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Die Gouvernante
ОглавлениеMan hat sie nicht auf einer Trage nach Hause gebracht wie damals Mr. Carteret von Letch Manor, der sich auf der Jagd das Bein gebrochen hatte. Man hat sie ins Krankenhaus gebracht, und das ließ Schlimmes befürchten.
Der Doktor blieb lange fort. Die Neuigkeit, die Herrin habe einen Jagdunfall erlitten, verbreitete sich im Haus. Es müsse schlimm sein, hieß es, denn man habe sie nicht nach Hause gebracht, sondern ins Krankenhaus. Es ist ganz natürlich, daß die Menschen sich bei einem solchen Ereignis als erstes fragen, welche Auswirkungen es für sie persönlich haben werde. Würde die Herrin sterben? Für die Dienstboten konnte dies bedeuten, daß sie ihre Stellung verloren. Alle Welt wußte, daß Mrs. Marline das Geld hatte. Niemand im Haus konnte sie gut leiden, das Personal ging ihr aus dem Weg, wann immer es möglich war.
Davon, daß Mrs. Marline ein »wahrer Drachen« sei, war freilich nicht die Rede. Im Gegenteil, sie verwandelte sich geschwind in eine Heilige. Ich wußte längst, daß der Tod sich auf diese Art auf die Menschen auswirkte. Demnach stand fest, daß Mrs. Marline sterben werde.
Endlich kam der Doktor zurück. Er sprach mit den Bediensteten, dann schickte er nach Estella, Henry und mir.
Als wir versammelt waren, sagte er zu uns: »Ich muß euch mitteilen, daß eure Mutter schwer verletzt ist. Ihr Pferd ist über eine vorstehende Baumwurzel gestolpert, als sie gerade über einen Zaun springen wollte. Dabei wurde das Pferd so schlimm verletzt, daß es getötet werden mußte. Eure Mutter ist im Krankenhaus und muß ein paar Tage dort bleiben. Es steht zu befürchten, daß sie nie mehr gehen kann. Wir müssen beten, daß es Mittel und Wege gibt, damit sie gesund wird. In der Zwischenzeit können wir nur abwarten ... und hoffen.«
Wir waren alle sehr ernst. Nanny schloß sich mit Mrs. Barton ein, und die beiden besprachen die Zukunft. Estella und ich wußten nicht, was wir sagen sollten. Wir waren erschrocken und irgendwie gespannt. Da Mrs. Marline in meinem Leben nie eine große Rolle gespielt hatte, stellte ihre Anwesenheit oder Abwesenheit für mich kaum einen Unterschied dar. Aber ich wußte jetzt schon, daß nichts mehr ganz so sein würde, wie es vorher war.
Und ich behielt recht.
Wie eh und je wurde das Haus auch jetzt von Mrs. Marline beherrscht. Man hatte zwei Zimmer im Erdgeschoß für sie hergerichtet. Beide hatten Fenstertüren zum Garten hinaus, das eine wurde ihr Schlafgemach, das andere ihr Wohnzimmer. Mit einem Rollstuhl konnte sie sich von einem Zimmer zum anderen bewegen, aber sie war auf Hilfe angewiesen, um durch die Fenstertüren in den Garten zu gelangen. Sie hatte Glocken, mit denen sie die Dienstboten rufen konnte, und ihr gebieterisches Klingeln war häufig im Haus zu hören.
Jeden Morgen kam Annie Logan, um ihr beim Waschen und Anziehen zu helfen, und abends kam sie wieder. Annie Logan war die Gemeindeschwester. Sie traf auf ihrem Fahrrad pünktlich um neun Uhr ein und verbrachte ungefähr eine Stunde bei Mrs. Marline. Dann ging sie in die Küche, um mit Nanny Gilroy und Mrs. Barton Tee zu trinken. Sie plauderte ein wenig, und nach einer Weile radelte sie zu dem nächsten bedauernswerten Geschöpf, das ihrer Pflege bedurfte.
Es war offensichtlich, daß Mrs. Marline zeitweise unter Schmerzen litt. Dr. Everest aus dem Nachbardorf behandelte sie. Das kam mir ziemlich seltsam vor, da wir doch einen Arzt im Hause hatten, und ich sagte es laut.
»Dummes Kind!« versetzte Henry. »Ein Doktor kann doch nicht seine eigene Frau behandeln.«
»Warum nicht?« fragte ich.
»Weil die Leute denken, er könnte ihr den Rest geben.«
»Den Rest geben? Was meinst du damit?«
»Sie ermorden, Dummchen!«
»Sie ermorden?«
»Ehemänner ermorden manchmal ihre Frauen.«
Da dachte ich, daß es sehr vernünftig war, Mrs. Marline von einem anderen Arzt behandeln zu lassen, denn dem Doktor war durchaus der Wunsch zuzutrauen, sie umzubringen.
Sie war stimmgewaltiger denn je. Ständig wetterte sie gegen alles und jeden. Nichts war ihr recht. Oft hörten wir, wie sie den armen Doktor abkanzelte. Wir vernahmen ihre laute Stimme und seine gefügigen Antworten. »Ja, meine Liebe. Selbstverständlich, meine Liebe.«
»Meine Liebe.« Das klang widersinnig. Wie konnte Mrs. Marline irgend jemandes »Liebe« sein?
Der arme Doktor sah ausgezehrt und abgehärmt aus. Ich verstand sehr gut, warum es notwendig war, daß sie von Dr. Everest behandelt wurde.
Wir waren ein sehr unglücklicher Haushalt. Nur ich hatte es relativ gut, weil ich Mrs. Marline aus dem Weg gehen konnte.
Wenn Onkel Toby kam, wurde das Leben heiterer. Sogar Mrs. Marline war dann ein wenig munterer, denn es freute sie sichtlich, ihn zu sehen. Er saß bei ihr, redete mit ihr und entlockte ihr ab und zu ein Lächeln.
Ich hatte ein langes Gespräch mit ihm. Es war im Garten. »Schön, wenn man aus dem Haus kann«, meinte er. »Der arme alte Doc! Es steht nicht besonders gut um ihn. Und Grace muß einem leid tun. Sie wollte immer, daß alles nach ihrem Willen ging. Sie hätte jemanden heiraten sollen, der ihr ähnlicher gewesen wäre, jemanden, der sie am Zügel genommen hätte. Unser Doc hätte ein behaglicheres Leben verdient.« Er hob den Blick zum Himmel. »Und so einer heiratet Grace! Manche Menschen haben eben Pech. Selber schuld, denke ich. Wie heißt es doch so schön? ›Nicht in unseren Sternen, in uns selbst steht es geschrieben.‹ Und wie sieht es mit dir aus, kleine Carmel? Wie berührt dich das alles?«
»Sie beachtet mich kaum ... hat es nie getan, also hab’ ich Glück gehabt.«
»Ah, alles hat auch sein Gutes, wie? Bist schon ein großes Mädchen. Wie alt bist du jetzt? Acht?«
»Im März werde ich acht.«
Er tätschelte meine Hand. »Hast es nicht sehr gut getroffen, was? Ich wollte, du hättest es besser.«
»Es ist schön, wenn du kommst.«
Er legte seinen Arm um mich und hielt mich fest.
»Eines Tages«, fuhr er fort, »nehme ich dich vielleicht mit auf See. Wir segeln um die Welt. Wie würde dir das gefallen?«
Ich schlug vor Begeisterung die Hände zusammen. Worte waren nicht nötig.
»Wir werden im Mondlicht an Deck sitzen«, sagte er, »und zum Kreuz des Südens hinaufsehen.«
»Was ist das?« fragte ich.
»Das sind die Sterne, die man auf der anderen Seite der Welt sieht. An heißen Tagen beobachten wir die Wale, und wir sehen die Delphine aus dem Meer springen. Wir schauen den fliegenden Fischen zu, die übers Wasser gleiten ...«
»Und Meerjungfrauen?« fragte ich.
»Wer weiß? Für dich könnten wir vielleicht sogar eine Meerjungfrau herbeizaubern.«
»Sie singen Lieder und locken Seemänner in die Tiefe.«
»Wir lassen uns nicht locken. Wir segeln weiter.«
»Wann?« fragte ich.
»Eines Tages... vielleicht.«
»Ich werde jeden Abend beten, daß es eintritt.«
»Tu das! Ich glaube, daß die da oben gelegentlich Gebete erhören.«
Ich dachte später lange über diese Worte nach, und ich träumte von dem Tag, an dem Onkel Toby sein Versprechen einlösen und mich mitnehmen würde.
Kurz darauf reiste Onkel Toby ab, und über das Haus senkte sich erneut Unbehagen. Dr. Marline wirkte verloren und erschöpft. Nanny Gilroy und Mrs. Barton hatten in der Küche lange Unterredungen mit der Gemeindeschwester. Einiges davon kam mir zu Ohren.
»Die Madam ist mit nichts zufrieden«, klagte Nanny Gilroy.
»Sie hat Schmerzen«, sagte Annie Logan. »Nicht ständig, aber sie kommen immer wieder. Wenn sie besonders unerträglich werden, nimmt sie die starken Tabletten. Sie enthalten Morphium. Das hilft ihr. Ohne die Tabletten wäre sie noch viel schlimmer dran.«
»Sie war vorher schon schlimm genug«, sagte Mrs. Barton.
»Schon damals war sie mit nichts zufrieden, aber jetzt ist es noch zehnmal schlimmer.«
Die Wochen vergingen. Mein achter Geburtstag war auf den ersten März festgesetzt; das genaue Datum wußte ja niemand. Tom Yardley hatte mich am sechzehnten März gefunden, und man schätzte, daß ich zu der Zeit etwa zwei Wochen alt gewesen war, und so schien der erste März gerade richtig. Jeder Mensch hatte einen Geburtstag, und meiner wurde auf dieses Datum gelegt. Onkel Toby hatte Anweisungen gegeben, daß ich ein hübsches Kleid bekommen sollte. Sally hatte den Stoff gekauft und Mrs. Grey, der Dorfschneiderin, ein altes Kleid von mir als Vorlage für die Größe gegeben. Es wurde das hübscheste Kleid, das Mrs. Grey je genäht hatte, und ich durfte es vor dem Morgen des ersten März nicht sehen. Sally schenkte mir ein Buch mit Kinderversen, das ich in der Buchhandlung gesehen und mir gewünscht hatte. Von Estella bekam ich eine blaue Schärpe, die ihr nicht mehr gefiel, und von Adeline eine Tafel Schokolade. Sonst dachte niemand an meinen Geburtstag, aber das machte mir nichts aus, weil ich dieses wunderhübsche Kleid hatte.
