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Gespenster auf der Galerie

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Als ich Miss Bell im Erster-Klasse-Abteil gegenübersaß, kam mir, was mit mir vorging, ausgesprochen unwirklich vor. Mir war, als würde ich bald aufwachen und feststellen, daß ich nur geträumt hatte.

Alles war so schnell gegangen. Am Montag hatte Miss Bell mir eröffnet, daß ich verreisen würde, und heute, am Freitag, war ich schon unterwegs.

Natürlich war ich aufgeregt. Bei meinem Naturell war das gar nicht anders möglich. Zwar hatte ich ein bißchen Angst, denn ich wußte nichts weiter, als daß ich zu Cousine Mary reiste, die mir gütigst gestattete, sie zu besuchen. Wie lange der Aufenthalt dauern würde, hatte mir niemand gesagt, und das kam mir verdächtig vor. Trotz meines Verlangens, neue Lebensweisen kennenzulernen, sehnte ich mich plötzlich nach dem Alten, Vertrauten. Zu meiner eigenen Überraschung entdeckte ich, daß ich Olivia nicht verlassen mochte, und wäre sie mit mir gekommen, wäre mir beträchtlich wohler gewesen.

Sie würde mich genauso vermissen wie ich sie. Sie hatte sehr traurig ausgesehen, als ich ihr Lebewohl sagte.

Sie konnte nicht verstehen, warum ich fortging – und ausgerechnet zu Cousine Mary. Cousine Mary war ein Unmensch, ein niederträchtiges Weib, das Papa etwas Schreckliches angetan hatte. Warum sollte ich zu ihr?

Ich war von einem entsetzlichen Schuldgefühl erfüllt. Im Grunde meines Herzens wußte ich, daß ich diese Katastrophe herbeigeführt hatte. Ich hatte meine Mutter verraten, hatte ausgeplaudert, was geheimgehalten werden sollte. Papa hätte nie erfahren dürfen, daß wir am Tag des Thronjubiläums am Waterloo-Platz waren. Und nicht nur das hatte ich ihm erzählt – ich hatte ihm auch noch leichtsinnigerweise das Medaillon gezeigt.

Er war erzürnt über Mamas Freundschaft mit Captain Carmichael, und ich hatte sie verraten; es schien, daß ich zur Strafe zur Cousine Mary geschickt wurde.

Ich hätte so gern darüber gesprochen, aber Miss Bell war wie zugeknöpft. Sie saß, die Hände im Schoß gefaltet, mir gegenüber. Sie hatte selbst dafür gesorgt, daß unsere Koffer im Gepäckwagen untergebracht wurden. Ein Bediensteter hatte uns zum Bahnhof gebracht und unter Miss Bells Aufsicht das Gepäck verladen. Im Abteil befand sich nur unser Handgepäck, das sicher im Gepäcknetz verstaut war. In mir regte sich Zuneigung für Miss Bell, weil ich sie bald verlieren würde. Ihre Aufgabe bestand lediglich darin, mich zu Cousine Mary zu bringen und dann zurückzufahren. Ich würde ihre gutgemeinte, belehrende Art vermissen, über die ich so oft mit Olivia gelacht hatte. Ihr verdankte ich wie niemandem sonst Heiterkeit und Sicherheit in meinem Leben.

Wenn ihre Augen auf mir ruhten, entdeckte ich Mitgefühl darin. Ich tat ihr leid, und deshalb tat ich mir selbst auch leid. Ich war wütend auf mich. Ich hatte doch gewußt, daß verheiratete Damen keine romantischen Freundschaften mit schneidigen Kavallerieoffizieren pflegen und sich nicht heimlich mit ihnen treffen durften. Und obwohl ich das wußte, hatte ich meine Mutter verraten. Hätte ich doch bloß nicht mit meinem Vater gesprochen! Aber was hätte ich sonst tun können? Hätte ich lügen sollen? Das wäre gewiß auch nicht recht gewesen. Und er war so plötzlich vor mir aufgetaucht, daß mir keine Zeit blieb, das Medaillon zu verstecken.

Es hatte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Dieser Einbruch in meinem Leben war nicht rückgängig zu machen. Ich wurde aus meinem Heim gerissen, von meiner Schwester, meinen Eltern getrennt ... Nun ja, letzteres machte mir nicht soviel aus, hatte ich doch so wenig von Mama gehabt und viel zuviel – leider – von Papa. Von nun an würde alles neu sein. Wenn nur das Unbekannte nicht immer so etwas Einschüchterndes gehabt hätte!

Wenn ich doch nur Bescheid wüßte! Ich war zu alt, um völlig im dunkeln gelassen zu werden, und gleichzeitig hielt man mich für zu jung, um mir die ganze Wahrheit zu sagen.

Miss Bell sprach jetzt lebhaft über die Landschaft, durch die wir fuhren.

»Jetzt«, sagte ich mit einem Anflug von Ironie, »kommt eine Lektion in Geographie mit ein bißchen Botanik dazwischen.«

»Das ist alles sehr interessant«, gab Miss Bell ernst zurück.

Wir waren in einen Bahnhof eingefahren, und zwei Damen kamen in unser Abteil – Mutter und Tochter, nahm ich an. Sie waren angenehme Reisegefährtinnen. Wir plauderten miteinander, und sie erzählten uns, daß sie bis Plymouth fuhren und diese Reise jedes Jahr einmal unternahmen, um Verwandte zu besuchen.

Wir unterhielten uns aufs angenehmste, und Miss Bell holte den Imbißkorb herunter, den die Köchin, Mrs. Terras, für uns gepackt hatte.

»Sie müssen verzeihen«, sagte Miss Bell zu den Damen. »Wir sind früh aufgebrochen und haben noch eine weite Reise vor uns.«

Die ältere Dame meinte, es sei klug, Proviant mitzunehmen. Sie und ihre Tochter hätten vor der Abreise gegessen, und bei der Ankunft warte eine gute Mahlzeit auf sie.

Der Korb enthielt zwei kalte Hühnerschenkel und etwas knuspriges Brot. Plötzlich wurde ich traurig, weil ich an den Waterloo-Platz denken mußte. Das erschien mir so weit entfernt – wie aus einem anderen Leben.

»Das sieht ja köstlich aus«, sagte Miss Bell. »Leider müssen wir mit den Fingern essen. Du liebe Güte!« Sie lächelte unseren Reisegefährtinnen zu. »Sie müssen entschuldigen.«

»Reisen ist eben beschwerlich«, meinte die ältere Dame.

»Ich habe zum Glück einen feuchten Waschlappen dabei, weil ich so etwas schon kommen sah«, fuhr Miss Bell fort.

Wir aßen das Huhn und die Törtchen, die uns Mrs. Terras vorsorglich als Nachtisch mitgegeben hatte. Miss Bell holte eine Flasche Limonade hervor und zwei kleine Becher – und wieder mußte ich an den Waterloo-Platz denken.

Dann wurde ich schläfrig, und vom Rhythmus des Zuges gewiegt schlummerte ich ein. Als ich aufwachte, erschrak ich und wußte im ersten Moment nicht, wo ich war.

Miss Bell beruhigte mich: »Du hast lange geschlafen. Ich bin auch ein bißchen eingenickt.«

»Wir kommen jetzt nach Devonshire«, sagte die jüngere der beiden Damen. »Nun haben wir es nicht mehr weit.«

Ich blickte aus dem Fenster auf Wälder, üppige Weiden und fruchtbare rote Erde. Wir fuhren durch einen Tunnel, und als wir herauskamen, sahen wir die See. Ich war entzückt vom Anblick der weißbekrönten Wellen, die sich auf schwarzem Gestein brachen. Am Horizont sah ich ein Schiff und dachte an meine Mutter, die ins Ausland gereist war. Wohin? Wann würde sie zurückkommen? Wann würde ich sie wiedersehen? Dann wollte ich sie fragen, warum ich fortgeschickt wurde. Sicher, ich hatte meinem Vater erzählt, daß wir zu Captain Carmichael gegangen waren, und Papa hatte mein Medaillon gesehen. Aber warum hatte man mich deshalb weggeschickt?

Traurigkeit ergriff mich, als ich mich fragte, was Olivia in diesem Augenblick wohl tat.

Unsere Reisegefährtinnen sammelten ihre Sachen ein mit der Bemerkung: »Wir sind bald in Plymouth.

»Danach«, fügte Miss Bell hinzu, »überqueren wir den Tamar und kommen nach Cornwall.«

Sie versuchte, mich zu begeistern. Ich war zwar interessiert, trotzdem mußte ich immer an Cousine Mary denken, die Harpyie, der ich am Ende der Reise ausgeliefert werden würde. Es war ein schrecklicher Gedanke, daß Miss Bell mich dort allein lassen würde. Plötzlich hatte ich sie sehr liebgewonnen.

Wir fuhren in den Bahnhof ein.

Die Damen reichten uns die Hände und sagten, es sei angenehm gewesen, mit uns zu reisen. Wir winkten zum Abschied, als sie auf jemanden zueilten, der sie erwartete.

Leute hasteten über den Bahnsteig. Viele stiegen aus, und einige stiegen ein. Zwei Herren kamen vorüber und bückten ins Abteilfenster.

Miss Bell lehnte sich erleichtert zurück, als sie weitergingen.

»Ich dachte schon, die würden hereinkommen«, sagte sie.

»Sie haben uns gemustert und verworfen«, bemerkte ich lachend.

»Vermutlich dachten sie, wir reisen lieber mit Damen.«

»Wie rücksichtsvoll.«

Aber ich hatte mich offensichtlich geirrt, denn gerade als der Schaffner pfiff, wurde die Tür aufgestoßen, und die zwei Herren kamen ins Abteil.

Miss Bell zog sich ganz in ihren Sitz zurück. Sie war über die Störung keineswegs erfreut.

Die beiden Herren ließen sich auf den freien Eckplätzen nieder, und als der Zug aus dem Bahnhof dampfte, warf ich verstohlene Blicke zu ihnen hinüber. Der eine war fast noch ein Junge, er mochte zwei oder drei Jahre älter sein als ich. Den anderen schätzte ich auf Anfang Zwanzig. Sie trugen elegante Gehröcke und Melonen, die sie auf die freien Plätze neben sich legten.

Etwas an ihnen fesselte meine Aufmerksamkeit.

Beide hatten dichtes dunkles Haar und dunkle Augen mit schweren Lidern. Doch ihren Blicken entging wenig. Was mich faszinierte, war eine gewisse Lebhaftigkeit; beide machten den Eindruck, als sei es eine Qual für sie, stillzusitzen. Es war ihnen anzusehen, daß sie miteinander verwandt waren. Nicht Vater und Sohn, dazu war der Altersunterschied zu gering. Cousins? Brüder? Sie hatten ähnlich ausgeprägte Gesichtszüge, und ihre großen Nasen verliehen ihnen ein arrogantes Aussehen.

Ich muß sie wohl sehr eingehend gemustert haben, denn ich merkte, daß die Augen des älteren auf mir ruhten. Es war ein Glitzern darin, das ich nicht recht zu deuten wußte. Vielleicht amüsierte ihn meine Neugierde, oder sie ärgerte ihn – ich war mir nicht sicher. Jedenfalls schämte ich mich meines schlechten Betragens und errötete leicht.

Miss Bell starrte angestrengt aus dem Fenster, als wolle sie damit zeigen, daß sie die Herren nicht wahrnehme. Sie fand es gewiß sehr rücksichtslos von ihnen, in ein Abteil zu kommen, wo zwei Damen allein saßen. Erst als wir den Tamar überquerten, siegte ihr Drang zu belehren über ihr Mißfallen.

»Schau nur, Caroline, wie klein die Schiffe dahinten aussehen! Wir fahren jetzt über die berühmte Brücke, die von Brunei erbaut wurde. Eingeweiht wurde sie im Jahre – hm …«

»Achtzehnhundertneunundfünfzig«, sagte der ältere der beiden Herren, »und wenn Sie den vollen Namen des Erbauers wissen möchten, er lautet Isambard Kingdom Brunel.«

Miss Bell machte ein Gesicht, als hätte man sie beleidigt. »Danke«, sagte sie kurz.

Die Mundwinkel des Mannes verzogen sich nach oben. »Der Mittelpfeiler befindet sich im Felsen, achtzig Fuß über der Hochwassermarke ... falls es Sie nach genaueren Kenntnissen dürstet«, fuhr er fort.

»Sie sind sehr gütig«, erwiderte Miss Bell kühl.

»Eher stolz«, sagte der Herr. »Es ist eine technische Meisterleistung, der Höhepunkt des Werkes dieses erstaunlichen Mannes.«

»Ja, sicher«, versetzte Miss Bell.

»Ein beeindruckender Zugang nach Cornwall«, fuhr der Herr fort.

»Da haben Sie sicher recht.«

»Sie können es selbst erleben, Madam.«

Miss Bell senkte den Kopf. »Wir kommen jetzt nach Saltash«, sagte sie zu mir. »So ... nun sind wir in Cornwall.«

»Willkommen im Herzogtum«, sagte der Herr.

»Danke.«

Miss Bell schloß die Augen, um anzudeuten, daß das Gespräch für sie beendet war. Ich sah aus dem Fenster.

Wir schwiegen eine Weile. Der Herr – der ältere von beiden -gefiel mir gut, und ich wußte, daß er auch Miss Bell beschäftigte. Warum verdächtigte sie die Männer eines ungebührlichen Benehmens gegenüber zwei schutzlosen Frauen? Bei dem Gedanken hätte ich am liebsten laut aufgelacht.

Der Mann hatte das Zucken meiner Lippen bemerkt und lächelte mir zu. Dann fiel sein Blick auf meine Reisetasche im Gepäcknetz. »Ich denke«, sagte er zu seinem Begleiter, »dies ist ein erfreulicher Zufall.«

Miss Bell blickte weiter zum Fenster hinaus, um anzudeuten, daß die Unterhaltung der beiden sie nicht interessierte, ja, daß sie gar nicht hinhörte. Ich vermochte diese Gleichgültigkeit nicht aufzubringen, und ich sah auch nicht ein, warum ich so tun sollte, als ob. »Zufall?« fragte der andere. »Was meinst du damit?«

Der ältere suchte meinen Blick und lächelte. »Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie Miss Tressidor sind?«

»Hm – ja«, erwiderte ich verwundert, dann wurde mir klar, daß er meinen Namen auf dem Gepäckanhänger an meiner Reisetasche gelesen haben mußte.

»Und Sie sind unterwegs zu Miss Mary Tressidor auf Tressidor Manor in Lancarron?«

»Ja, das stimmt.«

Jetzt merkte Miss Bell auf.

»Ich muß mich vorstellen. Mein Name ist Paul Landower. Ich bin ein Nachbar von Miss Tressidor. Und das ist mein Bruder Jago.«

»Woher wußten Sie, daß mein Schützling Miss Tressidor ist?« erkundigte sich Miss Bell.

»Der Gepäckanhänger ist deutlich sichtbar. Sie haben doch nichts dagegen, daß ich mich vorgestellt habe?«

»Aber nein«, sagte ich.

Darauf ergriff der jüngere, Jago, das Wort: »Wir haben gehört, daß Sie nach Tressidor Manor kommen.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?« wollte ich wissen.

»Dienstboten ... unsere und die von Miss Tressidor. Die wissen immer alles. Wir werden uns hoffentlich während Ihres Besuchs sehen.«

»Ja, vielleicht.«

»Haben die Herren Plymoth besucht?« fragte Miss Bell, obwohl es auf der Hand lag. Ich vermutete, sie wollte die Gesprächsführung übernehmen.

»Geschäftlich«, erklärte der jüngere.

»Sie müssen uns gestatten, Ihnen mit Ihrem Gepäck behilflich zu sein, wenn wir in Liskeard ankommen«, sagte der ältere.

»Sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Miss Bell, »aber dafür ist bereits gesorgt.«

»Nun, wenn Sie uns brauchen ... Ich nehme an, Miss Tressidor schickt Ihnen ihren Wagen.«

»Soviel ich weiß, werden wir abgeholt.«

Miss Bell benahm sich ausgesprochen frostig. Sie war der Meinung, daß ein perfekter Gentleman Damen nicht ansprach, ohne ihnen vorgestellt worden zu sein. Ich glaube, der ältere, Paul, merkte das und amüsierte sich darüber.

Wir schwiegen, bis wir nach Liskeard kamen. Paul Landower bemächtigte sich meiner Reisetasche und machte Jago ein Zeichen, er möge sich Miss Bells Tasche annehmen, und trotz ihres Protestes kamen sie mit uns, um sich zu vergewissern, daß unser Gepäck auch richtig ausgeladen wurde. Der Träger tippte überaus respektvoll an seine Mütze, und ich entnahm daraus, daß die Landowers in dieser Gegend sehr angesehene Leute waren.

Mein Koffer wurde zu dem wartenden Wagen gebracht.

»Deine Damen sind da, Joe«, sagte Paul Landower zu dem Kutscher.

»Jawohl, Sir.«

Man half uns in das Fahrzeug, und wir fuhren los. Ich blickte zurück. Die Brüder Landower sahen uns nach, die Hüte in den Händen, und verbeugten sich – ein wenig ironisch, fand ich. Aber innerlich lachte ich. Durch die Begegnung mit ihnen hatte sich meine Stimmung erheblich gebessert.

