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Die Hochzeit

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In der Nacht vor meiner Hochzeit hatte ich einen merkwürdigen Traum, aus dem ich mit Schrecken erwachte. Ich war in der Kirche, Aubrey war neben mir. Blumenduft hing schwer in der Luft: Lilien, der lastende, überwältigende Geruch des Todes. Onkel James – Hochwürden James Sandown – stand vor uns. Es war dieselbe Kirche, die mir in meiner Internatszeit so vertraut geworden war, als ich in den Ferien bei Onkel James und Tante Grace im Pfarrhaus lebte, weil ich nicht bei meinem Vater bleiben konnte, der in Indien stationiert war. Ich hörte meine Stimme, körperlos, als hallte sie in einem leeren Raum: »Ich, Susanna, nehme dich, Aubrey, zu meinem Ehemann ...« Aubrey hielt den Ring. Er nahm meine Hand, sein Gesicht kam näher und näher ... und dann ergriff mich Entsetzen. Es war nicht Aubreys Gesicht und doch seins. Es war verzerrt – lauernd, fremd, grauenhaft. Ich hörte eine Stimme schreien: »Nein! Nein!« Es war meine eigene.

Dann saß ich zitternd im Bett, umklammerte mit feuchten Händen das Laken und starrte in die Dunkelheit. Der Traum war so lebhaft gewesen, daß es eine Weile dauerte, bis ich wieder ganz zu mir kam. Alles Unsinn, redete ich mir ein. Ich werde morgen heiraten. Ich wollte heiraten. Ich liebte Aubrey. Was konnte diesen Traum ausgelöst haben? »Am Abend vor der Hochzeit ist man nun mal nervös«, hätte Tante Grace, eine überaus praktische Frau, mit Recht gesagt. Ich versuchte, den Traum zu vergessen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich stieg aus dem Bett und trat ans Fenster. Da stand die Kirche mit ihrem romanischen Turm im Sternenlicht, wie sie es seit 800 Jahren getan hatte: uneinnehmbar, Wind, Regen und den Jahrhunderten trotzend und von vielen Besuchern bewundert, Onkel James’ ganzer Stolz. »Es ist ein Privileg, in so einer Kirche getraut zu werden«, sagte er.

Morgen würde mein Vater mich durch den Mittelgang führen, und dann würde ich vorn neben Aubrey stehen. Aber es würde nicht so sein wie in dem Traum.

Ich trat an meinen Schrank und betrachtete mein Hochzeitskleid. Es war aus weißem, mit Spitze besetztem Satin. Dazu gehörte ein Kranz aus Orangenblüten.

Hinter der Kirche, im Gasthof zum Schwarzen Eber, schlief Aubrey. »Ein Bräutigam darf diese Nacht nicht unter demselben Dach wie seine Braut verbringen«, sagte Tante Grace. Ob auch ihn Träume vom kommenden Tag plagten?

Ich ging wieder ins Bett. Ich wollte nicht schlafen, aus Angst, von dem Augenblick an weiterzuträumen, in dem ich »Nein! Nein!« gerufen hatte, während Aubrey mir mit Gewalt den Ring über den Finger streifte.

Ich lag im Bett und dachte noch einmal über alles nach.

Ich hatte Aubrey in Indien kennengelernt, wo mein Vater Dienst tat. Ich war seit kurzem wieder bei ihm, nachdem ich sechs Jahre in England zur Schule gegangen war und die Ferien bei Onkel James und Tante Grace im Pfarrhaus verbracht hatte. Die beiden waren großzügig in die Bresche gesprungen und hatten sich der Tochter des Schwagers angenommen, die wie alle jungen Damen aus guter Familie natürlich in England erzogen werden mußte.

Ich freute mich auf meinen 17. Geburtstag. Es war Juni, und ich befand mich im letzten Schuljahr. Im August sollte ich nach Indien zurückkehren, wo ich die ersten zehn Lebensjahre verbracht hatte.

Vielleicht war es undankbar von mir, mich so auf die Abreise zu freuen, aber sicher ist es verständlich, daß ich zu meinem Vater zurückwollte. Onkel James, Tante Grace und Cousine Ellen waren sehr lieb zu mir gewesen und hatten alles getan, damit ich mich bei ihnen heimisch fühlte, auch wenn ich ihnen anfangs wohl etwas lästig war. Ich drängte mich in ihr Leben, und sie hatten zur Genüge mit den Angelegenheiten der Pfarrei zu tun. Cousine Ellen war zwölf Jahre älter als ich und in den Vikar verliebt, den sie zu heiraten gedachte, sobald er eine eigene Pfarre fand. Onkel James hatte seine Herde anhänglicher Pfarrkinder, und Tante Grace mußte zahllose Veranstaltungen organisieren: Basare, Gartenfeste, die Auftritte der Weihnachtssänger und vieles mehr. Mein Herz weilte in Indien, und weil ich wohl fühlte, daß ich eine Last war, wurde ich arrogant und stellte kritische Vergleiche an zwischen dem alten, zugigen Pfarrhaus mit einer einzigen Köchin, nur einer Zofe sowie einem Hausmädchen und der Residenz eines Colonels mit zahlreichen einheimischen Dienstboten, die eilends umherhuschten, um unsere Wünsche zu erfüllen.

Ich war nicht gerade ein fügsames Kind, und meine Kinderfrau, die man in Indien Aja nannte, sowie meine Gouvernannte Mrs. Fearnley pflegten zu sagen, man wisse nie, wie ich mich verhalten würde. Mein Naturell hatte zwei Seiten. So war ich durchaus von sonnigem Gemüt, lieb und anhänglich. »Wie der Mond«, sagte Mrs. Fearnley, die für alles einen nützlichen Vergleich hatte. »Der hat auch eine helle und eine dunkle Seite.« Anders als der Mond offenbarte ich meine dunkle Seite jedoch zuweilen. »Nicht oft, gottlob«, sagte Mrs. Fearnley. »Susanna, so ein unberechenbares Kind wie du ist mir noch nie begegnet«

Meine Aja, an der ich sehr hing, sah das anders. »In diesem kleinen Leib sind zwei Seelen. Sie ringen miteinander, und wir werden sehen, welche gesiegt haben wird, wenn du einmal eine richtige erwachsene Dame bist.«

Während der Zeit in England wurden meine Erinnerungen an die Jahre in Indien immer verklärter, je weiter sie zurücklagen. Lebhafte Bilder kamen mir abends vor dem Einschlafen in den Sinn. Nach dem Tod meiner Mutter hatte meine Aja mein Leben beherrscht. Mein Vater ragte erhaben im Hintergrund, über ihm war nur noch Gott. Vater war liebevoll und zärtlich, konnte aber nicht so viel bei mir sein, wie er sich wünschte, und heute weiß ich, daß er sich meinetwegen Sorgen machte. Die Stunden, die wir miteinander verbrachten, waren sehr kostbar. Er erzählte mir von seinem Regiment und wie bedeutend es sei, und ich war sehr stolz auf ihn, weil man ihn ehrfürchtig grüßte, wohin er auch kam.

Meine Aja aber, die nach Moschus roch, meine vertraute ständige Gefährtin, war mir damals wichtiger als alle anderen. Ich liebte die Aufregungen, wenn ich mit ihr durch die Straßen ging. Sie hielt mich an der Hand und ermahnte mich, sie ja nicht loszulassen. Das verlieh unseren Ausflügen eine Art Gefährlichkeit und machte sie doppelt abenteuerlich. Überall ging es laut und lebhaft zu, wenn wir uns zwischen Angehörigen aller möglichen Stämme und Kasten hindurchschlängelten. So lernte ich viele Menschen kennen: Die buddhistischen Priester erkannte ich an ihren kahlgeschorenen Köpfen; ihre purpurroten Gewänder raschelten, wenn sie dahineilten, ohne auf die Menschenmassen zu achten. Ich kannte die Parsen mit ihren komischen Hüten, die immer Schirme bei sich trugen, und all die Frauen, die ihre Gesichter nicht zeigen durften und deren schwarzumrandete Augen durch Schlitze in ihren Schleiern blickten. Ich war gefesselt von dem Schlangenbeschwörer mit dem Turban, der seine unheimliche Weise spielte, während die geschmeidige, gefährliche Kobra sich aus dem Korb erhob und zur Verwunderung der Zuschauer emporringelte. Ich durfte jedesmal eine Rupie in den Krug neben ihm werfen, dafür erntete ich überschwenglichen Dank sowie die Verheißung eines glücklichen Lebens mit reichem Kindersegen; das Erstgeborene sollte ein Knabe sein.

Der Moschusgeruch hing in der Luft, doch gab es auch andere, weniger angenehme Gerüche. An ihnen hätte ich mit geschlossenen Augen erkennen können, daß ich in Indien war. Ich betrachtete begeistert die bunten Saris jener Frauen, die unverschleiert waren, weil sie, wie meine Aja sagte, einer niederen Kaste angehörten. Ich fand sie viel hübscher als die Angehörigen der höheren Kasten mit ihren formlosen Gewändern und verschleierten Gesichtern.

Von Mrs. Fearnley erfuhr ich, daß Bombay das Tor nach Indien genannt wurde und an uns gefallen war, als Karl II. Prinzessin Katharina heiratete.

»So ein schönes Hochzeitsgeschenk!« rief ich aus. »Wenn ich heirate, möchte ich auch so ein Geschenk.«

»Solche Geschenke erhalten nur Könige«, sagte Mrs. Fearnley, »und oft sind sie mehr eine Last als ein Segen.«

Manchmal fuhren wir mit der Pferdekutsche die Anhöhen der Malabarküste hinauf, und ich sah das imposante Gouverneurshaus, umgeben von Gärten und Clubs, in denen die Offiziere und britischen Siedler ein und aus gingen. Mrs. Fearnley begleitete uns fast immer bei diesen Ausflügen und nutzte jede Gelegenheit, meine Bildung zu vervollkommnen. Manchmal aber fuhr ich mit meiner Aja allein, die mir vor allem Sachen erzählte, die ich gern hören wollte. Ich interessierte mich weit mehr für die Friedhöfe, wo die nackten Leichen im Freien lagen, auf daß die Geier ihr Fleisch abnagten und die Sonne ihre Knochen bleichte – was, wie meine Aja sagte, würdiger sei, als sie den Würmern preiszugeben –, als für Vorträge darüber, daß die Mongolen einst das Land beherrscht hatten, bevor die Ostindische Kompanie gegründet wurde, und daß die Inder es jetzt gut hätten, weil unsere große Königin sich ihrer annahm.

Während der Jahre in England saß ich während der Schulferien oft sinnend im Pfarrhaus in meinem Zimmer, das auf den Friedhof hinausging. Die Inschriften der grauen Grabsteine waren mit der Zeit zum großen Teil unleserlich geworden, und ich dachte an die heiße Sonne, das blaue Meer, die melodischen Stimmen, die bunten Saris und die geheimnisvollen Augen, die man durch die Schlitze in den Schleiern sehen konnte. Ich dachte an die Dienstboten, die sich um unsere Wünsche gekümmert hatten, die Boys mit den langen weißen Hemden und Hosen und den verschlagenen Khansamah, der in der Küche das Zepter schwang und sich jeden Tag wie ein Maharadscha zum Markt begab. Sein Gefolge ging ein paar Schritte hinter ihm und eilte auf seinen Befehl herbei, um seine Erwerbungen zu schleppen, nachdem das bei jedem Kauf anscheinend unumgängliche Palaver beendet war. Ich dachte an die von geduldigen Ochsen gezogenen Karren, die schmalen Gassen, die lästigen Fliegen, die Ballen bunter Seidenstoffe in den Geschäften, an die Wasserträger, die hungrig dreinblickenden Hunde, die Ziegen mit Glöckchen um den Hals, die beim Gehen bimmelten, an die Bauersfrauen, die aus den umliegenden Dörfern kamen, um ihre Erzeugnisse zu verkaufen; Tagelöhner, Bauern, Tamilen, Paschtunen, Brahmanen bevölkerten in bunter Mischung die belebten Straßen. Hier und da sah man einen würdevollen Herrn mit elegant gewickeltem Turban und prächtigem Geschmeide. Und dann im Gegensatz dazu die Bettler. Nie werde ich sie vergessen, die Kranken und Verkrüppelten mit den flehenden Augen. Ich fürchtete, sie würden mich auf ewig verfolgen, und träumte von ihnen, wenn meine Aja mich zugedeckt unter meinem Moskitonetz allein ließ.

An meine Mutter konnte ich mich nur vage erinnern. Sie war liebevoll, sanft und schön. Ich war vier Jahre alt, als sie starb. Bis dahin war sie stets mit mir zusammen. Wenn sie mir von England erzählte, hatte sie eine Sehnsucht in der Stimme und in den Augen, die mir auffiel, obwohl ich noch so klein war. Ich spürte, daß sie Heimweh hatte. Sie sprach von grünen Feldern, von Butterblumen, dem milden englischen Regen und der Sonne, die warm und angenehm und nie – oder fast nie – grell war. Ich stellte mir England wie eine Art Paradies vor.

Sie sang mir heimatliche Lieder vor und erzählte mir von der Zeit, als sie so klein war wie ich. Sie hatte damals im Pfarrhaus von Humberston gewohnt, denn ihr Vater war der Pfarrer gewesen. Nach seinem Tod hatte ihr Bruder James die Pfründe übernommen. Als ich später dorthin kam, war mir das Haus nicht gänzlich fremd, denn ich hatte das Gefühl, einst mit meiner Mutter hier gewesen zu sein.

Dann kam der Tag, als man mich nicht zu ihr lassen wollte, weil sie an einer ansteckenden Fieberkrankheit litt. Und dann setzte mich mein Vater auf seine Knie und sagte, daß wir nun nur noch uns beide hätten.

Vielleicht war ich zu jung, um zu begreifen, welche Tragödie über unser Haus hereingebrochen war, aber ich fühlte den Verlust, und Traurigkeit beschlich mich, auch wenn ich das Unglück nicht in seiner ganzen Größe ermessen konnte. Wohlmeinende Damen, vornehmlich Offiziersgattinnen, bevölkerten das Kinderzimmer. Sie machten ein großes Aufhebens um mich und sagten, meine Mutter sei in den Himmel gekommen. Ich glaubte, es handle sich um einen Ausflug in ein Land, wo es grüne Felder und milden Regen gab, ähnlich einem Ausflug in die Hügel, nur exotischer, weil man vielleicht mit Gott und den Engeln Tee trank statt mit Offiziersfrauen. Ich nahm an, sie würde eines Tages zurückkehren und mir alles erzählen.

Um diese Zeit kam Mrs. Fearnley zu uns. Ihr Mann, ein Offizier, war in derselben Woche an derselben Krankheit gestorben wie meine Mutter. Mrs. Fearnley, die vor ihrer Heirat eine beliebte Gouvernante gewesen war, war sich über ihre Zukunft noch nicht schlüssig, und mein Vater schlug ihr vor, sich vorerst, bis sie sich entschieden habe, als Gouvernante seiner mutterlosen Tochter zu betätigen.

Sie dürfte etwa 35 Jahre alt gewesen sein, und sie war gutmütig, gewissenhaft und gerecht. Ich hatte sie gern, wahrte jedoch Distanz. Meine Aja war es, der ich die Aufregungen verdankte. Sie war exotisch, hatte gefühlvolle Augen und lange schwarze Haare, die ich liebend gern bürstete. Wenn ich die Bürste beiseite legte, strich ich ihr mit den Fingern durch die Haare, und sie sagte: »Das tut mir gut, kleine Su-Su. Du hast gütige Hände.« Dann erzählte sie mir von ihrer Kindheit im Punjab und wie sie nach Bombay gekommen sei, um bei einer reichen Familie zu dienen, und wie ihr guter Freund, der Khansamah, sie in den Haushalt des Colonels gebracht habe und daß es das große Glück ihres Lebens sei, bei mir zu sein.

Nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater fast jeden Tag mit mir zusammen, wenn auch nur für eine gute Stunde, und ich lernte ihn nun besser kennen. Er machte immer einen traurigen Eindruck. Er gab Teegesellschaften, auf denen mich die Leute fragten, wie ich mit dem Lernen vorankäme. Im Regiment waren etliche Kinder, und ich ging auf Feste, die von ihren Eltern ausgerichtet wurden, und Mrs. Fearnley sorgte dann dafür, daß ich diese Gastfreundschaft erwiderte.

Die Offiziersfrauen hatten Mitleid mit mir, weil ich mutterlos war. Als ich älter wurde, begriff ich, daß die Reise meiner Mutter in den Himmel keine vorübergehende Abwesenheit und der Tod unwiderruflich war. Er war ringsum gegenwärtig. Ein Hausdiener erzählte mir, daß viele von den Bettlern, die ich auf der Straße sah, am nächsten Morgen tot seien. »Sie werden mit einem Karren eingesammelt«, sagte er. Wie bei der Pest in London, dachte ich: »Bringt die Toten heraus!« hieß es damals. Aber die Bettler in den Straßen von Bombay mußte man nicht herausbringen, denn sie hatten kein Heim.

Es war eine eigentümliche Welt voll Glanz und Elend, geschäftigem Leben und stillem Tod, die ich nie vergessen würde. Mein Leben lang würden Einzelheiten aufblitzen, der Khansamah auf dem Markt etwa, ein triumphierendes Lächeln im Gesicht, weil, wie ich später erfuhr, bei sämtlichen Einkäufen etwas für ihn heraussprang. Ich hatte die Damen darüber sprechen hören.

»So ist das Leben hier eben«, meinte die Frau eines Captains. »Damit muß man sich abfinden.«

Ich saß gern in der Küche und sah unserem Khansamah bei der Arbeit zu. Er war ein großer, schwergewichtiger Kerl; er spürte und genoß meine Bewunderung. Er bot mir kleine Kostproben an und sah mir mit auf seinem dicken Bauch gefalteten Händen aufmerksam zu, wenn ich sie verzehrte. Ich wollte ihm eine Freude machen und zwang mich zu einem Ausdruck ekstatischer Verzückung. »Keiner macht so gutes Tandoori-Huhn wie Sahib Colonels Khansamah. Bester Khansamah in ganz Indien. Hier, Miss Su-Su, schaun Sie mal! Ghostaba!« Er drängte mir ein Fleischbällchen aus feingehacktem Lammfleisch auf. »Schmeckt gut, ja? Jetzt trinken. Ah, fein? Nimbu pani ...«

Ich trank die gekühlte, mit Rosensirup gewürzte Zitronenlimonade und hörte dem Geplauder des Kochs über seine Gerätschaften und vor allem über sich selbst zu.