Dann passierte etwas, das unser aller Zukunft in Haus Commonwood bestimmen sollte. Mrs. Harley, die Frau des Pfarrers, erlitt einen leichten Schlaganfall, und Mary Harley konnte uns nicht mehr unterrichten, weil sie ihre Mutter pflegen mußte. Estella war jetzt zehn Jahre alt, und es mußte eine neue Gouvernante eingestellt werden.
Es war Onkel Tobys Wunsch, daß ich gemeinsam mit Estella von der neuen Gouvernante unterrichtet wurde. Ich fragte mich oft, was ohne Onkel Toby aus mir geworden wäre. Mir war klar, es war einzig seinem Eintreten für mich zu verdanken, daß mir gestattet wurde, die Brosamen zu nehmen, die vom Tische der Reichen fielen.
So kam Miß Kitty Carson als Gouvernante ins Haus Commonwood, um uns zu unterrichten.
* * *
Daß wir eine Gouvernante bekommen sollten, nahmen Estella und ich mit gemischten Gefühlen auf. Neugierde und Bangnis hielten sich die Waage. Vor ihrer Ankunft in Haus Commonwood sprachen wir ständig von ihr.
Wie würde sie sein? Alt und häßlich, erklärte Estella. Mit Haaren am Kinn gleich der alten Mrs. Cram im Dorf, die eine Hexe war, wie einige Leute behaupteten.
»Sie kann nicht sehr alt sein«, widersprach ich. »Sonst wäre sie ja zu betagt, um zu unterrichten.«
»Sie wird uns schwierige Rechenaufgaben stellen und uns am Tisch sitzen lassen, bis wir fertig sind.«
»Vielleicht ist sie nett.«
»Gouvernanten sind nie nett. Nanny sagt, sie sind nicht Fisch und nicht Fleisch, sie gehören nirgends hin. Sie denken, sie sind was Besseres als die Dienstboten, aber sie sind nicht gut genug für die anderen. Nach unten spielen sie sich auf, und vor der Familie kuschen sie. Ich werde sie jedenfalls hassen. Ich werde so garstig zu ihr sein, daß sie wieder geht.«
»Du solltest vielleicht erst mal abwarten, wie sie ist.«
»Das weiß ich schon«, sagte Estella. Ihre Meinung stand fest.
Am Tage der Ankunft der Gouvernante standen wir oben am Fenster und sahen sie in der Bahnhofsdroschke vorfahren. Wir musterten sie eingehend, als sie ausstieg und mit Tom Fellow, dem Droschkenkutscher, der ihr Gepäck trug, durch das Tor zum Haus ging.
Sie war groß und schlank. Ich bemerkte erleichtert, daß sie nicht im mindesten so aussah wie die alte Mrs. Cram. Sie sah vielmehr sehr sympathisch aus: nicht eigentlich hübsch, aber mit sanften, ansprechenden Zügen, so daß ich dachte, mit ihr sei leicht auszukommen. Sie mochte Ende zwanzig sein. Meiner Ansicht nach genau das richtige Alter für eine Gouvernante.
Sobald sie ins Haus trat, verließen Estella und ich das Fenster und schlichen zum oberen Treppenabsatz. Wir sahen, daß sie in Mrs. Marlines Zimmer geführt wurde. Die Tür schloß sich, so daß wir nicht hören konnten, was gesprochen wurde. Dann ertönte Mrs. Marlines Glocke, und Nanny, die in der Nähe gewartet hatte, ging hinein.
Sie kam mit der Gouvernante heraus. Nanny blickte recht verdrießlich. Es paßte ihr nicht, daß eine Gouvernante ins Haus kam. Sie sah sich wohl in ihrer Autorität bedroht, und ich wußte, daß sie sich vorgenommen hatte, kein gutes Haar an Miß Kitty Carson zu lassen.
Als die beiden die Treppe heraufkamen, verdrückten wir uns schleunigst in ein Zimmer. Die Tür ließen wir angelehnt, um lauschen zu können.
»Hier entlang«, sagte Nanny kühl. Und plötzlich erschien Dr. Marline.
Ich spähte aus der Tür und sah sie, als sie gerade vorübergingen. Der Doktor lächelte sehr liebenswürdig und sagte:
»Sie müssen Miß Carson sein, nicht wahr?«
»Ja«, sagte die Gouvernante.
»Willkommen in Haus Commonwood!«
»Danke!«
»Ich hoffe, Sie werden hier glücklich sein. Sie haben die Mädchen wohl noch nicht gesehen?«
»Nein«, sagte sie.
»Nanny wird nach ihnen schicken.«
Estella und ich unterdrückten unser Kichern und verhielten uns still, bis sie zu dem Zimmer weitergegangen waren, das im zweiten Stockwerk für die Gouvernante hergerichtet worden war. Dann traten wir in den Flur und stiegen gemächlich die Treppe hinauf.
»Ah, da sind sie«, sagte Nanny Gilroy.
»Und Adeline?« fragte der Doktor.
»Sie wird in ihrem Zimmer sein«, erwiderte Nanny. »Carmel, lauf hinauf und hole sie!«
»Zuerst aber, Miß Carson«, warf der Doktor ein, »möchte ich Ihnen Ihre zwei Schülerinnen vorstellen: Estella und Carmel.«
Sie hatte ein reizendes Lächeln, das ihr Gesicht beinahe schön aussehen ließ.
»Guten Tag«, sagte sie unbefangen. »Ich hoffe, wir werden uns gut verstehen, ja, ich bin überzeugt davon.« Ihr Blick ruhte auf mir. Estella war ein wenig eifersüchtig. Ich mochte Miß Carson auf Anhieb gut leiden und hatte das sichere Gefühl, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte.
Dann ging ich Adeline holen. Sie war in ihrem Zimmer und sah ganz bestürzt und ängstlich aus. Sie hatte wohl Estellas Schilderung gehört, wie die neue Gouvernante sein würde.
Ich sagte: »Du sollst kommen und Miß Carson guten Tag sagen, Adeline. Ich glaube, sie ist sehr nett. Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben. Du wirst sie bestimmt mögen.«
Adeline war stets leicht zu beeinflussen. Ihre Miene hellte sich auf, und sie wirkte erleichtert.
Ich war sehr zufrieden über die Art und Weise, wie Miß Carson Adeline begrüßte. Sie hatte offenbar gehört, daß das Mädchen etwas zurückgeblieben war. Sie nahm seine Hände und lächelte herzlich. »Ich bin sicher, wir zwei werden uns gut verstehen, Adeline«, sagte sie.
Adeline nickte fröhlich, und ich bemerkte, wie zufrieden der Doktor dreinsah.
»So, wir lassen Sie jetzt allein, damit Sie auspacken können, Miß Carson«, sagte Nanny energisch. »Später können Ihnen die Mädchen die Schulstube zeigen.«
»Sagen wir, in einer halben Stunde?« meinte Miß Carson.
»Ja, dann sollen sie Sie abholen. Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich sage Mrs. Barton, sie soll sie Ihnen aufs Zimmer schicken.«
»Das fände ich sehr fein, danke«, sagte Miß Carson, und dann ließen wir sie allein.
»Ich glaube, sie ist in Ordnung«, sagte ich.
Estella kniff die Augen zusammen. »Es gibt Wolfe im Schafspelz«, sagte sie.
»Sie ist kein Wolf!« rief Adeline. »Ich finde sie nett.«
Estella setzte eine Miene überlegener Ungeduld auf. »Das bedeutet, sie ist vielleicht nicht, was sie scheint«, sagte sie düster.
* * *
Estella war fest entschlossen, Miß Carson nicht zu mögen. Sie hatte keine Gouvernante gewollt. Sie wäre lieber in ein Pensionat gegangen, wo Mädchen jede Menge Spaß hatten. Sie schliefen in Schlafsälen und feierten Mitternachtsfeste, und wir saßen hier mit einer blöden Gouvernante.
Adeline und ich empfanden das anders. Miß Carson wußte genau, wie man Adeline behandeln mußte. Sie war sehr geduldig mit ihr, und statt die Unterrichtsstunden zu fürchten, freute Adeline sich darauf. Sie entwickelte eine sklavische Anhänglichkeit für Miß Carson; sie wußte es so einzurichten, daß sie sich ständig dort aufhielt, wo die Gouvernante war, und wenn wir spazieren gingen, bestand sie darauf, Miß Carsons Hand zu halten. In ihrer Nähe war sie am glücklichsten.
Auch auf der Liste meiner Lieblinge stand Miß Carson ganz obenan. Sie war warmherzig und besonders liebevoll zu denen, die es am meisten brauchten. Adeline war seit ihrer Ankunft sichtlich aufgeblüht.
Dem Doktor entging dies nicht, und es machte ihn sehr froh. Er gewöhnte es sich an, in die Schulstunden zu kommen und zuzuhören, und er zeigte viel mehr Interesse an ihnen, als er für Miß Harleys Unterricht bewiesen hatte. Einmal war ich im Garten, als auch Miß Carson dort war, und wir setzten uns zusammen und unterhielten uns. Miß Carson war stets aufgeschlossen für andere Menschen, so daß sich ganz ungezwungen mit ihr plaudern ließ. Ich konnte ihr erklären, daß ich mich nie als Mitglied der Familie gefühlt hatte – ausgenommen, wenn Onkel Toby da war –, weil ich eben nicht richtig dazugehörte. Ich erzählte ihr, daß Tom Yardley mich unter dem Azaleenstrauch gefunden hatte.