Miss Bell und ich saßen uns im Kutschwagen gegenüber. Mein Koffer stand zwischen uns auf dem Boden. Als wir die Stadt verließen und auf Feldwege kamen, wirkte Miss Bell sehr erleichtert. Ich glaube, sie hatte die Aufgabe, mich nach Cornwall zu bringen, als eine große Verantwortung empfunden.

»Ist’n ordentliches Stück Weg«, erklärte uns Joe, unser Kutscher, »und die Straße ist holprig. Halten Sie sich gut fest, meine Damen.«

Er hatte recht. Miss Bell hielt ihren Hut fest, als wir über Wege fuhren, wo Zweige ihn ihr vom Kopf zu streifen drohten.

»Miss Tressidor erwartet Sie bereits«, schwatzte Joe weiter. Er war offenbar zum Plaudern aufgelegt.

»Das will ich auch hoffen«, entfuhr es mir.

»Aber ja doch, Sie werden schon anständig empfangen.« Er lachte in sich hinein. »Und Sie müssen schon wieder zurück, kaum daß Sie hier sind, Frau.«

Miss Bell fand es nicht schmeichelhaft, als »Frau« tituliert zu werden, aber ihr unnahbares Benehmen machte auf Joe nicht den geringsten Eindruck.

Er summte vor sich hin, während wir über die Feldwege rumpelten.

»Ist nicht mehr weit«, begann er nach einer Weile wieder. Er zeigte mit seiner Peitsche. »Da drüben, das ist Landower Hall. Das größte Haus weit und breit. Die Landowers sind hier seit Anbeginn aller Zeiten, wie meine Alte immer sagt. Aber Mr. Paul und Mr. Jago kennen Sie ja schon. Waren im selben Zug. Du meine Güte, das ist’n einziges Kommen und Gehen bei den Landowers seit ein paar Monaten. Das hat was zu bedeuten, verlassen Sie sich drauf. Und Landowers gibt’s hier seit …«

»Seit Anbeginn aller Zeiten«, ergänzte ich.

»Ja, das sagt meine Alte immer. Da, jetzt können Sie’s sehen. Landower Hall ... das Haus von den Gutsherren.«

Mir blieb vor Staunen der Mund offen. Es bot einen prächtigen Anblick mit dem Pförtnerhaus und den pechnasenbewehrten Türmen. Wie eine Festung thronte es auf einer leichten Anhöhe.

Miss Bell bewertete es auf ihre übliche Art. »Vierzehntes Jahrhundert, nehme ich an. Zu einer Zeit errichtet, als die Menschen nicht mehr so sehr zur Befestigung bauten, sondern mehr Wert auf Wohnlichkeit legten.«

»Das größte Haus weit und breit ... bißchen größer als Tressidor Manor ... aber nicht viel.«

»In so einem Haus zu leben könnte recht abenteuerlich sein«, meinte Miss Bell.

»Sieht ein bißchen aus wie der Tower von London«, entfuhr es mir.

»Oh, die Landowers leben hier seit …« Joe hielt inne, und ich sagte: »Wir wissen schon. Sie haben’s uns erzählt. Seit Anbeginn aller Zeiten. Der erste Mensch, der aus dem Urschleim erstand, muß ein Landower gewesen sein. Oder glauben Sie, einer von ihnen war Adam?«

Miss Bell sah mich vorwurfsvoll an, aber sie hatte wohl Verständnis dafür, daß ich ein wenig überdreht war und mehr denn je dazu neigte, zu reden, ohne mir zu überlegen, welche Wirkung meine Worte haben könnten. Während der Eisenbahnfahrt wirkte noch meine alte Erziehung, jetzt aber war es Zeit für einen Wechsel-eine vollkommene Veränderung. Es ist doch nur ein Besuch, redete ich mir ständig ein. Doch der Anblick des eindrucksvollen Gebäudes und der Gedanke an die beiden Herren im Zug, die hier zu Hause waren, gaben mir das Gefühl, daß ich mich von allem, was mir vertraut war, entfernte und in eine neue Welt eintrat-von der ich nichts wußte.

Plötzlich überwältigte mich die Sehnsucht nach dem Schulzimmer, nach Olivia, die mich mit ihren kurzsichtigen Augen ansah und mich wegen einer Unverschämtheit tadelte oder mir diesen leicht fragenden Blick zuwarf, den sie stets hatte, wenn sie versuchte, meinen verschlungenen Gedankengängen zu folgen.

»Wir sind bald da«, unterbrach Joe meine Gedanken. »Die Landowers sind unsere nächsten Nachbarn. Die Leute sagen immer, komisch, daß die zwei großen Häuser so nahe beisammen stehen. Aber so ist es immer gewesen und wird’s wohl immer bleiben.«

Wir waren an ein schmiedeeisernes Tor gelangt. Ein Mann kam aus dem Pförtnerhaus, um die Torflügel zu öffnen. Er war mittleren Alters, sehr groß und hager und hatte lange, wirre rotblonde Haare. Dazu trug er eine karierte Mütze und karierte Kniehosen. Er öffnete das Tor und nahm die Mütze ab.

»Dank schön, Jamie«, sagte Joe.

Jamie verbeugte sich überaus förmlich und sprach mit einem Akzent, der nicht hier beheimatet war: »Willkommen, Miss Tressidor. .. und Madam …«

»Danke.«

Ich lächelte ihn an. Er hatte ein faltenloses Gesicht, und ich fragte mich, ob er nicht doch jünger sei, als ich zunächst angenommen hatte. Er hatte fast etwas Kindliches; seine trüben Augen blickten so unschuldig, und ich mochte ihn auf Anhieb gut leiden. Während wir das Tor passierten, betrachtete ich das Pförtnerhaus mit seinem malerischen strohgedeckten Dach, und dann entdeckte ich den dazugehörigen Garten. Zwei Dinge fielen mir auf: die vielen Bienenstöcke und die farbenfrohen Blumen. Er war atemberaubend schön. Ich wäre gern ausgestiegen, aber wir waren im Nu vorüber.

»Was für ein hübscher Garten!« rief ich. »Und die vielen Bienenstöcke.«

»Ja, Jamie ist unser Imker. Sein Honig ... man sagt, der hat nicht seinesgleichen. Jamie ist stolz drauf und ganz vernarrt in seine Bienen. Ich glaub, er kennt jede einzelne. Die sind für ihn wie kleine Kinder. Ich hab schon Tränen in seinen Augen gesehen, wenn eine zu Schaden kam. Er ist der geborene Imker.«

Die Auffahrt war etwa eine halbe Meile lang, und als wir um die Kurve bogen, stand Tressidor Manor vor uns – das schöne elisabethanische Gebäude, das der Familie so viel Verdruß beschert hatte. Es war ein großartiges Haus, aber nicht ganz so gewaltig wie das, an dem wir soeben vorübergekommen waren. Gebaut aus rotem Backstein, war es sogleich als Tudorstil zu erkennen – und obendrein elisabethanisch, denn von dort, wo wir uns befanden, konnte man die E-Form deutlich ausmachen. Die Pförtnerloge war bescheidener als die von Landower Hall. Sie bildete den mittleren Balken des E; zwei Flügel schlossen sich an, je einer auf jeder Seite. Die Schornsteine standen paarweise und ähnelten klassischen Säulen. Die längs unterteilten Fenster waren von Stuckverzierungen gekrönt.

Vor der Eingangstreppe hielten wir an.

»Da wären wir.« Joe sprang herunter. »Ah, da ist ja auch schon Betty Bolsover. Schätze, die hat uns vorfahren gehört.«

Ein rotwangiges Mädchen erschien und machte einen Knicks.

»Sie sind bestimmt Miss Tressidor und Miss Bell. Miss Tressidor erwartet Sie. Bitte folgen Sie mir.«

»Ich kümmere mich um das Gepäck, meine Damen«, sagte Joe.

»Betty, sag im Stall Bescheid, daß jemand mir helfen soll.«

»Erst muß ich die Damen reinbringen, Joe.« Wir folgten Betty ins Haus.

Wir traten in eine getäfelte Halle. An den Wänden hingen Bilder. Ahnen? Betty führte uns zu einer Treppe, und oben auf dem Absatz stand Cousine Mary.

Ich wußte sofort, daß sie es war. Sie wirkte sehr ehrfurchtgebietend und ähnelte zudem meinem Vater. Sie war groß und kantig und in schlichtes Schwarz gekleidet. Eine weiße Haube saß auf ihrem graumelierten Haar, das streng aus dem wettergegerbten Gesicht zurückgekämmt war.

»Ah«, sagte sie. Sie hatte eine tiefe, beinahe männliche Stimme, die durch die Halle dröhnte. »Komm her, Caroline. Und Sie auch, Miss Bell. Ihr müßt sehr hungrig sein. Nein? Aber sicher. Ihr hattet schließlich eine anstrengende Reise. Du kannst jetzt gehen, Betty. Kommt herauf. Man wird sich um das Gepäck kümmern. Es gibt gleich was zu essen. Was Warmes. In meinem Wohnzimmer. Das hielt ich für das beste.«

Sie blieb dort stehen, während wir die Treppe hinaufstiegen.

Oben legte sie mir die Hände auf die Schultern und sah mich an. Ich dachte, sie wollte mich umarmen, aber sie tat es nicht. Ich sollte schon bald erfahren, daß Cousine Mary nicht dazu neigte, ihre Zuneigung durch große Gesten zu zeigen. Sie blickte mir einfach ins Gesicht und lachte.

»Du siehst deinem Vater nicht sehr ähnlich«, meinte sie. »Vielleicht gleichst du mehr deiner Mutter. Um so besser, denn unsere Sippe zeichnet sich nicht gerade durch Schönheit aus.« Sie ließ mich kichernd los. Da ich darauf gefaßt gewesen war, ihre Umarmung zu erwidern, kam ich mir ein bißchen bloßgestellt vor. Sie schüttelte Miss Bell die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Miss Bell. Sie haben sie heil bei mir abgeliefert, hm? Kommen Sie, kommen Sie. Eine heiße Suppe, dachte ich. Was zu essen ... und dann ins Bett. Sie müssen morgen zeitig los. Eigentlich sollten Sie sich hier ein paar Tage Ruhe gönnen.«

»Haben Sie vielen Dank, Miss Tressidor«, erwiderte Miss Bell, »aber ich werde zurückerwartet.«

»Robert Tressidors Anordnungen, ich verstehe. Sieht ihm ähnlich. Kind abliefern und gleich umkehren. Er sollte wissen, daß Sie nach der Reise etwas Ruhe brauchen.«

Miss Bell machte ein verlegenes Gesicht. Ihr Sittenkodex ließ es nicht zu, daß sie sich anhörte, wie ihr Brotherr kritisiert wurde. Mir war es nicht peinlich, so von meinem Vater sprechen zu hören, und ich fand Cousine Mary recht faszinierend. Sie war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte.

Wir wurden in ein Wohnzimmer geführt, und gleich darauf wurde die heiße Suppe hereingebracht.

Miss Bell hätte sich bestimmt lieber zuerst gewaschen, aber in ihrer Position konnte man nicht eigenmächtig handeln, und Cousine Mary war es ohne Zweifel gewohnt zu befehlen.

Das Zimmer wirkte gemütlich. Es hatte getäfelte Wände, doch ich war zu gehemmt und zu müde, um viel wahrzunehmen. Ich hatte ja noch eine Menge Zeit, meine Umgebung zu erkunden. Die Suppe wurde ausgeteilt. Wir konnten sie wirklich brauchen. Anschließend gab es kalten Schinken und Apfelkuchen mit Schlagsahne. Zu trinken gab es Apfelmost.

Cousine Mary ließ uns allein, während wir aßen.

Ich flüsterte Miss Bell zu: »Ich wünschte, Sie könnten ein paar Tage bleiben.«

»Laß nur gut sein. Vielleicht ist es besser so.«

»Sie Ärmste, Sie müssen die ganze lange Reise morgen schon wieder machen.«

»Ja, aber ich werde zufrieden daran denken, daß du nun hier bist.«

»Ich bin nicht sicher, daß es mir hier gefällt. Cousine Mary ist ziemlich ... ziemlich …«

»Pst. Du kannst doch noch gar nicht wissen, wie sie ist. Sie kommt mir sehr ... würdig vor. Sie ist bestimmt eine sehr ehrenwerte Dame.«

»Sie ist wie mein Vater.«

»Sie sind ja auch Cousin und Cousine ersten Grades. Da ist oft eine Familienähnlichkeit vorhanden. Jedenfalls ist es für dich besser, als unter wildfremden Leuten zu sein.«

»Ich wüßte gern, was Olivia jetzt macht.«

»Sie fragt sich bestimmt, was du jetzt machst.«

»Ich wollte, sie wäre hier.«

»Ich nehme an, das wünscht sie sich auch.«

»Ach, Miss Bell, warum mußte ich so plötzlich fort?«

»Auf Beschluß der Familie, mein Kind.«

Sie preßte die Lippen zusammen. Irgend etwas wußte sie, das sie mir nicht sagen wollte.

Zu meiner eigenen Verwunderung griff ich herzhaft zu, und als wir fertig gegessen hatten, kam Cousine Mary zurück.

»Ah«, sagte sie, »schon besser, wie? Wenn ihr wollt, bring ich euch jetzt auf eure Zimmer. Sie müssen morgen sehr früh aufstehen, Miss Bell. Joe bringt Sie zum Bahnhof. Hoffentlich schlafen Sie gut. Wir geben Ihnen etwas Reiseproviant mit, damit Sie in demselben Zustand zu meinem Cousin zurückkehren, in dem Sie ihn verlassen haben. Kommen Sie jetzt.«

Im ersten Stockwerk befand sich eine langgestreckte Galerie. Als wir dort entlanggingen, blickten längst verblichene Tressidors auf mich herab. Das rasch verblassende Licht verlieh der Galerie eine unheimliche Atmosphäre.

Am Ende der Galerie befand sich eine Treppe, die wir hinaufstiegen. Wir gelangten in einen Flur mit vielen Türen. Cousine Mary öffnete eine.

»Dies ist dein Zimmer, Caroline, Miss Bells liegt gleich nebenan.«

Sie beklopfte das Bett. »Ja, sie haben es gelüftet. Ah, da ist dein Koffer. Ich würde ihn erst morgen auspacken. Ein Mädchen kann dir dabei helfen. Da steht heißes Wasser. Du kannst dir den Eisenbahngeruch abwaschen. Ja, den trägt man leider immer noch eine Weile mit sich herum. Und danach wirst du bestimmt gut schlafen. Morgen kannst du dich dann umschauen und das Haus und seine Umgebung kennenlernen. Miss Bell, wollen Sie bitte mit mir kommen …«

Ich blieb allein. Mein Schlafzimmer war ein hoher Raum mit getäfelten Wänden. Durch die dicken Fensterscheiben fiel ein wenig Licht herein. Auf dem Kamin standen Kerzen in geschnitzten hölzernen Leuchtern. Mein Koffer war in einer Ecke abgestellt, meine Tasche lag auf einem Stuhl. Ich hatte ein Nachthemd und Pantoffeln darin, so daß ich mit dem Auspacken wirklich bis morgen warten konnte. Der Fußboden war ein wenig schräg, und die Dielen waren mit Teppichen bedeckt. Die Vorhänge waren aus schwerem grauem Samt. Zudem enthielt das Zimmer eine Kredenz, die solide und sehr alt aussah, und eine Eichentruhe mit einer chinesischen Vase darauf. Auf einem Toilettentisch mit zahllosen Schubladen stand ein verstellbarer Spiegel. Ich betrachtete mich darin. Ich war blasser als sonst, und meine Augen wirkten riesengroß. Die Spannung darin war nicht zu übersehen. Wer wäre unter solchen Umständen nicht angespannt?

Die Tür ging auf, und Cousine Mary kam herein.

»Gute Nacht«, sagte sie forsch. »Geh zu Bett. Morgen werden wir uns unterhalten.«

»Gute Nacht, Cousine Mary.«

Sie nickte nur. Sie war nicht unfreundlich, aber herzlich war sie auch nicht. Ich wußte nicht, was ich von Cousine Mary halten sollte. Ich setzte mich aufs Bett und widerstand den aufsteigenden Tränen. Ich sehnte mich nach meinem Zimmer, wo Olivia am Toilettentisch saß und ihre Haare flocht.

Da klopfte es an der Tür, und Miss Bell kam herein.

»Na«, sagte sie, »da wären wir nun.«

»Ist es so, wie Sie es sich vorgestellt haben, Miss Bell?«

»Das Leben ist selten, wie man es sich vorstellt – deshalb bilde ich mir erst gar kein Vorurteil.«

Ich mußte trotz allem lächeln.

Ach, wie würde ich meine gute Miss Bell vermissen!

Sie spürte meine Traurigkeit und fuhr fort: »Wir sind beide erschöpft. Wir sind viel müder, als uns klar ist. Wir brauchen unbedingt Ruhe. Gute Nacht, mein liebes Kind.« Sie gab mir einen Kuß. Das hatte sie noch nie getan, und ich war plötzlich sehr gerührt. Ich schlang meine Arme um sie und schmiegte mich an sie.