Zehn Jahre lang – die entscheidend prägenden Jahre – war das mein Leben, und es ist kaum verwunderlich, daß mir diese Erinnerungen lebhaft im Gedächtnis blieben. Eine jedoch war lebendiger als die übrigen. Ich weiß es noch ganz genau. Die Sonne brannte schon am Morgen heiß. Ich war mit meiner Aja durch die schmalen Marktgassen gewandert. Wir blieben am Schmuckstand stehen, um die Preziosen zu bewundern, während meine Aja ein paar Worte mit dem Besitzer wechselte: Wir kamen an den Saris vorüber, die reihenweise an einem Gestell hingen, und an den höhlenähnlichen Garküchen, wo Fladen zubereitet wurden. Wir wichen vorüberziehenden Ziegen aus, umrundeten gelegentlich eine Kuh, achteten auf die flinken braunen Knaben, die die Leute umschwirrten, und gaben vor allem auf ihre noch flinkeren braunen Finger acht. So gelangten wir über den Marktplatz auf die breitere Straße, und dort geschah es.

Es herrschte viel Verkehr an diesem Morgen. Hier und da bahnte sich ein vollbepacktes Kamel schwerfällig seinen Weg zum Basar, und die Ochsenkarren rumpelten in die Stadt. Gerade als meine Aja meinte, es sei Zeit, nach Hause zu gehen, lief ein Junge von vier oder fünf Jahren vor einen Ochsenkarren. Ich starrte ihn entsetzt an, als er just noch rechtzeitig, bevor der Karren ihn überrollen konnte, zur Seite gestoßen wurde.

Wir liefen hinzu, um ihm aufzuhelfen. Er sah bleich und sehr mitgenommen aus. Wir legten ihn an den Straßenrand. Eine Menschenmenge versammelte sich, und es wurde ausgiebig palavert, aber ich verstand den Dialekt nicht. Jemand ging Hilfe holen.

Ich kniete mich neben den Jungen auf die Erde und legte impulsiv meine Hand auf seine Stirn. Seltsam, ich spürte etwas; ich weiß nicht genau, was es war, ich glaube, es war so etwas wie ein Hochgefühl. Gleichzeitig veränderte sich das Gesicht des Jungen. Es war fast, als habe er – für einen Augenblick – keine Schmerzen mehr. Meine Aja beobachtete mich.

Ich sagte auf englisch zu ihm: »Es wird wieder gut. Gleich kommt Hilfe.« Doch es waren nicht meine Worte, die ihm Linderung verschafften. Es war die Berührung meiner Hände.

Es ging alles sehr schnell. Man kam, um ihn fortzubringen. Er wurde vorsichtig auf einen Karren gehoben, der kurz darauf davonfuhr. Als ich meine Hände von der Stirn des Jungen genommen hatte, war das letzte, was ich von ihm sah, wie seine dunklen Augen mich anblickten und sein Gesicht sich wieder schmerzhaft verzog.

Es war ein merkwürdiges Gefühl: Als ich ihn berührt hatte, war mir, als sei von mir eine Kraft ausgegangen.

Meine Aja und ich setzten unseren Weg schweigend fort. Wir erwähnten den Vorfall nicht, aber er beherrschte unsere Gedanken.

Als mich Aja am Abend zu Bett brachte, nahm sie meine Hände und küßte sie ehrfürchtig. »In diesen Händen steckt eine Kraft, kleine Su-Su. Vielleicht hast du heilkräftige Ströme in dir.«

Ich war ganz aufgeregt. »Denkst du an den Jungen von heute morgen?«

»Ich hab’s gesehen«, sagte sie.

»Was hatte das zu bedeuten?«

»Es bedeutet, daß du eine Gabe besitzt. Sie steckt hier, in deinen schönen kleinen Händen.«

»Eine Gabe? Du meinst, Menschen gesund zu machen?«

»Schmerzen zu lindern«, sagte sie. »Ich weiß nicht, das andere liegt in höheren Händen als unseren.«

Manchmal ging ich abends mit meinem Vater reiten. Mein Pony gehörte zu den Freuden des Daseins, und es war jedesmal ein sehr erhebendes Erlebnis, wenn ich in weißem Hemd und Reithose an Vaters Seite ausritt. Je älter ich wurde, desto näher kamen wir uns. Mit kleinen Kindern war er etwas befangen.

Ich liebte ihn sehr – um so mehr, als er ein wenig zurückhaltend war. Ich war in einem Alter, in dem zu enge Vertrautheit zu Verachtung führen konnte. Ich hatte einen Vater, zu dem ich aufschauen konnte. Hätte ich mir mehr wünschen können?

Er erzählte mir von seinem Regiment, von Indien und den Aufgaben der Engländer. Ich glühte vor Stolz auf das Regiment und das Empire, vor allem aber auf ihn. Er erzählte mir von meiner Mutter, die sich in Indien nie richtig wohl gefühlt hatte. Sie hatte ständig Heimweh gehabt, sich aber tapfer bemüht, es nicht zu zeigen. Er war besorgt um mich, das mutterlose Kind, dem der Vater nicht so viel Zuwendung geben konnte, wie er wünschte.

Ich versicherte ihm, daß ich wohlauf und glücklich war, daß Mrs. Fearnley eine gute Gefährtin abgab, die ich gern hatte, und daß ich meine Aja liebte.

Er sagte: »Du bist ein braves Mädchen, Susanna.«

Ich erzählte ihm von dem Vorfall mit dem Jungen auf der Straße.

»Es war so merkwürdig, Vater. Als ich ihn berührte, fühlte ich etwas aus mir herausströmen, und er fühlte es auch, denn als ich ihm meine Hand auf die Stirn legte, hatte er keine Schmerzen mehr.«

Mein Vater lächelte. »Deine gute Tat des Tages.«

»Du glaubst doch nicht, daß es etwas damit auf sich hat, oder?«

»Du warst der gute Samariter. Hoffentlich ist der Junge gut untergekommen. Die Hospitäler hier sind nicht die besten. Wenn er sich was gebrochen hat, dann gnade ihm Gott! Es ist reine Glückssache, ob ihm die Knochen wieder richtig eingerenkt werden.«

»Dann glaubst du also nicht, daß ich ... daß an meiner Berührung etwas Besonderes ist. Die Aja glaubt es.«

»Aja!« Sein Lächeln war ein wenig überheblich. »Was versteht eine Einheimische von solchen Dingen?«

»Sie sagte etwas von schmerzlindernden Strömen. Wirklich, Vater, es war höchst erstaunlich.«

»Der Junge fand es bestimmt vergnüglich, daß eine englische Lady an seiner Seite kniete.«

Ich schwieg, Es hatte keinen Sinn, mit ihm – ebensowenig wie mit Mrs. Fearnley – über mystische Dinge zu sprechen. Die zwei waren zu praktisch veranlagt. Aber ich konnte die Sache nicht so leicht abtun. Dies gehörte zu den bedeutsamsten Dingen, die ich je erlebt hatte.

Nach meinem zehnten Geburtstag meinte mein Vater, als wir wieder einmal zusammen ausritten: »Susanna, so kann es nicht weitergehen mit dir. Du brauchst eine Ausbildung.«

»Mrs. Fearnley sagt, ich komme sehr gut voran.«

»Aber, Liebes, bald wird Mrs. Fearnley dir nicht mehr genügen. Sie sagt, du bist ihr jetzt schon überlegen, und außerdem hat sie beschlossen, heimzukehren.«

»Ach! Mußt du nun eine andere finden?«

»Nicht direkt. Es gibt nur ein Land, in dem junge Engländerinnen ausgebildet werden sollten, und das ist England.«

Ich sann über die Ungeheuerlichkeit seines Vorschlags nach.

»Und was ist mit dir?« fragte ich dann.

»Ich muß natürlich hierbleiben.«

»Du meinst, ich soll allein nach England?«

»Meine liebe Susanna, so ergeht es allen jungen Menschen hier, das weißt du doch! Manche Leute meinen sogar, du solltest schon längst fort sein.«

Dann unterbreitete er mir seine Pläne. Mrs. Fearnley zeigte sich äußerst hilfreich. Sie war uns eine gute Freundin. Wenn sie nach England zurückkehrte, sollte ich mit ihr reisen. Sie würde mich ins Pfarrhaus von Humberston zu Onkel James, dem Bruder meiner Mutter, und seiner Frau Grace bringen, und dort sollte mein Zuhause sein, bis ich mit 17 oder 18 zu Vater nach Indien zurückkehrte.

»Aber das sind ja sieben Jahre! Ein ganzes Leben!«

»Das wohl kaum, liebes. Der Gedanke an die Trennung ist mir ebenso schmerzlich wie dir, vielleicht sogar noch mehr, aber es muß sein. Wir können dich nicht ohne Ausbildung aufwachsen lassen.«

»Aber ich bin doch gebildet! Ich lese sehr viel. Ich habe schon so viel gelernt!«

»Es geht nicht nur um das Lernen aus Büchern, mein liebes Kind. Es geht um die feine Lebensart, wie man sich in der Gesellschaft benimmt – in der richtigen Gesellschaft, nicht der, die wir hier haben. Nein, mein Liebes, es gibt nur einen Ausweg. Gäbe es eine andere Möglichkeit, ich hätte sie ergriffen, denn das letzte, was ich möchte, ist, dich zu verlieren. Du wirst mir schreiben. Durch unsere Briefe werden wir miteinander verbunden sein. Ich möchte alles wissen, was du erlebst. Es kann sein, daß ich auf einen langen Urlaub nach England komme. Dann werden wir beisammen sein. Unterdessen wirst du die Schule besuchen, und in den Ferien wird das Pfarrhaus dein Heim sein. Die Zeit wird rasch vergehen. Ich werde dich sehr vermissen. Du weißt ja, seit deine Mutter tot ist, bist du mein ein und alles.«

Er blickte starr geradeaus; er mochte mich nicht ansehen, aus Furcht, seine Bewegung zu zeigen. Ich war nicht so zurückhaltend. Ich würde in England unter anderem lernen müssen, meine Gefühle zu beherrschen.

Ich sah das Meer, die Hügel und das weiße Gebäude durch einen Tränenschleier. Das Leben veränderte sich. Alles würde anders werden, nicht langsam wie gewöhnlich, sondern drastisch.

Mehr als ein Monat war vergangen, und ich hatte mich allmählich mit dem Gedanken abgefunden. Nach dem anfänglichen Schrecken verspürte ich nun eine leichte Erregung. Ich hatte oft den weißen Schiffen im Hafen zugesehen, die ein- und wieder ausliefen. Ich hatte die Jungen und Mädchen sich von ihren Eltern verabschieden und abreisen sehen. Das war der Lauf der Welt, und nun war ich an der Reihe.

Mrs. Fearnley war mit Reisevorbereitungen beschäftigt, und der Unterricht fand nicht mehr so regelmäßig statt. »Viel kann ich dir nicht mehr beibringen«, sagte sie. »Es wird dir guttun, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein. Lies, soviel du kannst! Das ist das Beste, was du tun kannst.«

Sie war guter Dinge und freute sich auf die Rückkehr. Sie wollte bei einer Cousine wohnen, bis sie, wie sie sagte, »Fuß gefaßt« habe.

Für meine Aja und mich dagegen war es ein trauriger Abschied. Wir hatten uns so nahegestanden, viel näher als ich und Mrs. Fearnley. Aja war zu mir gekommen, als ich noch ein Baby war. Sie hatte meine Mutter gekannt, und seit deren Tod war unsere Bindung noch enger geworden.

Sie sah mich mit der den Menschen ihrer Rasse eigenen Duldsamkeit an und sagte: »So ist es immer mit der Aja. Sie muß ihre Kleinen aufgeben. Sie sind nur geliehen.«

Ich sagte, sie werde wieder eine Kleine finden. Mein Vater werde dafür sorgen.

»Und wieder von vorn anfangen?« fragte sie. »Und wo gibt es eine zweite Su-Su?«

Dann nahm sie meine Hände und betrachtete sie. »Sie sind wie kleine Lotusblüten.«

»Ziemlich schmuddelig«, stellte ich fest.

»Sie sind schön.« Sie küßte sie. »In deinen Händen steckt eine Kraft. Die muß genutzt werden. Eine Gabe ungenutzt zu lassen ist nicht gut. Dein Gott – meine Götter, sie lieben es nicht, wenn man ihre Gaben verachtet. Dein Auftrag wird es sein, Kleines, die Gaben zu nutzen, die dir geschenkt wurden.«

»Ach was, liebste Aja! Du bildest dir nur ein, ich hätte was Besonderes an mir, weil du mich liebhast. Vater sagt, dem kleinen Jungen hat es gefallen, daß ich bei ihm kniete, und deshalb hat er seine Schmerzen vergessen, das war alles.«

»Sahib Colonel ist ein sehr großer Mann, aber große Männer wissen nicht alles. Manchmal hat der Bettler der niedersten Kaste ein Wissen, das dem größten Radscha verwehrt ist.«

»Fein, liebste Aja. Dann bin ich einmalig und was Besonderes. Ich werde meine schönen Hände hüten.«

Darauf küßte sie meine Hände feierlich und sah mir gefühlvoll in die Augen. »Ich werde immer an dich denken, und eines Tages kommst du zurück.«

»Natürlich komme ich zurück. Sobald ich mit der Schule fertig bin. Dann mußt du alles aufgeben und wieder zu mir kommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann wirst du mich nicht mehr mögen.«

»Ich mag dich immer. Ich vergess’ dich nie.«

Sie stand auf und ging.

Ich hatte mich von allen Freunden verabschiedet. Am letzten Abend speisten mein Vater und ich allein. Es geschah auf seinen Wunsch. Im Haus herrschte eine gedämpfte Atmosphäre. Die Dienstboten beobachteten mich stumm. Der Khansamah hatte sich selbst übertroffen und eines seiner Spezialgerichte zubereitet, das er Yakhni nannte – gewürztes Lammfleisch, das ich immer besonders gern gemocht hatte. Aber an diesem Abend schmeckte es mir nicht. Wir waren zu bewegt, um zu essen, wir konnten nur so tun, als würden wir essen und uns anschließend über die Mangos, Nektarinen und Trauben hermachen, die man uns auftischte.

Der ganze Haushalt war offenbar wegen meiner Abreise in Trauer. Die Unterhaltung war an diesem Abend gezwungen. Mein Vater gab sich alle Mühe, seine Gefühle zu verbergen, was ihm auf bewunderungswürdige Weise gelang. Niemand hätte gemerkt, wie tief bewegt er war, wäre nicht seine Stimme brüchig und sein Lachen unnatürlich gewesen.

Er erzählte mir viel von England, und wie anders es dort sei als in Indien. Ich müsse mit einer gewissen Disziplin in der Schule rechnen und natürlich immer daran denken, daß ich Onkel James’ und Tante Graces Gast sei, die mich so liebenswürdig in den Ferien bei sich aufnahmen.

Ich war froh, als ich mich in mein Zimmer zurückziehen konnte. Zum letzten Mal lag ich unter meinem Moskitonetz. Ich fand keinen Schlaf und fragte mich, wie das neue Leben in England sein würde.

Das Schiff lag bereits in der Bucht. Ich hatte es schon oft betrachtet und mir vorzustellen versucht, wie es mit mir davonfuhr.

Dann kam der Tag, an dem wir Lebewohl sagten, und Mrs. Fearnley und ich teilten uns an Bord die Kabine. Der Augenblick war gekommen. Wir gingen an Deck und winkten. Mein Vater stand sehr aufrecht. Ich warf ihm eine Kußhand zu, die er erwiderte. Ich sah meine Aja. Ihre Augen schienen nur mich zu sehen. Ich winkte ihr, und sie hob eine Hand.

Ich wollte, daß das Schiff endlich ablegte. Das Abschiednehmen war so schrecklich traurig.

Die Aufregungen der Reise halfen mir über die Trennung von meinen lieben hinweg. Mrs. Fearnley war eine muntere und angenehme Gesellschafterin. Sie hielt gewissenhaft ihr Versprechen, das sie meinem Vater gegeben hatte, und gab so gut auf mich acht, daß sie mich kaum aus den Augen ließ.

Ich wußte, daß ich großes Heimweh nach meinem Vater, meiner Aja und Indien bekommen würde. Mir stand ja nicht nur ein neues Zuhause bevor, sondern auch die ungewohnte Schule.

Vielleicht war es gut, daß es so reichlich Abwechslung und so viele neue Erfahrungen gab, denn ich hatte kaum Zeit zum Grübeln.

Bevor Mrs. Fearnley mit der Cousine weiterreiste, die uns am Hafen abgeholt hatte, lieferte sie mich mit der Miene einer Person, die sich einer mühsamen Aufgabe löblich entledigt hat, im Pfarrhaus ab, und ich sagte ihr ohne sonderliche Rührung Lebewohl. Erst als ich allein in dem Zimmer mit der niedrigen Decke, den dicken Eichenbalken und dem Sprossenfenster war, das auf den Kirchhof hinausging, wurde mir meine ungeheure Einsamkeit bewußt. Auf dem Schiff hatte ich so viel erlebt: die Fahrt übers Meer, das wildbewegt oder glatt wie ein Teich sein konnte, Bekanntschaft mit den anderen Passagieren schließen, neue Städte sehen – Kapstadt mit der großartigen Bucht und den Bergen, Madeira mit den bunten Blumen, Lissabon mit dem schönen Hafen. Solche Erlebnisse hatten die Angst vor der Zukunft verdrängt.

Bald aber sollte mir das kleine Zimmer vertraut werden. Alle gaben sich Mühe, damit ich mich bei ihnen heimisch fühlte. Onkel James, ein sehr ernster Mann, der ganz in seiner Arbeit aufging, strengte sich dermaßen an, daß seine Fröhlichkeit stets gequält wirkte und er genau das Gegenteil von dem erreichte, was er beabsichtigte. Jeden Morgen sagte er: »Na, Susanna, mit den Lerchen aufgestanden?« Und wenn ich ein wenig im Garten arbeitete: »Hahaha, der Arbeiter ist seinen Lohn wert.« Solche Bemerkungen waren immer von einem komischen kleinen Lachen begleitet, das nicht recht zu ihm paßte. Aber ich wußte, daß er mir nur helfen wollte, mich einzugewöhnen. Tante Grace war ziemlich schroff, nicht aus Absicht, sondern weil sie selten ihre Gefühle zeigte und der Umgang mit einem einsamen Kind sie verlegen machte. Ellen war freundlich, aber etwas geistesabwesend; sie war schließlich zwölf Jahre älter als ich und ganz in Mr. Bonner, den Vikar, vernarrt, der sie zu heiraten gedachte, sobald er eine Pfarre gefunden hatte.