»Sehen Sie«, sagte ich, »meine Mutter wollte mich nicht haben, deshalb hat sie mich da ausgesetzt. Die meisten Mütter haben ihre Babys lieb.«
»Deine Mutter hat dich ganz bestimmt liebgehabt«, sagte sie. »Vermutlich hat sie dich dort gelassen, weil sie dich so liebte und dir ein besseres Leben wünschte als das, das sie dir bieten konnte. Sie wußte, daß die Menschen im Haus Commonwood sich deiner annehmen, dir zu essen geben, dich aufziehen würden. Es war sogar ein Arzt im Haus.«
Ich war verblüfft, daß meine Mutter mich verlassen haben sollte, weil sie mich liebte. Dieser Gedanke war mir noch nie gekommen.
»Aber ich hatte immer das Gefühl, daß sie mich hier eigentlich nicht wollten«, erklärte ich. »Nanny dachte, man hätte mich besser in ein Waisenhaus oder ins Armenhaus stecken sollen. Und das hätten sie vielleicht auch getan, wenn der Doktor nicht gewesen wäre.«
»Der Doktor ist ein sehr guter und verständnisvoller Mensch.«
»Nanny fand, ich müßte fort.«
»Aber der Doktor hat dich behalten, deswegen ist es unwichtig, was Nanny denkt. Er wollte, daß du bleibst, und nur darauf kommt es an.«
»Sally hat mir alles erzählt. Sie erinnert sich noch genau, wie es gewesen ist. Sie war damals eben erst ins Haus gekommen. Sie sagte, sie hätte Angst gehabt, sie würden mich weggeben, weil der Doktor nicht viel zu sagen hatte. Mrs. Marline wollte mich auch nicht, und sie bestimmt, was gemacht wird.«
»Aber der Doktor hat sich durchgesetzt. Er wollte dich behalten, und damit gut Deine Mutter hat ein großes Opfer gebracht, weil sie das Beste für dich wollte, und du darfst dich in keiner Weise minderwertig fühlen. Du wirst ihnen schon zeigen, daß du genauso tüchtig bist wie sie alle, auch wenn du unter dem Azaleenstrauch gefunden worden bist.«
»Das werde ich«, sagte ich. Und mir war zumute, als wäre Onkel Toby zugegen gewesen.
Und ich liebte sie ebenso wie Adeline.
Nanny konnte die Gouvernante natürlich nicht leiden. Sie hatte von Anfang an Vorurteile gegen sie. Es paßte ihr nicht, daß Gouvernanten im Hause sich in die Erziehung der Kinder einmischten, und sie war entschlossen, ihre Ansicht nicht zu ändern. Gouvernanten seien eingebildet; sie hätten eine zu hohe Meinung von sich; sie fühlten sich »eine Stufe höher« als die Dienstboten. Und so konnte selbst die sanftmütige Miß Carson ihr nichts recht machen.
Und Mrs. Barton war natürlich Nannys getreue Verbündete. Gouvernanten seien lästig. Man müsse ihnen ihre Mahlzeiten aufs Zimmer bringen. Mit den Dienstboten wollten sie nicht essen, und für die Familie seien sie selbstverständlich nicht akzeptabel. Und dazu noch in dieser Familie, mit der Herrin im Rollstuhl, die dieses und jenes verlangte, während der Doktor alleine dasitze ... Und er sei sowieso keiner, der darauf achte, was ihm vorgesetzt werde. Ein komischer Laden sei das, wenn man sie, Mrs. Barton, frage – und mit einer Gouvernante im Haus werde es auch nicht besser.
Und immer war da die übermächtige Gegenwart von Mrs. Marline. Ständig klingelten die Glocken, und die Mädchen hetzten pausenlos hin und her.
»Murren und nochmals murren«, sagte Mrs. Barton.
»Morgens, mittags und abends.«
»Sie würde noch am Erzengel Gabriel was auszusetzen haben«, erklärte Nanny.
Wir hörten Mrs. Marlines grollende Stimme hinter den geschlossenen Türen, wenn der Doktor bei ihr war. Sie schimpfte natürlich. Unaufhörlich ging das so, und dann trat eine kurze Pause ein. Da wußten wir, daß der Doktor sie mit seiner leisen, sanften Stimme zu beschwichtigen versuchte.
»Der Ärmste!« sagte Sally. »Er ist fix und fertig. Mecker, mecker, mecker, und unter uns gesagt, er wäre ohne sie besser dran. Sie wird ihr Leben lang hinfällig bleiben, und wenn sie so weitermacht, dann ist er der erste, der ins Gras beißt, wenn du mich fragst Aber daß du ja niemandem erzählst, was ich gesagt habe!«
Der Doktor tat mir leid. Er war so sanft, und er sah so erschöpft aus, wenn er von seiner Frau kam. Er hielt sich möglichst viel in seinem Zimmer auf und schien es kaum erwarten zu können, in seine Praxis zu gehen. Dort blieb er länger als früher, was ich darauf zurückführte, daß es ihm verhaßt war, zu Mrs. Marline nach Hause zu kommen. Sobald er zurück war, rief sie nach ihm, und dann setzte das Stimmengemurre ein.
Annie Logan kam nach wie vor morgens und abends und blieb jedesmal auf ein Schwätzchen und eine Tasse Tee; dabei wurde in der Küche mit Nanny und Mrs. Barton eine Menge geflüstert. Ich versuchte zu lauschen, wenn ich konnte, und alles schien sich um »sie« und »ihn« zu drehen.
Ich spürte – oder bildete es mir ein –, daß eine unbehagliche Spannung im Hause herrschte. Manchmal, wenn Mrs. Marline ihre Tabletten genommen hatte, weil die Schmerzen schlimmer waren als sonst, senkte sich eine Stille über das Haus, als warte alles darauf, daß etwas geschehe.
Dann änderte sich die Stimmung wieder, und wir hörten, wie der Rollstuhl von einem Zimmer zum anderen fuhr oder von Tom Yardley oder dem Doktor in den Garten geschoben wurde. Wir alle vermieden es hinauszugehen, wenn der Rollstuhl draußen war.
Dies war für Estella, Henry und Adeline nicht so leicht zu bewerkstelligen wie für mich, die stets von ihr ignoriert worden war. Sie fand ständig etwas an ihnen auszusetzen, ganz besonders an Adeline. Sie konnte ihre Verachtung für das arme Mädchen nicht verbergen. Sie konnte nicht vergessen, daß sie ein Kind geboren hatte, das nicht normal war; denn sie sah sich, wie ich mir vorstellte, stets als eine Frau, die in allem, was sie tat, Vollkommenheit erzielte.
Die arme Adeline brach unweigerlich in Tränen aus, sobald sie diesen Unterredungen mit ihrer Mutter entkommen war, denn sie wagte es nicht, vor Mrs. Marline zu weinen. Es war traurig, wie sie ihren Jammer unterdrücken mußte. Aber Miß Carson war immer da, wenn sie aus dem gefürchteten Zimmer kam. Sie wußte genau, wie Adeline zu trösten war, und diese vergaß bald ihre Mutter und ließ sich von der Gouvernante versichern, daß alles gut sei; sie hatte ja ihre geliebte Miß Carson, die ihr sagte, daß sie ein kluges Mädchen sei.
* * *
Im Sommer waren die Zigeuner wieder im Wald.
Eines Morgens sah ich sie. Sie waren wie so oft spätabends angekommen und hatten im Wald ihr Lager aufgeschlagen.
Ihre Anwesenheit war für mich jedesmal ungeheuer aufregend, was wohl auf meine besondere Beziehung zu ihnen zurückzuführen war. Und nie würde ich meine Begegnung mit Rosie Perrin und Jake vergessen.
Bald sahen wir sie mit ihren Körben voll Wäscheklammern und getrockneten Heidekraut- und Lavendelbüscheln umherziehen.
»Kaufen Sie ein Sträußchen, das bringt Glück!« sagten sie und machten die Runde bei den Häusern der Nachbarschaft, und einige Mädchen gingen zu Rosie Perrin, um sich wahrsagen zu lassen.
Sie las ihnen aus der Hand und sagte ihnen, was die Zukunft für sie bereithielt. Es kostete nicht viel, und Sally erzählte mir, wenn man einen größeren Blick in die Zukunft tun wolle, könne man mehr bezahlen und in Rosies Wohnwagen gehen, wo sie eine Kristallkugel befrage.
»Die«, sagte Sally, »ist das Wahre.«
Ich konnte nicht widerstehen, die Zigeuner aus dem Schutz der Bäume zu beobachten, genau wie damals, als ich mir den Knöchel verstaucht hatte. Und als ich eines Tages dort kauerte und den barfüßigen Kindern und Rosie Perrin auf den Stufen ihres Wohnwagens zusah, hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um, und da stand Jake und lächelte mich an.
»Tag, Kleine«, sagte er. »Guckst du den Zigeunern zu?«
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte, darum sagte ich nur: »Hm... ja.«
»Hast wohl ’nen Narren an uns gefressen. Wir sind nicht wie die Leute, an die du gewöhnt bist, oder?«
»Nein«, antwortete ich freimütig.
»Tja, Abwechslung ist was Feines. Findest du nicht auch?«
»O ja.«
»Du erinnerst dich doch noch an mich?«
»O ja. Sie haben mich getragen.«
»Knöchel wieder in Ordnung?«
»Ja, danke.«
»Rosie hat dich richtig in ihr Herz geschlossen.«
Das freute mich. »Sie war sehr nett zu mir«, sagte ich.
»Sie hat dir gefallen, wie? Hast nichts gegen sie, nur weil sie eine Zigeunerin ist?«
»Ich mochte sie sehr gern.«
»Ich werd’ dir was sagen. Sie würde sich bestimmt freuen, wenn du sie besuchen kämst.«
»Wirklich?«
»Darauf kannst du wetten.«
»Sie erinnert sich vielleicht nicht mehr an mich. Es ist lange her.«
»Rosie erinnert sich an alles, also auch an dich. Komm mit und sag ihr guten Tag!«
Ich folgte ihm zum Lager. Die Kinder hörten auf zu spielen und starrten mich an, und Rosie Perrin stieß einen Freudenschrei aus, als sie mich sah.
