliche Erkenntnis.
Ich wünschte, ich könnte fortgehen, fort aus diesem Haus. Ich schrieb Lilias, aber in einem Brief konnte ich unmöglich mitteilen, was in meinem Kopf vorging. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn ich mit ihr hätte reden können.
Mein Vater merkte nichts von der Veränderung in meinem Verhalten. Miss Grey dagegen fiel sie sofort auf. »Bedrückt dich etwas, Davina?« fragte sie.
»Nein«, log ich.
»Du scheinst verändert. Als ginge dir etwas im Kopf herum.« Ich sah sie an, und unwillkürlich stellte ich mir vor, wie sie und mein Vater im Bett lagen, so wie ich Kitty und Hamish gesehen hatte. Mir wurde übel.
»Fühlst du dich nicht wohl?«
»Doch, doch«, sagte ich. Aber ich dachte: Mir wird übel, wenn ich an dich und Vater denke.
Ihn haßte ich mehr als sie. Sie ist nun mal so, dachte ich. Sie war nicht sehr erschüttert über Kitty und Hamish und gab auch nicht vor, es zu sein. Sie würde mit Hamish sagen: Das ist nun mal die menschliche Natur. Ja, die menschliche Natur für Leute wie sie und Hamish ... und anscheinend meinen Vater. Er hob nur dann entsetzt die Hände, wenn Mädchen wie Kitty ihr erlagen. Er ging zur Kirche und betete und dankte Gott, daß er nicht war wie die anderen.
Und dann holte er eine Frau wie Zillah Grey ins Haus! Sie war ein leichtes Mädchen, wie man solche Frauen nennt, und mein Vater war keineswegs der untadelige Mensch, der zu sein er vorgab.
Meine Gedanken kehrten immer wieder zu Lilias zurück. Wer hatte die Halskette in ihr Zimmer gelegt? Je mehr ich darüber nachdachte, desto seltsamer erschien es mir. War es möglich, daß mein Vater Lilias aus dem Haus haben wollte, um Zillah Grey herholen zu können ... so daß sie des Nachts das Bett mit ihm teilen konnte?
Er hatte diese »Gouvernante« selbst ausgesucht. Und es war ihr unmöglich, sich als gebildete Frau auszugeben, als richtige Gouvernante, eine dieser vornehmen Damen, die in Not geraten sind. Daher war sie gekommen, um mir feines Benehmen beizubringen. Wirklich, sehr amüsant. Bitterkeit erfüllte mich. Was war Lilias deswegen angetan worden! Sie würde mit diesem Schandfleck behaftet durchs Leben gehen müssen. Ich war immer überzeugt gewesen, daß jemand die Kette in ihr Zimmer gelegt hatte. Und jetzt sah es ganz danach aus, daß jemand einen Grund dafür gehabt hatte. Und ich hatte den brennenden Wunsch herauszufinden, wer das war.
Ich konnte mir nicht denken, daß sich mein Vater in mein Zimmer stahl, die Kette an sich nahm und sie in eine Schublade in Lilias’ Zimmer legte. Andererseits konnte ich ihn mir in einer pikanten Situation vorstellen, was früher undenkbar gewesen wäre.
Oft sah ich mich von Miss Grey forschend beobachtet. Ich verriet mich. Ich konnte mich nicht so geschickt verstellen wie sie und mein Vater.
Hatte Zillah Grey erraten, daß ich die Wahrheit über ihre Beziehung zu meinem Vater entdeckt hatte? Sie wirkte beunruhigt; ich war offenbar nicht listig genug, meine Gefühle zu verbergen.
Eines Nachmittags kam mein Vater früher als gewöhnlich nach Hause, und kurz darauf kam Miss Grey in mein Zimmer. »Dein Vater wünscht dich in seinem Studierzimmer zu sehen«, teilte sie mir mit. »Er hat dir etwas zu sagen.«
Ich war überrascht. In letzter Zeit hatte ich das Gefühl gehabt, daß er mir aus dem Weg ging.
Miss Grey kam mit ins Studierzimmer und schloß die Türe hinter uns.
Ich sah die beiden verwundert an.
Miss Grey gab mir einen Kuß. »Liebe Davina«, sagte sie. »Wir haben uns immer so gut verstanden. Es wird wunderbar werden.« Sie wandte sich an meinen Vater. »Wunderbar für uns alle«, setzte sie hinzu. Sie reichte ihm ihre Hand. Er sah mich an, ziemlich nervös, wie ich fand.
»Die Hochzeit wird erst in drei Monaten sein«, sagte er. »Wir müssen warten, bis das Jahr voll ist ... und noch etwas länger, denke ich.«
Ich hätte ihn am liebsten ausgelacht. Ich wollte ihn anschreien: »Aber ihr habt nicht gewartet. Es ist die pure Heuchelei.« Doch »ich verstehe« war alles, was ich über die Lippen brachte. »Ich bin sicher«, fuhr er fort, »du wirst einsehen, daß es so das beste ist. Du brauchst eine Mutter.«
Und ich dachte: Du brauchst jemanden ... so wie Hamish. Es beunruhigte mich, was ich mich innerlich sagen hörte: Dinge, die ich nie laut zu äußern gewagt, Dinge, die ich noch vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätte. Es war mir so zuwider, wie sie da standen, heuchlerisch, alle beide. Doch ihn haßte ich mehr als sie.