In den ersten Wochen war mir das Internat verhaßt, aber dann gefiel es mir dort ganz gut. Ich war so etwas wie eine Exotin, weil ich in Indien gelebt hatte, und wenn im Schlafsaal das Licht ausging, ließ ich mich gern überreden, von dem fremden Land zu erzählen. Ich sonnte mich in der Beliebtheit, die ich dadurch errang, und ersann die haarsträubendsten Abenteuer. Das half mir über die ersten Wochen hinweg. Und ich wurde akzeptiert, weil ich dank Mrs. Fearnleys gewissenhafter Bemühungen den meiner Altersgruppe entsprechenden Leistungsgrad besaß und weil ich einigermaßen gut in Sport war. Nach dem ersten Jahr war mir die Schule liebgeworden. In den Ferien nahm ich eifrig am Dorfleben teil. Die Dienstboten schlossen mich ins Herz. »Das arme, mutterlose Würmchen«, hörte ich die Köchin zum Hausmädchen sagen, »wird quer durch die Weltgeschichte zu Onkel und Tante geschickt, zu Fremden gewissermaßen. Und ist unter Heiden aufgewachsen. Das ist doch kein Leben für ein Kind! Gut, daß sie hier ist«

Ich lächelte. Sie hatten ja keine Ahnung, wie ich meine Aja vermißte.

Mein Vater schrieb regelmäßig ausführliche Briefe, in denen er von seinem Regiment und den Schwierigkeiten in Indien berichtete.

»Manchmal bin ich froh, daß Du in der Heimat bist«, schrieb er.

Ich möchte alles wissen. Wie gefällt es Dir im Pfarrhaus? Deine Mutter hat oft voller Heimweh von ihm gesprochen. Der Khansamah hat vorige Woche geheiratet. Es war eine große Feier. Er fuhr mit seiner Braut in einem blumengeschmückten Wagen durch die Stadt. Du weißt ja, wie es hier auf Hochzeiten zugeht. Die Braut wird bei uns wohnen. Ich hoffe nur, die Ehe wird nicht ganz so fruchtbar, wie es ihnen alle wünschen. Aja ist glücklich. Sie ist bei einer sehr netten Familie. Die Zeit wird rasch vergehen, und über kurz oder lang wirst Du die Rückreise antreten. Du wirst dann eine junge Dame sein. Hier wird es sehr viel für Dich zu tun geben, und ich hoffe, daß es Dir gefällt. Du wirst die Lady des Colonels sein und weißt, was das bedeutet. Du wirst mich bei offiziellen Anlässen begleiten müssen. Ich bin überzeugt, daß Du Deinen Pflichten mit dem erforderlichen Charme nachkommen wirst. Immerhin wirst Du eine englische Lady sein, die auf einer exklusiven Schule den »gesellschaftlichen Schliff« erhielt. Mehr davon ein andermal. Für heute sende ich Dir meine allerzärtlichsten Grüße. Ich denke an Dich und sehne mich danach, Dich wiederzusehen. Die Trennung ist mir verhaßt, aber ich sage mir immer, daß die Zeit rasch vergehen wird.

Er schrieb wundervolle Briefe. Auf Papier gab er mehr von sich preis als im persönlichen Umgang. Ich war froh, daß ich so einen Vater hatte. Und es war ein Glück für mich, den gütigen Onkel James, Tante Grace und Ellen zu haben, die sich so bemühten, mir das Gefühl zu geben, zur Familie zu gehören.

Ein Jahr verging, dann das zweite. Wegen der Unruhen in Indien konnte mein Vater nicht zu dem versprochenen Urlaub kommen. Es war eine große Enttäuschung für mich. Dann aber wurde es furchtbar wichtig, ob ich in die Hockeymannschaft gewählt wurde oder welche Noten ich in Geschichte hatte, und ich dachte vorübergehend nicht mehr an Indien. Im großen und ganzen war ich glücklich. Cousine Ellens späte Heirat verursachte eine Menge Aufregung und Vorbereitungen, und anschließend brachen sie und Mr. Bonner zu seiner Pfarre in Somerset auf. Ich versuchte, Tante Grace ein wenig die Hilfe zu ersetzen, die sie an Ellen gehabt hatte, denn ich wollte ihnen zeigen, daß ich dankbar war für alles, was sie für mich getan hatten. So hörte ich Onkel James’ Predigten mit gespielter Aufmerksamkeit zu und lachte über seine kleinen Scherze.

Die Zeit verging. Ein Vorfall ist mir unvergeßlich. Es geschah kurz vor Ellens Hochzeit. Ich machte mit ihr einen Besuch. Ich erinnere mich, daß es Anfang Herbst war, denn das Obst wurde gerade geerntet.

Als wir zum Bauernhof der Jennings’ kamen, sahen wir eine Gruppe Menschen unter einem Apfelbaum, und Ellen sagte zu mir: »Ein Unfall.«

Wir eilten hin. Ein Sohn der Jennings’ lag auf der Erde und stöhnte vor Schmerzen. Mrs. Jennings war in großer Sorge. »Tom ist gestürzt, Miss Sandown«, sagte sie zu Ellen. »Jemand geht den Arzt holen, aber es dauert so lange.«

»Hat er sich was gebrochen?« fragte Ellen.

»Das wissen wir nicht. Deswegen warten wir ja auf den Arzt.«

Ein Mann kniete neben Tom Jennings und schiente sein Bein mit einem Brett. Impulsiv kniete ich mich auf die andere Seite. Ich sah zu, wie der Mann Tom Erste Hilfe leistete. Man sah Tom an, daß er starke Schmerzen hatte.

Ich wischte ihm mit meinem Taschentuch die Stirn ab, und dabei hatte ich dasselbe Gefühl wie damals in Indien, als der kleine Junge vor den Ochsenkarren gelaufen war.

Tom sah mich an, und seine Miene entspannte sich etwas. Er stöhnte nicht mehr. Ich strich über seine Stirn.

Ellen sah mich verwundert an, aber ich fuhr fort, Toms Stirn zu streicheln.

Das war etwa zehn Minuten, bevor der Arzt kam. Er lobte den Mann der das Bein mit dem Brett geschient hatte. Nun mußte man den Jungen sehr vorsichtig transportieren.

Ellen sagte: »Wenn wir irgend etwas tun können, Mrs. Jennings ...«

»Danke, Miss Sandown«, erwiderte diese. »Es wird schon wieder werden, der Arzt ist ja da.«

Ellen war recht nachdenklich, als wir ins Pfarrhaus zurückkehrten. »Mir scheint, du hast seine Schmerzen gelindert«, sagte sie.

»Ja. Es ist mir schon einmal so ergangen.« Ich erzählte ihr von dem Jungen in Indien. Sie hörte auf ihre verbindliche, etwas geistesabwesende Art zu, und ich nahm an, sie dachte an das Haus, in das sie mit Mr. Bonner ziehen würde. Er hatte es erst kurz zuvor erworben.

Ich aber beschäftigte mich weiter mit dem Vorfall und fragte mich, was meine Aja davon gehalten hätte.

Wir sprachen beim Abendessen über das Ereignis.

»Von der Leiter gefallen«, sagte Tante Grace. »Ich wundere mich, wieso nicht mehr Unfälle geschehen. Die Jungen sind oft sehr unachtsam.«

»Susanna war fabelhaft«, erzählte Ellen. »Sie strich ihm über die Stirn, während George Grieves Erste Hilfe leistete. Susanna schien ihm Linderung zu verschaffen.«

»Der hilfreiche Engel«, sagte Onkel James lächelnd zu mir.

Später dachte ich noch einmal über alles nach. Ich betrachtete meine Hände. Hatte man Schmerzen, war es tröstlich, wenn einem jemand über die Stirn strich; das war alles. In dieser stillen prosaischen Welt begann ich allmählich so zu denken wie die Menschen rings um mich. Meine gute Aja hatte zu viel Phantasie.

Und dann war endlich mein 17. Geburtstag. Alles wurde arrangiert. Eine gewisse Mrs. Emery begleitete ihre Tochter nach Indien, die dort einen Offizier heiratete. Sie nahm mich gerne mit, wäre es doch für ein junges Mädchen von 17 Jahren unschicklich gewesen, allein zu reisen.

Der große Tag kam. Ich sagte in Humberston Lebewohl, fuhr mit den Emerys nach Tilbury, und endlich stach ich nach Indien in See.

Wir hatten eine ruhige Überfahrt. Die Emerys waren angenehme Gesellschafterinnen. Constanze dachte nur an ihre bevorstehende Heirat und sprach von fast nichts anderem als von den Vorzügen ihres Verlobten. Es störte mich nicht. Ich war mit meinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt.

Der Hafen von Bombay bietet mit der bergigen, palmengesäumten Insel, die zu den Küstenstreifen der Westghats ansteigt, einen imposanten Eindruck.

Mein Vater erwartete mich. Wir umarmten uns, dann hielt er mich auf Armeslänge von sich und betrachtete mich.

»Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.«

»Ist ja auch lange her. Aber du hast dich nicht verändert, Vater.«

»Alte Männer verändern sich nicht. Nur die kleinen Mädchen verwandeln sich in hübsche junge Damen.«

Ich machte meinen Vater und die Emerys miteinander bekannt, und er dankte ihnen herzlich. Der Verlobte hatte die beiden abgeholt und zog mit ihnen davon.

»Hattest du es gut in Humberston?« fragte mich mein Vater.

»O ja. Alle waren lieb zu mir. Aber es war kein richtiges Zuhause.«

Er nickte. »Und die Emerys, waren sie auch nett zu dir?«

»Sehr nett. Und wie geht es allen hier? Was macht Aja?«

»Sie ist jetzt bei den Freelings. Sie haben zwei kleine Kinder. Mrs. Freeling ist eine recht leichtfertige junge Frau, sehr attraktiv, sagt man.«

»Ich möchte unbedingt meine Aja wiedersehen.«

»Aber sicher.«

»Und der Khansamah?«

»Ist inzwischen Familienvater. Er hat zwei Jungen. Er ist sehr stolz auf sich. Aber komm jetzt, wir wollen nach Hause!«

Ich war wieder da, und es war fast, als wäre ich nie fort gewesen.

Aber es gab natürlich Veränderungen. Ich war kein Kind mehr. Ich hatte jetzt meine Pflichten, und nach wenigen Tagen merkte ich, daß sie mich sehr beanspruchten. Ich war als junge englische Lady zurückgekehrt, ausersehen, an der Tafel des Colonels zu sitzen und die damit verbundenen Pflichten zu erfüllen.

Es dauerte nicht lange, und die Angelegenheiten der Armee nahmen mich gefangen. Es war, als lebte man innerhalb eines fremden Landes in einer eigenen kleinen Welt Aber ich nahm dies nun anders wahr als früher. Ich sah unschöne Einzelheiten, die mir in meiner Kindheit weniger aufgefallen waren. Armut und Krankheit wurden mir jetzt bewußter und dämpften meine Begeisterung, und zuweilen dachte ich sehnsüchtig an die kalten Brisen, die um die uralte Kirche bliesen, und an den friedlichen Garten mit Lavendel und Buddleia, hohen Sonnenblumen und Stockrosen, und ich bekam Sehnsucht nach dem milden Regen, nach Osterferien und Erntedankfesten. Sicher, mein Vater war hier, aber hätte er mit mir kommen können, so wäre ich wohl lieber in den Ort zurückgekehrt, der mir eine zweite Heimat geworden war.

Bei der ersten Gelegenheit besuchte ich meine Aja. Mrs. Freeling war ganz entzückt, daß ich vorsprach. Ich merkte schnell, daß man meinen Vater aufgrund seiner Position umschmeichelte, und deshalb wurde auch seine Tochter hofiert. Einige Frauen waren nahezu unterwürfig. Sie dachten wohl, die Gunst des Colonels helfe ihren Ehemännern beim langen Aufstieg zu höheren Rängen.

Die Freelings bewohnten einen hübschen Bungalow, umgeben von schönen, blühenden Sträuchern, deren Namen ich nicht kannte. Phyllis Freeling war jung und sehr hübsch; ich fand sie ziemlich kokett und ansonsten nicht besonders interessant. Sie umschwirrte mich, als sei mein Besuch eine große Ehre für sie, und bewirtete mich mit Tee.

»Wir bemühen uns, die englischen Sitten beizubehalten«, erklärte sie. »Wir wollen schließlich nicht verwildern, oder?«

Ich hörte ihrem Geplauder zu und fragte mich die ganze Zeit, wann ich endlich meine Aja zu sehen bekäme; sie war schließlich der einzige Grund meines Kommens. Mrs. Freeling erzählte von dem Ball, der bald stattfinden würde. »Ich nehme an, Sie werden zum Komitee gehören. Es gibt ja so viel vorzubereiten. Wenn Sie einen wirklich guten Schneider suchen, ich kann Ihnen den allerbesten empfehlen.« Sie faltete die Hände und sprach mit indischem Akzent: ›»Der allerbeste durzi in Bombay ...‹, behauptet er, und ich habe allen Grund, ihm zu glauben.«

Ich nahm mir ein Gewürzplätzchen zum Tee.

»Dem Khansamah ist es eine große Ehre, Tee für die Tochter des Colonels zu machen«, wurde mir versichert.

Ich erkundigte mich nach den Kindern und der Aja.

»Sie ist ausgezeichnet. Die Kinder sind wahre Engel. Sie lieben die Aja, sie ist ja so gut zu ihnen. Manchmal frage ich mich, ob es klug ist, sie einer Einheimischen anzuvertrauen. Aber was will man machen? Man hat ja so viele Pflichten ... der Mann, das Regiment ...«

Schließlich hielt ich es für angebracht, zum eigentlichen Grund meines Besuches zu kommen. Ich erinnerte sie, daß ich die Aja sehen wollte.

»Aber selbstverständlich. Es wird ihr eine Ehre sein.«

Ich wurde ins Kinderzimmer geführt, wo die Kinder ihren Mittagsschlaf hielten. Da saß sie und wartete, denn sie wußte ja, daß ich kam.

Wir sahen uns an. Sie war ein wenig gealtert – kein Wunder nach sieben Jahren.

Ich lief zu ihr und schlang meine Arme um sie. Es war mir egal, was Mrs. Freeling dachte.

»Aja!«

»Miss Su-Su!«

Ich war tief gerührt, als ich den Kosenamen aus meiner Kinderzeit hörte. »Ich habe oft an dich gedacht«, sagte ich.

Sie nickte. Ein Diener kam und sagte leise etwas zu Mrs. Freeling.

»Ich muß Sie verlassen«, sagte sie. »Sicher möchten Sie ein Weilchen plaudern.«

Ich fand das sehr taktvoll von ihr. Wir setzten uns und sahen uns immer noch an. Wir unterhielten uns flüsternd, weil nebenan die Kinder schliefen. Sie erzählte mir, wie sehr sie mich vermißt habe.

Die Freelings hätten zwar nette Kinder, aber sie seien eben nicht Su-Su.

Ich erzählte ihr von England, aber ich sah, daß es ihr schwerfiel, sich das Leben dort vorzustellen. Sie sagte, in ganz Indien habe es Aufruhr und Bedrohung gegeben und es stünden noch mehr Aufregungen bevor. Sie schüttelte den Kopf. »Man munkelt von dunklen Geheimnissen ... nichts Gutes.«

Sie fand mich verändert. Ich sei nicht mehr das kleine Mädchen, sagte sie, das Bombay vor Jahren verlassen hatte. »Sieben Jahre sind eine lange Zeit«, hielt ich ihr entgegen.

»Lang, wenn viel geschieht, kurz, wenn sich nichts tut. Die Zeit ist im Kopf.«

Es war wunderbar, sie wiederzusehen. Ich sagte: »Ich wollte, ich könnte dich mit nach Hause nehmen.«

Ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Das wäre schön. Aber du brauchst keine Aja mehr wie die kleinen Freelings.«

»Bist du hier glücklich, liebste Aja?«

Sie schwieg, ein Schatten huschte über ihr Gesicht, der mich erschreckte. Ich war verwirrt. Mrs. Freeling machte auf mich nicht den Eindruck, daß sie sich in die Erziehung der Kinder einmischte. Ich hatte gedacht, ihre Aja hätte freie Hand, mehr noch als einst bei mir; denn damals hatte sie mit Mrs. Fearnley wetteifern müssen.

Sie war zu loyal, um über ihre Herrin zu reden, aber mir war dennoch unbehaglich zumute. Sie spürte es und sagte: »Ich könnte nirgends so zufrieden sein wie bei euch.«

Ich war tief gerührt und erstaunt, daß sie so empfinden konnte, war ich doch zuweilen recht schwierig gewesen. Vielleicht spielte die Zeit ihre altbekannten Streiche und ließ Vergangenes rosiger erscheinen, als es tatsächlich war.

»Ich werde dich oft besuchen«, sagte ich. »Mrs. Freeling hat bestimmt nichts dagegen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du solltest lieber nicht zu oft herkommen, Su-Su.«

»Aber warum denn nicht?«

»Ist besser so. Wir treffen uns. Vielleicht komm’ ich zu dir.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin nur eine alte Aja ... nicht mehr deine.«

»So ein Unsinn! Du bleibst immer meine Aja. Und warum soll ich dich nicht besuchen? Ich bestehe darauf. Ich bin jetzt die Lady des Colonels. Ich bestimme die Regeln.«

»Nicht hier«, sagte sie. »Nein, nein ... ist nicht gut.«

Ich verfolgte das Thema nicht weiter, weil ich dachte, sie habe die absurde Vorstellung, es schicke sich nicht für die Tochter des Colonels, ihre alte Kinderfrau in einem anderen Haus zu besuchen.

Ihre dunklen Augen waren gefühlvoll und wissend. »Du wirst wieder fortgehen«, sagte sie. »Ich sehe dich nicht lange hier.«

»Du irrst dich. Ich bleibe bei meinem Vater. Ich habe die weite Reise nicht gemacht, um gleich wieder umzukehren. Hast du eine Ahnung, wie weit es ist, liebste Aja, über das große Meer? Ich bleibe hier, und wir werden uns oft treffen. Es wird wie in alten Zeiten sein ... jedenfalls so ähnlich.«

Sie lächelte. »Ja. Seien wir nicht traurig! Sprechen wir nicht von Trennung. Du bist gerade erst gekommen. Heute ist ein glücklicher Tag.«

»Ja«, sagte ich, und von nun an hieß es ständig: »Weißt du noch ...?«

Die Kinder wachten auf, und ich wurde ihnen vorgestellt. Sie waren pausbäckige Geschöpfe von etwa vier und zwei Jahren.