»Na, so was! Das kleine Fräulein Carmel! Komm rauf, Schätzchen! Wer hätte das gedacht!«
Ich stieg, gefolgt von Jake, die Stufen zum Wohnwagen hinauf und trat ein.
Rosie sagte: »Setz dich, Schätzchen! Ist ’ne Weile her, seit du hier warst. Was machen der Knöchel und die Wunde? Alles wieder gut geheilt? Ja? Ich hab’s gewußt. Nun erzähl mal! Wie schaut’s jetzt zu Hause aus? Sie behandeln dich doch noch gut, oder?«
»O ja. Wir haben jetzt eine Gouvernante.«
»Das ist ja fabelhaft. Ist sie lieb zu dir?«
»Sie ist sehr nett, und ich hab’ sie richtig gern.«
Sie nickte. »Und wie steht’s mit der Dame und dem Herrn Doktor ... Doktor ... Wie hieß er doch gleich?«
»Sie hatte einen Reitunfall. Sie kann nicht laufen. Sie braucht einen Rollstuhl, und oft hat sie große Schmerzen.«
»Die Ärmste. Die kleine Krankenschwester geht zu ihr, nicht? Morgens und abends. Eins von unseren Kleinen ist auf der Straße gestürzt. Sie ist mit ihrem Fahrrad gekommen und hat sich um das Kind gekümmert Hat sie gut gemacht. Wir haben ein bißchen geplaudert, sie und ich.«
»Das war Annie Logan. Ja, sie kommt und hilft Mrs. Marline.«
»Ist ein rechter Drachen, die Dame, wie?«
»Ja... Ich glaub’ schon.«
»Ist sie wenigstens anständig zu dir?«
»Sie beachtet mich kaum. Hat sie nie getan. Ich glaube, sie will nicht daran erinnert werden, daß es mich gibt.«
»Das ist vielleicht gar nicht so übel, was?« Sie stieß mich an und lachte. Ich lachte mit ihr.
»Wenn sie dich nur gut behandeln.«
Jake verzog sich und ließ uns allein, und sie stellte mir noch allerlei Fragen über das Haus und seine Bewohner. Ich erzählte ihr von Mrs. Marlines Zimmern im Erdgeschoß, dem Rollstuhl, den Glocken, die die ganze Zeit klingelten, und daß die Dienstboten murrten, weil sie mit nichts zufrieden sei.
Dann hörte ich jemanden singen. Es war eine schöne, klare Stimme, die eine schwungvolle Weise sang:
»Es standen drei Zigeuner am Tor,
Sie sangen so hoch, sie sangen so tief,
Sie sangen der Herrin die Weise vor,
Daß ihr das Herze überlief.«
Ich hatte zu sprechen aufgehört, um zu lauschen.
»Das ist Zingara«, sagte Rosie, und in diesem Moment ging die Wohnwagentür auf, und herein kam die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Kreolenringe baumelten an ihren Ohren, und die dichten, glänzenden schwarzen Haare trug sie hochgesteckt; ihre dunklen Augen blitzten, und Rosie sah sie voller Stolz an.
»Zingara!« rief sie.
»Wer sonst!« sagte die Frau. Dann lächelte sie mir zu und sagte: »Und das ist ...?«
»Die kleine Carmel March von Haus Commonwood.«
»Ich weiß, wer du bist«, sagte Zingara und sah mich an, als freue es sie sehr, mir zu begegnen. »Und wie kommt es, daß du die schlunzigen Zigeuner besuchst?«
Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, deshalb kicherte ich ein wenig.
Sie trat vor mich hin und legte ihre Hände auf meine Schultern, musterte mich eingehend und gab mir das Gefühl, daß sie mich sehr gern mochte. Dann schob sie eine Hand unter mein Kinn und hob mein Gesicht zu sich empor.
»Kleine Carmel March«, sagte sie bedächtig, »ich möchte mich gerne mit dir unterhalten.«
»Dann setz dich zu ihr!« sagte Rosie. »Ich mach’ euch einen Kräutertee, dann könnt ihr zwei ein Schwätzchen halten.«
Sie stand auf und ging nach hinten in den Wohnwagen, in eine Art kleinen Alkoven. Ich war mehr oder weniger allein mit Zingara. Sie sah mich unentwegt an, dann strich sie mir mit dem Finger über die Wange.
»Erzähl mir«, sagte sie ernst, »sind sie gut zu dir in dem Haus?«
»Hm, ja ... ich denke schon. Der Doktor lächelt immer, wenn er mich sieht, und Mrs. Marline beachtet mich nicht. Aber Miß Carson ist sehr lieb.«
Sie wollte mehr über Miß Carson erfahren und hörte mir aufmerksam zu. Ich fand es sehr nett von ihr, daß sie sich so für mich interessierte. Ich wiederholte, was ich Rosie kurz zuvor erzählt hatte.
»Du bekommst eine Schulbildung, und das hat viel für sich«, sagte Zingara. »Ich hätte nichts dagegen, selbst ein bißchen mehr von einer solchen abgekriegt zu haben. Aber ich komme trotzdem zurecht.«
»Lebst du hier bei den Zigeunern?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin zu Besuch. Ich bin aber bei ihnen aufgewachsen. Ich bin genauso herumgelaufen wie die kleinen Jungen und Mädchen, die du da draußen siehst. Ich habe viel gesungen und getanzt. Ich konnte einfach nicht aufhören. Und eines Tages wollte so ein Bücherschreiber ein Buch über Zigeuner schreiben, und er kam und hat bei uns im Lager gewohnt. Er hörte mich singen und sah mich tanzen und sagte, ich solle was draus machen. Dann hat er das in die Hand genommen. Ich besuchte eine Schule, wo Leute für die Bühne ausgebildet werden. Und jetzt tingel’ ich singend und tanzend durchs Land. Zingara, die singende Zigeunertänzerin.«
»Und jetzt bist du wieder hier?«
»Ab und zu komme ich her. Ich kann mich nicht losreißen, weißt du. Genau, wie’s in dem Lied von den schlunzigen Zigeunern heißt: Du kannst nie vergessen, wohin du gehörst.«
»Aber du bist gerne Zingara, die tanzende und singende Zigeunerin.«
»Ja, es gefällt mir. Doch hin und wieder zieht es mich zu meinen Leuten.«
Rosie kam mit drei Tassen aus dem Alkoven. »Das wird dir schmecken«, sagte sie zu mir. »Ist mein Spezialgebräu. Und wie sieht’s aus mit euch beiden? Füreinander entflammt, wie ich sehe.«
»So ist es«, sagte Zingara.
»Ein Glück, daß du hier warst, als Carmel zu Besuch kam«, sagte Rosie mit betontem Augenzwinkern.
»Ein großes Glück«, pflichtete Zingara ihr bei.
»Nun, wie schmeckt dir mein Tee?« fragte Rosie. Ist er so gut wie der, den sie bei Doktors servieren?«
»Er ist anders«, erwiderte ich.
»Tja, wir sind anders, nicht?« sagte Rosie. »Wir können schließlich nicht alle gleich sein. Hat Carmel dir von der Gouvernante erzählt?«
»Ja«, antwortete Zingara. »Scheint eine sehr gute Gouvernante zu sein.«
Ich nickte eifrig.
»Ich wette«, sagte Zingara, »daß sie dich eines Tages auf eine Schule schicken.«
»Henry ist mit Lucian Crompton in einem Internat«, erklärte ich ihnen.
»Soso«, sagte Rosie, »das ist gut. Du wirst mit der Schwester des jungen Mannes in eines kommen. Dann wirst du eine richtige Dame.«
Wie genoß ich es, im Wohnwagen zu sitzen und mich mit ihnen zu unterhalten! Ich war von Zingara fasziniert. Sie war ein Zigeunerkind gewesen, das im Lager herumtollte, und dann hatte ein Herr, dem ihr Gesang und ihr Tanz gefielen, sie mitgenommen und zur Bühne gebracht. Eine wundervolle Geschichte. Ich hätte Zingara gerne tanzen gesehen. Wir redeten und redeten, und plötzlich fiel mir ein, wie lange ich schon fort war, und daß Estella und Miß Carson sich sicher schon fragten, wo ich blieb.
Ich sagte: »Ich muß gehen. Ich müßte längst zurück sein.«
»Sie werden dich vermissen, ja?« sagte Zingara.
»Inzwischen schon«, antwortete ich.
»Sie werden denken, die Zigeuner hätten dich gestohlen«, meinte Rosie lachend.
»Das denken sie bestimmt nicht«, widersprach ich.
»Man kann nie wissen«, meinte Rosie.
»Wir sehen uns wieder«, sagte Zingara zu mir.
»Oh, das will ich hoffen«, erwiderte ich.
Sie nahm meine Hände und hielt sie ganz fest. »Es war schön, mit dir zusammenzusein.« Sie schenkte mir ihr strahlendes Lächeln. Rosies Gesichtsausdruck war zärtlich und liebevoll. Mir war ganz warm vor Glück, und ich wünschte, nicht weggehen zu müssen.
Ich dankte Rosie für den Tee und sagte den beiden, wie sehr mich das Beisammensein mit ihnen gefreut hatte.
Plötzlich legte Zingara ihre Arme um mich und drückte mich an sich. Sie gab mir einen Kuß, und Rosie saß ganz still dabei und lächelte.
»Sie muß gehen«, sagte sie schließlich. »Man wird sie erwarten.«
»Ja«, sagte Zingara und kam mit mir an die Wohnwagentür.
»Begleite sie lieber nicht!« sagte Rosie. »Du läßt sie am besten allein gehen.«
Zingara nickte.