»Es wird schon gutgehen«, murmelte sie, wobei sie mich tätschelte. »Dir wird es immer gutgehen, Caroline!«

Tröstliche Worte!

»Gute Nacht, mein Kind.«

Dann war sie fort.

Ich lag im Bett. Zuerst konnte ich nicht einschlafen. Bilder drängten sich mir in den Sinn und verscheuchten meine Müdigkeit. Die Männer im Zug, die große Festung, die ihr Heim war, Joe, der den Wagen kutschierte, der Mann mit den Bienen ... und schließlich Cousine Mary, die wie mein Vater war und doch ganz anders.

Mit der Zeit würde ich sie alle besser kennenlernen. Aber jetzt war ich doch sehr müde, und selbst die Spannung konnte den Schlaf nicht fernhalten.

Ich wurde von Miss Bell geweckt, die reisefertig auf meinem Bett saß.

»Müssen Sie schon fort?«

»Es ist Zeit«, sagte sie. »Du hast tief und fest geschlafen, und ich habe mir überlegt, ob ich dich überhaupt wecken soll, aber dann wollte ich doch nicht gehen, ohne dir Lebewohl zu sagen.«

»Ach, Miss Bell, Sie gehen fort. Wann werde ich Sie wiedersehen?«

»Recht bald. Du machst hier nur Ferien, weißt du. Ich werde dasein, wenn du zurückkommst.«

»Ich glaube nicht, daß es so bald sein wird.«

»Du wirst schon sehen. Aber jetzt muß ich fort. Der Wagen wartet unten. Ich darf den Zug nicht verpassen. Viel Glück, Caroline. Du wirst es hier so schön haben, daß du gar nicht zu uns zurückkommen magst.«

»O doch.«

»Leb wohl, mein Kind.«

Zum zweitenmal gab sie mir einen Kuß, dann ging sie hastig aus meinem Zimmer.

Ich blieb liegen und fragte mich aufs neue, was für ein Leben mir bevorstünde.

Es klopfte an meiner Tür. Betty, das Mädchen, das ich abends zuvor schon gesehen hatte, brachte mir heißes Wasser.

»Miss Tressidor hat gesagt, ich soll nicht stören, wenn Sie schlafen, aber die Dame, die Sie gebracht hat, mußte weg, und ich dachte, die ist bestimmt gekommen und hat Ihnen Lebewohl gesagt, stimmt’s?«

»Ja, und deshalb bin ich wach. Schön, daß Sie mir heißes Wasser bringen.«

»Das von gestern abend hab ich weggeschüttet. Miss Tressidor sagt, Sie können um halb neun mit ihr frühstücken.«

»Wie spät ist es jetzt?«

»Acht Uhr, Miss.«

»Gut, ich komme. Wo ist sie?«

»Ich führe Sie zu ihr hinunter. Sie können sich hier im Haus verlaufen, wenn Sie sich noch nicht auskennen.«

»Das glaub ich gern.«

»Wenn Sie etwas wünschen, Miss, läuten Sie.«

»Danke.«

Sie ging. Mein Heimweh wich der Entdeckungsfreude.

Punkt halb neun erschien Betty wieder.

»Hier oben sind die Schlafräume, Miss«, erklärte sie mir. »Und darüber ist noch ein Stockwerk. Wir haben jede Menge Schlafzimmer. Und unterm Dach liegen die Mansarden ... die Dienstbotenkammern. Dann haben wir noch die Galerie und das Sonnenzimmer. .. und die Räume im Erdgeschoß.«

»Ich sehe schon, ich muß erst lernen, mich hier zurechtzufinden.«

Wir liefen die Treppe herunter.

»Hier ist das Eßzimmer.« Sie hielt inne und klopfte an.

»Miss Caroline, Miss Tressidor.«

Cousine Mary saß am Tisch. Vor ihr stand ein Teller mit Speck, Eiern und scharfgewürzten Bohnen. »Da bist du ja«, begrüßte sie mich. »Deine Gouvernante ist vor einer halben Stunde abgereist. Hast du gut geschlafen? Ja, das sehe ich dir an, und jetzt möchtest du wohl gern die Umgebung in Augenschein nehmen, nicht? Aber sicher. Doch zuerst mußt zu frühstücken. Die beste Mahlzeit des Tages, sage ich immer. Greif zu, bedien dich.«

Sie zeigte sich um mein Wohlergehen recht besorgt, was tröstlich war, aber ihre Gewohnheit, eine Frage zu stellen und sie gleich selbst zu beantworten, machte die Unterhaltung etwas einseitig. Ich trat ans Buffet und nahm mir von den warmen Gerichten.

Cousine Mary hob ihre Augen von ihrem Teller und richtete sie auf mich.

»Anfangs ist alles ein bißchen fremd«, sagte sie. »Zwangsläufig. Du hättest schon früher kommen sollen. Ich hätte gern Besuch von dir und deiner Schwester gehabt ... und von deinen Eltern ... wenn dein Vater anders gewesen wäre. Familien sollten zusammenhalten, aber manchmal ist es besser, wenn sie weiter auseinanderwohnen. Daß ich dieses Haus geerbt habe, hat ihnen nicht gepaßt. Ich war die rechtmäßige Erbin, aber eben eine Frau. Man hat Vorurteile gegen unser Geschlecht, Caroline. Doch ich glaube nicht, daß dir das schon aufgefallen ist.«

»O doch.«

»Dein Vater dachte, er könnte einfach über mich hinweggehen und sich dieses Haus aneignen, bloß weil ich eine Frau bin. Nur über meine Leiche, hab ich gesagt, und dabei bleibt es. Wenn ich stürbe, wäre er wohl an der Reihe. Er wünscht sich nichts sehnlicher als das, davon bin ich überzeugt. Aber ich sehe die Sache ganz anders, wie du dir denken kannst.« Sie stieß ein kurzes Lachen aus, das eher wie Hundegebell klang.

Ich lachte mit ihr, und sie sah mich beifällig an.

»Cousin Robert ist ein sehr tüchtiger Mann, aber die Macht, seine Cousine Mary loszuwerden, hat er nun doch nicht.« Wieder dieses Bellen. »Na ja, wir sind all die Jahre ganz gut ohne einander ausgekommen. Du kannst dir vorstellen, wie erstaunt ich war, als ich den Brief von Cousine Imogen bekam, in dem sie mir schrieb, sie würden sich freuen, wenn ich dich für einen Monat oder so zu mir einladen würde.«

»Sie wollten mich unbedingt loswerden. Wenn ich nur wüßte, warum.«

Sie sah mich mit schiefem Kopf an und zögerte, was, wie ich bereits erkannt hatte, sonst nicht ihre Art war. »Wir wollen nicht über das Wieso und Warum grübeln. Jetzt bist du hier. Ich habe so eine Ahnung, daß wir zwei uns gut vertragen werden.«

»Ja? Da bin ich aber froh.«

Sie nickte. »Du wirst dich schon eingewöhnen. Du bist dir ziemlich oft selbst überlassen. Das Gut ist sehr groß, und ich habe eine Menge zu tun. Ich habe zwar einen Verwalter, aber ich behalte die Zügel in der Hand. Das war schon immer so. Als mein Vater noch lebte, als ich jünger war als du ... oder genauso alt ... hab ich mit meinem Vater gearbeitet. Er hat immer gesagt: ›Du wirst mal eine prima Gutsherrin, Mary, mein Kind.‹ Und wie mich immer alle schief angeguckt und gekichert haben, weil ich eine Frau war, da beschloß ich, es ihnen zu zeigen. Ich wollte es mindestens genauso gut machen wie ein Mann, wenn nicht besser.«

»Und du hast es ihnen bestimmt gezeigt, Cousine Mary.«

»Jawohl, aber wenn irgendwas schiefgeht, heißt es heute noch: ›Kein Wunder, sie ist schließlich eine Frau.‹ Das laß ich mir nicht gefallen, Caroline. Und deshalb will ich Tressidor zum größten Besitz dieser Gegend machen.« Sie sah mich listig an und fuhr fort: »Ihr müßt an Landower Hall vorbeigekommen sein.«

Ich bejahte.

»Was hältst du davon?«

»Es sieht großartig aus.«

Sie schnaubte. »Von außen, ja. Bißchen verfallen innen drin ... wie man hört.«

Als ich ihr erzählte, daß wir Paul und Jago Landower im Zug kennengelernt hatten, war sie sehr interessiert.

»Sie haben sich uns vorgestellt«, berichtete ich, »als sie meinen Namen auf dem Gepäck bemerkten. Sie wußten anscheinend, daß ich herkam.«

»Oh, diese Dienstboten«, stöhnte sie.

»Ja, das hat der jüngere auch gesagt. Ihre Dienstboten ... deine Dienstboten …«

»Es ist, als hätte man Detektive im Haus. Aber das ist ganz natürlich. Damit müssen wir uns abfinden. Die Landowers beobachten, was hier vorgeht ... und umgekehrt ist es genau so.« Sie lachte wieder. »Wir sind Konkurrenten. Beide sind wir Gutsbesitzer. Was unsere Vorfahren bewog, so dicht beieinander zu bauen, ist mir unbegreiflich. Dabei waren die Tressidors die Übeltäter. Die Landowers waren zuerst hier, und sie sind stolz darauf. Betrachten uns als Aufsteiger, denn wir sind erst seit dreihundert Jahren hier. Neulinge, wie du siehst! Wir reden zwar miteinander, aber das ist auch alles. Wir sind wie die verfeindeten Häuser – Montague und Capulet. Nur verspotten wir uns nicht und stoßen uns nicht gegenseitig auf offener Straße unsere Degen in die Kehlen, aber wir sind ernsthafte Konkurrenten. Freundliche Feinde, könnte man vielleicht sagen. Wir hatten noch keinen Fall von Romeo und Julia ... bislang. Ich eigne mich nicht zur Julia, und Jonas Landower ist kein Romeo. Heute schon gar nicht. Die Rolle hätte ihm in seiner Jugend sowenig gepaßt wie mir. So steht es mit uns und den Landowers. Du hast sie also im Zug kennengelernt. Zweifellos kamen sie von Plymouth. Waren bei ihren Anwälten ... oder bei der Bank. Es steht nicht gut mit den Landowers, soviel ich weiß. Die Unterhaltskosten sind astronomisch. Es knackt im Gebälk. Das Haus ist ungefähr zweihundert Jahre älter als Tressidor Manor ... und ich habe immer dafür gesorgt, daß unser Haus in Ordnung ist. Beim ersten Anzeichen von Verfall wird sofort etwas unternommen. So kostet es weniger, verstehst du? Natürlich verstehst du das. Im Laufe der Jahre haben die Landowers dagegen rechte Nichtsnutze hervorgebracht, so wie den alten Jonas. Trinken, Weiber, Glücksspiele ... das ist die Art der Landowers. Bei den Tressidors gibt’s auch ein paar alte Taugenichtse, aber im großen und ganzen sind wir eine anständige Sippe ... verglichen mit den Landowers, meine ich.«

»Sie haben uns mit dem Gepäck geholfen. Miss Bell war ihnen dankbar«, berichtete ich.

»O ja, sehr manierlich. Und daran interessiert, was sich hier tut. Opportunisten sind sie, jawohl. So waren sie immer. Der alte Jonas dachte, er könnte das Familienvermögen am Spieltisch zurückgewinnen. So ein Schwachsinn. Hast du schon mal von jemandem gehört, der auf diese Weise Erfolg hatte? Bestimmt nicht. Hängen immer den Mantel nach dem Wind. Überläufer. Im Bürgerkrieg waren sie anfangs für den König, wie die meisten in dieser Gegend, und als der König unterlag, waren die Landowers für das Parlament. Wir Tressidors hatten es damals schwer, während die Landowers gediehen.« Sie stieß wieder dieses Bellen aus, das ihre Rede unterstrich und auf das ich bereits wartete. »Dann kam der neue König zurück, und sie entdeckten, daß sie eigentlich doch Royalisten waren. Aber diesmal brachte es uns weiter. Ihnen wurde Pardon gegeben, und sie konnten ihren Besitz behalten. Opportunisten. Und jetzt kursieren Gerüchte. Nun, wir werden sehen.«

»Das hört sich alles sehr aufregend an, Cousine Mary.«

»Das Leben ist immer aufregend, wenn man aufgeschlossen ist. Das hast du sicher schon entdeckt, oder nicht? Natürlich hast du. So, mein Kind, du machst jetzt hier ein bißchen Ferien. Du mußt lernen, wie man mitten auf dem Land lebt ... weit weg von der Großstadt. Wir sind hier in Cornwall.«

»Die Landschaft sah sehr schön aus. Ich möchte gern mehr davon sehen.«

»Ich finde, dies ist die schönste Gegend des Herzogtums. Wir haben noch ein Stückchen vom üppigen Devonshire und den Beginn der zerklüfteten Küste Cornwalls. Weiter westlich wird es wilder, kahler, nicht mehr so lieblich. Du reitest doch, oder? Natürlich reitest du. Pferde gibt es genug im Stall.«

»Wir sind auf dem Land sehr viel geritten und sogar in London.«

»Das ist gut. Zu Pferd kommt man am besten herum. Es wird dir hier bestimmt gefallen. Entferne dich anfangs nicht zu weit, und merk dir deinen Weg. Ich komme mit dir, bis du dich ein wenig auskennst. Und – hüte dich vor dem Nebel! Wenn er plötzlich aufkommt, kannst du dich verirren und bewegst dich immer im Kreis. Das Moor ist nicht weit weg. Ich würde mich anfangs davon fernhalten. Bleib auf den Wegen. Aber, wie gesagt, jemand kommt immer mit dir.«

»Ich fand das Pförtnerhaus so hübsch.«

»Ach, du meinst den Garten. Jamie McGill ist ein guter Kerl. Sehr still, sehr zurückhaltend. Ich glaube, da steckt eine Tragödie dahinter. Er ist ein guter Pförtner. Ein Glück, daß ich ihn gefunden habe.«

»Ich habe gehört, er ist Imker.«

»Unser Honig stammt von ihm. Er versorgt die ganze Nachbarschaft damit. Er ist sehr gut. Reiner Cornwall-Honig. Hier ... koste mal. Du kannst die Blüten herausschmecken. Ist er nicht köstlich?«

»Oja.«

»Das ist Jamies Honig. Er kam zu mir ... es muß sechs Jahre her sein ... nein, länger, sieben oder acht. Ich brauchte noch einen Gärtner. Ich probierte es mit ihm, und es stellte sich heraus, daß er eine gute Hand für Pflanzen hatte. Dann starb der alte Pförtner, und ich dachte, das sei der richtige Posten für Jamie. Er zog ins Pförtnerhaus, und binnen kurzem war der Garten ein Gedicht, und er stellt dort auch seine Bienenstöcke auf. Er scheint hier glücklich zu sein, denn die Arbeit gefällt ihm. Es ist ein Glück für die Menschen, wenn ihre Arbeit ihnen Spaß macht. Bist du fertig? Ich zeige dir zuerst das Haus, ja? Ja, das ist das beste. Dann kannst du dich ein bißchen in der Gegend umsehen. Heute nachmittag reite ich mit dir aus, einverstanden?«

»Ja, sehr.«

»Fein. Gehen wir.«

Es wurde ein interessanter Vormittag. Cousine Mary zeigte mir die Mansarden, wo das Personal untergebracht war. Einige von den Dienstboten wohnten allerdings in den Hütten an der Grenze des Grundstücks, und die Quartiere der Reitknechte und Stallburschen lagen über den Stallungen. Ich besichtigte die Schlafräume, viele davon sahen exakt so aus wie mein Zimmer. Dann kamen wir zu der Galerie mit den Familienporträts. Cousine Mary erklärte mir, wer sie waren. Dort hingen auch Bildnisse von meinem Vater und Tante Imogen, als sie jung waren, von meinem Großvater und seinem älteren Bruder, Cousine Marys Vater. Tressidors mit Halskrausen, mit Perücken, in eleganten Kostümen des 18. Jahrhunderts. »Hier haben wir die komplette Schurkengalerie«, bemerkte Cousine Mary.

Ich protestierte lachend, und sie fuhr fort: »Nein, nicht nur Schurken. Es gab auch ein paar anständige Männer darunter, und alle waren entschlossen, Tressidor Manor als das Heim ihrer Familie zu bewahren.«

»Das kann ich gut verstehen. Du mußt stolz darauf sein.«

»Ich gestehe, daß ich an dem alten Besitz hänge«, gab sie zu. »Er ist mein Lebenswerk. Mein Vater hat immer gesagt: ›Eines Tages wird alles dir gehören, Mary. Du wirst es lieben und schätzen und beweisen, daß die Tressidor-Frauen ebenso tüchtig sind wie die Männer.‹ Und daran habe ich mich gehalten.«

In einem Zimmer hatte der König genächtigt, als er vor den Puritanern auf der Flucht war. Das Himmelbett war noch vorhanden, aber die Tagesdecke darauf war fadenscheinig geworden.

»Wir haben es immer in Ordnung gehalten«, erklärte Cousine Mary. »In diesem Zimmer schläft niemand. Stell dir vor, der arme Mann ... er hatte seine eigenen Untertanen gegen sich. Wie muß ihm wohl zumute gewesen sein, als er in diesem Bett schlief.«

»Er hat sicher nicht viel geschlafen«, sagte ich.