Als ich die Aja verließ, ging ich hinunter, um mich von Mrs. Freeling zu verabschieden.

Sie saß auf einem Sofa, neben ihr ein junger Mann. Sie erhoben sich, als ich eintrat

»Ah, da sind Sie ja«, sagte Mrs. Freeling. »Miss Pleydell hat ihre alte Aja besucht, die jetzt bei uns ist. War das nicht überaus gütig von ihr?«

»Keineswegs«, gab ich zurück. »Ich habe sie nämlich sehr gern.«

»So ist das immer mit den alten Kinderfrauen. Aber ich vergesse, Sie kennen sich ja noch gar nicht! Darf ich vorstellen: Aubrey St. Clare – Susanna Pleydell, die Tochter des Colonels.«

Aubreys Charme und gutes Aussehen hatten es mir augenblicklich angetan. Er war ungefähr so groß wie ich – ich bin nämlich außergewöhnlich hoch gewachsen – und hatte goldblondes Haar, lebhafte Augen und scharfgeschnittene Züge.

Er drückte mir fest die Hand. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Nehmen Sie Platz, Miss Pleydell«, sagte Mrs. Freeling. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Es ist noch etwas früh für alkoholische Getränke, aber das macht nichts. Eigentlich ist es dafür nie zu früh.«

Ich setzte mich neben ihn. »Wie ich höre, sind Sie eben erst nach Indien zurückgekehrt«, sagte er.

Ich bejahte.

»Frisch von der Schule weg!« sagte Phyllis Freeling mit schrillem, trillerndem Lachen. »Ist das nicht aufregend?«

»Indien ist ein aufregendes Land, nicht wahr, Miss Pleydell?« sagte er. »Man muß einfach hierher zurückkommen.«

Ich stimmte ihm zu.

»Ist Ihnen aufgefallen, daß sich hier etwas verändert hat?«

»Ich war so jung, als ich fortging, zehn Jahre alt, um genau zu sein. Ich glaube, ich nahm ein etwas verklärtes Bild mit mir. Jetzt sehe ich alles mehr, wie es wirklich ist.«

»Ach«, meinte er, »das ist einer der Nachteile des Erwachsenwerdens.«

Er sah mich lange an, und ich war von seinem Interesse angenehm berührt. Ich kannte nicht viele junge Männer, nur die wenigen in Humberston, die mit Onkel James und Tante Grace verkehrten. Ich war sehr gut, wenn auch unaufdringlich, behütet gewesen. Jetzt hatte ich eine gewisse Freiheit. Ja, ich war erwachsen. Ein erhebendes Gefühl.

Aubrey St. Clare sprach sehr einfühlsam von Indien. Er schien das Land gut zu kennen. Er hatte nichts mit dem Regiment zu tun. Ich hätte gern gewußt, was er in Indien machte, empfand es jedoch als zu aufdringlich, ihn danach zu fragen. Mrs. Freeling übernahm die Gesprächsführung. Sie flirtete ziemlich heftig mit ihrem Gast Oder kam mir das nur so vor, weil ich noch unter dem Einfluß des Pfarrhauses stand, wo es überaus konventionell zugegangen war?

Schließlich sagte ich, ich müsse gehen. Aubrey St. Clare erhob sich sogleich und fragte, ob er mich nach Hause bringen dürfe. Es sei nur ein kurzer Weg, erklärte ich.

»Trotzdem ...« begann er, und Mrs. Freeling setzte hinzu: »O ja, Sie sollten sich begleiten lassen!«

Ich dankte ihr für ihre Gastfreundschaft und machte mich mit Aubrey St. Clare auf den Weg.

Draußen drehte ich mich noch einmal zum Haus um und sah eine Bewegung hinter den Gardinen. Aja stand am Fenster. Bildete ich es mir ein, oder sah sie wirklich beunruhigt aus?

Aubrey und ich sahen uns von nun an sehr oft. Es schmeichelte mir, daß er mir soviel Beachtung schenkte. Er war auch aufmerksam gegenüber Phyllis Freeling, aber das war etwas anderes, weil sie verheiratet war.

Mein Vater konnte ihn gut leiden. Ich glaube, er war froh, daß ich einen Begleiter hatte. Er hätte es allerdings vorgezogen, wenn wir in England gewesen wären, wo ich auf die herkömmliche Art in die Gesellschaft eingeführt worden wäre. Vater wünschte durchaus, daß ich das Leben genoß, und er bedauerte, daß er nicht mehr Zeit für mich hatte.

Aubrey war bezaubernd. Seine wunderbare Persönlichkeit konnte sich wandeln, je nachdem, mit wem er es zu tun hatte. Mit meinem Vater sprach er ernst über Indiens Probleme; mir erzählte er von seinen Reisen rund um die Welt. Er war in Arabien gewesen und war Menschen aller Rassen begegnet. Er fand die Erforschung fremder Kulturen faszinierend und verstand sie sehr lebendig zu schildern. Mit Mrs. Freeling dagegen war er sehr kokett, bei ihr wurde er genau zu der Sorte Mann, die sie attraktiv fand. Das war eine große Begabung.

Er wurde mein ständiger Begleiter. Mein Vater erlaubte mir, mit ihm durch die Basare zu gehen, was ich allein nicht gedurft hätte. Hier sei nicht mehr alles so wie in meiner Kindheit, erklärte er mir. Es gebe Unruhen, und die Regierung sei in Alarmbereitschaft.

Nein, nichts Ernstes, versicherte er. »Aber die Menschen hier sind unberechenbar. Sie argumentieren nicht wie wir.« Daher gestattete er mir zwar zu gehen, wohin ich wollte, aber nur in Begleitung eines starken Mannes.

Es war eine schöne Zeit. Ich besuchte meine Aja mehrmals, aber es war ihr immer unangenehm, wenn ich ins Haus der Freelings kam. Ich schlug ihr vor, zu uns zu kommen. Das tat sie ein paarmal, aber sie war nur schwer abkömmlich. Ich wußte, daß sie etwas bedrückte, hatte aber keine Ahnung, was es war, und ich war, ehrlich gesagt, auch so sehr mit allem anderen, zumal mit meinem neuen Freund, beschäftigt, daß ich ihr nicht soviel Beachtung schenkte, wie ich es sonst vielleicht getan hätte.

Als wir uns eines Tages im Garten unter den Aprikosenbäumen aufhielten, sagte Aubrey zu mir: »Ich werde wohl bald heimkehren müssen.«

Ich war bestürzt. Mit einemmal wurde mir klar, wieviel mir an seiner Gesellschaft lag.

»Ich habe schlechte Nachrichten von zu Hause«, fuhr er fort. »Das tut mir leid.«

»Mein Bruder ist krank. Ich glaube, er hat nicht mehr lange zu leben. Dadurch wird sich für mich vieles ändern.«

»Sie haben ihn wohl sehr gern?«

»Wir haben uns nie besonders gut verstanden. Wir sind nur zu zweit, und wir sind so verschieden. Er ist der Ältere und hat alles geerbt, einen recht großen Besitz. Da er keine Kinder hat, wird im Falle seines Todes alles an mich fallen. Ich bezweifle, daß er noch ein Jahr durchhält. Ich muß unbedingt hin. Ich werde wohl bald abreisen müssen.«

»Sie werden uns fehlen.«

Er beugte sich vor und drückte meine Hand. »Ich werde hier alle und alles vermissen und ganz besonders Sie.«

Ich war sehr bewegt. Er hatte mich immer spüren lassen, daß er mich bewunderte, und ich fühlte eine gewisse Anziehungskraft zwischen uns, aber als völliger Neuling auf diesem Gebiet war ich mir meiner selbst nicht sicher. Ich wußte nur, daß ich sehr traurig sein würde, wenn er fortging.

Er erzählte mir von seinem Zuhause. Das Landgut lag in Buckinghamshire. Es befand sich seit Jahrhunderten im Besitz der Familie. »Mein Bruder ist sehr stolz darauf. Ich hing nie so sehr an unserem Besitz. Ich wollte reisen und die Welt sehen, er aber übernahm gern die Gutsherrenpflichten. Wenn er stirbt, ruht diese Last auf meinen Schultern. Ich hoffe inständig, daß meine Schwägerin Amelia einen Sohn bekommt, bevor er stirbt.«

»Ist das denn möglich, wenn er so krank ist?«

»Man kann nie wissen.«

»Wann werden Sie abreisen?«

»Seien Sie versichert, daß ich so lange hierbleibe, wie es mir möglich ist«

Abends beim Essen erzählte ich meinem Vater, daß Aubrey uns bald verlassen werde.

»Das finde ich sehr bedauerlich. Du wirst ihn vermissen, nicht wahr?« Er sah mich eindringlich an, und ich antwortete nach leichtem Zögern: »O ja, sehr.«

»Ach, weißt du, er ist vielleicht nicht der einzige, der abreist. Du weißt, es hat hier in letzter Zeit eine Menge Unruhen gegeben. Und es gibt etwas, was du nicht weißt, Susanna. Vor zwei Jahren hatte ich eine Krankheit.«

»Was für eine Krankheit? Du hast mir nichts davon gesehrieben.«

»Ich wollte kein Aufhebens davon machen. Es ist überstanden. Aber im Hauptquartier blieb es nicht unbemerkt.«

»Vater, was willst du damit sagen?«

»Daß ich allmählich in die Jahre komme.«

»Aber du bist erstaunlich gut in Form.«

»Das ändert nichts daran, daß ich langsam alt werde. Susanna, man hat mir Andeutungen gemacht.«

»Andeutungen?«

»Ich nehme an, daß ich bald ins Kriegsministerium nach London versetzt werde.«

»Meinst du wirklich? Und was war das für eine Krankheit?«

»Irgend etwas mit dem Herzen. Es ist vorbei.«

»Ach Vater, und du hast mir nichts gesagt!«

»Es bestand kein Grund dazu, nachdem alles überstanden war.«

»Ich hätte es aber wissen sollen.«

»Gänzlich unnötig. Doch wie gesagt, hier wird sich einiges ändern.«

»Wann werden wir heimkehren?«

»Du kennst doch das Hauptquartier. Wenn die Entscheidung gefallen ist, gibt es keinen Aufschub. Dann heißt es schleunigst ab in die Heimat, und schon wird ein Nachfolger hiersein, um an meine Stelle zu treten.«

»Ach Vater, wie ist dir dabei zumute?«

»Ehrlich gesagt, es wird mir nicht leid tun.«

»Aber du bist all die Jahre in Indien gewesen. Und du hast auch mich noch herkommen lassen.«

»Ich hatte einen Grund dafür. Ich entnahm deinen Briefen, daß du dir eine falsche Vorstellung von diesem Land machtest. Ich dachte, wenn sie nicht herkommt, wird sie es ihr Leben lang bedauern. Ich wollte, daß du zurückkehrst und das Land mit den Augen einer Erwachsenen siehst. Außerdem wärst du bestimmt furchtbar enttäuscht gewesen, wenn ich dich nicht hätte kommen lassen.«

»Du bist so gut zu mir.«

»Mein liebes Kind, ich hatte so vieles an dir gutzumachen. Die einsame Kindheit ... Dann wurdest du zu Menschen geschickt, die für dich im Grunde Fremde waren.«

»Du hast dein Bestes getan. So ergeht es allen Kindern in unseren Kreisen.«

»Ja, aber das macht es nicht leichter. Doch wie dem auch sei, ich rechne jeden Moment mit der Versetzung, und dann heißt es rasch abreisen.«

Ich hatte durchaus nichts dagegen und fragte mich schon, ob ich Aubrey in England sehen würde.

Abends im Bett dachte ich an meine Aja. Ich hatte sie etwas vernachlässigt. Als ich hergekommen war, hatte ich mich so auf unser Wiedersehen gefreut. Aber, wie mein Vater sagte, die Dinge ändern sich. Ich würde nie vergessen, was meine Aja mir in meiner Kindheit bedeutet hatte, aber ich war kein Kind mehr. Ich unternahm aufregende Streifzüge in die Welt der Erwachsenen, und die Empfindungen, die Aubrey in mir weckte, nahmen mich dermaßen gefangen, daß ich alles andere darüber leicht vergaß. Ich gelobte mir, Aja gleich am nächsten Tag aufzusuchen.

Ich wählte eine Zeit, da ich Mrs. Freeling im Club wußte. Sie war oft dort. Ich hatte sie mit etlichen jungen Offizieren gesehen, und sie lud auch Aubrey dorthin ein. Er erzählte mir, er gehe häufig in den Club. Ich hatte ihn sogar mit ihr dort gesehen, aber ich war nicht eifersüchtig. Es kam mir nicht in den Sinn, daß zwischen den beiden eine ernsthafte Beziehung bestehen könne; sie war schließlich eine verheiratete Frau. Ich war damals sehr naiv.

Meine Aja freute sich, mich zu sehen, und ich war beschämt, weil seit unserem letzten Treffen so viel Zeit vergangen war. Sie sah mich mit ihren traurigen Augen an, und ich sagte: »Du hattest recht damit, daß ich nicht lange bleibe. Mein Vater rechnet jeden Tag mit seiner Versetzung ins Kriegsministerium.«

»Du gehst fort von hier. Ja, vielleicht ist es für dich das Beste.«

»Liebste Aja, ich habe das Gefühl, als wäre ich gerade erst angekommen.«

»Hier geschehen schlimme Dinge. Du bist kein kleines Mädchen mehr.«

»Schlimme Dinge geschehen überall.«

Sie schüttelte den Kopf. Ich nahm ihre Hand und sagte: »Dich bedrückt etwas. Warum erzählst du es mir nicht? Du bist hier nicht glücklich. Ich könnte Vater bitten, dich anderswo unterzubringen.«

»Ich hänge an den Kleinen.«

»Und Mrs. Freeling und der Captain, sind sie nicht gut zu dir? Mir kannst du es ruhig sagen.«

»Ich kümmere mich nur um die Kinder. Der Captain liebt sie.«

»Dann ist es Mrs. Freeling? Mischt sie sich ein? Hat sie etwas an dir auszusetzen?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie zögerte einige Sekunden, dann platzte sie heraus: »Sie treffen sich ... Sie tun seltsame Dinge. Ich weiß, was es ist. Sie bauen es in den Dörfern an. Ich hab’s gesehen ... ganz oft ... als ich klein war. Es gedeiht gut in Indien, es sieht so hübsch aus, wenn die Mohnblumen mit den Köpfen nicken, so harmlos. Du würdest es nicht für möglich halten. Es gedeiht, wenn der Boden schön locker ist und mit Mist gedüngt und reichlich bewässert wird. Ich hab’ die Aussaat im November gesehen, und wenn im Januar die Samenkapseln so groß sind wie Hühnereier, ist es soweit.«

»Wovon sprichst du?«

»Man nennt es Opium. Das gibt es hier überall. Manche verkaufen es. Manche bauen es für sich selbst an. Sie rauchen es in ihren Pfeifen, und dann werden sie seltsam ... sehr seltsam.«

»Du meinst, sie sind berauscht? Erzähl mir mehr davon!«

»Das darf ich nicht. Es geht mich nichts an. Ich will nur nicht, daß meine Su-Su unter solche Leute kommt.«

»Du meinst Mrs. Freeling ...«

»Bitte, vergiß, was ich gesagt habe.«

»Du meinst, hier werden ... Orgien gefeiert. Ich muß es meinem Vater melden.«

»O nein, nein. Bitte nicht! Ich hätte nichts sagen sollen. Es war falsch von mir. Vergiß es, bitte!«

»Wie könnte ich? Du sagst, sie rauchen Opium. Das muß verboten werden.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Das gab es schon immer. Hier in den Dörfern ... Es ist so leicht anzubauen. Bitte, sprich nicht darüber. Nur, geh da nicht hin! Laß dich nicht verführen, es zu versuchen.«

»Mich verführen lassen? Niemals.«

»Ich hab’ sie hier gesehen. Sie benehmen sich seltsam. Ein Mann ist dabei. Er kommt oft her. Das ist der Teufelsdoktor. Er kauft Opium. Er nimmt es mit. Er beobachtet die Menschen und verführt sie. Ich glaub’, er ist ein Satan.«

Aha, dachte ich erleichtert, jetzt phantasiert sie. »Erzähl mir von dem Teufelsdoktor!« sagte ich.

»Er ist groß. Sein Haar ist schwarz wie die Nacht. Ich hab’ ihn einmal gesehen. Er trug einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut.«

»Hört sich wirklich teuflisch an. Sag, hatte er einen Pferdefuß?«

»Ich glaub’ schon.«

Ich atmete auf. Ich erinnerte mich an die Geschichten, mit denen sie mich in meiner Kindheit begeistert hatte: die Heldentaten der Götter Schiwa, Wischnu und Brahma, die sie alle drei inbrünstig verehrte. Ich nahm ihre Erzählungen nicht ernst Vielleicht war ihr bei Mrs. Freelings Gästen ein gewisses leichtfertiges Benehmen aufgefallen, das sie als Verhalten von Menschen auslegte, die Opium geraucht haben, und in ihrer Sorge um mich hatte sie das, was sie sah, übertrieben. Ich überlegte, ob ich es meinem Vater erzählen sollte. Aber da sie mich anflehte, es nicht zu tun, verdrängte ich die Angelegenheit. Ich hatte so viel anderes im Kopf, denn zwei Wochen, nachdem mein Vater mit mir gesprochen hatte, war ein Telegramm aus London gekommen. Sein Nachfolger sei schon unterwegs, und wir sollten unverzüglich unseren Umzug in die Wege leiten. Es schien mir wie eine Bestimmung des Schicksals. Ich war sehr aufgeregt. Diesmal würde ich Indien durchaus nicht ungern verlassen.

Aubrey St. Clare war begeistert. Als er hörte, daß wir eine Passage auf der »Aurora Star« gebucht hatten, beschloß er, auf demselben Schiff heimzukehren. Ich hatte durchaus nichts dagegen.

Wir hatten keine Wohnung in England, und mein Vater entschied, daß wir in einem Hotel abstiegen, während wir uns in London nach einem Haus umsahen und er in Erfahrung brachte, welche Aufgaben er im Kriegsministerium zu erfüllen hatte.