Ich stieg die Treppe hinunter und drehte mich um. Sie standen beide oben und sahen mir nach. Ich winkte, dann sauste ich über die Lichtung in den Wald.
Ich war nicht weit gekommen, als ich Stimmen hörte. Ich blieb wie angewurzelt stehen und lauschte. Es hörte sich nach dem Doktor an. Das konnte nicht sein. Was sollte er um diese Zeit im Wald?
Ich ging still weiter. Ich wollte von niemandem gesehen werden, denn ich mochte nicht über meinen Besuch im Zigeunerlager sprechen. Ich wußte nicht recht, warum, außer daß ich mit Einwänden rechnete und nicht wollte, daß man mir verbot, dorthin zu gehen. Ich wollte darüber nachdenken. Zingara hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, so wie zuvor Rosie Perrin. Aber es war irgendwie anders. Ich wollte ganz allein über unsere Begegnung nachdenken. Ich mochte Estellas spöttische Bemerkungen nicht hören. Sie würde behaupten, daß sie mir geschmeichelt hätten, weil sie mir wahrsagen wollten oder dergleichen. An jeden Augenblick wollte ich mich deutlich erinnern, angefangen bei jenem Moment, als Jake neben mir stand und sagte, daß Rosie Perrin mich gerne sehen möchte, bis zu dem Zeitpunkt, als ich fortging.
Deswegen durfte mich niemand sehen.
Aber ja, das war die Stimme des Doktors und dann die von Miß Carson.
Dann sah ich die beiden. Sie saßen zusammen auf einem Baumstumpf. Ich kannte die Stelle gut. Ich hatte selbst oft auf diesem Stumpf gesessen.
Da ich mich ihnen von hinten genähert hatte, hatten sie mich nicht gesehen. Ich stand einige Zeit und beobachtete sie. Sie unterhielten sich ernsthaft. Ich konnte nicht hören, was sie sprachen, aber hin und wieder lachte einer von ihnen, also mußte es etwas Lustiges gewesen sein. Das Benehmen des Doktors war ganz anders als sonst. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Und Miß Carson wirkte sehr übermütig. Sie machte einen ausgesprochen glücklichen Eindruck.
Es war höchst seltsam, denn sie schienen zwei andere Menschen zu sein.
Ich war heilfroh, daß ich sie gehört hatte, bevor sie mich sehen konnten. Nicht einmal Miß Carson hätte ich erklären mögen, daß ich die Zigeuner besucht hatte. Ich wandte mich ab und machte mich leise auf den Heimweg.
* * *
Ich ging danach noch einmal zu den Zigeunern. Rosie Perrin saß auf den Stufen ihres Wohnwagens und flocht einen Korb wie damals, als ich sie zum erstenmal gesehen hatte.
Sie erzählte mir, Zingara sei fort. Sie müsse ihren Kontrakt erfüllen. Die Leute in den Theatern hielten große Stücke auf sie, sagte sie, und sie tanze und singe viel in den großen Städten, sogar in London.
Wir unterhielten uns eine Weile. Sie fragte mich, wie mir Zingara gefallen habe.
»Sehr«, erwiderte ich, da drückte sie meine Hand und sagte: »Sie hat dich auch gern.«
In Haus Commonwood trat eine leichte Veränderung ein. Das lag nicht so sehr an Mrs. Marline. Sie war anspruchsvoll wie stets, und Mrs. Barton meinte sogar, sie werde mit jedem Tag schlimmer. Sie wartete nicht mal, bis die Tür zu war, bevor sie anfing, Dr. Marline unaufhörlich Vorhaltungen zu machen, und wir hörten, wie sie ihn daran erinnerte, daß das Haus von ihrem Geld gekauft worden sei und er ihr alles verdanke. Sie schien jedermann weh tun zu wollen, und weil Adeline am leichtesten zu kränken war, schien sie es auf diese Tochter besonders abgesehen zu haben.
Sie schickte nach ihr und traktierte sie mit Fragen, um ihre Fortschritte bei der neuen Gouvernante zu prüfen, wobei Adeline vor lauter Angst vollends den Verstand zu verlieren schien. Dann beklagte Mrs. Marline, welch einem armseligen Geschöpf sie das Leben geschenkt habe, und ließ durchblicken, dies sei allein einer Unzulänglichkeit des Doktors zuzuschreiben, man könne nicht ihr die Schuld in die Schuhe schieben.
Miß Carson wartete auf Adeline, wenn sie zitternd und entmutigt von ihrer Mutter kam. Sie ging mit ihr in die Schulstube und nahm sie in die Arme, hielt sie fest, wischte ihr die Tränen fort und murmelte Worte des Trostes. Sie versicherte Adeline, daß sie keineswegs ein armseliges Geschöpf sei, daß sie im Unterricht sehr gut mitkomme und nicht darauf achten dürfe, wenn irgend jemand das Gegenteil behaupte. Niemand werde ihr weh tun, solange Miß Carson da sei. Man müsse es zuerst mit ihr aufnehmen.
Ich folgte ihnen nach oben und tröstete Adeline ebenfalls.
Sie hörte uns lächelnd zu. Dann schlang sie ihre Arme um Miß Carsons Hals und klammerte sich an sie.
Zum Glück wechselten Adelines Stimmungen schnell, und Miß Carson vermochte sie bald zu überzeugen, daß alles gut sei – bis die nächste gefürchtete Vorladung erfolgte.
Als es soweit war, ging statt Adeline Miß Carson zu Mrs. Marline. Estella, Adeline und ich hielten uns in der Nähe der Tür auf, um mitzubekommen, was vorging.
Wir hörten Mrs. Marlines erhobene Stimme und Miß Carsons leises Gemurmel, und nach einer Weile kam Miß Carson heraus, das Gesicht gerötet, die Augen funkelnd. Sie sah niedergeschlagen und zornig aus. Da fürchtete ich, sie sei entlassen worden, und der Gedanke an ihren Fortgang erfüllte mich mit Bestürzung. Adeline und ich liebten sie, und selbst Estella gab zu, daß sie »nicht übel« sei.
Miß Carson ging in ihr Zimmer. Da ich die Spannung nicht mehr aushielt, ging ich zu ihr. Sie saß auf ihrem Bett und starrte vor sich hin. Ich warf mich in ihre Arme, und sie drückte mich an sich.
»Sie werden uns doch nicht verlassen?« rief ich bange.
Sie antwortete nicht. Aber sie machte ein so jämmerliches Gesicht, daß ich fürchtete, sie habe den Laufpaß bekommen.
Dann sagte sie traurig: »Ich könnte hier glücklich sein ... so glücklich«, als spreche sie mit sich selbst.
»Gehen Sie nicht fort!« sagte ich. »Verlassen Sie uns nicht! Adeline würde es nicht ertragen – und ich auch nicht. Wir lieben Sie.«
»Du gutes Kind«, sagte sie. »Ich liebe euch auch. Ich liebe dieses Haus. Ich liebe ...«
Ihre Lippen zitterten, und sie fuhr fort: »Sie hat gesagt, ich müsse gehen. Sie ist gemein. Sie interessiert sich nur für sich selbst Der arme Doktor ... Was sage ich da? Da ist nichts zu machen, man muß sich damit abfinden ...«
Ich dachte: Wenn Mrs. Marline ihr den Laufpaß gegeben hat, ist nichts zu machen. Mrs. Marline bekommt immer, was sie will.
Ich stellte mir vor, wie trübselig es ohne Miß Carson sein würde. Es würde nichts mehr geben, um sich darauf zu freuen, abgesehen von Onkel Tobys Besuchen, und die waren so rar. Dann war da vielleicht noch Zingara, die Zigeunerin, aber sie hatte ihren Kontrakt. Sie würde nur sehr selten kommen.
Als der Doktor nach Hause kam, waren wir alle gespannt, was geschehen würde, wenn er ins Zimmer seiner Gattin ging, wie er es jeden Tag bei seiner Rückkehr tat.
Mrs. Marline schimpfte sehr viel. Kein Zweifel, sie war ungeheuer wütend. Der Doktor kam aus dem Zimmer. Sein Gesicht war weiß. Er ging direkt in Miß Carsons Zimmer und blieb lange dort.
Ich habe nie genau erfahren, was geschehen war, aber Miß Carson ging nicht fort. Der Doktor setzte auf irgendeine Weise seinen Willen durch wie einst, als Mrs. Marline mich ins Waisenhaus schicken, er mich aber dabehalten wollte.
Eine ungewisse Stimmung herrschte im Haus. Niemand wußte sicher, was als nächstes geschehen würde, und es wurde viel hinter geschlossenen Türen geredet. Man schien Miß Carson einen Aufschub gewährt zu haben. Auf alle Fälle blieb sie.
Von nun an ging sie nicht mehr in Mrs. Marlines Zimmer. Adeline auch nicht. Das arme Mädchen blieb vor weiteren schrecklichen Zwischenfällen verschont, und es wußte, daß Miß Carson es gerettet hatte.
Adeline war ein anhängliches Geschöpf, und sie liebte Miß Carson mehr als jeden anderen, den sie kannte. Ihr Gesicht leuchtete auf vor Freude, wenn sie die Gouvernante sah, und sie blickte sie immerfort an und lächelte in sich hinein. Ich hatte den Eindruck, daß Adeline sich nur geborgen und glücklich fühlte, wenn Miß Carson bei ihr war.
* * *
Der Doktor drang stärker in mein Bewußtsein. Ich sah ihn jetzt häufiger. Er hatte sich sehr verändert. Er nahm immer mehr Anteil an unseren Leistungen, die ihn vor Miß Carsons Ankunft nie zu interessieren schienen. Oft kam er in die Schulstube und erkundigte sich nach unseren Fortschritten.
Seine Besuche waren nicht im mindesten furchteinflößend. Er lächelte stets. Miß Carson war stolz auf Adelines Leistungen; denn sie konnte schon ein bißchen lesen, wozu sie früher nie imstande gewesen war.