Cousine Mary führte mich ans Fenster, und ich blickte über satte grüne Weiden bis zu den Wäldern in der Ferne. Es war eine herrliche Aussicht.

Cousine Mary wies auf die Wandteppiche hin, auf denen die triumphale Rückkehr des Sohnes des damaligen Flüchtlings nach London dargestellt war.

»Die wurden ungefähr fünfzig Jahre, nachdem der König hier geschlafen hatte, in diesem Zimmer aufgehängt. Wenn ich Phantasie hätte, würde ich sagen, sein Geist dürfte darüber Genugtuung empfinden. Aber ich habe keine Phantasie.«

»Ein bißchen Phantasie hast du bestimmt, Cousine Mary, sonst könntest du gar nicht auf solche Gedanken kommen«, bemerkte ich.

Sie brach in Lachen aus und gab mir einen leichten Stups.

Wir gingen nach unten. Sie zeigte mir die kleine Kapelle, den Salon und die Küche. Auf unserem Streifzug begegneten wir mehreren Dienstmädchen, die sie mir vorstellte. Sie knicksten respektvoll.

»Unsere Halle ist ziemlich bescheiden«, erklärte sie. »Die Landowers haben eine viel prunkvollere Halle. Dieses Haus wurde erbaut, als die Halle nicht mehr der Mittelpunkt des Hauses war und man mehr Wert auf die Zimmer legte. Das ist viel zivilisierte, findest du nicht? Nun, ich denke, das wär’s. Anfangs wird es dir ein bißchen schwerfallen, dich zurechtzufinden. Aber in ein, zwei Tagen kennst du dich bestimmt schon aus. Ich hoffe, du wirst das Haus liebgewinnen.«

»Ganz bestimmt. Ich mag es jetzt schon.«

Sie legte mir eine Hand auf den Arm. »Nach dem Mittagessen reiten wir aus.«

Der Vormittag war so erfüllt gewesen, daß ich mich gar nicht mehr gefragt hatte, was Olivia wohl jetzt tat und wie es Miss Bell auf der Heimreise erging.

Als ich wieder in meinem Zimmer war, kam Betty herein. Sie sagte, Miss Tressidor habe angeordnet, daß sie mir beim Auspacken helfe, und gemeinsam hängten wir meine Kleider in den Schrank. Sie erklärte mir, Joe werde meinen Koffer auf dem Dachboden verstauen, bis ich ihn wieder brauchte.

Nach dem Mittagessen zog ich mein Reitkostüm an und ging in die Halle hinunter, wo Cousine Mary auf mich wartete.

Sie sah sehr adrett aus in ihren gutgeschnittenen Reitkleidern, dem schwarzen Reithut und den blankgeputzten Stiefeln. Sie musterte mich anerkennend, und wir gingen in den Stall, wo man ein Pferd für mich aussuchte.

Wir ritten die Auffahrt entlang zum Pförtnerhaus. Jamie kam heraus, um uns das Tor zu öffnen.

»Guten Tag, Jamie«, grüßte Cousine Mary. »Dies ist meine Cousine zweiten Grades, Miss Caroline Tressidor. Sie bleibt eine Weile bei uns.«

»Sehr wohl, Miss Tressidor.«

»Guten Tag, Jamie«, sagte ich.

»Guten Tag, Miss Caroline.«

»Ich hab die Bienen gesehen, als ich gestern abend hier vorbeikam.«

Er machte ein erfreutes Gesicht. »Sie haben gewußt, daß Sie kommen. Ich hab’s ihnen erzählt.«

»Jamie erzählt den Bienen alles«, erläuterte Cousine Mary. »Das ist so der Brauch. Du hast bestimmt schon davon gehört. Natürlich hast du.«

Wir ritten weiter. Sie zeigte mir den Besitz und noch mehr.

»Dieses Land hier gehört den Landowern.« Sie wies in die Weite.

»Sie würden es am liebsten vermehren und möchten uns gern vereinnahmen. Und wir sie auch.«

»Aber es ist doch genug Platz für beide da.«

»Sicher. Es ist bloß dieses Gefühl, das seit Jahrhunderten besteht. Manche Leute blühen durch Konkurrenz auf, nicht wahr? Eigentlich ist es bloß ein Scherz. Ich habe gar keine Zeit für eine richtige Fehde, und die Landowers bestimmt auch nicht. Die haben im Moment was anderes zu tun, denke ich.«

Als wir ins Haus zurückkehrten, hatte ich eine Menge über Cousine Mary, die Tressidors, die Landowers und die Umgebung erfahren. Ich fand alles sehr interessant und fühlte mich bedeutend besser.

Je näher ich Cousine Mary kennenlernte, um so besser gefiel sie mir. Sie konnte gut erzählen, und ich spielte mit mir ein kleines Spielchen, indem ich versuchte, ihren Redeschwall zu unterbrechen und selbst ein oder zwei Wörtchen einzuflechten. Damit würde ich jedoch später gewiß mehr Erfolg haben; zunächst wollte ich soviel erfahren, wie ich konnte.

Als ich an diesem Abend zu Bett ging, hatte sich ein guter Teil meiner Traurigkeit gelegt. Ich war in eine neue Welt versetzt worden, die mich bereits in ihren Bann gezogen hatte.

Ich schlief tief, und als ich aufwachte, freute ich mich auf den kommenden Tag.

Eine Woche war vergangen. Ich gewöhnte mich allmählich ein. Zwar war ich mir jetzt sehr viel selbst überlassen, nachdem Cousine Mary mir die Umgebung gezeigt hatte, doch war mir das nur recht. Eine derartige Freiheit hatte ich nie zuvor genossen. Allein schon ohne Begleitung ausreiten zu dürfen war ein Abenteuer für sich. Cousine Mary hielt viel von Freiheit und befand, ich sei alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Schließlich war ich kein Kind mehr. Und als eine Woche um war, fand ich mein neues Leben herrlich.

Die Bibliothek stand mir zur freien Verfügung. Es gab keine verbotenen Bücher, nicht so wie zu Hause, wo Miss Bell unsere Lektüre überwacht hatte. Ich las sehr viel – vieles von Dickens, alles von Jane Austen und den Schwestern Brontë, die mich besonders fesselten. Ich ritt täglich und kannte mich in der Umgebung inzwischen ganz gut aus. Ich hatte ein wenig zugenommen. Die Kost bei Cousine Mary war vorzüglich, und ich sprach allem, was aufgetischt wurde, gut zu. Ich merkte selbst, wie ich mich veränderte. Ich wurde erwachsen und selbständig, erkannte, daß ich unter Miss Bells wachsamen Augen etwas eingeschränkt gewesen war. Es war eine Erleichterung, keinen Unterricht mehr zu haben. Cousine Mary meinte, da ich mich so gern der Bibliothek bediente, sei die Lektüre großer Schriftsteller die beste Bildung, die mir zuteil werden konnte. Sie würde mir in Zukunft mehr nützen als das Einmaleins.

Es war wirklich ein Vergnügen, sich selbst zu bilden.

Wenn ich spazierenging oder ausritt, kam ich häufig am Pförtnerhaus vorbei. Oft sah ich Jamie dort – er war fast immer in seinem Garten. Er wünschte mir respektvoll einen guten Morgen. Ich wäre gern stehengeblieben, um mit ihm zu plaudern, mich nach den Bienen zu erkundigen, aber etwas in seinem Gebaren hielt mich zurück. Doch gelobte ich mir, ihn eines Tages anzusprechen. Einmal begegnete ich auf einem schmalen Feldweg einem Reiter. »Na so was«, rief er, »wenn das nicht Miss Tressidor ist!«

Ich erkannte ihn sofort. Er war der jüngere der beiden Reisenden im Zug.

Er merkte, daß ich ihn wiedererkannt hatte, und grinste. »Ganz recht. Jago Landower. Das ist aber eine muntere kleine Stute, die Sie da reiten.«

»Sie ist vielleicht ein bißchen verspielt. Aber das macht nichts. Ich bin viel geritten.«

»Obwohl Sie aus London kommen?«

»Dort reiten wir auch, müssen Sie wissen. Außerdem haben wir einen Landsitz. Wenn ich dort bin, sitze ich immer im Sattel.«

»Das sieht man. Wollen Sie zurück zum Gutshaus?«

»Ja.«

»Ich zeig Ihnen einen neuen Weg.«

»Vielleicht kenn ich ihn schon.«

»Den bestimmt nicht. Kommen Sie.«

Ich wendete die Stute und führte sie neben ihn.

»Ich habe schon nach Ihnen Ausschau gehalten«, sagte er. »Komisch, daß ich Sie noch nicht getroffen habe.«

»Ich bin ja noch nicht lange hier.«

»Wie finden Sie Cornwall?«

»Sehr reizvoll.«

»Und wie lange werden Sie bleiben?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Hoffentlich gehen Sie nicht so bald wieder fort ... nicht bevor wir uns richtig gut kennen.«

»Das ist sehr schmeichelhaft.«

»Und was macht der Drachen?«

»Der Drachen?«

»Die Aufseherin.«

»Meinen Sie Miss Bell, meine Gouvernante? Sie ist gleich am nächsten Tag nach London zurückgefahren.«

»Dann sind Sie also frei.«

»Sie war eigentlich keine Aufseherin.«

»Ein falscher Ausdruck. Wie wär’s mit Wachhund?«

»Sie hatte den Auftrag, sich um mich zu kümmern, und das hat sie getan.«

»Ich sehe, Sie sind eine wohlbehütete junge Dame. Es wundert mich, daß man Sie allein hinausläßt. Aber das sieht Lady Mary ähnlich. Sie erzieht Sie zur Selbständigkeit.«

»Miss Mary Tressidor hat mir erst die Umgebung gezeigt, und außerdem ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen.«

»Das sehe ich. Und wie gefällt Ihnen das Heim Ihrer Vorfahren? Und Lady Mary? In Landower Hall nennen wir sie immer Lady Mary. Sie ist eine sehr einflußreiche Dame.«

»Freut mich, daß Sie das zu schätzen wissen. Ihr Weg kommt mir aber ziemlich weit vor.«

»Ist ja auch ein Umweg, keine Abkürzung.«

»Was, Sie führen mich vom Wege ab?«

»Nur ein bißchen. Wenn wir Ihren Weg genommen hätten, wäre unsere Begegnung zu kurz gewesen.«

Ich war geschmeichelt. Er gefiel mir.

Ich sagte: »Ihr Bruder hat den Namen auf meinem Gepäck ja sehr rasch entdeckt und erkannt, wer ich bin.«

»Er ist sehr gewitzt, aber in diesem Fall bedurfte es keiner besonderen Beobachtungsgabe. Wir hatten erfahren, daß Tressidor Manor Besuch bekommen würde, und wir wußten auch, wer das war. Ihr Vater war hier wohlbekannt. Mein Vater kannte ihn und seine Schwester Imogen. Die Leute dachten, er würde das Anwesen erben. Aber es fiel natürlich an Lady Mary.«

»Sie war die rechtmäßige Erbin.«

»Aber eine Frau!«

»Teilen Sie das allgemeine Vorurteil?«

»Keineswegs. Ich bewundere Ihr Geschlecht. Und Lady Mary hat bewiesen, daß sie so tüchtig ist wie ein Mann – manche meinen, sogar viel tüchtiger. Ich wollte Ihnen nur sagen, woher wir wußten, daß Sie hierherkommen und an jenem bestimmten Tag eintreffen würden. Aus London reisen nur wenige Leute hier herunter. Wir sahen Sie, als wir an dem Abteil vorbeigingen, und mein Bruder meinte: ›Hast du das Mädchen mit der Dame gesehen, die offenbar ihre Gouvernante ist? Ich möchte wissen, ob das besagte Miss Tressidor ist. Komm, das müssen wir herausfinden.‹ Und so kamen wir in Ihr Abteil.«

»Es überrascht mich, daß Sie sich soviel Mühe gemacht haben.«

»Wir geben uns immer viel Mühe, um herauszufinden, was bei den Tressidors vorgeht. Schauen Sie! Landower Hall. Ist es nicht herrlich?«

»Ja. Sie müssen sehr stolz auf Ihr Heim sein.«

Einen flüchtigen Augenblick wirkte er niedergeschlagen. »Ja, das sind wir auch. Aber ... wie lange noch …?«

Mir fiel ein, was Cousine Mary von den Schwierigkeiten der Landowers gesagt hatte. »Wie meinen Sie das?«

»Ach, vergessen wir es. Ja, es ist großartig, nicht wahr? Die Familie ist hier seit …«

»Seit Anbeginn aller Zeiten, wie Kutscher Joe sagt.«

»Das ist vielleicht ein bißchen übertrieben. Die Landowers sind seit dem 15. Jahrhundert hier.«

»Ja. Wie ich hörte, sind Sie den Tressidors zuvorgekommen.«

»Wie gut Sie sich in der hiesigen Geschichte auskennen!«

»Nicht so gut, wie ich es mir wünschte.«

»Das kommt schon mit der Zeit.«

Ich erkannte jetzt den Weg wieder und verfiel in Galopp. Jago blieb an meiner Seite. Bald tauchte das Tor vor uns auf.

»So ein weiter Umweg war es doch gar nicht, oder?« meinte Jago.

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Reiten Sie jeden Tag aus?«

»So gut wie jeden Tag.«

Ich ritt in den Stall.

Die Begegnung hatte mich sehr gefreut.

Danach sah ich ihn oft. Er war immer da, wenn ich ausritt. Er wurde mein Führer, er zeigte mir die Umgebung und erzählte von den alten Legenden, den Gebräuchen und dem Aberglauben, der in dieser Gegend weit verbreitet war. Er führte mich zum Moor und wies auf die seltsame Form mancher Steine hin, die, wie manche Leute glaubten, von prähistorischen Menschen dorthin geschleppt worden waren. Das Moor hatte etwas Umheimliches, und ich war nahe daran, die phantastischen Geschichten von allerlei Getier und Hexen zu glauben.

»Schade, daß Sie nicht früher gekommen sind«, sagte Jago. »Dann hätten Sie das Sonnwendfest mitfeiern können. Wir versammeln uns hier um Mitternacht und zünden Freudenfeuer an, um den Sommer zu begrüßen. Wir tanzen ums Feuer, sind ausgelassen und ein bißchen wild, vielleicht ähnlich wie unsere prähistorischen Vorfahren. Der Tanz ums Freudenfeuer ist eine Vorbeugung gegen Hexerei, und wenn man sich die Kleider versengt, so bedeutet das, daß man beschützt ist. O ja, Sie hätten beim Sonnwendfest dabeisein sollen. Ich kann Sie vor mir sehen, wie Sie tanzen, mit wild wehenden Haaren – eine echte Tressidor.«

Er zeigte mir eine stillgelegte Zinnmine und erzählte mir von der Zeit, als der Zinnabbau das Herzogtum reich gemacht hatte.

»Man sagt, eine stillgelegte Mine bringt Unglück. Die Bergleute von Cornwall waren die abergläubischsten Menschen der Welt, vielleicht abgesehen von den Fischern. Ihr Leben war voller Gefahren, deshalb achteten sie immer auf gute und böse Zeichen. Das sollten wir vielleicht auch tun. Die Bergleute legten Speisen in die Stolleneingänge für die Knackerchen, die einem übel mitspielen konnten, wenn man sie beleidigte. Sie waren angeblich die Geister der Juden, die Jesus gekreuzigt hatten und keine Ruhe fanden. Wie sie nach Cornwall gelangten, dafür gab es keine Erklärung – auch nicht dafür, wieso es so viele waren. Aber so mancher Bergmann schwor, einen Knacker gesehen zu haben – ein kleines, verhutzeltes Wesen, so groß wie ein Püppchen, aber in der alten Bergmannstracht. Ich möchte wissen, was die Knackerchen heute machen, wo so viele Minen geschlossen sind. Vielleicht kehren sie dorthin zurück, wo sie hingehören. Dieser Stollen hier soll besonders unheilvoll sein. Sie dürfen nicht an den Rand des Schachts gehen. Wer weiß, vielleicht verliebt sich ein Knacker in Sie und nimmt Sie mit, wo immer er hingehört.«

Ich hörte ihm gern zu und drängte ihn, mehr zu erzählen. Ich erfuhr von dem Weihnachtsumtrunk, wenn die großen Familien Würzbier spendierten, von dem jeder trank. »Waes Hael«, sagte Jago. »Das ist angelsächsisch und bedeutet ›Zum Wohl‹. Viele unserer Gebräuche gehen in vorchristliche Zeit zurück. Das erklärt, weshalb wir so ein heidnisches Pack sind.«

Er schilderte, wie Weihnachten in den großen Häusern getanzt wurde und wie die Weihnachtssänger kamen und an dem fröhlichen Treiben teilhatten, wie am Dreikönigstag verkleidete und maskierte Tänzer in historischen Kostümen erschienen und ausgelassen im Freien und durch die Häuser tobten. Am Fastnachtsdienstag war es erlaubt, die Gärten der Reichen zu plündern, und der erste Mai hatte die gleiche Bedeutung wie Weihnachten und das Sommernachtsfest. Jung und alt versammelte sich mit Fiedeln und Trommeln auf den Straßen. Sie spielten und tanzten und brachen dann auf, den Maien hereinzuholen. Zweige wurden von Ahornbäumen geschnitten und Pfeifen daraus geschnitzt, zu deren schrillen Tönen man im Freien tanzte. Am achten Mai gab es in Helston den sogenannten Furrytanz, der hier zwar sehr feierlich, aber um so feuriger, wenn auch weniger zeremoniell in ganz Cornwall getanzt wurde.