Meine Aja nahm tränenreich Abschied von mir. Ihre Schicksalsgläubigkeit half ihr über den Trennungsschmerz hinweg. Es sei vorherbestimmt, sagte sie, und sie habe doch bei meiner Rückkehr gewußt, daß ich nicht lange in Indien bleiben werde.

»Es ist gut, daß du fortgehst«, sagte sie, »auch wenn denen, die dich lieben, das Scheiden weh tut. Es wird hier Unruhen geben, und ich bin froh, wenn ich dich in Sicherheit weiß. Der Monsun hat keinen Regen gebracht, und die Ernte ist schlecht. Wenn es eine Hungersnot gibt, suchen die Leute Sündenböcke, und sie geben denen die Schuld, die sie beneiden. Ja, es ist wirklich das Beste für dich. Sei nicht so impulsiv, wie du immer warst, kleine Su-Su. Denke stets, bevor du handelst. Greif nicht zum Tand, weil du ihn versehentlich für Gold hältst!«

»Ich verspreche dir, liebe Aja, daß ich weniger impulsiv sein werde. Ich werde stets an dich denken und mich bemühen, klug zu handeln.«

Sie umarmte mich und gab mir einen feierlichen Kuß.

Als ich an Deck stand und die »Aurora Star« ablegte, war der letzte Mensch, den ich sah, meine Aja. Einsam und verloren stand sie da, und ihr blaßblauer Sari wehte sanft im Wind.

Es wurde eine zauberhafte Reise. Ich war sehr glücklich, im Unterschied zu damals, als ich, ein einsames kleines Mädchen, in der Obhut von Mrs. Fearnley dagegen ankämpfte, in lärmenden Protest auszubrechen, weil ich von meinem Vater und meinem geliebten Indien fortgerissen wurde. Diesmal war es ganz anders. Mein Vater wirkte verjüngt. Erst jetzt wurde mir klar, unterweicher Anspannung er gelebt haben mußte. Er hatte nie mit mir über seine Angst vor den Unruhen gesprochen. Ich lehnte in mondhellen Nächten an der Reling, sah zu dem samtenen Himmel und den goldenen Sternen hinauf und lauschte auf das sanft bewegte Meer. Aubrey war mein ständiger Begleiter. Morgens spazierten wir zusammen über die Decks, wir beteiligten uns an Gesellschaftsspielen, vertieften uns bei den Mahlzeiten in ausgedehnten Diskussionen mit unseren Tischnachbarn, und hinterher tanzten wir. Ich wünschte, diese Tage würden niemals enden, und versuchte, nicht zu weit vorauszuschauen. In Tilbury würden wir uns Lebewohl sagen, weil mein Vater und ich beabsichtigten, nach London aufzubrechen, Aubrey aber zu dem Landgut in Buckinghamshire Weiterreisen wollte.

Das Leben auf dem Schiff hatte etwas Unwirkliches. Man hatte das Gefühl, in einem kleinen Kosmos weitab von der realen Welt zu schwimmen. Hier gab es keine Unruhen, nur lange, sonnige Tage. Man lag an Deck, sah Delphine sich tummeln und fliegende Fische übers Wasser gleiten, und hier und da konnte man den Buckel eines Wals erspähen.

Einmal folgten drei Tage lang ein Albatros und sein Weibchen dem Schiff. Wir bewunderten die schönen Geschöpfe mit ihrer riesigen Flügelspannweite. Sie kreisten über uns, und manchmal dachten wir, sie würden gleich an Deck landen. Sie aber warteten darauf, daß Essensreste ins Wasser geworfen wurden. Es waren herrliche Tage mit ruhiger See und blauem Himmel, und das Schiff glitt friedlich heimwärts.

Dennoch gab es Abwechslung. Eines Tages gerieten wir in die Randausläufer eines Hurrikans. Die Stühle rutschten übers Deck, und es war unmöglich, aufrecht zu stehen. Das ist symbolisch, dachte ich. Nichts währt ewig, und der vollkommenste Frieden kann im Nu erschüttert werden.

Wir kamen nach Kapstadt, das mir schon von der vorhergehenden Reise bekannt war. Vater, Aubrey und ich fuhren in einer blumengeschmückten Kutsche, die von zwei Pferden mit Strohhüten gezogen wurde, in die Stadt. Es war viel aufregender als damals, was vermutlich an meiner Gesellschaft lag.

Es war am Abend, nachdem wir aus Kapstadt ausgelaufen waren. Wir hatten bei rauher See das Kap umfahren und hielten nun nach Norden auf die Kanarischen Inseln zu. Wir hatten die tropische Hitze hinter uns gelassen, das Wetter war kühl, und es ging fast kein Wind.

Mein Vater hatte sich nach dem Essen hingelegt, und ich war mit Aubrey allein. Wir setzten uns auf unseren Lieblingsplatz an Deck, und Seite an Seite lauschten wir auf das sanfte Plätschern des Wassers, das an den Schiffsrumpf schlug. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte Aubrey. »Bald sind wir zu Hause.« Ich bestätigte es ein wenig trübsinnig. »Es war eine wundervolle Reise.«

»Aus einem ganz bestimmten Grund.« Er nahm meine Hand und küßte sie. »Und der sind Sie.«

Ich lachte. »Sie haben viel zur Kurzweil beigetragen. Mein Vater ist heilfroh, daß Sie hier sind und er reinen Gewissens schlafen gehen kann, weil er mich in guten Händen weiß.«

»Susanna, ich habe nachgedacht. Wenn wir nach England kommen, was dann?«

»Es ist alles geplant. Vater und ich ziehen in ein Hotel und sehen uns sofort nach einem Haus um. Und Sie ... Sie haben Ihre Verpflichtungen.«

»Wir sagen doch nicht: ›Auf Wiedersehen, war nett, Sie kennengelernt zu haben‹, oder?«

»Ich weiß nicht, was geschehen wird, wenn wir nach England kommen.«

»Hängt das nicht vorwiegend von uns ab?«

»Eine Theorie besagt, daß alles, was geschieht, von uns selbst abhängt, während sich eine andere auf das Schicksal beruft. Was sein soll, wird sein.«

»Ich glaube, wir haben unser Schicksal in der Hand. Wollen Sie mich heiraten?«

»Meinen Sie das ernst?«

»Todernst.«

»Aubrey ...«, murmelte ich.

»Sie werden doch nicht etwa sagen: ›Das kommt alles so plötzlich‹, oder?«

»Nein.«

»Dann wollen Sie also?«

»Ich glaube, ja.«

»Sie glauben es nur?«

»Ich habe noch nie einen Heiratsantrag bekommen und weiß nicht recht, wie man sich dabei verhält.«

Er brach in Gelächter aus, dann nahm er mich in seine Arme und küßte mich.

»Das wollte ich schon lange«, sagte er. »Hast du es auch gewollt?«

»Ja, ich glaube schon.«

»Du glaubst! Weißt du es nicht? Zu jedem anderen Thema hast du so entschiedene Ansichten.«

»Ich bin ein Neuling in der Liebe.«

»Das liebe ich an dir. So jung, frisch, unschuldig, aufrichtig.«

»Ich wäre lieber etwas erfahrener wie so manche Ehefrau, Mrs. Freeling zum Beispiel.«

Er schwieg einen Moment. Ich hatte den Eindruck, er war unsicher und wollte etwas sagen. Anscheinend überlegte er es sich anders, und ich fragte mich schon, ob ich es mir nur eingebildet hatte.

»Das sind keine wirklich erfahrenen Leute«, meinte er schließlich. »Sie sind bloß älter als du und setzen sich andauernd auf Gesellschaften in Positur. Sei um Himmels willen nicht wie sie! Sei nur du selbst, Susanna! Das wünsche ich mir.« Er hielt meine Hand ganz fest, und wir blickten aufs Meer. »Eine einmalige Nacht«, sagte er. »Ruhige See, eine sanfte Brise, und Susanna hat eingewilligt, mich zu heiraten.«

Mein Vater war etwas besorgt, als ich es ihm erzählte. »Du bist noch sehr jung«, sagte er.

»Ich bin achtzehn. Im heiratsfähigen Alter.«

»Mag sein. Aber du bist gerade erst aus der Schule. Du hast eigentlich noch niemanden richtig kennengelernt.«

»Das ist auch nicht nötig. Ich liebe Aubrey.«

»Dagegen ist wohl nichts einzuwenden. Ich nehme an, er wird eines Tages den Landsitz in Buckinghamshire übernehmen. Er scheint recht gut situiert zu sein. Nun bist du also verlobt! Erstaunlich, wie viele Menschen sich auf Seereisen verloben. Es muß an der Luft liegen.«

»Tropische See, fliegende Fische, Delphine ...«

»Hurrikane, Brecher und Seekrankheit.«

»Sei doch nicht so unromantisch, Vater! Sag lieber, daß du dich freust und stolz bist auf deine Tochter, die es geschafft hat, ohne kostspielige Einführung in die Londoner Gesellschaft einen Mann zu finden.«

»Mein liebes Kind, ich will nur dein Glück. Du hast dir den Mann ausgesucht, und wenn er dich glücklich macht, bin ich’s zufrieden.« Er gab mir einen Kuß. »Du mußt mir aber helfen, ein Haus in London zu finden«, sagte er dann. »Auch wenn du zweifellos mit deinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt sein wirst.«

»Ganz gewiß. Ach Vater, eigentlich hatte ich vor, für dich zu sorgen.«

»Und nun wirst du für deinen Mann sorgen. Ich bin tief gekränkt.«

Ich umarmte ihn und war von plötzlicher Sorge erfüllt. Wie krank war er gewesen? Und warum hatte man gewünscht, daß er Indien verließ?

Ich war so glücklich. Die Zukunft erschien mir so aufregend, daß ich mich daran erinnern mußte, daß wirkliche Vollkommenheit im Leben selten ist. Ich mußte auf den Wurm im Holz achten, auf den Makel im Diamanten. Nichts konnte so vollkommen sein, wie es an dem Abend schien, als Aubrey mich fragte, ob ich seine Frau werden wollte.

Es gab so viel zu besprechen und zu planen. Aubrey wollte uns nach London begleiten und ins Hotel bringen, ehe er nach Hause fuhr. Später sollten mein Vater und ich dem Gutshof St. Clare in Buckinghamshire einen Besuch abstatten.

Ich freute mich auf die Ankunft in Tilbury – ich mußte ja nicht mehr befürchten, daß sie den endgültigen Abschied von Aubrey bedeutete. Aubrey befand sich in einem Zustand der Euphorie, und es machte mich ungeheuer froh, daß ich die Ursache dafür war.

So verabschiedeten wir uns denn mit dem Versprechen, daß wir Aubrey in zwei Wochen zu Hause besuchen würden. Seine Schwägerin Amelia werde entzückt sein, versicherte er uns.

Was seinen Bruder angehe, so wisse er nicht, in welchem Zustand er ihn antreffen werde. Ich fragte, ob denn Gäste willkommen seien, wenn sein Bruder so krank war, aber er beschwichtigte mich, es sei ein großes Haus mit einer Menge Personal, und sein Bruder und dessen Frau wollten mich bestimmt unbedingt kennenlernen.

Wir hatten behagliche Zimmer in einem etwas altmodischen Hotel in der Nähe des Piccadilly, wo auch Onkel James während seiner kurzen Londonaufenthalte immer abzusteigen pflegte, Am folgenden Tag begab ich mich auf Haussuche, und mein Vater sprach im Kriegsministerium vor.

Ich fand ein kleines möbliertes Haus, das ich meinem Vater bei der nächsten Gelegenheit zeigen wollte.

Als er ins Hotel zurückkam, machte er einen sehr aufgeregten Eindruck. Er sollte im Kriegsministerium einen verantwortungsvollen Posten übernehmen. Das Haus sah er sich an, und er meinte, wir sollten es mieten und Anfang der folgenden Woche einziehen. Ich war sehr mit der Einstellung von Dienstboten und etlichen Anschaffungen für unser neues Heim beschäftigt. Mein Vater meinte traurig: »Später werde ich wohl eine Junggesellenwohnung brauchen, denn du wirst dir dein Heim mit einem anderen einrichten.«

»Hochzeiten wollen von langer Hand vorbereitet sein. Ich werde noch eine Weile bei dir bleiben. Und ich werde dich auf alle Fälle oft besuchen. Buckinghamshire ist nicht sehr weit.«

Ich hatte die Haussuche ziemlich aufregend gefunden. Häuser hatten mich schon immer interessiert. Sie schienen ihre eigene Persönlichkeit zu haben. Manche dünkten mich glücklich, andere geheimnisvoll, wieder andere sogar etwas beängstigend. Mein Vater lachte über meine »Hirngespinste«, aber ich hatte nun mal ein lebhaftes Gefühl für Atmosphäre.

Es freute mich, daß es meinem Vater im Kriegsministerium gefiel. Ich hatte befürchtet, daß er nach dem aktiven Dienst die Schreibtischarbeit langweilig finden würde. Mitnichten. Sie machte ihm Spaß, und ich war überzeugt, daß es eine gute Entscheidung war, ihn nach Hause zurückzuberufen. Manchmal sah er etwas müde aus, aber er war ja auch kein junger Mann mehr. Dann und wann fragte ich mich, was er seinerzeit für eine Krankheit gehabt haben mochte, aber weil ich merkte, daß er nicht gern darüber sprach, erkundigte ich mich nicht. Er fühlte sich jetzt wohl, und ich redete mir ein, es gebe keinen Grund zur Sorge und wir würden alle auf ewig herrlich und in Freuden leben.

Wir zogen in das möblierte Haus, das sich als ideal für uns erwies. Die zwei Dienstmädchen, Jane und Polly, die ich eingestellt hatte, waren brav und willig. Sie waren Geschwister und freuten sich, daß sie zusammen Arbeit gefunden hatten.

Mein Vater benötigte eine Kutsche für den Weg zum und vom Kriegsministerium. Er besorgte eine mitsamt Kutscher. Joe Tugg, ein Witwer Ende Vierzig, war froh, bei uns zu sein, denn er hatte, wie er sich oft brüstete, 20 Jahre lang die Postkutsche von London nach Bath gefahren, bis »mir der Dampf den Lebensunterhalt nahm«, womit er sagen wollte, daß das Aufkommen der Eisenbahn für viele alte Kutscher den Ruin bedeutete. Über den Stallungen hinter dem gemieteten Haus befanden sich zwei Räume, und dort zog Joe ein. Wir waren eine sehr zufriedene Hausgemeinschaft.

Aubreys Schwägerin Amelia St. Clare schrieb mir, daß sie sich auf meinen Besuch freue, und gratulierte mir zur Verlobung. Ihr Mann sei sehr krank, aber er wolle mich unbedingt kennenlernen. Gewöhnlich gäben sie mit Rücksicht auf die Krankheit ihres Mannes keine Einladungen, aber ich gehörte für sie zur Familie. Es war ein sehr herzlicher Brief. Aubrey schrieb, er sehne sich nach mir. Er werde uns am Bahnhof abholen.

Zwei Tage vor dem Besuch kam mein Vater abends sehr aufgeregt nach Hause. »Ich kann unmöglich mitkommen«, sagte er. »Ich werde im Amt gebraucht, vielleicht sogar übers Wochenende. Es hat sich etwas sehr Wichtiges ereignet. Es geht um Indien, und weil ich das Land so gut kenne, ist meine Anwesenheit erforderlich.«

Ich war schrecklich enttäuscht Schließlich meinte ich: »Ich kann ohne dich hinfahren. Jane und Polly werden für dich sorgen.«

Er runzelte die Stirn.

»Ach komm«, sagte ich, »ich bin kein Kind mehr. Ich bin eine weitgereiste Frau. Und falls du an eine Anstandsdame denkst, Amelia St. Clare ist auch noch da.«

Er zögerte.

»Ich werde fahren«, sagte ich bestimmt. »Du mußt selbstverständlich hierbleiben. Du kannst deine Vorgesetzten nicht im Stich lassen, zumal du den Posten eben erst angetreten hast. Ich fahre voraus, und vielleicht kommst du später nach. Ich muß hin. Schließlich bin ich verlobt.«

»Nun gut. Ich könnte dich in den Zug verfrachten, und Aubrey soll dich dann abholen.«

»Um Himmels willen, das hört sich ja an, als wäre ich ein Paket!«

Und so kam es, daß ich an einem heißen, schwülen Sommertag zum Gutshof St. Clare aufbrach.

Mein Vater setzte mich wie angekündigt in den Zug, und während ich ihm zum Abschied zuwinkte, versuchte ich, meine Besorgnis beiseite zu schieben. Ich machte mir Gedanken um seinen Gesundheitszustand und die mysteriöse Krankheit, die er vor einiger Zeit hatte. Ich nahm mir vor, ihn zu überreden, mir alles darüber zu erzählen, sobald wir wieder zusammen waren. Als ich aber meinem Ziel näher und näher kam, ließ ich mich von meiner Vorfreude gefangennehmen.

Aubrey erwartete mich auf dem Bahnsteig. Er eilte lächelnd auf mich zu und nahm meine Hände. »Willkommen, Susanna! Schön, dich wiederzusehen!« Er legte seinen Arm um mich und rief dem Gepäckträger, der uns neugierig beobachtet hatte, zu: »Laden Sie das Gepäck in die Kutsche, Bates, ja?«

»Jawohl, Sir«, sagte Bates, und Aubrey führte mich aus dem Bahnhof zu einer Kutsche. Ich riß vor Staunen die Augen auf. Es war ein prachtvolles Gefährt, purpurrot, von zwei herrlichen Grauen gezogen. Obwohl ich nicht viel von Pferden verstand, konnte ich erkennen, daß dies sehr edle Tiere waren.

Aubrey bemerkte mein Staunen über die Kutsche. »Sie ist so prächtig«, sagte ich.

»Ich habe sie von meinem Bruder übernommen. Er kann sie jetzt nicht benutzen.«

»Wie geht es ihm?«

»Sehr schlecht.«

»Vielleicht hätte ich lieber nicht kommen sollen.«

»Unsinn. Hier hinein, Bates! Gut so. Komm, Susanna!« Er half mir hinauf auf den Kutschbock, dann kletterte er selbst hinauf und ergriff die Zügel.

»Erzähl mir von deinem Bruder«, bat ich.