»Es wird also eine Hochzeit geben«, hörte ich mich dämlicherweise sagen, und gleichzeitig vernahm ich meine innere Stimme: Natürlich wird es eine Hochzeit geben, eine stille, alles ganz proper, wie es sich gehört.
»Eine stille natürlich«, sagte mein Vater.
»Natürlich«, wiederholte ich. Ob sie die Ironie bemerkten? »Willst du uns nicht gratulieren?« fragte Miss Grey und versuchte schelmisch zu klingen.
Ich antwortete nicht.
»Es kommt zweifellos etwas überraschend für dich«, sagte mein Vater. »Aber es wird für uns alle das beste sein. Du wirst eine Mutter haben ...«
Ich sah Zillah Grey an. Sie zog ein Gesicht, und das fand ich nun wieder liebenswert. Sie war nicht so scheinheilig wie er, was auch immer sie ansonsten sein mochte. Ich glaube, Scheinheiligkeit war damals in meinen Augen die schwerste Sünde. »Nun denn«, sagte mein Vater, »laßt uns auf die Zukunft trinken.«
Er entnahm einem Schrank drei Gläser und eine Flasche Champagner.
Ich bekam nur ein halbes Gläschen. Ich mußte an Miss Grey denken, wie sie auf ihrem Bett lag und »Maria, Königin der Schotten« sang, und da mußte ich lachen.
Mein Vater lächelte wohlwollend und erleichtert; er wußte ja nicht, weshalb ich lachte. Wann hatte er je etwas von mir gewußt? Doch ich glaube, Miss Grey verstand, wie mir zumute war.
Die Neuigkeit wurde von allen im Haus mit Bestürzung aufgenommen, doch nach ein paar Tagen fanden sie sich damit ab. Mrs. Kirkwell und ich hatten eine kleine Unterredung. »In letzter Zeit ist in diesem Haus eine Menge geschehen, Miss Davina«, sagte sie. »Mr. Kirkwell und ich haben Sie schon beinahe als Herrin des Hauses betrachtet. Sie sind freilich noch etwas jung. Wir hatten gedacht, daß Mr. Glentyre vielleicht wieder heiraten würde, aber daß es so bald sein würde, damit hatten wir nicht gerechnet.«
»Sie heiraten erst, wenn ein Jahr seit Mutters Tod vergangen ist.«
»Selbstverständlich. Ein früherer Zeitpunkt würde sich nicht schicken. Das wäre nicht recht, und Mr. Glentyre, der tut immer, was recht ist. Und dann werden wir eine1 neue Herrin haben.« Mrs. Kirkwell runzelte die Augenbrauen.
Ich wußte, daß sie sich Zillah Grey schwerlich als Herrin in einer seriösen Edinburgher Residenz vorstellen konnte.
»Da wird sich einiges ändern«, fuhr sie fort, »dessen bin ich sicher.
Nun ja, wir müssen es eben nehmen, wie’s kommt. Ein Mann braucht eine Frau, sogar ein Gentleman wie Mr. Glentyre, zumal wenn er eine heranwachsende Tochter hat.«
»Ich finde, ich bin schon erwachsen, Mrs. Kirkwell, meinen Sie nicht auch?«
»Nun, es ist auf jeden Fall gut, wenn eine Frau im Haus ist, auch wenn ...«
»Ich bin froh, daß die Veränderungen Sie und Mr. Kirkwell nicht allzusehr aus der Ruhe bringen.«
Sie schüttelte betrübt den Kopf. Sie dachte wohl an die Zeiten, als meine Mutter noch lebte. Ob sie etwas von Miss Greys nächtlichen Ausflügen gemerkt hatte? Mrs. Kirkwell wollte schließlich stets über alle Vorgänge im Hause im Bilde sein.
Gewiß waren sie und Mr. Kirkwell der Meinung, wenn in einem respektablen Haus »gewisse Dinge« vorgehen – Männer sind nun mal, wie sie sind –, sei es gut, diese zu »legalisieren«. Und so senkte sich eine Heiterkeit über das Haus, die es nicht mehr gekannt hatte, seit meine Mutter starb.
Später bekam ich Mrs. Kirkwells Bemerkungen über die zukünftige Herrin zu hören. »Sie ist keine von der Sorte, die sich überall einmischt. Bei so einer würden Mr. Kirkwell und ich nicht arbeiten wollen.«
Und so wurde die bevorstehende Heirat, so unpassend sie Außenstehenden auch scheinen mochte, im Haus – wenn auch etwas widerwillig – akzeptiert, größtenteils deswegen, weil man einsah, daß ein Mann eine Frau braucht und die Erwählte eben keine von der Sorte war, »die sich überall einmischt«.
Es wurde, wie geplant, eine stille Hochzeit, eine schlichte Trauungszeremonie, vorgenommen von Hochwürden Charles Stocks, der ein Freund der Familie war, solange ich zurückdenken konnte.
Es waren wenige Gäste zugegen, hauptsächlich Freunde meines Vaters. Tante Roberta kam nicht, denn die Verstimmung zwischen ihr und meinem Vater hielt an. Zillah Grey hatte keine ihrer Freunde eingeladen. Es gab zu Hause einen kleinen Empfang, und bald darauf brachen mein Vater und seine Braut nach Italien auf.
Ich ging sogleich in mein Zimmer, um Lilias zu schreiben. »Ich habe jetzt eine Stiefmutter. Es kommt mir so widersinnig vor. Im letzten Jahr ist soviel geschehen. Manchmal frage ich mich, wie es weitergehen mag.«