Offensichtlich wollte Jago mir zeigen, wie aufregend das Leben hier war und daß es ihn froh und glücklich machte, daß ich hier war. Er erzählte gern, und ich war eine willige Zuhörerin. Er erweckte in mir den Wunsch, selbst einige von den Bräuchen mitzuerleben, die er so begeistert schilderte.

Aber mit der Zeit merkte ich, daß seine Fröhlichkeit verkrampft war, und ich ahnte, daß etwas ihn bedrückte. Als ich ihn danach fragte, tat er es mit einem Achselzucken ab, doch eines Tages erzählte er mir, was ihm im Kopf herumging.

Wir waren an einem leerstehenden Bauernhaus an der Grenze des Landowerschen Anwesens vorbeigeritten, als Jago sagte: »Hier haben die Malloys seit Generationen gelebt. Die letzten hatten nur einen Sohn und eine Tochter, die nichts von der Landwirtschaft wissen wollten. Der Mann ging nach Plymouth und wurde Baumeister. Seine Schwester nahm er mit. Jetzt steht das Bauernhaus leer.«

»Ein sehr hübsches Haus«, bemerkte ich.

»Hm.«

»Ich würde es mir gern anschauen. Können wir nicht hineingehen?«

»Jetzt nicht«, sagte er bestimmt. Und er wendete sein Pferd, als könne er den Anblick des Hauses nicht ertragen.

Später erfuhr ich, warum. Wir waren zum Moor geritten. Dort war es still und erholsam. Ich saß, an einen Felsbrocken gelehnt, mit ausgestreckten Beinen im Gras. Jago saß neben mir.

»Was bedrückt Sie? Warum wollen Sie’s mir nicht erzählen?« fragte ich.

Er schwieg eine Weile, dann kam es heraus: »Erinnern Sie sich an das Bauernhaus, das ich Ihnen gezeigt habe?«

»Ja.«

»Das könnte bald unser Heim werden.«

»Was sagen Sie da?«

»Wir müssen Landower womöglich verkaufen.«

»Landower verkaufen! Was soll das heißen? Ihre Familie ist dort seit Anbeginn aller Zeiten.«

»Es ist mein Ernst, Caroline. Wir können es uns nicht mehr erlauben, dort zu wohnen. Das Haus stürzt fast über unseren Köpfen ein. Man müßte ein Vermögen hineinstecken, und zwar bald, wenn es gerettet werden soll.«

»Oh, das tut mir leid, Jago. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«

»Paul ist außer sich, aber er kann keine Hilfe auftreiben. Er ist zur Zeit in Plymouth ... Er besucht Anwälte und Bankiers ... um Geld aufzubringen. Er läßt nicht locker, obwohl alle sagen, es ist hoffnungslos und nichts zu machen, wir müssen das Haus aufgeben. Paul meint immer noch, er kann was tun ... irgendwie. So ist er eben. Wenn er sich etwas in den Kopf setzt, gibt er nicht auf. Er sagt dauernd, ihm fiele schon etwas ein. Aber wir brauchten ein Vermögen, um das Gebäude und das Dach zu restaurieren. Alles wurde zu lange vernachlässigt. Man sollte meinen, wenn ein Haus vierhundert Jahre steht, dann steht es ewig. Würde es auch ... wenn wir es reparieren könnten. Aber wir können es nicht, Caroline. Mehr ist dazu nicht zu sagen.«

»Was werden Sie tun?«

»Wir werden wohl verkaufen müssen.«

»O nein!«

»Doch. Die Anwälte sagen, das ist das einzige, was wir tun können. Mein Vater ist hoch verschuldet. Die Gläubiger drängen. Er muß irgendwie zu Geld kommen. Die Anwälte sagen, es sei noch ein Glück für uns, daß wir das Bauernhaus haben, wo wir leben könnten.«

»Wie furchtbar für Sie. Und alle die Vorfahren …«

»Es gibt nur eine Hoffnung.«

»Und die wäre?«

Er brach in Lachen aus. »Daß es keiner kauft.«

Ich lachte mit ihm und war überzeugt, daß er scherzte. Es machte ihm Spaß, mich zu necken. Deshalb war ich auch nie ganz sicher, wie weit er übertrieb, wenn er mir von den Volksbräuchen erzählte. Jetzt war ich überzeugt, daß er nicht ernst meinte, was er gesagt hatte. Es bestand keine Gefahr, daß Landower Hall in fremde Hände überging. Wie sollte so etwas auch möglich sein?

Wir ritten um die Wette nach Hause. Zum Abschied winkte er mir fröhlich zu und rief: »Morgen um dieselbe Zeit.«

Ich war sicher, daß bei den Landowers alles in Ordnung war oder daß es zumindest nur halb so schlimm war, wie Jago gesagt hatte. Als ich ein paar Tage später bei einem Spaziergang an dem Pförtnerhaus vorbeikam, erschien Jamie.

»Guten Tag, Miss Caroline«, sagte er.

»Guten Tag. Ziemlich schwül heute. Spüren die Bienen das?«

Seine Miene veränderte sich. »Aber sicher, Miss Caroline. Sie kennen sich mit dem Wetter aus. Sie spüren, wenn Sturm aufkommt.«

»Tatsächlich? Faszinierend. Ich hab mich schon immer für Bienen interessiert.«

»Ist das wahr?«

»Aber ja. Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

»Es lohnt sich.« Eine Biene flog über seinen Kopf. Er lachte. »Sie weiß, daß ich über sie spreche.«

»Wirklich?«

»Träges kleines Ding.«

»Oh, ist es eine Drohne?«

»Ja. Tut nichts, als sich vergnügen, während die Arbeiterinnen den Nektar sammeln und die Königin im Stock Eier legt. Aber ihre Zeit wird kommen. Wenn die Königin auf Jungfernflug geht.«

»Haben Sie sich schon immer für Bienen interessiert?«

»Für Lebewesen, Miss Caroline. Ich hatte schon Bienenstöcke, bevor ich hierherkam. Aber nicht so viele. Wundersame kleine Geschöpfe. Klug, emsig. Man weiß, was man von ihnen zu erwarten hat.«

»Das ist ein großer Vorzug ... zu wissen, was man zu erwarten hat. Aber Ihre Blumen sind auch herrlich. Sie haben eine Hand dafür, genau wie für die Bienen.«

»Ja, ich liebe Blumen ... alles, was wächst. Ich hab sogar ein Vögelchen da drin.« Er wies mit dem Kopf zum Häuschen. »Hat einen Flügel gebrochen. Glaub’ nicht, daß er wieder richtig gesund wird, aber vielleicht heilt er wenigstens ein bißchen.«

Eine Katze kam heraus und rieb sich miauend an seinen Beinen.

»Haben Sie noch mehr Tiere?«

»Löwenherz. Er ist der große Aufpasser. Der macht sich bemerkbar. Er und Tiger, die Katze, sind sozusagen die ständigen Bewohner.«

»Und die Bienen natürlich.«

»O ja, und die Bienen. Die anderen kommen und gehen. Dieser Vogel ... er wird noch ein Weilchen bleiben, aber das Leben in einer Hütte ist nicht gut für einen Vogel.«

»Wie traurig, daß er verkrüppelt sein wird. Vor allem, wenn er sich an die Tage erinnert, als er frei war. Glauben Sie, daß Vögel ein Gedächtnis haben?«

»Ich glaube, der liebe Gott hat allen Geschöpfen bestimmte Kräfte gegeben, Miss Caroline, genau wie uns.« Er zögerte einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Möchten Sie einen Moment hereinkommen? Sie können sich das Vögelchen anschauen.«

»Gern.«

Der Hund kam heraus und musterte mich grimmig.

»Schon gut. Lion. Das ist eine Freundin von mir.«

Der Hund beäugte mich mißtrauisch. Jamie streichelte ihn, und es war deutlich zu sehen, daß das Tier ihm sklavisch ergeben war.

Jamie war in meinen Augen ein glücklicher Mensch.

Er zeigte mir den Vogel mit dem gebrochenen Flügel. Dabei ging er sehr liebevoll mit ihm um, und in seinen sanften Händen hatte der Vogel keine Angst.

Jamie hatte ein hübsches kleines Wohnzimmer, alles war peinlich sauber. Hier saßen wir nun und plauderten von den Bienen. Er sagte, wenn ich Lust hätte, würde er mich ihnen eines Tages vorstellen, wenn die Zeit günstig sei.

»Vorher muß ich Ihnen Schutzkleidung geben. Die Bienen verstehen nicht immer gleich. Sie denken vielleicht, Sie wollen den Stock angreifen.«

Was er erzählte, interessierte mich genauso wie Jago Landowers Schilderungen. Ich stellte Fragen, er antwortete, sichtlich erfreut über mein Interesse. Er hatte mit einem einzigen Schwarm angefangen, und jetzt hatte er zehn Bienenstöcke in seinem Garten.

»Wissen Sie, Miss Caroline, man muß sie verstehen und achten. Sie müssen merken, daß man ihr Freund ist. Sie wissen, daß ich sie vor übermäßiger Hitze und Kälte schütze. Man muß ihnen die besten Bedingungen schaffen, damit sie ihre Waben bauen und die Brut aufziehen können. Oh, ich habe eine Menge gelernt. Durch Versuche und Fehlschläge. Doch heute, schätze ich, habe ich das zufriedenste Bienenvolk in Cornwall.«

»Das glaub ich gern.«

»Meine Bienen haben nichts zu befürchten. Sie verlassen sich auf mich, und ich verlasse mich auf sie. Sie wissen, daß für sie gesorgt wird, wenn das Wetter zu schlecht für sie ist, um Futter zu suchen. Eines Tages zeig ich Ihnen, wie ich sie mit einer weithalsigen Flasche voll Sirup füttere. Das mach ich aber nur, wenn es richtig kalt wird. Dann dürfen sie nicht zuviel Feuchtigkeit haben. Wenn ich den Zucker aufkoche, gebe ich etwas Essig hinein, der verhindert, daß der Zucker kristallisiert. Ach, ich langweile Sie bestimmt, Miss Caroline. Wenn ich einmal auf die Bienen zu sprechen komme, kann ich einfach nicht mehr aufhören.«

»Ich finde es sehr interessant. Wann darf ich die Bienenstöcke anschauen?«

»Ich spreche heute abend mit ihnen und erzähl von Ihnen. Ich sag, Sie sind eine mitfühlende Seele ... Das werden sie verstehen. Ach was, das finden sie bald genug selbst heraus.«

Ich fand ihn ein bißchen übertrieben, doch er interessierte mich, und ich unterhielt mich von nun an öfter mit ihm, wenn ich vorbeikam. Manchmal ging ich ins Häuschen, manchmal hielten wir einen kleinen Schwatz an der Tür.

Cousine Mary war von meiner neuen Freundschaft sehr angetan.

»Nicht jeder macht sich die Mühe, auf ihn einzugehen. Er ist ein guter Kerl, unser schottischer Sankt Franziskus. Das war der Heilige, der sich immer um die Tiere gekümmert hat. Aber das weißt du natürlich.«

Jetzt hatte ich drei gute Freunde – Cousine Mary, Jago Landower und Jamie McGill. Ich begann, das Leben in Cornwall zu genießen. Kaum zu glauben, daß ich noch vor kurzer Zeit solche Angst davor hatte.

Cousine Mary erzählte mir von vergangenen Zeiten, als mein Vater und Tante Imogen ihre Sommerferien noch in Tressidor Manor verbrachten.

»Die beiden Brüder kamen nicht gut miteinander aus, mein Vater und dein Großvater. Mein Vater hat immer gelacht und gesagt: ›Er glaubt, er kriegt Tressidor Manor für seinen Sohn. Der wird eine Überraschung erleben.‹«

»Ich weiß, wie mein Vater darüber denkt.«

»Ja. Ich würde Tressidor nie aufgeben. Es gehört mir ... bis zum Tage meines Todes.«

Ich fragte sie, was sie von den Landowers hielt. Konnte es wirklich wahr sein, daß sie verkaufen mußten?

»Es gehen Gerüchte um«, erwiderte sie. »Schon seit geraumer Zeit. Es wird dem alten Herrn das Herz brechen, weil er selbst schuld ist, weißt du. Es hat schon immer Spieler in der Familie gegeben, aber er hat es auf die Spitze getrieben. Wäre Paul ein wenig früher geboren, hätte der Verfall vielleicht aufgehalten werden können. Wie ich höre, hängt er sehr an dem Haus und versteht etwas von Verwaltung. Er hätte vielleicht eine Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. Doch die Schulden des alten Herrn sind nicht alles. Das Haus muß auf der Stelle instand gesetzt werden. Es war ein Torheit, das so lange hinauszuschieben.«

»Ich glaube, Jago geht es auch sehr nahe.«

»Das kann ich mir denken. Aber das ist nichts gegen das, was sein älterer Bruder empfindet. Jago ist noch jung genug, um darüber wegzukommen.«

»Ist Paul denn soviel älter?«

»Paul ist ein Mann.«

»Jago ist fast siebzehn.«

»Er ist noch ein richtiger Junge. Aber sie haben es sich selbst zuzuschreiben. Wäre es ein Akt Gottes gewesen, wie man so schön sagt, könnte man sie mehr bedauern.«

»Aber ich glaube, die Menschen leiden mehr, wenn sie ihr Unglück selbst verschuldet haben, Cousine Mary.«

Sie sah mich beifällig an und tätschelte mir die Hand.

Später sagte sie: »Ich bin richtig froh, daß du gekommen bist. Nett, dich hier zu haben.«

»Das klingt ja wie eine Abschiedsrede.«

»Ich hoffe, daß ich die noch lange nicht halten muß.«

Cousine Mary und ich hatten uns wahrhaftig liebgewonnen.

Und eines Tages war es soweit. Jamie McGill nahm mich mit zu seinen Bienen und stellte mich ihnen vor. Er setzte mir eine komische Haube auf, die vorn in mein Mieder gesteckt würde, und zog mir einen Schleier übers Gesicht, durch den ich hindurchschauen konnte. Ich bekam dicke Handschuhe. Dann gingen wir zu den Bienenstöcken. Ich muß gestehen, mir war ziemlich ängstlich zumute, als die Bienen um mich herumsummten. Sie summten auch um ihn herum, und ein paar ließen sich auf ihm nieder. Aber sie stachen nicht.

Er sagte: »Das ist Miss Caroline Tressidor. Ich hab euch von ihr erzählt. Sie will euch kennenlernen. Sie ist bei ihrer Cousine zu Besuch und eine Freundin von mir.«

Ich sah zu, wie er die Waben aus dem Stock nahm, und ich staunte, daß die Bienen das zuließen. Er sprach dabei die ganze Zeit zu ihnen. Hinterher gingen wir ins Haus, und ich wurde von der komischen Vermummung befreit.

»Sie mögen Sie«, sagte Jamie. »Das erkenne ich an ihrem Summen. Ich hab’s ihnen gesagt, und sie trauen mir.«

Weil die Bienen mich mochten, vertiefte sich unsere Bekanntschaft. Vielleicht vertraute Jamie mir, weil die Bienen mir trauten. Er sprach freier über sich selbst. Er erzählte mir, daß er manchmal Heimweh nach Schottland hatte, wo er geboren war. Er sehnte sich nach den Seen und den schottischen Nebeln. »Die sind anders als hier, Miss Caroline. Und die Berge auch. Unsere sind großartig und zerklüftet – manchmal geradezu furchtgebietend. Ich hab Sehnsucht nach ihnen, o ja.«

»Haben Sie vor, irgendwann zurückzukehren?«

Er sah mich entsetzt an. »O nein ... nein. Das könnte ich nicht, niemals. Sie müssen wissen ... es ist wegen Donald. Er ist ... deshalb mußte ich weg ... so weit fort wie möglich. Ich hab mich immer vor Donald gefürchtet. Wir sind zusammen aufgewachsen.«

»Ihr Bruder?«

»Wir sahen uns so ähnlich. Die Leute konnten uns nicht unterscheiden. Wer war Donald ... Wer war Jamie? Das wußte keiner ... nicht mal unsere Mutter.«

»Sie waren also Zwillingsbrüder.«

»Donald ist kein guter Mensch, Miss Caroline. Er ist böse, richtig böse. Ich mußte weg von Donald. Aber ich langweile Sie mit Sachen, von denen Sie nichts wissen wollen.«

»Ich interessiere mich stets für die Menschen. Ich möchte immer ihre Lebensgeschichte hören.«

»Ich kann nicht von Donald sprechen ... davon, was er getan hat. Ich muß es vergessen.«

»War er sehr böse?«

Er nickte. »So, Miss Caroline, heut nachmittag haben Sie nun meine Bienen kennengelernt.«

»Es freut mich, daß sie in mir eine Freundin sehen.«

»Ich hab’s von Anfang an gewußt, daß Sie eine Freundin sind.« Er beugte sich vor. »Vergessen Sie, was ich von Donald gesagt habe. Es ist mir einfach so herausgerutscht.«

»Ich finde. Reden erleichtert.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich muß Donald vergessen, als hätte es ihn nie gegeben.«

Ich mußte mich zurückhalten, um ihm nicht noch weitere Fragen zu stellen. Es hatte Jamie McGill sichtlich erschüttert, über Donald zu sprechen, und er machte sich Vorwürfe deswegen.