»Der arme Stephen. Er liegt seit Wochen im Sterben. Die Ärzte meinen ... es kann jeden Moment zu Ende gehen.«

»Wie traurig.«

»Deshalb mußte ich ja herkommen. Amelia ist sehr gespannt auf dich.«

»Sie hat mir einen so netten Brief geschrieben.«

»Das ist typisch für sie. Sie hat es schwer, die Ärmste.«

»Schade, daß Vater nicht mitkommen konnte. Aber du verstehst das doch?«

»Natürlich, aber die Hauptsache ist, daß du da bist Hoffentlich gefällt dir das Haus. Du mußt es mögen, es wird ja dein Heim.«

»Ich bin ganz aufgeregt.«

»An diese alten Gebäude muß man sich erst gewöhnen. Für uns, die wir darin aufgewachsen sind, gehören sie sozusagen zur Familie.«

»Aber du warst eine ganze Weile fort von zu Hause. Du bist weit gereist. Irgendwann mußt du mir das alles erzählen.«

»Das Haus wird demnächst mein Eigentum. Man hat ein anderes Verhältnis zu den Dingen, wenn sie einem nicht gehören. Sicher, es war immer mein Zuhause, aber mein Bruder war der Herr im Haus. Ich kam mir eher wie ein Gast darin vor.«

»Ich verstehe.«

»Du wirst es bestimmt interessant finden. Einer meiner Vorfahren hat das Haus im 16. Jahrhundert erbaut. Es ist ein echtes Tudorgebäude, auf den Resten alter Klostermauern errichtet.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß es so alt ist. Ich hatte mir ein schlichtes Gutsgebäude vorgestellt.«

»Wart’s nur ab!«

Wir waren auf ein befestigtes Straßenstück gekommen, und die Pferde verfielen in Galopp. Ich wurde gegen Aubrey geworfen. Er lachte. »Sie können wirklich laufen, diese Grauen«, sagte er. »Eines Tages zeige ich dir, was sie leisten können.« Er lachte. Es war schön, neben ihm zu sitzen und sich die Ankunft in dem alten Haus vorzustellen, das mein Heim werden sollte. Ich war fasziniert von Aubreys meisterhaftem Umgang mit den Pferden. Es machte ihm sichtlich Spaß.

Wir waren an einer Mauer angelangt. Ein schweres Eisentor stand offen. Wir fuhren eine Auffahrt entlang, und die Pferde gingen nun im Trab.

Dann sah ich das Gebäude. Ich hielt den Atem an. So prachtvoll hatte ich es mir nicht vorgestellt. Der Mittelbau mit Tor und Fallgittern war von zwei mit Pechnasen bewahrten Türmen flankiert.

Aubrey sah mich an, hocherfreut über meine unverhohlene Bewunderung. »Es ist großartig«, stammelte ich. »Wie konntest du nur so lange von hier fortbleiben!«

»Ich sagte doch, ich wußte nicht, daß es einmal mir gehören würde.«

Wir fuhren durch das Tor in einen Hof, wo zwei Stallknechte erschienen. Aubrey warf einem die Zügel zu, sprang hinunter und half mir beim Heruntersteigen.

»Das ist Miss Pleydell, Jim«, sagte er.

Ich lächelte, und der Mann tippte sich grüßend an die Schläfe.

»Laß das Gepäck sogleich hereinbringen«, befahl Aubrey. Dann nahm er meinen Arm und sagte: »Komm!«

Er führte mich in einen von Gebäuden umgebenen Innenhof. Die Mauern waren mit Kletterpflanzen bewachsen, und die Gitterfenster wirkten wie Augen, die unter buschigen Brauen hervorlugten. Hier standen ein Tisch und Stühle mit flammendroten Kissen und eine Reihe Töpfe mit blühenden Stauden. Es war sehr hübsch, und doch hatte ich ein Gefühl der Beengtheit, als ob die Mauern mich einschlössen. Durch einen modrigen, überwölbten Gang kamen wir in einen größeren Hof. Vor uns befand sich eine schwere eisenbeschlagene Tür mit einem zurückklappbaren Paneel, damit man, wie ich vermutete, sehen konnte, wer draußen stand, bevor man ihn einließ. Aubrey stieß die Tür auf, die laut knarrte. Wir traten in eine hohe Halle. Ich blickte zu der Balkendecke hinauf, dann betrachtete ich die weißgetünchten Wände, an denen Waffen und Jagdtrophäen hingen. In jeder Ecke der Halle stand eine Rüstung, wie Wächter, die das Haus bewachten. Ich bewunderte zwischen den Fenstern die Wappentafeln, die sämtlich mit einem Lilienwappen versehen waren.

Aubrey beobachtete mich mit nahezu kindlicher Freude, was ich überaus reizvoll fand.

»Es ist so aufregend«, sagte ich.

»Ich sehe, du bist beeindruckt. Und gleichzeitig etwas eingeschüchtert. Das brauchst du nicht zu sein. Dies ist der alte Teil des Hauses. Wir lassen ihn wie er ist. Die Räume, die wir bewohnen, sind gemütlicher. Du wirst es gewiß als angenehm empfinden, daß wir uns, obwohl wir das Alte erhalten wollen, ein wenig modernen Komfort gestatten. Ah, da ist Amelia! Darf ich vorstellen: Susanna – Amelia St. Clare.«

Aubreys Schwägerin war die Treppe heruntergekommen, die sich an einem Ende der Halle befand. Amelia war eher elegant als schön, ich schätzte sie auf Anfang Dreißig. Ihre blonden Haare hatte sie hochgesteckt, wohl um größer zu wirken. Ihre blauen Augen blickten forschend, was nur zu verständlich war, und sie wirkte sympathisch.

Sie drückte mir die Hand. »Herzlich willkommen«, sagte sie.

»Möchten Sie gleich in Ihr Zimmer gehen? Sicher möchten Sie sich nach der Reise ausruhen.«

»Ich bin überhaupt nicht müde. Ich bin so beeindruckt von diesem wunderschönen Haus. Ich hatte keine Ahnung, daß es so feudal ist.«

»Ja, es ist imponierend. Für meinen Mann war dieses Haus und das dazugehörige Gut sein ... Leben.«

Eine unendliche Traurigkeit lag in ihrer Stimme, und ich schloß sie sogleich ins Herz. »Kommen Sie hier entlang«, sagte sie. »Ich lasse Ihnen heißes Wasser hinaufbringen. Sie möchten sich sicher gern waschen. Ihr Gepäck wird gerade hinaufgebracht.«

Ich folgte ihr die Treppe hinauf. Oben drehte ich mich um. Aubrey blickte mit einer Miene, die ich nicht zu deuten vermochte, zu uns herauf.

Wir kamen zu einer Porträtgalerie; an einer Schmalseite war ein Podium mit einem Klavier. »Dies ist die sogenannte lange Galerie. Unmittelbar darüber befindet sich das Sonnenzimmer.« Wir durchquerten die Galerie und stiegen eine kurze Wendeltreppe zu einem Flur hinauf. »Hier liegen die Schlafräume. Ich habe Ihnen das grüne Zimmer gegeben. Es hat eine herrliche Aussicht.«

Das grüne Zimmer war ein großer Raum mit einer hohen Gewölbedecke, dessen Fenster auf die Auffahrt hinausgingen. Es enthielt ein Himmelbett aus Nußbaumholz mit einer gesteppten Tagesdecke aus grüner Seide und einen Nußbaumsekretär. Die vorherrschende Farbe der gepolsterten Stuhlsitze war ebenfalls Grün.

»Wunderschön«, sagte ich.

»Hier drüben ist ein Alkoven. Ah, da ist der Krug mit dem heißen Wasser. Und hier ist Ihr Gepäck. Ein Mädchen wird Ihnen beim Auspacken helfen.«

»Das kann ich allein«, sagte ich. »Es ist nicht viel.«

»Ich hoffe, Sie werden sich wohl fühlen.« Sie zögerte. »Mein Mann möchte Sie unbedingt sehen.«

»Ich möchte ihn auch kennenlernen.«

»Er ist sehr krank.«

»Ja, ich weiß.«

Ihre Lippen zitterten. »So«, fuhr sie mit gezwungener Munterkeit fort, »ich lasse Sie jetzt allein. Wenn Sie fertig sind, läuten Sie. Ich hole Sie dann ab, oder ich schicke Ihnen ein Mädchen.«

»Das ist lieb von Ihnen«, sagte ich.

Sie ging hinaus. Eine ungeheure Erregung nahm von mir Besitz. Ich stellte mir mein Leben als Herrin dieses Hauses vor. Dann dachte ich an Amelia, die diese Position noch innehatte, und ich fragte mich, ob sie mich wohl als Eindringling empfand. Ich mochte sie sehr. Ihre herzliche Begrüßung schien echt gewesen zu sein, und sie machte auf mich den Eindruck, daß sie sehr an ihrem Mann hing.

Rasch wusch ich mich, packte meine Sachen aus und zog ein helles Nachmittagskleid an. Dann läutete ich.

Ein junges Mädchen erschien. Ich sah an ihrer Miene, daß sie sehr neugierig war; sie konnte die Augen nicht von mir abwenden. Ich erkundigte mich nach ihrem Namen. Sie hieß Emily. Ich sagte ihr, ich sei nun bereit, mich zu meinen Gastgebern zu gesellen.

»Sehr wohl, Miss. Wünschen Sie, daß ich auspacke?«

Als ich ihr sagte, daß ich es bereits getan hatte, machte sie ein enttäuschtes Gesicht. Ich vermutete, sie hätte den anderen Dienstboten gern eine Beschreibung meiner Kleider gegeben.

»Zeigen Sie mir bitte den Weg, Emily.«

»Sehr wohl, Miss. Der Tee wird im Wintergarten serviert. Wenn Sie mir bitte folgen wollen ...«

Ich folgte ihr die Wendeltreppe hinab und dann noch eine andere Treppe. Emily klopfte an eine Tür und hielt Sie auf. Ich ging hinein. Amelia machte sich gerade an einem Teetablett zu schaffen. Aubrey erhob sich, als ich eintrat.

Es war ein hübsches Zimmer mit hoher Decke, Wandteppichen und Stuhlpolstern in Petitpoint-Stickerei. Ein gemütlicher Raum.

»Das ging aber schnell«, sagte Aubrey. »Ich hoffe, dein Zimmer gefällt dir.«

»Mehr als das. Es ist wunderhübsch. Ich fürchte, ich werde mich nie daran gewöhnen, in so einem Haus zu leben.«

»Dir wird aber nichts anderes übrigbleiben«, sagte Aubrey.

»Wie möchten Sie Ihren Tee?« fragte Amelia. »Stark? Schwach? Sahne? Zucker?«

Ich sagte es ihr, und sie reichte mir die Tasse. »Nach dem Tee müssen Sie mit zu Stephen kommen«, sagte sie.

»Sehr gern. Liegt er zu Bett?«

»Im Augenblick ja. Wenn er einen guten Tag hat, steht er auf und setzt sich in seinen Sessel am Fenster.«

»Ich bin bereit, wann immer es genehm ist.«

»Die Köchin hat diese Plätzchen für Sie gebacken. Sie müssen sie probieren. Sie nimmt es übel, wenn man ihre Speisen nicht würdigt.«

»Danke. Die sehen lecker aus.«

»Ich möchte dir das Haus zeigen«, sagte Aubrey.

»Ich kann es gar nicht erwarten.« Ich blickte aus dem Fenster.

»Das sind die Stallungen«, erklärte Aubrey.

»Scheinen sehr geräumig zu sein.«

»Wir sind alle Pferdenarren in unserer Familie.«

»Reiten Sie gern?« fragte Amelia.

»Ich bin nicht viel geritten. In Indien bin ich gemächlich auf meinem Pony getrabt, und als ich in den Schulferien bei meinem Onkel und meiner Tante auf dem Land war, bin ich ein wenig geritten. Es macht mir Spaß, aber ich würde mich nicht gerade als erfahrene Reiterin bezeichnen.«

»Dem werden wir bald abhelfen«, sagte Aubrey. »Man braucht hier ein Pferd. Unser Gut liegt sehr einsam.«

»Die nächste Stadt ist gut drei Kilometer entfernt«, setzte Amelia hinzu. »Und es ist nur eine Kleinstadt«

Sie erkundigte sich nach meiner Zeit in Indien, und ich erzählte ihr von meiner Kindheit, und wie ich mich im Pfarrhaus meines Onkels nach Indien zurückgesehnt hatte. »Ich sah das Land während meiner ganzen Schulzeit durch eine rosarote Brille, und als ich dann zurückkam ...«

»Hatten Sie die Brille abgenommen«, ergänzte Amelia, »und Sie sahen Indien im kalten Tageslicht.«

»Sie hat sie wieder aufgesetzt, als sie mich sah«, sagte Aubrey. Amelia machte ein verständnisloses Gesicht, aber Aubrey lachte.

Nach dem Tee ging Amelia nachsehen; sie meinte, wenn Stephen wach sei, solle ich jetzt zu ihm kommen. Sie ließ mich kurze Zeit mit Aubrey allein. Er saß ganz still und sah mich eindringlich an.

»Es ist so traurig für Amelia«, sagte ich. »Sie muß sehr besorgt sein um ihren Mann.«

»Er ist schon geraume Zeit krank. Sie weiß seit Wochen, daß keine Hoffnung mehr besteht.«

»Sie ist sehr tapfer.«

Er schwieg. Schließlich sagte er: »Meinst du, du kannst das Haus liebgewinnen?«

»J-ja, ich glaube schon.«

»Du zögerst.«

»Im Moment scheint es mir etwas abweisend.«

»Abweisend! Wie meinst du das?«

»Du hast gesagt, daß Häuser zur Familie gehören. Alte Familien haben oft etwas gegen Neulinge. Und ich bin nun mal ein Neuling.«

»Unsinn. Hast du das Gefühl, daß Amelia etwas gegen dich hat?«

»Nein, ganz sicher nicht.«

»Das Tor? Das Fallgitter? Der Wintergarten? Haben die etwas gegen dich?«

»Es kam so überraschend. Ich hatte nicht mit einem so uralten Haus gerechnet. Du hast mich nicht genügend gewarnt.«

»Ich wollte kein übertriebenes Loblied singen, sonst wärst du am Ende enttäuscht gewesen.«

»Niemals!«

Die Tür ging auf. »Er ist wach«, sagte Amelia, »und möchte Sie gern sehen.«

Stephen St. Clare saß auf Kissen gestützt in dem großen Himmelbett, das mit schweren Vorhängen mit Stickereien auf cremefarbenem Grund versehen war. Es war offensichtlich, daß er schwer krank war. Sein Gesicht schimmerte gelblichgrau, die dunklen Augen waren eingesunken. Seine klauenhaften Hände lagen auf der Tagesdecke.

»Das ist Susanna, Stephen«, sagte Aubrey.

Die eingesunkenen Augen musterten mich. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen«, sagte er.

»Ganz meinerseits«, erwiderte ich.

Amelia rückte einen Stuhl ans Bett, und ich setzte mich. Sie und Aubrey nahmen etwas entfernt Platz. Amelia erklärte, ich werde eine Woche bleiben und dann heimkehren, um die Hochzeitsvorbereitungen zu treffen.

»Ich nehme an, Sie werden die Hochzeit bei sich zu Hause ausrichten«, sagte Stephen.

»Vater und ich sind der Meinung, sie sollte im Pfarrhaus meines Onkels stattfinden«, erwiderte ich. »Mein Onkel möchte gern die Trauung vornehmen.« Ich lächelte Aubrey an. »Wir haben noch nicht viel über die Vorbereitungen gesprochen.«

»Ich hoffe, ihr werdet nicht zu lange warten«, sagte Stephen. »Dazu gibt es keinen Grund.« Aubrey lächelte mich an und fügte hinzu: »Hoffentlich.«

»Ich habe in letzter Zeit nicht viel tun können, nicht wahr, Amelia?« meinte Stephen.

»Nein, aber wir haben einen guten Verwalter. Alles läuft reibungslos. Und da Aubrey nun zu Hause ist ...«

»Amelia war mir eine große Hilfe«, sagte Stephen. »So, wie Sie Aubrey eine Hilfe sein werden.«

»Ich werde mein Bestes tun.«

Er nickte.

Amelia blickte ihren Mann besorgt an. »Du mußt jetzt schlafen, Stephen. Du kannst Susanna noch oft sehen, bevor sie abreist. Sie kommt morgen wieder zu dir.«

Stephen nickte, er hatte die Augen halb geschlossen.

Amelia und ich standen auf. Ich beugte mich über das Bett und sagte: »Ich komme bald wieder.«

Stephen schlug die eingesunkenen Augen auf und lächelte.

Wir verließen das Zimmer, und Amelia schloß die Tür.

»Er ist heute sehr schwach«, stellte Aubrey fest.

»Ja, aber er wollte Susanna unbedingt sehen.«

Aubrey schlug vor, mit mir einen Spaziergang durch den Garten zu machen und mir die Stallungen zu zeigen, und wir gingen nach draußen.

In den nächsten Tagen wurde ich mit dem Gut St. Clare und seinen Bewohnern vertraut. Ich hatte das Gefühl, Aubrey nun besser zu kennen als zuvor. Menschen wirken in der Umgebung ihres Zuhauses oft anders. Ich staunte über seine Begeisterung für das Anwesen. In Indien hatte er etwas von einem Nomaden an sich gehabt, ein Mann von Welt, vielleicht ein wenig zynisch. Jetzt war er fast ein anderer Mensch. Ich entdeckte gewisse Züge an ihm, die mir vorher nicht aufgefallen waren, die leidenschaftliche Liebe zu dem Haus, die sich entwickelt zu haben schien, weil es bald ihm gehören würde, und zwar recht bald, dachte ich unwillkürlich, denn sein Bruder war zweifellos sehr, sehr krank. Dann seine Pferdeliebe. Er hielt sich gern im Stall auf und machte mich stolz auf die edlen Gliedmaßen der Pferde aufmerksam. Wenn er die Kutsche lenkte, wurde er ausgesprochen kühn. Er ließ die prachtvollen Grauen in mörderischem Tempo rasen, so daß ich fast aus dem Wagen geworfen wurde – je schneller es ging, desto vergnügter wurde Aubrey. Ich fand es etwas gefährlich und sagte es ihm. »Nicht mit mir«, erwiderte er stolz, »ich bin vollkommen Herr der Sache.« Mir schien, er liebte die Gefahr um ihrer selbst willen, und wäre er nicht so erfahren im Umgang mit Pferden gewesen, so hätte ich Angst um ihn gehabt. Sein Stolz auf seinen Pferdeverstand hatte etwas Kindliches, und das fand ich liebenswert.