Adeline wurde rot vor Freude, wenn Miß Carson sagte, sie müsse ihrem Papa vorlesen, um ihm zu zeigen, wie klug sie sei. Und Adeline, die Stirn vor Konzentration in Falten gelegt, schlug das Buch auf und fuhr mit dem Finger unter der Zeile entlang, wenn sie las:
Alle meine Entchen
Schwimmen auf dem See.
Köpfchen in das Wasser,
Schwänzchen in die Höh’.
Miß Carson klatschte in die Hände, wenn Adeline voller Stolz auf ihre Leistung den Blick hob und auf das Staunen in den Gesichtern der Zuhörer wartete. Der Doktor applaudierte ebenfalls, und Adeline war sehr zufrieden mit sich und glücklich.
Ich hätte gerne gewußt, ob der Doktor dasselbe dachte wie ich, was nämlich für ein Unterschied bestand zwischen Miß Carson und Mrs. Marline.
Dann fragte er, wie Estella und ich vorankämen, und Miß Carson zeigte ihm unsere Arbeiten.
»Gut Gut Ausgezeichnet«, sagte er dann und sah Miß Carson an.
»Ich denke, ich sollte beginnen, die beiden in Französisch zu unterrichten«, sagte sie eines Tages.
»Eine hervorragende Idee!«
»Ich werde mein Bestes ...«
»Ich bin sicher, daß Sie es einfach fabelhaft machen werden«, sagte der Doktor und lächelte uns gütig zu, Miß Carson eingeschlossen.
Es bestand kein Zweifel, daß er viel von ihr hielt, und oft dachte ich, was für ein glückliches Haus dies sein könnte, wenn Mrs. Marline nicht wäre.
Henry kam aus dem Internat nach Hause. Er hatte sich eng mit Lucian Crompton angefreundet und war oft in The Grange. Camilla besuchte ein Pensionat, und wenn sie nach Hause kam, wurden wir zum Tee eingeladen. Sie erzählte uns haarsträubende Geschichten vom Leben in der Schule, die Estellas Neid erregten. Ich aber hätte Miß Carson gegen keinerlei Aufregungen und noch so verwegene Abenteuer tauschen mögen.
Ein neues Jahr war angebrochen, und die Atmosphäre in Haus Commonwood schien sich weiter zu verändern. Ich vermochte nicht genau zu sagen, woran es lag. Der Doktor war verändert. Oft hörte ich ihn lachen. Sogar wenn er aus Mrs. Marlines Zimmer kam und sie ihn grimmig zurechtgewiesen hatte, zeigte er nicht jene niedergeschlagene, bekümmerte Miene, die ich von früher kannte. Oft hörte ich ihn eine Melodie aus einer Operette von Gilbert und Sullivan summen, die damals von vielen Leuten gesungen wurde. Dergleichen hätte er früher nie getan.
Mrs. Marline hatte nun noch öfter schlimme Tage. Wir konnten nicht anders, als diese zu begrüßen, weil dann Dr. Everest kam und ihr ein Beruhigungsmittel verabreichte, das sie benommen machte, worauf im Erdgeschoß Ruhe herrschte und die Dienstboten nicht das ständige Klingeln der Glocken hören mußten.
Miß Carson wirkte glücklich. Ihr sympathisches Gesicht strahlte, und sie sah richtig schön aus. Nicht so wie Zingara, sondern eher von einem inneren Licht verklärt.
Adeline war glücklich. Sie lief umher und sang vor sich hin:
»Flimmre, flimmre kleiner Stern!
Was du bist, das wüßt’ ich gern.«
Immer, wenn ich diesen Vers höre, fühle ich mich zurückversetzt in jene Tage, und heute weiß ich natürlich, daß sie der Auftakt zu dem Sturm waren, der bald losbrechen und uns alle mitreißen sollte. Damals aber waren wir alle recht glücklich. Nicht einmal Estella verlangte es nach dem Pensionat.
Mir fiel auf, daß die Dienstboten ständig miteinander tuschelten, das Geflüster aber abrupt abbrach, wenn eins von uns Kindern auftauchte.
Es tat sich etwas. Bange fragte ich mich, was.
Das Dachgeschoß von Haus Commonwood bestand aus Mansardenzimmern mit schrägen Decken. Dort schlief das Personal. Die Kinderzimmer befanden sich unmittelbar darunter im dritten Stockwerk. Hier lagen die Schulstube und unsere Schlafzimmer: meines, Adelines, Estellas, Henrys und natürlich das von Nanny und Sally. Miß Carsons Zimmer befand sich im zweiten Stock, und in der ersten Etage war das Elternschlafzimmer, das einst von Dr. und Mrs. Marline bewohnt wurde und jetzt dem Doktor allein gehörte.
Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet in jener Nacht aufgewacht bin. Vielleicht lag es am Mond, der fast voll war und durchs Fenster direkt auf mein Bett schien. Ich schlug die Augen auf und betrachtete ihn. Er wirkte ganz nah.
Plötzlich hörte ich etwas: als würde eine Tür geschlossen. Ich dachte sofort an Adeline. Ihr Zimmer lag neben meinem. Miß Carson hatte gesagt, wir müßten auf Adeline aufpassen und ihr immer das Gefühl geben, sie sei genau wie wir. Nie dürften wir andeuten, daß sie anders sei.
Ich stieg aus dem Bett und öffnete leise meine Tür. Alles war still, und von Adeline war nichts zu sehen. Ihre Tür war geschlossen. Ich sagte mir, ich hätte mir eingebildet, etwas gehört zu haben. Vielleicht hatte ich geträumt. Dann hörte ich unten ein Geräusch. Ich spähte über das Treppengeländer und sah Miß Carson. Sie schlich durch den Flur zur Treppe, verstohlen, als wolle sie so wenig Lärm wie möglich machen. Sie stieg ein Stockwerk tiefer und ging auf Zehenspitzen über den Flur zum Elternschlafzimmer.
Leise drückte sie die Klinke und trat ein.
Ich war erstaunt. Warum wollte sie um diese Zeit den Doktor sprechen? Konnte es sein, daß Adeline krank war? Aber Miß Carson mußte direkt aus ihrem eigenen Zimmer gekommen und sofort zu ihm hinunter gegangen sein. Es sah nicht danach aus, daß sie vorher bei Adeline gewesen war.
Ich wartete eine Weile. Nichts geschah. Minuten vergingen, und die Tür zum Elternschlafzimmer blieb geschlossen.
Ich war sehr jung und verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Später freilich wurde mir vieles klar.
* * *
Mit Miß Carson war eine Veränderung vorgegangen. Zuweilen saß sie da und starrte ins Weite, als könne sie etwas sehen, das für uns übrige unsichtbar war. Ihr Gesicht war sanft und schön mit einem Anflug von Verwunderung. Erst wenn eins von uns etwas sagte, kam sie aus ihrem Traum zurück. Dabei war sie zu uns so lieb wie immer.
Eindeutig ging im Hause etwas Heimliches vor. Es schien Nanny Gilroy zu freuen und zu amüsieren, obschon sie es zugleich mißbilligte. Aber ich hatte längst entdeckt, daß sie oft ihre Freude an bestimmten Vorkommnissen hatte, insbesondere solchen, die sie »schockierend« nannte. Als etwa die Bäckersfrau mit einem Handelsreisenden durchbrannte, erklärte Nanny, dies sei zwar verrucht, feixte aber, als sie sagte, mit der Bäckersfrau werde es ein schlimmes Ende nehmen, was diese freilich verdient habe. Dergleichen schien sie sehr zu befriedigen. Ich hatte sie nie gerngehabt, aber jetzt mochte ich sie weniger leiden denn je.
Eines Tages eröffnete uns Miß Carson, sie müsse einen Besuch machen und werde ein paar Tage fort sein. Als sie ging, geriet Adeline in Panik. Sie hatte furchtbare Angst, daß ihre Mutter nach ihr schicken würde, und immer, wenn wir im Erdgeschoß waren, drückte sie sich an mich und hielt meine Hand.
Als Miß Carson nach einer Woche zurückkam, klammerte Adeline sich mehr denn je an sie.
»Nicht fortgehen«, sagte sie unentwegt.
Miß Carson machte ein Gesicht, als wolle sie weinen. Sie nahm Adeline fest in die Arme und sagte: »Ich möchte nie fortgehen, Liebes. Ich möchte immer hierbleiben bei dir und Carmel, Estella und ... Immer und ewig möchte ich bleiben.« Es war September. Lucian und Camilla, die in den Ferien zu Hause gewesen waren, würden bald auf ihre Schulen zurückkehren. Lucian war nach wie vor nett zu mir, obgleich er so viel älter war. Er nahm stets Notiz von mir und plauderte mit mir. Estella war darüber nicht sehr erbaut, weswegen seine Aufmerksamkeit mich doppelt freute. Sie war in Lucian vernarrt und versuchte, ihn immer dazu zu bringen, sich mit ihr zu unterhalten.
Es war heiß und schwül. Tom Yardley sagte, ein Gewitter liege in der Luft. Tatsächlich hörten wir es gelegentlich donnern. Im Rückblick denke ich, daß es symbolisch war für das, was in Haus Commonwood geschehen sollte.
Mrs. Marline fühlte sich gerade etwas besser, und während der letzten Tage hatte Tom Yardley ihren Rollstuhl zu einem schattigen Platz im Garten geschoben, wo sie las oder vor sich hin döste.
An jenem gewissen Tag kamen Lucian und Camilla nach Commonwood, und wir tranken alle miteinander Tee im ebenerdigen Salon. Da Mrs. Marline draußen im Garten war, mußten wir uns nicht vorsehen, nicht zuviel Lärm zu machen.
Lucian gab während der Gespräche stets den Ton an. Er war älter als Henry und kam uns allen sehr reif vor; daher respektierten wir ihn, und wenn er sprach, hörten wir zu, ohne ihn zu unterbrechen.
Er hatte ein Buch über das Schürfen nach Opal in Australien gelesen, das ihn sichtlich gefesselt hatte, und er erzählte uns von den Steinen. Adeline war auch zugegen; sie wollte immer an allem teilnehmen, was vorging, und Lucian bezog sie stets mit ein.