Danach hat er ihn nie wieder erwähnt, obwohl ich mehrmals versuchte, das Gespräch in diese Richtung zu steuern. Er lenkte mich jedesmal geschickt ab, und ich kam zu dem Schluß, wenn ich ihn dazu brächte, über seinen Bruder zu sprechen, würde ich in seiner Behausung nicht mehr willkommen sein.

Ich schrieb sehr oft an Olivia. Es war, als ob ich mit ihr spräche, und ich wartete immer gespannt auf ihre Briefe.

Das Leben dort ging seinen gewohnten Gang. Olivia hielt sich meistens auf dem Land auf. Nach den Jubiläumsfeierlichkeiten gab es für sie keinen Grund mehr, nach London zu kommen.

Miss Bell schrieb auch einmal. Ihr Brief war angefüllt mit nichtssagenden Berichten. Sie hatte eine gute Heimreise, Olivia und sie hatten mit Gibbons Aufstieg und Fall des Römischen Reiches begonnen. Das Wetter war außerordentlich warm. Solche Dinge interessierten mich nicht.

Dann kam ein Brief von Olivia, der anders war als die anderen.

»Liebe Caroline!

Du fehlst mir so sehr. Ich werde bald siebzehn, und Papa hat zu Miss Bell gesagt, ich müsse nun in die Gesellschaft eingeführt werden. Ich hab Angst davor. Ich finde es schrecklich, unter die Leute zu gehen. Das ist nichts für mich. Du würdest da besser hinpassen. Ich hab hier niemanden, mit dem ich richtig reden kann ... Miss Bell sagt, es muß sein, und wenn ich mir vornehme, daß alles gut wird, dann klappt es schon.

Mama ist nicht zurückgekommen. Sie kommt nie wieder. Ich dachte, sie wäre bloß für eine Weile fortgegangen, aber niemand spricht von ihr, und wenn ich sie vor Miss Bell erwähne, wechselt sie das Thema, als sei es eine Schande.

Ich wünschte, Mama würde zurückkommen. Papa ist noch strenger als sonst. Er ist meistens in London, und ich bin auf dem Land, aber wenn ich ›eingeführt‹ werde, muß ich nach London, nicht? Ach, ich wünschte. Du kämst nach Hause.

Ich habe Miss Bell gefragt, wann Du zurückkommst. Sie sagt, das hinge von Papa ab. Ich erwiderte, daß Papa doch bestimmt seine Tochter sehen möchte. Darauf wandte sie sich ab und sagte: ›Caroline kommt zurück, wenn Dein Vater es für richtig hält.‹ Ich fand das recht seltsam. Das ist alles so mysteriös, Caroline, und ich habe Angst davor, in die Gesellschaft eingeführt zu werden.

Du sollst wissen, daß ich Dich vermisse. Es wäre nicht halb so schlimm, wenn Du zu Hause wärst.

Deine Dich liebende Schwester Olivia Tressidor.«

Ich dachte viel an Olivia und wünschte, sie konnte zu mir nach Cornwall kommen und an diesem sorglosen Leben teilhaben.

Manchmal hatte ich das Gefühl, es würde ewig so weitergehen.

Zuweilen verfiel Jago Landower in eine melancholische Stimmung. Da dies seinem Naturell so gar nicht entsprach, nahm ich an, daß er sich wirklich Sorgen machte.

Eines Tages eröffnete er mir, daß es für seine Familie offenbar keine andere Lösung gebe, als das Haus zu verkaufen.

Ich versuchte ihn zu trösten: »Wenn Sie in dem hübschen alten Bauernhaus wohnen, sind Sie wenigstens nicht weit weg.«

»Sehen Sie nicht, daß es dadurch nur schlimmer wird? In der Nähe von Landower Hall zu leben und zu wissen, daß es jemand anderem gehört!«

»Es ist doch nur ein Haus.«

»Nur ein Haus! Es ist Landower Hall! Es ist seit Jahrhunderten unser Heim gewesen ... Und ausgerechnet wir müssen es verlieren ... Sie haben gut reden, Caroline. Sie verstehen das nicht …«

Nach einer Pause fuhr er fort: »Sie haben es nie gesehen. Nur von außen. Ich werde Ihnen Landower Hall zeigen. Dann werden Sie es vielleicht verstehen.«

So kam es, daß ich Landower Hall betrat. Ich geriet sogleich in seinen Bann und begriff nun, wie die Familie litt.

Ich hatte Tressidor Manor liebgewonnen. Obwohl es uralt war, war es heimelig. Das konnte man von Landower Hall nicht sagen. Es war großartig, prachtvoll, aber bereits im Verfall begriffen, doch sobald ich es betrat, spürte ich, wie wichtig es war, daß dieses Haus nicht dem Ruin preisgegeben wurde. Beim Näherkommen war ich von den mit Zinnen bewehrten Mauern beeindruckt, und ein atemloses Staunen ergriff mich, als ich durch das Tor in den Innenhof trat. Mir war, als seien die Jahrhunderte in diesen Mauern eingefangen und ich wäre geradewegs ins 14. Jahrhundert zurückversetzt worden, als dieses Gebäude errichtet worden war.

Wir traten durch eine schwere, mit Nägeln beschlagene Tür in die Banketthalle. Ich spürte Jagos ungeheuren Stolz und konnte ihn jetzt voll und ganz verstehen.

Er sagte: »Landower Hall wurde zwar im 14. Jahrhundert erbaut, ist jedoch seitdem immer wieder erneuert und ergänzt worden. Landower ist mit den Jahrhunderten gewachsen, aber die Banketthalle ist als einer der ältesten Teile des Hauses unverändert geblieben. Eins wurde allerdings verändert. Ursprünglich war die Feuerstelle mitten im Raum. Ich zeig Ihnen, wo. Der große Kamin kam in der Zeit der Tudors hinzu. Da oben ist die Musikantengalerie. Schauen Sie sich die Täfelung an: Sie verrät das Alter.«

Ich war sprachlos vor Staunen.

»Hier sehen Sie das Familienwappen, und schauen Sie sich den Stammbaum an. In den Ornamenten über dem Kamin sind die verschlungenen Initialen der Landowers, die hier lebten, als er gebaut wurde. Können Sie sich vorstellen, daß jemand anders hier lebt ... mit allem, was uns gehört?«

»Ach Jago, das darf niemals sein. Ich hoffe, daß es nicht dazu kommt.«

»Der Flur da drüben führt in den Küchentrakt. Da gehen wir lieber nicht hin. Das Küchenpersonal hält bestimmt gerade sein Mittagsschläfchen. Die wären gewiß nicht froh, uns zu sehen. Kommen Sie.« Wir gingen die Treppe hinauf und gelangten in das Speisezimmer. Durch die Fenster blickte man auf den großen Rasen und die Gartenanlagen. An den Wänden hingen Teppiche mit Bibelszenen, an jedem Ende der Tafel standen Kandelaber, und der Tisch war gedeckt, als würde sich die Familie gleich zum Essen niederlassen. Auf der großen Anrichte standen warme Gerichte in schimmerndem Silbergeschirr. Dieses Haus machte nicht den Eindruck, dem Untergang geweiht zu sein.

Als nächstes führte er mich in die Kapelle. In ihrer gedämpften Atmosphäre wirkte sie größer als unsere in Tressidor Manor, und Ehrfurcht überkam mich, als unsere Schritte auf den Steinplatten hallten. In die steinernen Wände waren Reliefs mit Kreuzigungsszenen eingelassen. Die Buntglasfenster leuchteten wunderschön, und die Altarschnitzereien waren so kunstvoll, daß ich sie stundenlang hätte betrachten mögen.

Anschließend führte Jago mich ins Sonnenzimmer – ein heiterer Raum mit zahlreichen Fenstern, so hell und sonnig, wie es der Name sagte. Zwischen den Fenstern hingen Porträts von Landowers aller Generationen und anderen bedeutenden Persönlichkeiten.

Alles um mich herum war altehrwürdig – Zeugnisse einer Familie, die ein Haus errichtet und zu ihrem Heim gemacht hatte.

Da ich die Verbitterung meines Vaters über den Verlust von Tressidor Manor erlebt hatte und Cousine Marys Stolz und ihre Entschlossenheit kannte, es zu behalten, verstand ich, welche Tragödie auf die Landowers zukam.

Während ich noch die Wandteppiche betrachtete, merkte ich, daß jemand hereingekommen war. Ich drehte mich abrupt um und erblickte Paul Landower. Seit meiner Ankunft hatte ich ihn nicht mehr gesehen, aber ich erkannte ihn sofort.

»Miss Tressidor.« Er verbeugte sich.

»Oh, guten Tag, Mr. Landower. Ihr Bruder zeigt mir gerade das Haus.«

»Das sehe ich.«

»Es ist großartig.« Meine Lippen zitterten vor innerer Erregung.

»Ich verstehe ... ich könnte es auch nicht ertragen …«

Er sagte, ziemlich kühl, wie ich fand: »Mein Bruder hat also von unseren Schwierigkeiten gesprochen.«

»Warum es geheimhalten? Wetten, daß es alle wissen?« sagte Jago.

Paul Landower nickte. »Du hast recht. Es hat keinen Sinn, etwas zu verschweigen, was bald allgemein bekannt sein wird.«

»Gibt es denn keine Hoffnung mehr?« fragte Jago.

Paul schüttelte den Kopf. »Bislang nicht. Vielleicht können wir einen Weg finden.«

»Es tut mir so leid«, sagte ich.

Paul Landower sah mich ein paar Sekunden an, dann lachte er.

»Wie behandelst du denn unseren Gast! Ich schäme mich für dich, Jago. Hast du ihr eine Erfrischung angeboten?«

»Ich bin bloß gekommen, um mir das Haus anzusehen«, wehrte ich ab.

»Aber Sie möchten gewiß Tee, oder nicht?«

»Oh, danke, ich wollte mir nur das Haus anschauen.«

»Das ehrt uns. Wir haben nicht oft Tressidors zu Besuch.«

»Wie schade. Bestimmt würde sich jeder geehrt fühlen, der hierher eingeladen würde.«

»Wir geben heutzutage kaum noch Gesellschaften, nicht wahr, Jago? Wir haben genug damit zu tun, unser Dach über dem Kopf zu erhalten, und das, Miss Tressidor, droht einzustürzen.«

Ich sah erschrocken nach oben.

»Nein, nicht sofort. Ein bißchen wird’s noch dauern. Ein paar Vorwarnungen hat es schon gegeben. Was hast du Miss Tressidor bis jetzt gezeigt?«

Jago erklärte es ihm.

»Es gibt noch mehr zu sehen. Ich mach dir einen Vorschlag. Bring Miss Tressidor in einer halben Stunde in mein Vorzimmer. Wir wollen sie zur Feier der Gelegenheit, da eine Tressidor auf Landower weilt, mit Tee bewirten.«

Jago stimmte zu, und Paul ließ uns allein.

»Es muß sehr schlimm stehen, wenn er so redet«, sagte Jago.

»Normalerweise ist er sehr zurückhaltend, was unsere Schwierigkeiten betrifft.« Er zuckte die Achseln. »Ach, es hat keinen Sinn, immer wieder von was anzufangen, das nicht zu ändern ist. Kommen Sie.«

Es gab so viel zu sehen. Die Galerie mit weiteren Porträts, das Paradeschlafzimmer, das von Zeit zu Zeit von Mitgliedern des Königshauses bewohnt worden war; das Gewirr von Schlafräumen, Vorzimmern und Fluren. Ich blickte durch die Fenster über den schönen Park oder auf Innenhöfe mit grotesken Wasserspeiern oberhalb der Mauern.

Zur verabredeten Zeit gelangten wir in ein Vorzimmer, das, wie ich annahm, in Pauls Schlafzimmer führte. Es war ein kleiner Raum mit einem Fenster, das auf einen Innenhof hinausging. Auf einem Tischchen stand ein Tablett mit allem, was zum Tee nötig war.

Paul erhob sich, als ich eintrat. »Ah, da sind Sie ja, Miss Tressidor. Haben Sie immer noch so eine hohe Meinung von Landower Hall?«

»Ich hatte noch nie die Ehre, in so einem wunderbaren Haus zu sein«, rief ich spontan aus.

»Sie schmeicheln uns, Miss Tressidor. Um so mehr, als Sie von Tressidor Manor kommen.«

»Tressidor Manor ist wunderschön, aber es hat nicht diese Pracht ... diese Großzügigkeit.«

»Sie sind zu gütig! Ob Miss Mary Tressidor Ihnen da wohl zustimmen würde?«

»Aber gewiß. Sie sagt stets, was sie meint, und niemand könnte bestreiten, daß eine gewisse ... diese …«

»Überlegenheit?«

Ich zögerte. »Die Häuser sind so verschieden.«

»Ah, Sie stehen treu zu Cousine Mary. Nun ja, Vergleiche sind abwegig. Es genügt, daß Sie unser Haus bewundern. Ein Segen, daß Sie gekommen sind ... noch rechtzeitig.«

Ich dachte: Diese Tragödie läßt ihn nicht los. Er tat mir leid, viel mehr als Jago.

Er lächelte mich an. Seine Miene, die mir zuvor ein wenig verhärtet erschienen war, hellte sich auf. »Miss Tressidor, würden Sie uns die Ehre erweisen, den Tee einzuschenken? Diese Aufgabe sollte man stets den Damen überlassen.«

»Sehr gern.« Ich setzte mich an den Teetisch, nahm die schwere silberne Teekanne und schenkte den Tee in die wunderhübschen Porzellantassen. »Milch? Zucker?« fragte ich und kam mir dabei sehr erwachsen vor.

Paul bestritt den größten Teil der Unterhaltung. Jago war in Gesellschaft seines Bruders stiller als sonst. Paul fragte mich, wie es mir in Cornwall gefiel, und erkundigte sich nach meinem Heim in London und auf dem Land. Ich plauderte lebhaft wie immer; nur als ich von meinem Vater sprach, wurde ich zurückhaltender. Er war mir immer wie ein Fremder gewesen, und jetzt um so mehr. Ich war überrascht, wie schnell Paul Landower das spürte. Er wechselte diskret das Thema.

Mir ging diese Begegnung noch lange nach. Es war natürlich aufregend, in dem alten Haus zu sein, aber gleichzeitig stimmte es mich traurig, zu sehen, wie die Familie angesichts des drohenden Verlustes litt. Ich fühlte mich in Gegenwart von Paul Landower ausgesprochen wohl. Es freute mich, daß er Jago und mich im Haus angetroffen hatte und mich wie einen Gast behandelte.

Er war ganz anders als Jago. Jago war für mich noch ein richtiger Junge. Paul dagegen war ein Mann. Seine Nähe erregte mich. Ich hätte ihm so gern geholfen!

Über den Hader zwischen unseren Familien sprach er auf dieselbe Art wie Cousine Mary.

»Ich habe nicht den Eindruck, daß wir uns sehr gram sind«, sagte ich. »Hier sitze ich, ein Mitglied der einen Familie, und plaudere aufs angenehmeste mit Mitgliedern der anderen.«

Jago meinte auch, so etwas komme heutzutage doch nicht mehr vor; dazu seien die Leute viel zu vernünftig.

»Das hat nichts mit Vernunft zu tun«, behauptete Paul. »Dergleichen legt sich ganz von selbst. Aber in alten Zeiten muß es ziemlich grimmig zugegangen sein. Die Tressidors und die Landowers wetteiferten um die Vorherrschaft. Wir bezeichneten die Tressidors als Aufsteiger. Sie sagten, wir erfüllten unsere Verpflichtungen in der Nachbarschaft nicht. Wahrscheinlich hatten beide recht. Aber die respektable Lady Mary ist viel zu klug, um sich auf einen Streit einzulassen. Und wir in unserem desolaten Zustand können ihn uns auch nicht leisten.«

»Sie werden bestimmt einen Ausweg aus Ihren Schwierigkeiten finden«, sagte ich.

»Meinen Sie wirklich, Miss Tressidor?«

»Aber sicher.«

Er hob seine Tasse. »Darauf trinke ich.«

»Ich hab das Gefühl«, überlegte Jago laut, »daß sich kein Käufer findet.«

»Oh ... aber es ist doch so wundervoll«, rief ich.

»Man müßte ein Vermögen hineinstecken«, erwiderte Jago. »Damit tröste ich mich immer. Wer wieder Leben in die wankende alte Ruine hauchen wollte, müßte unermeßlich reich sein.«

»Ich hab das bestimmte Gefühl, daß alles gut wird«, wiederholte ich.

Ich erhob mich nur zögernd zum Gehen. Es war ein aufregender Nachmittag gewesen.

»Sie müssen wiederkommen«, bat Paul.