Jeden Tag, wenn ich aufstand, trat ich ans Fenster und blickte auf die Auffahrt, und dann sagte ich zu mir: Dieses grandiose Haus wird mein Heim. Werde ich hier glücklich sein?

Amelia hatte mir das Haus gezeigt, die Schlafräume, das Sonnenzimmer mit seinen Sofas, Sesseln und hohen Spiegeln, den Fenstern und Nischen. In einer stand ein altes Spinnrad. Sie hatte mich in die lange Galerie mit den Porträts geführt und sogar in die Küche, wo ich der Köchin vorgestellt wurde – ich vergaß nicht, sie zu ihren Plätzchen zu beglückwünschen –, sodann in den Küchenhof mit den Töpfen und Handmühlen, die noch immer zum Mahlen von Korn und Erbsen verwendet wurden.

Amelia und ich freundeten uns mit jedem Tag mehr an. Sie hatte eine Traurigkeit an sich, die mir den Wunsch eingab, sie zu trösten. Sie liebte ihren Mann; sie waren offenbar miteinander glücklich gewesen. Sie hing sehr an dem Haus. Sie zeigte mir etliche Verbesserungen, die sie vorgenommen hatte. So erzählte sie mir, daß das Dach erneuert werden mußte und wie schwer mittelalterliche Dachpfannen aufzutreiben gewesen seien. Sie zeigte mir die Ausstattung, die sie für einige Schlafzimmer ausgesucht hatte, weil die alte abgenutzt war. Sie liebte das Haus, und nun würde sie nicht nur ihren Mann verlieren, sondern obendrein ihr Heim. Aber, dachte ich, vielleicht bleibt sie hier. Große Familien pflegten in den Häusern der Vorfahren zu bleiben, und sie war hier schließlich die Herrin gewesen – also würde es immer ihr Zuhause sein.

Ich machte mir darüber Gedanken. Das Thema war zu heikel, um es auszusprechen. Ich unterhielt mich auch nicht mit Aubrey darüber. Es war besser, abzuwarten, bis sich ein natürlicher Anlaß dazu ergab.

Aubrey und ich ritten über das Gut. Ich fürchtete, daß ich mich mit meiner unzulänglichen Reiterei blamieren würde; aber er war sehr rücksichtsvoll, und wenn wir galoppierten, behielt er mich im Auge. Doch wenn ich mit ihm in der Kutsche fuhr, war er jedesmal tollkühn, so sehr lag ihm daran, mir sein Können vorzuführen. Er besaß wirklich großes Geschick. Die Pferde reagierten auf die leichteste Aufforderung. Ich liebte ihn immer mehr. Ich liebte seinen Stolz und seine besessene Liebe zu dem Haus. Ich spürte, daß er mich brauchte, und das war ein sehr befriedigendes Gefühl.

Es fanden ein, zwei Abendeinladungen in sehr kleinem Kreis statt: Aubrey sagte, da Stephen so krank sei, könnten sie keine großen Gesellschaften geben; sie luden nur einige Nachbarn und Freunde der Familie ein, um mich ihnen vorzustellen. Ich lernte Amelias Eltern kennen, Sir Henry und Lady Carberry, die nach einem Besuch bei Freunden auf dem Land auf dem Rückweg zu ihrem Londoner Haus waren. Sie hatten eine junge Frau bei sich, die mir als Henrietta Marlington vorgestellt wurde. Sie war die Tochter von guten Freunden, und sie nahmen sie nun mit nach London, wo sie eine Weile bleiben wollte. Sie war überaus attraktiv, was sie mehr ihrer Vitalität als ihrem beachtlich guten Aussehen zu verdanken hatte. Amelias Eltern hatten Henrietta offenbar sehr gern, und das konnte ich gut verstehen. Leider währte ihr Besuch nur kurz. Ich war gern mit Amelia allein, was sehr häufig vorkam, weil Aubrey sich nach seinem langen Auslandsaufenthalt mit der Verwaltung des Guts vertraut machen mußte und die Vormittage meist mit dem Verwalter verbrachte.

Eines Tages sprach Amelia vertraulicher mit mir als je zuvor. »Ich weiß nicht, wie ich ohne Stephen leben soll«, sagte sie. »Vielleicht«, meinte ich ziemlich verlogen, denn ich wußte, daß es nicht sein konnte, »wird er genesen.«

»Nein«, erwiderte sie traurig, »das ist unmöglich. Bis vor einem Monat hatte ich noch Hoffnung. Es gab Zeiten, da war er beinahe der alte. Aber in Wirklichkeit ging es ihm allmählich immer schlechter. Er hat oft mit mir über das Gut gesprochen. Erst kürzlich ist ihm bewußt geworden, daß es an Aubrey fallen wird, der sich bislang nicht sonderlich dafür interessiert hat.«

»Aber jetzt liegt ihm sehr viel daran.«

»Ja, er hat sich verändert. Wohl weil er weiß, daß es bald ihm gehören wird. Wir – Stephen und ich – hatten immer gedacht, wir könnten Kinder haben.«

Wir schwiegen ein Weilchen, dann platzte sie heraus: »Ach, Susanna, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehnsüchtig Stephen und ich uns Kinder gewünscht haben. Es war das einzige, worin ich ihn enttäuscht habe.«

»Du darfst dich nicht für so ein Schicksal verantwortlich fühlen.«

»Ich habe alles getan. Ich hatte drei Fehlgeburten.«

»Oh, das tut mir leid.«

»Das erste ... Ich glaube, das war meine Schuld. In vier Monaten hätte mein Kind kommen sollen. Ich ging reiten und verlor es. Ich bin so gerne geritten. Es war töricht. So verlor ich das erste. Und wenn so etwas erst einmal anfängt, geht es weiter.«

»Wie traurig.«

»Beim nächsten war ich so vorsichtig. Aber nach zwei Monaten hatte ich das Kind verloren. Beim nächsten kam ich bis zum dritten Monat.«

»Das muß ja schrecklich gewesen sein.«

»Eine große Enttäuschung für uns beide. Stephen wünschte sich so verzweifelt ein Kind, einen Sohn, der später das Gut übernehmen könnte.«

»Ich verstehe.«

»Nun ja, so ist das Leben. Verzeih mir meinen Ausbruch. Du bist so mitfühlend. Ich bin überzeugt, daß du die Richtige für Aubrey bist. Er braucht eine wie dich.«

»Oh, ich glaube, er ist durchaus in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen.«

Sie antwortete nicht. Sie sah unendlich traurig aus – sie dachte wohl an die verlorenen Kinder.

Eines Tages war ich mit Stephen allein. Aubrey war auf dem Gutsgelände unterwegs. Amelia war in mein Zimmer gekommen und hatte gesagt, Stephen wolle mich sprechen.

Ich ging ins Krankenzimmer. Er saß in Decken gehüllt in einem Sessel. So sah er noch kränker aus als im Bett. Ich setzte mich zu ihm, und nachdem wir uns etwas unterhalten hatten, ließ Amelia uns für kurze Zeit allein.

Stephen sagte: »Ich bin froh, daß du Aubrey heiratest.«

»Es freut mich, daß du so denkst. Viele Familien mißbilligen Neulinge in ihrem Kreis. Als ich Aubrey kennenlernte, hatte ich keine Ahnung, daß ihr in solch feudalen Verhältnissen lebt.«

Stephen nickte. »Das ist auch eine große Verantwortung. Er wird das Anwesen übernehmen. Es ist wie eine Kette, im Laufe der Jahrhunderte geschmiedet. Der Gedanke, daß sie zerbrochen wird, ist unerträglich. Wenn ich einen Sohn hätte ...« Er schüttelte traurig den Kopf, und ich dachte an das, was Amelia mir erzählt hatte. »Aber nun ... ich bin froh, daß du hier bist. Er braucht jemanden ... ständig ... eine, die sich um ihn kümmert und abhält von seinem ...« Er hielt inne. Ich glaube, er war im Begriff, etwas Wichtiges zu sagen, aber er überlegte es sich anders. Er tätschelte meine Hand und fuhr fort: »Ich bin überzeugt, daß du die Richtige für ihn bist. Du wirst stark sein. Stärke, das ist es, was er braucht. Weißt du ...« Ich sah ihn fest an, aber er war verstummt.

Ich drängte: »Ja ... was wolltest du sagen ...«

Die eingesunkenen Augen schienen meine Gesinnung zu erforschen. Er wolle mir etwas mitteilen. Oder er überlegte, ob er es mir sagen solle oder nicht. Große Neugierde überkam mich. Ich war überzeugt, daß es etwas war, das ich unbedingt wissen sollte. Und daß es Aubrey betraf.

Stephen lehnte sich im Sessel zurück und schloß die Augen. Amelia kam herein. Wir tranken zusammen Tee. Ich fragte mich, was er mir hatte sagen wollen.

Es war am späten Nachmittag. Am Himmel zogen dunkle Wolken; es würde ein Gewitter geben, noch ehe der Tag zu Ende ging. Ich betrachtete die Porträts in der Galerie. Mir fiel eine stärke Ähnlichkeit zwischen Aubrey und einigen seiner Vorfahren auf. Ich sah mir die Gesichter an, einige waren nachdenklich, einige lächelnd, einige heiter, einige ernst, und alle schienen forschend von der Leinwand auf mich herabzusehen. Es war ein unheimliches Gefühl, in ihrer Mitte zu stehen, während es zusehends dunkler wurde. Es gab Augenblicke, da ich mir einbildete, in diesem Haus beobachtet zu werden. Ich spürte unsichtbare Gestalten aus der Vergangenheit in meiner Nähe; sie prüften das Mädchen, das die Unverschämtheit besaß, in den Familienkreis eindringen zu wollen.

Ein Porträt interessierte mich besonders, vielleicht weil das Gesicht des Mannes mich besonders an Aubreys erinnerte. Seine Augen verfolgten mich überallhin, und sein Ausdruck schien sich beim Hinsehen zu verändern. Ich bildete mir ein, ich sähe die Lippen sich amüsiert kräuseln, weil der auf dem Bild Dargestellte wußte, daß er mich gleichzeitig anzog und abstieß. Die weißen Locken seiner Perücke hingen ihm fast bis auf die Schultern und waren von einem Hut mit weißer Krempe gekrönt, der ihm einen leicht militärischen Zug verlieh. Sein taillierter Rock war aus brombeerfarbenem Samt, die Weste darüber war erlesen bestickt und fast so lang wie der Rock. Sie lag in der Taille eng an und war darunter leicht ausgestellt. Die Knöpfe sahen aus wie Edelsteine. Die Kniehose war an den Waden mit Zierschnallen zusammengehalten. Seine Beine waren wohlgeformt, und die Schnallen an den Schuhen paßten zu denen an der Kniehose. Er war ein sehr eleganter Herr.

»Hallo!«

Ich fuhr zusammen. Eine Sekunde lang dachte ich, der Stutzer auf dem Bild habe gesprochen. Ich drehte mich um. Aubrey war ganz leise hereingekommen, und ich war so versunken gewesen, daß ich ihn nicht gehört hatte.

Er schob seinen Arm durch meinen. »Wie ich sehe, bist du gefesselt von Harry St. Clare«, sagte er. »Da dürftest du nicht die erste sein.«

»Aha, das ist also Harry St. Clare. Muß vor etwa hundert Jahren gemalt worden sein.«

»Richtig. Man sieht es am Hut. Ein Dettingen ... so genannt nach der Schlacht. Du solltest das Datum kennen. So um 1740, glaube ich.«

»Ja.«

»Diese Hüte waren nach der Schlacht hochmodern. Und du kannst dir denken, daß Harry stets mit der Mode ging.«

»Kennst du die Geschichte deiner sämtlichen Vorfahren?«

»Nur von denen, die sich ausgezeichnet haben wie Harry.«

»Wie hat er sich ausgezeichnet? Bei Dettingen?«

»Gott bewahre! Dazu war er zu schlau. Harry war ein Lebemann. Harry war der Teufel in Menschengestalt. Er war in etliche Skandale verstrickt und zog sich den Zorn seines Vaters, seines Großvaters, ja der ganzen Verwandtschaft zu.«

»Was hat er getan?«

»Nichts Gescheites. Wenn irgendwo was Schlimmes angestellt wurde, war Harry dabei. Er hätte beinahe das Familienvermögen durchgebracht. Er ist jung gestorben. Es hieß, der Teufel habe ihn geholt. Ich nehme an, er führt jetzt in der Hölle ein ausschweifendes Leben. Das wäre genau nach seinem Geschmack.«

»Ich glaube, du magst ihn recht gern.«

»Sind Schurken nicht immer aufregender als Heilige? Von letzteren hatten wir allerdings nicht gerade viele in der Familie. Harry war Mitglied in einem der Höllenfeuer-Clubs, die damals bei den jungen Nichtstuern in Mode waren, bei Leuten, die zu Ausschweifungen neigten und über genügend Geld verfügten, ihnen frönen zu können.«

»Was hat er angestellt?«

»Schlimme Sachen. Schwarze Magie. Teufelsanbetung. Er hat schlechthin im Laster geschwelgt. Er war Mitglied in Sir Francis Dashwoods Club in Medmenham. Dashwood baute ein klosterartiges Haus, und dort haben die Mitglieder den Teufel angebetet, schwarze Messen und Orgien gefeiert. Du kannst dir nicht vorstellen, welchen Ausschweifungen sie sich hingaben.« Aubreys Augen leuchteten vor Aufregung. »Aber das war Harry noch nicht genug. Er hat seinen eigenen Club gegründet und Dashwood übertroffen.«

»Das Porträt hat ein sehr begabter Künstler gemalt«, sagte ich. »Wenn man es ansieht, scheint es lebendig zu werden.«

»Das ist Harrys Charakter, der auf dich einwirkt. Nicht wahr, du siehst, daß er kein gewöhnlicher Mann war. Und jetzt schau dir hier drüben Joseph St. Clare mit seiner Tochter Charity an. Sie haben hundert Jahre vor Harry gelebt. Sie verkörpern die tugendhaften St. Clares. Aber findest du Harry nicht interessanter?«

»Ich finde sein Porträt besser.«

»Täusche dich nicht. Dieser Harry ist hinter dir her. Er überlegt, wie er dich zu einer Torheit verführen kann. Er möchte dich gern als Mitglied für seinen Höllenfeuer-Club gewinnen.«

»Wie dunkel es plötzlich geworden ist.«

Aubrey zündete eine Lampe an, die auf einem Konsoltischchen stand, und hielt sie in die Höhe. Im Lampenlicht sah Harry St. Clare boshaft aus. Aubrey lachte, und als ich mich zu ihm umdrehte, leuchteten seine Augen, und er hatte eine starke Ähnlichkeit mit seinem Vorfahren. Ich schauderte, und in diesem Moment vernahm ich das schwache Grollen fernen Donners. Aubrey legte seinen Arm um mich, und wir betrachteten einige Sekunden lang das Bild gemeinsam. Dann stellte er die Lampe auf das Tischchen, nahm mich in seine Arme und küßte mich leidenschaftlich, fordernd. So hatte er mich noch nie in seinen Armen gehalten. Mir war ein wenig unheimlich. Ich blickte über die Schulter. Harry St. Clare schien mich auszulachen.

An diesem Abend eröffnete uns Amelia die erstaunliche Neuigkeit. Wir hatten im Wintergarten gegessen. Das Speisezimmer wurde nur benutzt, wenn Gäste anwesend waren, denn für so wenige Personen war es zu groß. Vor dem Wintergarten lag ein kleines, gemütliches Wohnzimmer, und dorthin zogen wir uns zum Kaffee zurück. Amelia war mir während des Essens geistesabwesend und nervös vorgekommen.

Und als müsse sie sich wappnen, sagte sie dann: »Ich habe euch etwas mitzuteilen. Ich wollte nicht davon sprechen, bevor ich nicht absolut sicher war. Ich bekomme ein Kind.«

Tiefe Stille trat ein. Ich sah Aubrey nicht an, aber ich spürte seine Gegenwart.

Amelia fuhr fort: »Natürlich ... es wird sich etwas ändern. Stephen ist so froh. Ich glaube, das hat ihm sehr gutgetan.«

Ich rief: »Gratuliere! Du mußt ja überglücklich sein. Das hast du dir doch immer gewünscht.«

Sie sah mich nahezu dankbar an. »Zuerst konnte ich es nicht glauben. Ich dachte, ich würde es mir einbilden. Aber nun hat es der Arzt bestätigt.«

Ich stand auf und umarmte sie. Ich freute mich für sie. Sie hatte mich so tief gerührt, als sie mir von ihrer Sehnsucht nach Kindern und ihren Enttäuschungen erzählte. Gleichzeitig ahnte ich, wie Aubrey zumute sein mußte. Er hing an dem Gut, seit er wußte, daß es ihm gehören würde. Was mochte in ihm vorgehen? Ein paar Sekunden lang schien er zu verblüfft zu sein, um etwas zu sagen. Ich sah ihn erwartungsvoll an, und dann sprach er, als bereite es ihm große Mühe. »Ich schließe mich Susannas Glückwünschen an. Wann ...?«

»Ich bin erst im zweiten Monat, es ist noch lange hin. Diesmal werde ich sehr vorsichtig sein. Es ist wie ein Wunder. Nach all den Enttäuschungen, und bei Stephens Zustand ... Ich werde etwas haben, wofür es sich zu leben lohnt. Ich kann euch gar nicht sagen, wie mir zumute ist ... Aber für euch wird sich natürlich einiges ändern.«

»Allerdings«, sagte Aubrey gequält.

»Es tut mir leid«, sagte Amelia, › aber nur ein bißchen, denn mehr als alles andere wünsche ich mir, daß dieses ...«

»Trinken wir auf einen glücklichen Ausgang«, sagte ich.