»Sie sind phantastisch«, sagte er mit jener Begeisterung, die er jedesmal an den Tag legte, wenn ihn etwas interessierte, und die so ansteckend wirkte, daß wir die Freude mit ihm teilten.
»Stellt euch vor, ihr seid auf der Suche nach ihnen und stoßt auf ein Prachtexemplar. Die Farben sind herrlich. Sie schillern in Rot-, Blau- und Grüntönen, und man nennt sie schwarze Opale, denn es gibt auch milchige. Die findet man woanders. Meine Mutter hat einen schwarzen Opal. Sie trägt ihn nicht oft. Sie verwahrt ihn mit anderen Schmuckstücken im Banktresor.«
»Die Leute sagen, daß sie Unglück bringen«, sagte Camilla. »Deshalb läßt unsere Mutter ihn dort. Sie denkt, dann trifft das Unglück die Bank und nicht sie.«
»Ist ja gar nicht wahr!« sagte Lucian lachend. »Sie verwahrt ihn in der Bank, weil er dort sicher aufgehoben ist. Er ist sehr wertvoll.«
»Meine Mutter hat auch einen Opal«, sagte Henry. »In einen Ring gefaßt. Den trägt sie manchmal.«
»Vielleicht hat sie deswegen den Unfall gehabt«, sagte Camilla, die von ihrer Unglückstheorie nicht ablassen wollte.
»Unsinn!« sagte Lucian obenhin. »Wie soll ein Stein Unglück bringen? Das sagen die Leute bloß, weil die Steine leicht splittern. Ihr wißt ja, wie solche Geschichten entstehen. Die Leute übertreiben, und dann wird man abergläubisch. Ich würde den Ring eurer Mutter gern einmal sehen.«
»Er ist schon lange Zeit im Familienbesitz. Sie hat ihn in ihrer Schmuckschatulle.«
»Sie trägt ihn nicht oft«, sagte Estella. »Natürlich wird er eines Tages mir gehören. Rund um den Opal sind kleine Diamanten eingelassen.«
Lucian schilderte uns dann, wie die Opale gewonnen werden, wie man sie sortiert und in die gewünschte Form schleift. Er erklärte, es sei eigenartig, daß man sie nur an bestimmten Stellen finde.
Als wir mit dem Tee fertig waren, sagte Henry, er wolle mit Lucian in die Stadt, um etwas für sein Fahrrad zu besorgen.
»Kommt ihr wieder her?« fragte Adeline.
»Ich denke schon«, sagte Lucian.
Wir gingen mit Camilla in die Schulstube und machten Ratespiele, die, wie Camilla sagte, bei den Mädchen im Schlafsaal beliebt waren, wenn das Licht ausging.
Kurz bevor Henry und Lucian aufgebrochen waren, hatte sich Mrs. Marline aus dem Garten ins Haus bringen lassen. Doch nach einer Weile hatte sie offensichtlich beschlossen, da es ein so schöner Tag und ihr Befinden besser war, wieder nach draußen zu gehen, und so schob Tom Yardley sie hinaus, und es war wieder Ruhe im Haus. Lucian und Henry kamen nicht wieder. Ich nahm an, sie waren wohl noch woanders hingegangen. Wir Mädchen begleiteten Camilla nach The Grange. Mrs. Marline war noch im Garten.
Ich ging in mein Zimmer hinauf, und kurz darauf hob unten im Erdgeschoß ein Geschrei an. Ich ging hinunter, um nachzusehen, was los sei.
Adeline war in höchster Verzweiflung. Sie saß im Schlafzimmer ihrer Mutter auf dem Fußboden, neben sich die umgekippte Kommodenschublade, deren Inhalt ringsum verstreut lag. Sie hatte die Lade offensichtlich zu weit herausgezogen, und da war sie ihr aus der Hand geglitten. Und nun lag sie umgekehrt auf dem Teppich. In einer solchen Situation konnte Adeline nichts anderes tun, als um Hilfe rufen und hoffen, daß jemand von uns, am liebsten Miß Carson, kommen und ihr aus der Patsche helfen würde, bevor ihre Mutter entdeckte, daß sie in ihrem Schlafzimmer gewesen war und sich an ihrer Kommode zu schaffen gemacht hatte.
Unglücklicherweise hörte Mrs. Marline das Geschrei. Tom Yardley war gerade in der Nähe, und Mrs. Marline ließ sich von ihm ins Haus schieben. In ihrem Schlafzimmer sah sie Adeline auf dem Fußboden sitzen, umgeben vom Inhalt der Schublade. Inzwischen war Nanny Gilroy hinzugekommen. Es folgte eine herzzerreißende Szene, die ich vom Flur aus durch die offene Tür beobachten konnte. Mrs. Marline betrachtete angewidert die schluchzende Adeline.
»Ich wollte ihn bloß Lucian zeigen«, stieß Adeline unter Schluchzern hervor. »Bloß ganz kurz. Ich wollte nicht ... sie ist ganz rausgerutscht, als ich gezogen habe ...«
»Hör auf zu schniefen, Kind!« sagte Mrs. Marline. »Du siehst lächerlich aus. Yardley, heben Sie die Sachen auf und legen Sie sie zurück!«
Tom Yardley tat wie geheißen.
»Komm her!« sagte Mrs. Marline zu der zusammen-gekauerten Adeline. »Dummes Kind, wann wirst du endlich ein bißchen Vernunft annehmen?«
»Ich wollte doch bloß Lucian den Opalring zeigen. Ich wollte bloß ...«
»Schweig still! Wie kannst du es wagen, in mein Schlafzimmer zu gehen und Schubladen aufzuziehen?«
»Ich wollte bloß ...«
Nun war auch Miß Carson heruntergekommen.
»Was ist los?« fragte sie mich.
»Ich glaube, Adeline ist hineingegangen und hat eine Schublade aufgemacht, und die ist runtergefallen«, sagte ich. »Lucian hat von Opalen erzählt, und Adeline wollte ihm den Ring ihrer Mutter zeigen.«
»Arme Kleine! So darf man nicht mit ihr umgehen. Das hilft doch nichts.«
»Zur Strafe«, sagte Mrs. Marline, »gehst du in dein Zimmer und bleibst dort ohne Licht, wenn es dunkel ist.«
Adeline stieß ein Angstgeheul aus. Da ging Miß Carson in das Zimmer. Mit einem Freudenschrei lief Adeline zu ihr und klammerte sich an sie.
»Ist ja gut!« sagte Miß Carson zu Adeline. »Niemand wird dir etwas tun.«
Adeline schluchzte weiter und ließ Miß Carson nicht los.
»Was unterstehen Sie sich, sich einzumischen?« rief Mrs. Marline. »So eine Unverschämtheit! Das ist wirklich die Höhe! Sie werden dieses Haus auf der Stelle verlassen!«
»Nein, nein, nein!« schrie Adeline.
»Ich traue meinen Ohren nicht«, sagte Mrs. Marline. »Sind denn hier alle von Sinnen? Miß Carson, wie können Sie es wagen, hier hereinzukommen?«
»Adeline wollte nichts Böses tun und hat keinen Schaden angerichtet«, sagte Miß Carson bestimmt. »Komm, Adeline!«
Adeline faßte Miß Carsons Hand, während Mrs. Marline den beiden fassungslos nachsah. Miß Carson ging mit Adeline hinaus auf den Flur. Plötzlich stieß sie einen leisen Schrei aus, stolperte und wäre fast gestürzt, wenn Nanny Gilroy sie nicht aufgefangen hätte. So aber glitt sie langsam zu Boden und blieb auf dem Teppich liegen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie sah sehr blaß aus.
»Sie ist ohnmächtig«, sagte Nanny mit einer Miene grimmiger Zufriedenheit. »Sie ist glattweg ohnmächtig geworden.«
»Was ist da los, um Himmels willen?« rief Mrs. Marline aus ihrem Schlafzimmer.
»Die Gouvernante ist ohnmächtig geworden, Madame«, sagte Nanny Gilroy. »Ich werde mich um sie kümmern.«
Adeline starrte bestürzt auf Miß Carson. Ich war entsetzt.
Alles kam mir so unwirklich vor.
Mrs. Barton lief herbei und fragte: »Was ist los?«
»Die Gouvernante ist glatt in Ohnmacht gefallen«, sagte Nanny mit einer Überlegenheit, als wolle sie der Köchin mitteilen: Ich hab’s ja gleich gesagt.
Die nächsten Minuten waren wie in einem phantastischen Alptraum. Adeline rief schluchzend: »Wach auf! Wach auf! Laß nicht zu, daß sie mir was tut!«
Nanny flüsterte mit Mrs. Barton. »Annie wird gleich hier sein. Wäre vielleicht ganz gut, wenn sie sie sich mal ansähe.« Sie stieß Mrs. Barton an, die feixte. Es war, als hätten sie ein gemeinsames lustiges Geheimnis.
Dann schlug Miß Carson zu Adelines und meiner Erleichterung die Augen auf. »Was ... was?« begann sie.
»Sie sind ohnmächtig geworden, meine Liebe«, sagte Mrs. Barton.
Miß Carson sah sich verwirrt und erschrocken um. Adeline kniete neben ihr und umklammerte ihre Hand.
»Nicht ohnmächtig werden!« bat sie. »Bleib hier ... bei mir.«
»Ich helfe Ihnen, meine Liebe«, sagte Mrs. Barton. »Am besten, Sie legen sich ein bißchen hin.«
»Ganz recht«, sagte Nanny. »Sie müssen sich hinlegen. Sie hatten einen schlimmen Zusammenbruch.«
Miß Carson ging in ihr Zimmer. Nanny und Mrs. Barton führten sie, Adeline und ich bildeten die Nachhut.
Erschüttert über die Szene, die ich mit angesehen hatte, kam ich in Miß Carsons Schlafzimmer. Sie lag auf dem Bett und starrte an die Decke. In ihren Augen stand deutlich Furcht geschrieben.