»Liebend gern.«

Paul ergriff meine Hand und hielt sie lange fest. Dann sah er mir ins Gesicht. »Ich fürchte, wir haben Sie mit unseren Problemen belastet.«

»Nein, nein ... wirklich nicht. Ich fühle mich eher geschmeichelt ... weil Sie mich ins Vertrauen gezogen haben.«

»Nein, es war unverzeihlich. Wir sind sehr schlechte Gastgeber. Nächstes Mal machen wir es besser.«

»Nein, nein«, beharrte ich. »Ich verstehe Sie, wirklich.«

Er drückte mir innig die Hand, und mir wurde warm ums Herz. Einem Menschen wie Paul war ich noch nie begegnet. Seine Gegenwart und die Pracht des Hauses hatten mir einen der aufregendsten Nachmittage meines Lebens beschert.

Ich war jung und leicht zu beeindrucken und fand, Paul Landower war die interessanteste Persönlichkeit, der ich je begegnet war; ich war schrecklich aufgeregt bei der Aussicht, ihn wiederzusehen.

Jago meinte auf dem Heimritt: »Paul war ganz anders als sonst. Normalerweise ist er sehr zurückhaltend. Ich war erstaunt, wieviel er geredet hat ... mit Ihnen ... über das Haus und so. Komisch. Sie müssen Eindruck auf ihn gemacht haben. Sie haben wohl die richtigen Dinge zur richtigen Zeit gesagt.«

»Ich habe nur gesagt, was ich dachte.«

»Gewöhnlich ist er nicht so entgegenkommend.«

»Hm, dann habe ich wohl wirklich einen guten Eindruck gemacht.«

Zu Hause angekommen, mußte ich Cousine Mary unbedingt erzählen, wo ich gewesen war. Ich fand sie im Wohnzimmer. Aber sie machte ein ziemlich bedrücktes Gesicht.

Ich platzte heraus: »Rate mal, wo ich gewesen bin. Jago hat mir das Haus der Landowers gezeigt, und ich hab Paul wiedergesehen.

Er war sehr freundlich, und wir haben Tee zusammen getrunken.« Ich hatte erwartet, daß sie staunen würde. Aber sie saß nur da und starrte mich an: »Ich habe leider Nachricht aus London, Caroline. Einen Brief von deinem Vater. Du mußt zurück. Miss Bell kommt dich nächste Woche abholen.«

Ich war tief betrübt. Jetzt war es vorbei mit meiner Freiheit. Ich hatte Cousine Mary liebgewonnen; ich wollte Jamie McGill weiter besuchen und mehr über ihn, seine Bienen und seinen garstigen Bruder Donald erfahren. Vor allem aber wollte ich die Freundschaft mit den Landowers vertiefen.

Ich hatte Jago gern, aber seit dem Nachmittag mit Paul war etwas mit mir geschehen. Zwar hatte ich nach der Begegnung im Zug hin und wieder an ihn gedacht, aber das Zusammentreffen in dem faszinierenden Haus hatte mich ganz durcheinandergebracht. Wie konnte jemand, den man kaum kannte, einen so tiefen Eindruck hinterlassen?

Ich war verwirrt. Er besaß eine gewisse Anziehungskraft, die noch kein anderer Mensch auf mich ausgeübt hatte. Er war nicht hübsch im herkömmlichen Sinne. Er sah aus, als neige er zur Melancholie, aber das lag vielleicht an seiner verzweifelten Situation. Seine Tragödie war mir bewußt, ich verstand, wie er unter dem drohenden Verlust seines Erbes litt, und wollte ihm so gern helfen. Es ging ihm viel näher als Jago. Jago war von Natur aus unbekümmerter, vielleicht auch stabiler. Ich fragte mich, was der Vater der beiden wohl im Moment durchmachte.

Aber warum ließ ich mein Leben von ihrem Mißgeschick beeinflussen? Ich kannte sie kaum und doch ... Man mußte eine Lösung finden.

Ich war voll Mitgefühl mit Jago, aber meine Empfindungen für Paul waren anderer Art. Ich wurde rasch erwachsen. Es hatte an dem Tag begonnen, als ich die Jubiläumsparade von Captain Carmichaels Fenster aus beobachtet hatte.

Ich wußte jetzt, daß er und meine Mutter ein Liebespaar waren, daß mein Vater es entdeckt und daß ich sie gewissermaßen verraten hatte. Er mußte sie bereits verdächtigt haben, ich hatte lediglich den endgültigen Beweis geliefert. Inzwischen war mir das klargeworden. Deswegen konnte er meinen Anblick nicht ertragen. Ich war der Unglücksbote gewesen. Ich hatte ihn gezwungen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, und aus diesem Grund wollte er mich aus den Augen haben.

Ja, ich wurde erwachsen, und das machte mich empfänglicher für bestimmte Gefühle.

Ich wollte allein sein, um nachzudenken.

Auch Cousine Mary war traurig. Sie hatte mich gern bei sich gehabt. Mir war der Gedanke gekommen, daß sie bereit war, Tressidor Manor zu meinem Heim zu machen. Ich hätte nichts dagegen gehabt, denn mir war unterdessen klargeworden, daß das, was ich so lange für mein »Heim« gehalten hatte, nie ein richtiges Zuhause war, sofern man darunter Liebe und Geborgenheit verstand, die ein Kind benötigte. Erst bei Cousine Mary hatte ich das gefunden.

Sie sagte: »Aber du mußt wiederkommen, Caroline.« Sie wollte es nicht zeigen, aber ich sah ihr an, daß sie bekümmert war.

Ich wollte mit keinem Menschen reden, wollte allein sein. Ich sattelte meine Stute und ritt zum Moor. Ich galoppierte über das Gras, an riesigen Felsbrocken und plätschernden Bächen vorbei. Dann band ich mein Pferd an und streckte mich im Gras aus. Nächste Woche um diese Zeit bin ich nicht mehr hier, dachte ich.

Jago fand mich dort. Er hatte von einer Frau in einer Hütte am Rande des Moors, die gerade draußen ihre Wäsche aufhängte und mich vorüberreiten sah, gehört, welche Richtung ich eingeschlagen hatte. Er war eine halbe Stunde herumgeritten und hatte mich gesucht.

Er setzte sich neben mich.

»Ich reise ab«, sagte ich. »Nächste Woche muß ich zurück nach London. Meine Gouvernante kommt mich abholen. Mein Vater will, daß ich zurückkomme.«

Er pflückte einen Grashalm ab und kaute darauf herum.

»Ich wollte, Sie würden hierbleiben«, murmelte er.

»Was glauben Sie wohl, was ich will?«

»Sie sind gern hier, nicht wahr?«

»Ich möchte bleiben. Es gibt soviel zu …«

»Ich dachte, auf dem Land tut sich nicht viel, und aufregend ist es nur in London.«

»Für mich nicht.«

»Kommen Sie mit zu uns. Paul hat Sie ins Herz geschlossen. Er meint, Sie konnten nicht bei einem einzigen Besuch das ganze Haus besichtigen.«

»Ich würde sehr gern kommen, aber …«

»Es wird uns nicht mehr lange gehören, das steht so gut wie fest.«

»Ihrem Bruder fällt bestimmt was ein, um es zu behalten.«

»Das hab ich auch immer gesagt, aber ich wüßte nicht, wie. Paul ist es gewöhnt, sich durchzusetzen, aber diesmal ist es etwas anderes. Der Verkauf ist beschlossene Sache. Fragt sich nur, ob sich jemand findet, der es sich leisten kann.«

»Wenn Sie verkaufen, sind Sie reich.«

»Reich ... ohne Landower Hall.«

»Aber dann sind die Schulden beglichen, und Sie können von vorn anfangen.«

»Mit einem Bauernhof ... auf dem Grund und Boden, der einst uns gehörte!«

»Es ist wirklich traurig.«

»Und Sie reden davon, wegzugehen. Lassen Sie sich doch nicht einfach so herumkommandieren.«

»Was kann ich denn tun?«

»Weglaufen. Sich verstecken ... bis die alte Gouvernante verzweifelt ohne Sie nach London zurückfährt.«

»Wie?«

»Ich verstecke Sie.«

»Wo? Vielleicht in einem Verlies in Landower Hall?«

»Hört sich verlockend an. Ich bring Ihnen täglich was zu essen, zweimal, dreimal täglich. Dort gibt es gar nicht viele Ratten.«

»Bloß ein paar, wie?«

»Ich würde dafür sorgen, daß es Ihnen an nichts fehlt. Sie könnten auch in das Bauernhaus gehen, das demnächst unser Heim wird. Keiner würde auf die Idee kommen, Sie dort zu suchen. Sie könnten sich als Junge verkleiden.«

»Und dann zur See fahren?« fragte ich ironisch.

»Nein, bewahre. Dann könnten Sie auch gleich nach London gehen. Der Sinn der Sache ist doch, daß Sie hierbleiben.«

Jago entwickelte immer neue wilde, absurde Pläne für meine Flucht. Es tröstete mich, ihm zuzuhören, auch wenn ich nichts ernst nehmen konnte.

Schließlich erhob ich mich zögernd. Ich hatte allein sein wollen, um nachzudenken, aber ich war froh, daß er mich gefunden hatte, denn er hatte mich mit seinen spaßigen Plänen zum Lachen gebracht und von meinem Unglück abgelenkt. Daß es Menschen gab, die wünschten, daß ich blieb, linderte den Kummer über meine bevorstehende Abreise ein wenig. Ich war froh, daß ich so viele Freunde hatte, Jago, Cousine Mary, Jamie McGill. Er hatte mir sogleich erzählt, daß die Bienen bekümmert gesummt hätten und traurig seien, weil ich das Pförtnerhaus nun nicht mehr besuchen würde. Auch Jago war richtig bedrückt, und ich fragte mich, ob es Paul wohl ebensoviel ausmachen würde.

Es war ein Glück, daß Jago mich gefunden hatte, denn auf dem Heimweg merkte ich, daß etwas nicht stimmte. Jago begutachtete meine Stute und sagte: »Sie hat ein Hufeisen verloren. Das muß auf der Stelle gerichtet werden. Kommen Sie. Wir sind nicht weit von Avonleigh. Dort ist eine Schmiede.«

Ich stieg ab, und wir führten unsere Pferde die Viertelmeile bis ins Dorf. Wir gingen sogleich zum Hufschmied, der gerade bei der Arbeit war. Er blickte interessiert zu uns auf.

In der Luft hing der nicht unangenehme Geruch von verbranntem Horn.

»Guten Tag, Jem«, grüßte Jago.

»Na, wenn das nicht Mr. Jago is’. Was kann ich für Sie tun? Tag, Miss.«

»Das Pferd der Dame hat ein Hufeisen verloren«, sagte Jago.

»So? Und wo ist das Tier?«

»Hier«, sagte Jago. »Wie rasch kannst du es beschlagen, Jem?«

»Sobald ich mit diesem hier fertig bin. Gehn Sie doch solange mit der Dame ins Trelawny Arms. Die haben einen besonders guten Apfelmost ... eigene Herstellung. Kann ich sehr empfehlen. Trinken Sie was, und kommen Sie dann wieder. Dann hab ich die kleine Stute wahrscheinlich fertig.«

»Das ist wohl das beste«, meinte Jago. »Wir lassen beide Pferde hier, Jem.«

»Ist gut, Mr. Jago.«

»Kommen Sie«, wandte sich Jago an mich. »Gehen wir ins Trelawny Arms. Jem hat recht, dort gibt es einen guten Apfelmost.«

Es war ein kleiner Gasthof, kaum hundert Schritte von der Schmiede entfernt. Das Wirtshausschild knarrte im leichten Wind. Es stellte Bischof Trelawny dar.

Eine Frau, die ich für die Wirtin hielt, kam, um mit uns zu plaudern. Sie kannte Jago und redete ihn mit seinem Namen an. Er stellte mich ihr vor.

Die Wirtin machte große Augen. »Ah, dann ist das wohl die junge Dame von Tressidor Manor, die hier zu Besuch ist. Wie rinden Sie Cornwall, Miss Tressidor?«

»Es gefällt mir sehr gut.«

»Ihr Pferd hat ein Hufeisen verloren«, erklärte Jago, »und wir müssen ein Weilchen warten, bis Jem es beschlagen hat. Da dachten wir, wir kommen mal vorbei und kosten Ihren Apfelmost. Jem hat ihn uns empfohlen.«

»Der beste im ganzen Herzogtum, sagt er immer. Und wenn’s auch mein eigener ist, ich muß ihm recht geben.«

»Ich auch. Aber Miss Tressidor möchte ihn kosten, Maisie.«

»Sofort, Mr. Jago.«

Wir setzten uns an einen Ecktisch. Ich betrachtete die Stube mit den kleinen bleigefaßten Fenstern und schweren Eichenbalken. Rund um den offenen Kamin hingen Pferdegeschirre. Es war eine typische Gaststube. Schätzungsweise war sie gut zweihundert Jahre alt.

Maisie brachte den Apfelmost.

»Habt ihr viel zu tun?« fragte Jago.

»Wir haben zwei Gäste – Vater und Tochter. Sie bleiben ein, zwei Tage. Das gibt uns was zu tun.« Sie lächelte mich an. »Wir rechnen kaum mit Dauergästen. Die meisten Leute steigen in der Stadt ab. Wir sind zu nahe an Liskeard. Die Zeiten haben sich geändert! Ist bloß noch ein ständiges Ein und Aus.«

Dann ließ sie uns allein, und wir kosteten den Apfelmost.

»Wir brauchen uns nicht zu beeilen«, sagte Jago. »Der alte Jem wird noch ein Weilchen brauchen. Denken Sie nur ... vielleicht kommen wir nie wieder hierher. Deshalb wollen wir’s genießen.«

»Ich mag gar nicht daran denken. Fast hatte ich vergessen, daß ich bald fort muß.«

»Wir müssen uns was einfallen lassen«, sagte Jago.

In diesem Augenblick kamen die Gäste in die Stube – ein Mann mit einer jungen Frau, eindeutig Vater und Tochter. Beide hatten dieselben rotblonden Haare, lebhafte helle Augen und spärliche Brauen. Das Mädchen mochte etwa ein Jahr älter gewesen sein als Jago. Sie bückte sich in der Stube um. Als sie uns sah, leuchteten ihre Augen interessiert auf.

»Schönen guten Tag«, sagte der Mann. Er hatte einen Akzent, der mir fremd war, aber immerhin merkte ich, daß er nicht aus dieser Gegend stammte.

Wir erwiderten seinen Gruß, und er fuhr fort: »Schmeckt der Apfelmost?«

»Ausgezeichnet«, erwiderte Jago.

»Dann nehmen wir auch einen. Gwennie, geh und bestell ihn.«

Das Mädchen gehorchte, und der Mann meinte: »Sie haben hoffentlich nichts dagegen, daß wir uns zu Ihnen setzen.«

»Natürlich nicht«, sagte Jago.

»Wir sind hier abgestiegen«, erklärte der Mann

»Für länger?« fragte Jago.

»Bloß für ein paar Tage. Kommt darauf an, ob das, was wir besichtigen werden, unseren Wünschen entspricht.«

Das Mädchen kam zurück. »Wird gleich gebracht, Pa.«

»Ah«, sagte er, »fein. Ich bin wie ausgedörrt.«

Maisie brachte den Apfelmost. »Schmeckt er Ihnen, Sir?« fragte sie Jago, und er erwiderte, daß wir ihn beide ausgezeichnet fänden.

»Rufen Sie nur, wenn Sie mehr wünschen.«

»Wird gemacht«, sagte Jago.

Maisie ging hinaus. Jago grinste den Mann an. »Könnte ein bißchen stark sein«, meinte er.

»Schon, aber das Zeug ist gut. Leben Sie in dieser Gegend?«

»Ja.«

»Kennen Sie ein Haus namens Landower Hall?«

Ich machte den Mund auf, aber Jago warf mir einen warnenden Blick zu.

»Allerdings«, sagte er. »Es ist das größte Haus weit und breit.« Er sah mich verschmitzt an. »Einige Leute behaupten jedoch, daß Tressidor Manor schöner ist.«

»Aber das steht nicht zum Verkauf«, sagte das Mädchen.

Jagos Miene nahm für einen Augenblick einen bestürzten Ausdruck an. Dann meinte er munter: »Sie interessieren sich also für Landower Hall?«

»Tja«, erwiderte der Herr lachend, »deswegen bin ich nämlich hier.«

»Sie meinen, Sie wollen das Haus kaufen?«

»Nun ja, das hängt natürlich davon ab, ob ... Es muß für uns geeignet sein.«

»Soviel ich weiß, wird ein sehr hoher Preis verlangt.«

»Auf die Moneten kommt’s nicht an, wenn wir was Passendes finden.«

»Sie sind aus dem Norden, nicht wahr?«

»Stimmt, und wir wollen uns im Süden niederlassen. Ich hab zwar noch Geschäfte da oben, aber um die können andere sich kümmern. Ich stell mir mein Leben anders vor. Ich möchte Gutsherr von irgend ’nem verschlafenen Anwesen mitten auf dem Land werden ... weg von allem Trubel.«

»Macht es Ihnen denn nichts aus, von Ihrer Heimat wegzuziehen?« wollte ich wissen.