»Ich trinke keinen Alkohol«, wehrte Amelia ab. »Ich muß sehr vorsichtig sein.«

»Dann«, sagte Aubrey, »trinken Susanna und ich auf einen glücklichen Ausgang.«

Amelia konnte von nichts anderem mehr sprechen. »Es ist ein Wunder«, wiederholte sie ständig. »Es ist, als werde ich entschädigt. Es muß geschehen sein, bevor Stephen wieder so schwer krank wurde, denn da war er hin und wieder ganz der alte. Erst in letzter Zeit ist es besonders schlimm mit ihm geworden.«

»Ich freue mich so für dich, Amelia.«

»Ich wußte, daß du dich freuen würdest Bei Aubrey ist es etwas anderes. Dies ist sein Heim. Ich weiß, wie ihm jetzt zumute ist. Aber Stephen ist so glücklich, weil sein Sohn der nächste Herr von St. Clare wird – oder seine Tochter die nächste Herrin.«

Sie sagte, sie werde auf jeden Schritt achten, den sie tue. Sie werde den Arzt konsultieren und alle seine Anweisungen befolgen. Sie werde bestimmt keine Fehlgeburt mehr haben. Aubrey machte seiner Verbitterung Luft, als wir allein waren. »Daß so etwas passieren konnte! Glaubst du, daß Stephen ein Kind zeugen konnte?«

»Er hat es getan. Amelia sagt, er war zeitweise ganz wohl. Erst im letzten Monat ist er so schwer krank geworden.«

»Das muß sie doch sagen, oder?«

»Worauf willst du hinaus ... daß das Kind nicht von Stephen ist? Aber Aubrey!«

»Wieso nicht? Sie ist in einer verzweifelten Situation. Dies wäre für sie eine Möglichkeit, alles in der Hand zu behalten.«

Ich sah ihn entsetzt an. »Wie kannst du so etwas von Amelia sagen!«

»Weil es durchaus sein könnte.«

»Das glaube ich nicht.«

»Ist dir klar, was sich dadurch für uns ändern wird?«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

Seine Wut war unverkennbar. »Mein Bruder wird wünschen, daß ich hierbleibe. Als eine Art Regent, bis das Kind volljährig ist. Als Hüter dieses Säuglings, der eines Tages die Krone tragen wird.«

»Warum nicht?«

Er sah mich beinahe mit Widerwillen an. »Verstehst du denn nicht?«

»Natürlich verstehe ich.«

»Nicht du wirst Herrin im eigenen Haus, sondern Amelia, siehst du das nicht?«

»Wenn wir hierbleiben, bin ich’s zufrieden. Ich habe Amelia sehr gern. Wir sind Freundinnen geworden.«

Er wandte sich unwillig ab. Er machte ein verdrießliches Gesicht wie ein Kind, dem man ein Spielzeug weggenommen hat.

Ich hatte das Gefühl, ihn trösten zu müssen. Ich sagte: »Es wird schon werden, Aubrey! Hauptsache, wir sind zusammen. Auf das Miteinander kommt es an, nicht auf Besitz.«

Er lächelte matt. »Du bist ein liebes Mädchen, Susanna. Ich nehme an, ich bin ein Glückspilz, nicht wahr?«

Ich sagte, das wolle ich hoffen – für uns beide.

Aubrey schien seine Enttäuschung verdrängt zu haben. Er sprach kaum darüber, wir machten vielmehr Pläne für unsere Hochzeit. »Sie muß so bald wie möglich stattfinden«, sagte Aubrey, und ich war von seiner Ungeduld entzückt.

»Dies ist kaum der richtige Ort für eine Hochzeit«, meinte er. »So, wie es um Stephen steht, sieht es so aus, als ob wir hier bald eine Beerdigung hätten.«

»Armer Stephen. Ich denke, er wird sich jetzt ans Leben klammern. Er wird sein Kind sehen wollen.«

»Vielleicht.«

»Mein Vater meint doch, wir sollten im Pfarrhaus Hochzeit machen. Mein Onkel würde uns gern trauen. Es war schließlich lange Zeit mein Zuhause.«

»Und wann?«

»In fünf, sechs Wochen, spätestens in zwei Monaten.«

»Je eher, desto besser.«

»Sobald ich zurückkehre, werde ich alles in die Wege leiten. Ich werde ein paar Wochen bei Onkel James und Tante Grace bleiben müssen. Das Aufgebot muß bestellt werden und so weiter. Es wird viel zu tun geben, und die Zeit wird wie im Fluge vergehen.«

»Dann begib dich bitte unverzüglich ans Werk.«

Ich hatte den Eindruck, daß es Stephen viel besser ging. Die Nachricht, daß ein Kind unterwegs war, hatte zweifellos belebend gewirkt. Er sprach deutlich, und seine Augen leuchteten. »Ich bin froh, daß ihr bald heiratet«, sagte er. »Aubrey braucht dich. Kümmere dich um ihn!«

Ich versprach es lächelnd. Ich nahm an, Stephen sah in Aubrey immer noch den jüngeren Bruder, der nicht imstande war, für sich selbst zu sorgen.

Es geschah am Tag vor meiner Abreise. Ich war nach dem Mittagessen spazierengegangen. Die Umgebung des Gutes fesselte mich jedesmal. Man konnte ganz unversehens auf Überreste des alten Klosters stoßen, eine zerbröckelnde Mauer, auf der Kletterpflanzen wuchsen, Pflastersteine im Gras, den Stumpf von etwas, das eine Säule gewesen sein mochte. Ich fand es faszinierend. Das Anwesen hatte mich in seinen Bann gezogen, und ich fragte mich, ob wir hier wohnen würden. Falls Stephen genas, gewiß nicht; und ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß Aubrey sich in einer Rolle als Regent, wie er es nannte, wohl fühlen könne.

Aber Stephen genas nicht. Die Besserung war nur vorübergehend gewesen. Er hatte gesünder ausgesehen, weil er glücklicher war, aber Glück konnte seine Krankheit nicht heilen.

Die Zukunft war ungewiß, dabei hatte ich noch vor wenigen Tagen geglaubt, sie deutlich vor mir zu sehen. Ich hatte mir ausgemalt, wie wir hier lebten und Kinder hatten, denn mein Wunsch nach Kindern war so stark wie der Amelias; ich hatte mir vorgestellt, wie ich das alte Haus liebte und die Porträts meiner Kinder in der Galerie aufhängen ließ.

Ich war zu einem Wäldchen gekommen. Weiter als bis hier war ich noch nie gegangen. Die Kiefern wuchsen dicht beisammen und verliehen dem kleinen Waldstück eine düstere, geheimnisvolle Atmosphäre. Ich bahnte mir einen Weg zwischen den hohen geraden Stämmen mit der rötlichen Borke hindurch, und dabei hatte ich wie so oft auf St. Clare das Gefühl, vor einer Entdeckung zu stehen. Das Wäldchen war nicht groß, und als ich auf der anderen Seite herauskam, sah ich, daß der Boden leicht zu einem kleinen Hügel anstieg. Ich erklomm die Anhöhe und blickte auf der anderen Seite hinab. Das Gelände fiel etwa zwei Meter steil ab. Ich kletterte durch dichtes Gestrüpp hinunter, und dabei entdeckte ich zu meiner Verwunderung, daß sich hinter der Pflanzendecke etwas, das wie eine Tür aussah, befand.

Ich bog das Gestrüpp zur Seite. Wahrhaftig, es war eine Tür. Aufgeregt nahm ich sie näher in Augenschein. Wo mochte sie hinführen? Anscheinend in eine Höhle unter dem Hügel. Ich drückte dagegen, aber sie gab nicht nach. Ich sah mich um. Ringsum war es ganz still. Wieder hatte ich das Gefühl, daß mich jemand beobachtete und daß etwas Bedrohliches in der Luft war. Ich entfernte mich von der Tür und betrachtete sie aus einigem Abstand. Als sie unter den Pflanzen nicht mehr zu erkennen war, sah der Hügel wie ein, wenn auch etwas ungewöhnlicher, Bestandteil der Landschaft aus. Mir kam der Gedanke, daß es kein natürlicher Hügel war, und ich fragte mich, was sich hinter der Tür befinden mochte. Ich ging um den Hügel herum und zurück zu dem Wäldchen. Sobald ich es betrat, hatte ich das unheimliche Gefühl, verfolgt zu werden. Ich vernahm das plötzliche Klicken eines Steins, ein Knacken im Unterholz. Es war hellichter Tag, trotzdem fing mein Herz ängstlich zu klopfen an. Ich eilte weiter.

Plötzlich packte mich jemand am Arm. Ich stöhnte, und als ich mich umdrehte, erblickte ich Aubrey.

»Was ist denn los, Susanna?« fragte er.

»Ach, hast du mich erschreckt! Ich dachte, ich werde verfolgt.«

»Stimmt. Amelia sagte mir, daß du einen Spaziergang machst, und da habe ich dich gesucht.«

»Warum hast du nicht gerufen, damit ich wußte, daß du es bist?«

»Weil ich dich gern überrasche. Hattest du Angst?«

»Jetzt nicht mehr. Ich habe bloß eine Tür gesehen.«

»Eine Tür?«

»Ja. Sie führt in den Hügel hinein.«

»Was ist daran so merkwürdig? Hier kann man auf alles mögliche stoßen. Es sind die Überreste des alten Klosters. Es würde einen allgemeinen Aufschrei geben, wenn wir Relikte der Vergangenheit entfernen wollten.«

»Ja, ich weiß. Aber diese Tür – sie muß irgendwo hinführen.«

Seine Augen glitzerten. Meine wunderlichen Einfälle amüsierten ihn. Er schob seinen Arm durch meinen. »Warst du auf dem Rückweg zum Haus?«

»Ja.«

»Wieso hat eine Tür dich erschreckt?«

»Ich weiß nicht. Es war so seltsam ...«

»Hast du erwartet, daß sie aufgeht und der Teufel herausspaziert?«

Ich lachte. »Es kam mir so merkwürdig vor, und dann ging ich durch den Wald und hatte das Gefühl, daß ich verfolgt werde ...«

»Es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe, liebste Susanna. Ich dachte immer, du seist so nüchtern veranlagt.«

»Nein, eigentlich nicht. Ich habe eher etwas zuviel Phantasie.«

»Und phantasierst du nun über diese Tür? An Orten wie diesem kann man auch dem nüchternsten Menschen einige Hirngespinste nachsehen. Ich will dir verraten, daß du nicht die erste bist, die diese Tür entdeckt hat. Wir haben sie tatsächlich einmal geöffnet. Das ist lange her, ich war damals noch ein kleiner Junge. Dahinter ist nur eine Höhle, sonst nichts. Vielleicht war es mal ein Vorratslager der Mönche.«

»Ach so. Ich dachte, hinter einer so stabilen Tür müßte sich etwas Wichtiges verbergen.«

»Susanna, es tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe.«

»Ach, es war albern von mir.«

Auf dem Rückweg zum Haus sprach er begeistert von der Hochzeit.

Am nächsten Tag verließ ich das Gut. Aubrey bestand darauf, mich nach Hause zu bringen. Auf der Rückfahrt nach London schien er wie verwandelt. Er war nun wieder der Mann, den ich in Indien und auf dem Schiff gekannt hatte: galant, unbekümmert, zuversichtlich. Das Baby, dessen bevorstehende Ankunft seine Hoffnungen auf das Erbe zunichte gemacht hatte, erwähnte er mit keinem Wort.

Mein Vater freute sich, mich wiederzusehen. Er sagte, Jane und Polly hätten vorzüglich für ihn gesorgt und soweit es die äußeren Annehmlichkeiten betreffe, habe er mich nicht vermißt.

Aubrey kehrte noch am gleichen Tag nach Buckinghamshire zurück. Mein Vater bat mich, detailliert von dem Besuch zu berichten, und beobachtete mich während meiner Schilderung eindringlich. Ich erzählte ihm alles. »Und bist du immer noch so versessen darauf, Aubrey zu heiraten?« fragte er. Ich bejahte. »Gut, dann sollten wir zur Tat schreiten. Du mußt sogleich an Onkel James schreiben. Du wirst in London einige Einkäufe tätigen und dich vor der Hochzeit einen Monat bei Onkel und Tante aufhalten müssen. Du hast eine Menge zu erledigen. Die Zeit wird wie im Fluge vergehen. Jane und Polly kommen mit dem Haus gut zurecht. Es wird jederzeit dein Haus sein, wann immer du es wünschst.«

»Ich sehe, du hast an alles gedacht. Militärische Präzision nennt man das wohl.«

»Das könnte man sagen. Meine liebe Tochter, ich werde so froh sein, dich glücklich vermählt zu sehen.«

»Armer Vater! Du hattest deine liebe Last mit mir.«

»Gewiß, fern von daheim ein kleines Mädchen großzuziehen war nicht leicht. Aber es ist gutgegangen, und ich habe immer gewußt, daß meine Tochter imstande ist, auf sich aufzupassen.«

»Hoffentlich enttäusche ich dein Vertrauen nicht.«

Er sah mich besorgt an. »Warum sagst du das? Ist etwas passiert?«

»Nein«, sagte ich inbrünstig. »Nein.«

Aber auch ich fragte mich, warum ich das gesagt hatte. War es möglich, daß mich ein gewisses Unbehagen beschlich?

Die nächsten Wochen verflogen rasch. Ich probierte mein Brautkleid an. Ich kaufte Kleider, die ich für die Hochzeitsreise nach Venedig brauchte. Wir wollten einen ganzen Monat dort verbringen. Freunde der Familie St. Clare stellten uns ihren Palazzo zur Verfügung.

Onkel James und Tante Grace freuten sich sehr, daß die Hochzeit in der alten romanischen Kirche stattfinden und Onkel James die Trauung vornehmen sollte. Ich wollte einen Monat vor der Hochzeit zu ihnen fahren. Vater sollte an den Wochenenden kommen oder wann immer er es einrichten konnte. Wegen der Krankheit des Bruders des Bräutigams planten wir eine ziemlich stille Hochzeit.

Für Aubrey, der wenige Tage vor der Hochzeit nach Humberston kommen sollte, war im Schwarzen Eber ein Zimmer bestellt.

Als ich nach Humberston kam, war ich sehr bewegt. Ich saß in meinem alten Zimmer und blickte durch das kleine Fenster auf den Kirchhof. Erinnerungen kehrten zurück an die schreckliche Einsamkeit, an das Heimweh nach Indien, nach meinem Vater und meiner Aja. Ich fragte mich, was sie jetzt wohl machte. Sie war bei den Freelings nicht gerade glücklich gewesen. Sie hatte geheimnisvolle Andeutungen gemacht. Ich war nicht sicher, worauf sie angespielt hatte.

Jetzt war alles anders. Bald würde ich Humberston verlassen, und das Gutshaus würde mein Zuhause sein. Doch zunächst stand die märchenhafte Hochzeitsreise nach Venedig bevor.

Ich bin glücklich, sagte ich mir ständig. Ich bin zufrieden.

Die meisten jungen Frauen in meiner Lage hätten sich wahrlich glücklich geschätzt. Ich war schließlich nicht gerade eine Schönheit. Meine rötlichen Haare hatten zwar eine ausgefallene Farbe, waren aber dick und nur leicht gewellt, ohne kleidsame Locken und ausgesprochen schwer zu bändigen. Und dann die grünen Augen. Sicher, sie paßten gut zu meinen Haaren, aber meine Wimpern und Brauen waren blond und meine Haut war sehr hell. Mein zarter Teint hatte meiner Aja angesichts der grellen indischen Sonne immer große Sorgen bereitet. Ich durfte nie ohne einen weitkrempigen Hut ausgehen, nicht einmal an trüben Tagen. Es lag vor allem an meiner Größe, daß ich das Gefühl hatte, mir fehle es an femininen Reizen. Ich war schlicht und einfach zu groß. Auf eine ganze Reihe junger Männer aus unserem Bekanntenkreis hinabzublicken war sicher kein anziehender Zug. Männer möchten auf ihre Damen hinabsehen, vielleicht auch im übertragenen Sinne, ganz bestimmt aber von der Statur her. Und ich, nicht gerade häßlich, aber gewiß nicht in aller Augen ausgesprochen attraktiv, hatte erreicht, wofür so viele hübsche Mädchen eine Menge gegeben hätten. Ich hatte Glück gehabt.

Cousine Ellen kam am Tag vor der Hochzeit mit ihren zwei Töchtern. Sie sprach nicht mehr so abwesend wie damals. Sie erinnerte sich an vieles von früher und rief mir einen Vorfall ins Gedächtnis zurück, an den ich lange nicht mehr gedacht hatte.

»Erinnerst du dich noch an Tom Jennings? Den Jungen, der von der Leiter gefallen ist?«

»O ja. Er hatte sich das Bein gebrochen.«

»Ich werde den Anblick nie vergessen, wie du neben ihm knietest. Du hast ihm nur die Stirn gestreichelt und beruhigend auf ihn eingeredet, aber das schien ihm wohlzutun.«

Ich breitete meine Hände aus und betrachtete sie. »Meine Aja hat gesagt, ich hätte heilende Hände. Sie hat zugesehen, als ich einem verunglückten Jungen in Bombay über die Stirn gestrichen habe.«

»Vielleicht solltest du Krankenschwester werden.«

Ich wurde nachdenklich. »Weißt du ... ich glaube, das würde mir wirklich gefallen.«

Ellen lachte. »Gottlob kann davon keine Rede sein. Du wirst heiraten. Krankenpflege ist nichts für eine Dame ... Das ist einer der niedrigsten Berufe – wie Soldat.«

»Du sprichst mit der Tochter eines Soldaten.«

»Oh, natürlich meinte ich nicht Männer wie deinen Vater. Ich meine die gemeinen Soldaten. Wie kommen sie zu dem Beruf? Weil sie für nichts anderes taugen oder weil sie in Schwierigkeiten geraten sind. Dasselbe sagt man von den Krankenschwestern.«

»Das hört sich ja furchtbar an«, sagte ich. »Ist die Verteidigung des Vaterlandes nicht eine edle Sache? Und die Pflege der Kranken ebenso?«

»So sollte es sein, aber vieles im Leben ist nicht, wie es sein sollte. Doch wozu Zeit mit der Erörterung solcher Dinge verschwenden! Du hast bestimmt alle Hände voll zu tun.«

Es gab wahrhaftig eine Menge zu erledigen, aber das Gespräch hatte Erinnerungen geweckt. Ich betrachtete meine wohlgeformten, sehr weißen Hände mit den zierlichen, schmal zulaufenden Fingern. Sie waren so zart und besaßen dennoch Kraft. Ich lächelte. Sie waren das einzig wirklich Schöne an mir.

Nun war der Abend vor meiner Hochzeit. Mein Vater war nach Humberston gekommen und schlief in einem der kleinen Gästezimmer. Ellen und ihre Familie waren in zwei weiteren Räumen untergebracht. Das Pfarrhaus war zum Bersten voll. Und jenseits des Kirchhofs schlief Aubrey im Schwarzen Eber.

Ich ging zu Bett, und da hatte ich diesen Traum, der mich bewog, darüber nachzudenken, was in meiner Phantasie ihn wohl heraufbeschworen haben konnte.

Geheimnis einer Nachtigall

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