»So, bleiben Sie ein Weilchen liegen«, sagte die Köchin.
»Sie dürfen sich nicht aufregen.«
Ich sah, wie sich Nannys Mundwinkel zu dem bekannten Feixen verzogen. Dann fiel ihr Blick auf mich und Adeline.
»Was tut ihr hier? Hinaus mit euch, aber flott!«
Ich nahm Adelines Hand, und wir verließen den Raum.
»Miß Carson ist doch nicht krank?« fragte Adeline bange.
»Nein nein, ihr fehlt nichts«, sagte ich.
»Sie wird nicht fortgeschickt, nicht wahr?«
Ich drückte ihre Hand. »O nein, nein«, sagte ich ohne Überzeugung. Ich mußte Adeline beruhigen. Ich konnte es nicht ertragen, ihr Gesicht so angstverzerrt zu sehen.
Nanny Gilroy war uns nachgekommen. Sie nahm Adeline an der Hand und zog sie mit sich fort.
Ich ging in mein Zimmer. Ich wußte, daß etwas Dramatisches passieren würde. Ich glaubte, man würde Miß Carson befehlen, ihre Sachen zu packen und zu verschwinden. Mrs. Marline würde sich von niemandem, der bei ihr beschäftigt war, gefallen lassen, daß man so mit ihr sprach, wie Miß Carson es getan hatte. Sie war schon einmal nahe daran gewesen, entlassen zu werden. Ein zweites Mal würde sie nicht davonkommen. Ich war so untröstlich wie Adeline und versuchte mir vorzustellen, wie es ohne Miß Carson im Hause sein würde.
Als Annie Logan um halb sieben kam, um Mrs. Marline bettfertig zu machen, führte Nanny Gilroy sie in Miß Carsons Zimmer hinauf. Ich öffnete meine Tür und spähte über das Treppengeländer. Ich sah die beiden im Flur.`
»Es wäre gut, wenn Sie mal einen Blick auf sie werfen würden, Annie. Ist glattweg in Ohnmacht gefallen. Ich meine, das ist doch nicht normal, daß eine junge Frau einfach besinnungslos wird. Könnte ja sein, daß was nicht stimmt.«
Dann gingen sie hinein, und die Tür wurde geschlossen. Ich lauerte in der Nähe und wartete, und nach einer Weile kamen sie wieder heraus und gingen in die Küche hinunter, um wie gewohnt eine Tasse Tee zu trinken. Ich beobachtete sie und wartete. Sie blieben eine Weile drinnen bei Mrs. Barton. Ich hätte gerne gehört, was sie sprachen.
Dann ging die Tür auf, und ich hörte Nanny sagen: »Das ist nur recht und billig. Madam muß unterrichtet werden. Ich bitte Sie! Ist denn das die Möglichkeit! Allerdings habe ich es schon eine ganze Weile vermutet – und Sie auch, das weiß ich.«
In Begleitung von Nanny und Mrs. Barton ging Annie Logan in Mrs. Marlines Zimmer. Ich konnte nicht hören, was gesprochen wurde. Mrs. Marline schimpfte ausnahmsweise nicht. Dann kamen die drei wieder heraus, Annie Logan fuhr auf ihrem Fahrrad davon, und Nanny und Mrs. Barton kehrten in die Küche zurück, um noch mehr zu bereden.
Als der Doktor nach Hause kam, meldete ihm Mrs. Barton, daß Mrs. Marline ihn unverzüglich zu sprechen wünsche.
Ich wußte, daß eine Unterredung über Miß Carsons Zukunft bevorstand, und da ich unterdessen im Lauschen sehr geschickt war, konnte ich einiges davon mitbekommen.
Es war ein heißer Tag, und die Fenstertür, die von Mrs. Marlines Zimmer in den Garten führte, stand offen. Ich ging so nahe heran, wie ich mich traute, und es gelang mir, mich einigermaßen hinter einem Busch zu verstecken. Konnte ich auch nicht alles verstehen, so hörte ich doch einiges, vor allem, wenn Mrs. Marline die Stimme hob, wie sie es immer tat, wenn sie erzürnt war; und sie war sehr wütend.
»Dieses unverschämte Frauenzimmer! Sagt mir, wie ich meine eigene Tochter zu behandeln habe!«
Darauf folgte ein unverständliches Brummen des Doktors.
»Du verteidigst die Schlampe auch noch! Das Maß ist voll. Sie muß gehen. Es wäre eine Schande, sie hierzubehalten. Du wirst sie entlassen ... oder soll ich das übernehmen? Ich wünsche, daß sie das Haus verläßt. Diese Nacht kann sie noch bleiben, aber dann: Hinaus mit ihr!«
Darauf muß der Doktor gegangen sein, denn es wurde still. Ich schlich ins Haus und ging spontan in Miß Carsons Zimmer. Ich klopfte an, und als sie meine Stimme hörte, sagte sie: »Herein!«
Ich ging hinein. Adeline lag bei ihr auf dem Bett, die Arme um die Gouvernante geschlungen. Sie weinte, und Miß Carson tröstete sie.
Mich überkam eine solche Gefühlsaufwallung, daß ich zu Miß Carson lief. Und wir lagen zu dritt auf dem Bett, die Arme verschlungen, als der Doktor hereinkam. Er sah blaß und unglücklich aus.
»O Papa«, schluchzte Adeline. »Laß Miß Carson nicht fortgehen!«
»Wir müssen alles tun, damit sie bleibt«, sagte er.
»Ja, ja, ja!« rief Adeline.
»Und nun, Kinder, habe ich Miß Carson etwas Wichtiges zu sagen. Carmel, geh mit Adeline hinaus, sei so gut, ja?«
Wir standen vom Bett auf, und Adeline lief zu ihrem Vater. Sie nahm seine Hand. »Bitte, bitte, mach, daß sie hierbleibt!«
»Liebes Kind«, sagte er, und er bückte sich und gab ihr einen Kuß. Das hatte ich ihn noch nie tun sehen. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.«
Dann lächelte er mir freundlich zu, und ich nahm Adeline an der Hand und ging mit ihr aus dem Zimmer.
* * *
Es war eine sonderbare Nacht. Ich schlief wenig, und als ich in der Morgendämmerung aufwachte, wußte ich, dies würde ein bedeutender Tag werden.
Zunächst war es der Tag, an dem Henry ins Internat zurückkehrte. Er brach wie stets um zehn Uhr vormittags auf. Jedesmal war wegen Henrys Abreise alles andere in den Hintergrund gerückt, und heute schien es nicht anders zu sein.
Henry hatte den Abend bei Lucian in The Grange verbracht und schien von dem, was sich hier abgespielt hatte, nichts zu wissen. Zudem war er kaum interessiert an Dingen, die ihn nicht betrafen, und da Miß Carson in seinem Dasein nur eine winzige Rolle spielte, würde ihm nicht bewußt werden – oder aber es war ihm einerlei –, was für eine Tragödie ihr Fortgehen bedeutete.
Der Doktor fuhr ihn wie immer zum Bahnhof, und dort traf er sich mit Lucian, denn die zwei reisten zusammen. Sobald der Doktor sich verabschiedet hatte, begab er sich in seine Praxis, von wo er gewöhnlich erst am späten Nachmittag zurückkehrte. Es war seltsam, daß nach den dramatischen Ereignissen des vorangegangenen Abends alles wieder seinen normalen Gang nehmen sollte. Aber die Dinge waren natürlich alles andere als normal, und dies war lediglich die Ruhe vor dem Sturm, wie es im Volksmund heißt. Mrs. Marline würde bestimmt auf Miß Carsons Abreise bestehen. Ob der Doktor dies verhindern konnte?
Miß Carson fühlte sich nicht wohl genug, um zu unterrichten. Estella war froh darüber. Sie wußte, daß es Ärger zwischen ihrer Mutter und Miß Carson gegeben hatte, und sie machte auf mich den Eindruck, als wisse sie etwas, das sie mir nicht erzählen wolle. Sie ging zu Camilla hinüber, die erst ein paar Tage später ins Pensionat abreisen sollte. Ich kam nicht mit. Ich wollte im Haus bleiben, denn ich wußte nicht, wann das nächste folgenschwere Ereignis eintreten mochte.
Mrs. Marline blieb ganz still in ihrem Zimmer.
Ich hörte Nanny zu Mrs. Barton sagen: »Madam ist empört. Wer wäre das nicht? Warten wir’s ab, bis der Herr zurückkommt. Dann gibt’s aber ein Donnerwetter.«
Das Schweigen, das an diesem Nachmittag das Haus durchdrang, hatte etwas Drohendes. Es würde erst gebrochen werden, wenn der Doktor zurückkehrte, denn dann war es Zeit für das »Donnerwetter«.
Doch es geschah vor der Rückkehr des Doktors, als nämlich Tom Yardley in Mrs. Marlines Zimmer ging, um zu fragen, ob sie mit dem Rollstuhl in den Garten geschoben werden wollte. Tom Yardley schien dazu ausersehen, folgenschwere Entdeckungen zu machen.
Die Fenstertür stand offen, und Tom klopfte kurz an und rief. Er erhielt keine Antwort, worauf er einen Blick ins Zimmer warf. Mrs. Marline lag im Bett. Er dachte, sie schlafe fest, und wollte sich schon entfernen, als er ein eigenartiges Röcheln hörte, das ihm irgendwie seltsam vorkam. Er dachte, er solle lieber Bescheid sagen, und ging in die Küche zu Mrs. Barton.
Gemeinsam gingen sie in Mrs. Marlines Zimmer. Mrs. Marline war still, und es war kein Röcheln mehr zu hören. Aber beide fanden, daß die Herrin irgendwie anders aussehe, und Mrs. Barton meinte, es könnte nicht schaden, Dr. Everest zu rufen.
Tom machte sich auf, ihn zu holen, aber Dr. Everest war bei einem Patienten, und es dauerte eine gute Stunde, bis er ins Haus Commonwood kam. Als er eintraf, mußte er feststellen, daß Mrs. Marline tot war.