»Kann’s gar nicht mehr erwarten. Mein Anwalt meint, das hier könnte genau das richtige für uns sein. Was ich mir immer gewünscht habe. Herrschaftlicher Besitz ... alt, irgendwo verwurzelt. Ehrwürdig, Sie verstehen schon. Und da Mrs. Arkwright nun tot ist – das war meine Frau –, wollten wir weg, nicht wahr, Gwennie?« Das Mädchen nickte. »Wir haben uns oft drüber unterhalten; Gwennie wird die Hausherrin, ich werde der Gutsherr. Das Klima ist hier milder als dort, wo wir herkommen. Ich hab’s nämlich auf der Brust. Der Arzt hat mir zu einem Klimawechsel geraten. Das hier scheint genau das richtige zu sein.«

»Haben Sie das Haus schon gesehen?« fragte ich.

»Nein, wir wollen es morgen besichtigen.«

»Wir sind so aufgeregt«, sagte Gwennie. »Ich mach heute nacht bestimmt kein Auge zu, weil ich immer daran denken muß.«

»Sie mögen alte Häuser, nicht wahr, Miss – hm – Arkwright?« fragte Jago.

»O ja. Ich finde alte Häuser wunderbar ... wie sie jahrelang dem Wetter getrotzt haben. Ich muß an all die Menschen denken, die dort gelebt haben. An die Dinge, die sie getan haben. Ich möchte alles über sie erfahren.«

»Du wolltest schon immer wissen, was mit den Menschen los ist, Gwennie«, sagte Mr. Arkwright nachsichtig. »Du weißt ja, was Mutter immer gesagt hat. Du steckst in alles deine Nase rein. ›Sei nicht so neugierig‹, hat sie immer gesagt.«

Beide lächelten ein wenig wehmütig im Gedenken an die Mutter.

»Ich habe gehört, daß das Haus die Witterung nicht eben gut überstanden hat«, sagte Jago.

Ich gab meinen Kommentar dazu. »Ich hab gehört, daß eine Menge Reparaturen vonnöten sind ... eine vollständige Renovierung sozusagen.«

»Ach, damit muß ich rechnen«, meinte Mr. Arkwright. »John Arkwright läßt sich von niemandem Sand in die Augen streuen. Meine Anwälte kennen sich aus. Sie schätzen, was getan werden muß, das wird alles mit berücksichtigt.«

»So, das haben Sie also bereits in Erwägung gezogen«, sagte Jago in leicht kläglichem Ton.

»Ich hab gehört, das Haus ist schön ziemlich baufällig«, erklärte ich.

»Ach was ... so schlimm wird’s schon nicht sein«, warf Mr. Arkwright ein. »Man muß ’n paar Moneten reinstecken, weiter nichts.«

»Und das macht Ihnen nichts aus?« fragte Jago ungläubig.

»Nicht bei so einem Haus. Wurzeln in der Vergangenheit. Ich hab mir immer gewünscht, so was zu besitzen.«

»Aber es sind nicht Ihre Wurzeln«, gab ich zu bedenken.

»Ach, da muß man ein bißchen mauscheln, ’n bißchen aufpfropfen sozusagen.« Er lachte über seinen Scherz, und Gwennie stimmte ein.

»Du bist mir einer, Pa«, sagte sie.

»Na ja, ist doch wahr. Ich werde Gutsherr. Das haben wir immer gewollt. Gefällt dir der Gedanke etwa nicht, Gwennie?«

Gwennie bestätigte, sie habe das Gefühl, nach allem, was sie über das Haus gehört hätte, sei es genau das, was sie suchten. »Es hat eine Halle mit einer Musikantengalerie«, fügte sie hinzu.

»Wir werden dort Bälle veranstalten, Gwennie, verlaß dich drauf.«

»Oh.« Sie verdrehte verzückt die Augen. »Das wird …« Sie suchte nach dem richtigen Wort. »Das wird famos ... richtig famos.«

»Hoffentlich haben Sie keine Angst vor Gespenstern«, meinte Jago.

»Gespenster?!« kreischte Gwennie in einem Ton, der verriet, daß sie sich allerdings davor fürchtete.

»In alten Häusern gibt es immer Gespenster«, fuhr Jago fort.

»Und sie treiben es besonders bunt, wenn neue Leute einziehen. All die Ahnen der Landowers …«

Mr. Arkwright sah Gwennie besorgt an »Laß gut sein, Gwen. Du glaubst doch wohl nicht an so einen Unsinn, oder? Und wenn’s tatsächlich ein paar Gespenster gibt ... nun ja, dafür zahlen wir schließlich unser gutes Geld. Die tun uns nichts. Die sind heilfroh, daß wir gekommen sind, um ihr Heim zu retten.«

»So kann man es auch sehen«, sagte Gwennie mit einem kaum merklichen Lächeln. »Das ist typisch Papa.«

»Klar, man muß es vernünftig betrachten. Außerdem geben Gespenster einem alten Haus ein bißchen Flair.«

Gwennie lächelte immer noch unschlüssig.

»Es ist bestimmt das richtige für uns«, meinte Mr. Arkwright zuversichtlich. »Wetten, unsere Suche ist bald zu Ende.«

Jago erhob sich. »Wir müssen zurück zur Schmiede. Eins von unseren Pferden hat ein Hufeisen verloren. Wir sind nur hier hereingekommen, um während der Wartezeit den Apfelmost zu kosten.«

»War nett, sich mit Ihnen zu unterhalten«, sagte Mr. Arkwright.

»Sie sind hier aus der Gegend, nicht?«

»Stimmt.«

»Kennen Sie das Haus gut?«

»Einigermaßen.«

»Ist doch alles Quatsch, das mit den Gespenstern und so.«

Jago legte den Kopf schief und zuckte die Achseln. »Viel Glück«, sagte er nur. »Guten Tag.«

Wir traten ins Freie und machten uns auf den Weg zur Schmiede.

»Können Sie sich die auf Landower vorstellen?« fragte ich.

»Ich mag gar nicht daran denken.«

»Ich glaube, Sie haben Gwennie erschreckt.«

»Hoffentlich.«

»Meinen Sie, daß es etwas nützt?«

»Ich weiß nicht. Wenn er das Haus erst sieht, will er’s bestimmt haben. Er hat die ›Moneten‹, wie er es ausdrückt, und er hat seinen Anwalt, da wird es eine harte Verhandlung werden.«

»Ich setze meine ganze Hoffnung auf Gwennie. Sie haben ihr mit den Gespenstern richtig angst gemacht.«

»Den Eindruck hatte ich auch.«

Lachend legten wir den Rest des Weges zur Schmiede im Laufschritt zurück.

Ich hatte mich für nachmittags mit Jago verabredet. Er wirkte aufgeregt, und ich vermutete, er hatte wieder so einen irrwitzigen Plan im Sinn und wollte mit mir darüber reden. Ich hatte recht.

»Kommen Sie mit zu uns«, bat er. »Ich hab eine Idee.«

Wir stellten unsere Pferde im Stall unter und gingen ins Haus. Er führte mich zu einem Nebeneingang, und durch ein Labyrinth von Korridoren kamen wir zu einer Wendeltreppe mit einem Seil als Geländer.

»Wo sind wir hier?« fragte ich im Hinaufsteigen.

»Dieser Teil des Hauses wird kaum benutzt. Die Treppe führt direkt auf den Dachboden.«

»Zu den Dienstbotenkammern?«

»Nein. Zum Dachboden, der als Abstellraum dient. Ich hatte gedacht, daß dort etwas Wertvolles verstaut sein könnte ... irgendwas, das unser Vermögen gerettet hätte. Ein alter Meister, ein kostbares Schmuckstück ... was irgendwann mal versteckt wurde, vielleicht während des Bürgerkriegs.«

»Sie standen erst auf seiten des Parlaments«, erinnerte ich ihn, »und haben dann alles gerettet, indem Sie auf die andere Seite wechselten.«

»Aber erst, als sie siegreich war.«

»Das war alles andere als rechtschaffen, also seien Sie nicht so selbstgefällig.«

»Nicht rechtschaffen ... aber klug.«

»Ich glaube, Sie sind ein Zyniker.«

»Man muß hart sein auf dieser Welt. Was wir auch taten, wir haben Landower gerettet. Ich würde alles tun, um Landower zu retten; meine Familie hat es durch die Jahrhunderte so gehalten. Aber lassen wir das jetzt. Ich zeig Ihnen, worauf ich hinauswill.«

»Haben Sie tatsächlich etwas gefunden?«

»Ich bin noch nicht auf ein Meisterwerk gestoßen ... ein kostbares Schmuckstück oder wertvolles Gemälde oder dergleichen. Aber Gottes Wege sind geheimnisvoll, und ich glaube, er hat meine Gebete erhört.«

»Wie aufregend. Aber Sie sind genauso undurchschaubar wie Gott und spannen mich richtig auf die Folter.«

»Hilf dir selbst, so hilft dir Gott«, fuhr er in frommem Tonfall fort. »Kommen Sie.«

Es war ein langgestreckter Dachboden. An einem Ende reichte das Dach fast bis auf die Erde. Am anderen Ende ließ ein kleines Fenster ein wenig Licht ein.

»Es ist unheimlich hier oben.« Mich fröstelte.

»Ich weiß. Man denkt an Gespenster. Die guten Gespenster, ich glaube, sie kommen uns zu Hilfe. Die Urahnen erheben sich zornig bei dem Gedanken, daß Landower in fremde Hände übergeht.«

»Nun zeigen Sie mir schon Ihre Entdeckung.«

»Kommen Sie hier herüber.« Er öffnete eine Truhe. Es verschlug mir den Atem. Die Truhe war vollgestopft mit Kleidern.

»Da!« Er zog ein pelzbesetztes Kleid aus grünem Samt hervor.

Ich nahm es in die Hände. »Wie hübsch.«

»Warten Sie«, fuhr er fort. »Das ist noch gar nichts. Wie finden Sie das hier?«

Er zog ein Kleid mit weiten, geschlitzten Ärmeln heraus. Der grüne Samt war an einigen Stellen stark verblaßt. Doch die Spitze am Kragen war gewiß einmal sehr kostbar gewesen. Der doppelt gelegte Rock sprang vorne auf, und darunter kam ein Brokatrock mit feiner Stickerei zum Vorschein, die zum Teil abgeschabt war. Das Gewand roch ein wenig muffig. Es ähnelte dem Kleid, das eine Tressidor-Ahnin auf ihrem Porträt in der Galerie trug, und ich schätzte, daß es aus der Mitte des 17. Jahrhunderts stammte.

Es war ein wunderlicher Gedanke, daß das Kleid die ganze Zeit in der Truhe gelegen hatte.

»Sehen Sie!« rief Jago. Er hatte seinen Rock ausgezogen und war in ein Wams geschlüpft. Es lag eng an, es war aus dunkelviolettem Samt, mit Spitzen und Borten besetzt und war seinerzeit gewiß sehr prachtvoll gewesen. Die Borten hatten sich zum Teil gelöst, und der Samt war an mehreren Stellen arg verblaßt. Jago holte noch einen Umhang aus rotem Plüsch hervor, den er sich über die Schultern warf.

»Was halten Sie davon?« fragte er.

Ich brach in Lachen aus. »Ich fürchte, man würde Sie nie mit Sir Walter Raleigh verwechseln. Aber ich glaube, wenn wir draußen im Schlamm wären, würden Sie Ihren Umhang ausbreiten, damit ich darüber schreiten könnte.«

Er ergriff meine Hand und küßte sie. »Mein Mantel stünde Ihnen zu Diensten, werte Dame. «Ich lachte, und er fuhr fort: »Schauen Sie, diese Kniehosen und Schuhe. Darin sähe ich wie ein richtiger elisabethanischer Junker aus. Ein Hütchen mit Feder ist auch dabei.«

»Großartig!« rief ich.

»Sie in dem Kleid und ich in dem Wams und den Kniehosen ... na, was würden wir wohl für einen Eindruck machen?«

»Die Sachen stammen aus verschiedenen Epochen.«

»Was macht das schon? Das würde doch keiner merken. Ich dachte, im Schatten ... auf der Musikantengalerie könnten wir ein feines Gespensterpaar abgeben.«

Ich starrte ihn an. Langsam dämmerte es mir. Natürlich, die Arkwrights wollten ja heute nachmittag das Haus besichtigen.

»Jago«, sagte ich, »was haben Sie sich jetzt wieder ausgedacht?«

»Ich will diese Leute davon abbringen, unser Haus zu kaufen.«

»Sie meinen, Sie wollen Sie abschrecken?«

»Die Gespenster werden sie erschrecken«, sagte er. »Sie und ich, wir geben ein prima Gespensterpaar ab. Ich hab’ mir alles genau überlegt. Die stehen in der Halle. Sie und ich sind im Schatten auf der Musikantengalerie. Wir erscheinen, und dann ... verschwinden wir wieder. Aber nicht, bevor Gwennie Arkwright uns gesehen hat. Sie bekommt es dermaßen mit der Angst, daß Mister A. trotz all seiner Moneten ihrem Flehen nachgeben muß.«

Ich lachte. Das war typisch Jago.

»In Phantasie verdienen Sie eine Eins«, sagte ich.

»In Strategie auch. Es kann nicht schiefgehen, aber ich brauche Ihre Hilfe.«

»Mir gefällt das nicht. Ich glaube, das Mädchen bekommt einen zu großen Schrecken.«

»Natürlich. Das ist ja der Zweck der Übung. Sie wird darauf bestehen, daß Pa das Haus nicht kauft, und dann gehen sie woandershin. «

»Dadurch wird die Sache doch bloß aufgeschoben. Oder wollen Sie, daß wir vor dem nächsten eventuellen Käufer unsere kleine Gespenstermaskerade wieder aufführen? Vergessen Sie nicht, daß ich dann nicht mehr hier bin, um Ihnen zu helfen.«

»Bis dahin hab ich etwas wirklich Wertvolles auf dem Dachboden gefunden. Ich brauche nur Zeit, das ist alles. Außerdem denke ich mir was aus, um Sie hierzubehalten.«

»Ich fürchte, Miss Bell werden Sie nicht mit Gespenstern abschrecken können.«

»Meine liebe Caroline, mir schwirren so viele Ideen im Kopf herum. Mir wird schon was einfallen. Wir haben noch Zeit. Jetzt müssen wir uns zuerst einmal die Arkwrights vornehmen. Sie helfen mir doch, nicht wahr?«

»Würde ein Gespenst nicht genügen?«

»Doppelt genäht hält besser. Ein männliches Gespenst und ein weibliches. Seien Sie kein Spielverderber, Caroline. Ziehen Sie das Kleid an. Mal sehen, wie es Ihnen steht.«

Mir blieb nichts anderes übrig, als mitzumachen. Das Kleid war mir zwar zu groß, aber ich sah sehr beeindruckend darin aus. Auf dem Dachboden war ein alter fleckiger Spiegel, in dem wir uns verschwommen sehen konnten. Wir wirkten wahrhaftig wie zwei Gespenster.

Lachend tobten wir herum. Plötzlich aber dachte ich ernüchtert, wie wir uns nur so fröhlich gebärden konnten, während das Unheil wie ein Damoklesschwert über unseren Köpfen hing. Jago sollte sein Heim verlieren, und ich sollte bald aus einem aufregenden neuen Leben in den faden Alltag zurückkehren. Und doch gab es Augenblicke reinster Freude. Ich war Jago dankbar, daß er mich das für kurze Zeit vergessen ließ.

Ich sagte: »Ich helfe Ihnen.«

»Wir brauchen nichts weiter zu tun, als uns hier hinzustellen. Wir müssen Gwennie möglichst allein erwischen, vielleicht während ihr Pa die Täfelung begutachtet und überlegt, wieviel er ausgeben muß, um sie in Ordnung zu bringen. Dann bewegt sich was auf der Galerie. Gwennie sieht hoch, und da stehen zwei Gestalten aus der Vergangenheit und starren zu ihr hinunter. Vielleicht schütteln wir mißbilligend die Köpfe ... warnend ... drohend ... Eine klare Andeutung, daß sie ihren Vater nicht nach Landower bringen soll.«

»Sie haben ja tolle Vorstellungen.«

»Was ist daran toll? Es ist bloß logisch.«

»Genauso logisch, wie mich in Gesellschaft von Ratten im Verlies festzuhalten?«

»Das hab ich bloß so dahergesagt. Ich hatte es mir nicht so genau überlegt. Aber dies ist sorgfältig durchdacht.«

»Wann wollten sie kommen?«

»Sie müssen jeden Moment hiersein. Paul führt sie herum ... oder mein Vater. Wir müssen den günstigsten Augenblick abpassen. «

»Was mache ich mit meinen Haaren?«

»Was trug man damals für eine Frisur?«

»Gekräuselte Ponyfransen, soviel ich weiß.«

»Binden Sie Ihr Haar einfach nach hinten. Aber wenn Sie es hochstecken würden …«

»Ich hab keine Nadeln. Vielleicht ist irgendwas in der Truhe, ein Kamm oder so was.«

Wir sahen nach. Kämme waren keine da, aber Bänder. Ich band mein Haar mit einer Schleife zusammen, so daß es mir wie ein Schwanz vom Kopf abstand. Das Band paßte nicht zum Kleid, aber es war trotzdem äußerst wirkungsvoll.

»Hervorragend!« rief Jago. »Jetzt nehmen wir unsere Plätze in der Galerie ein, damit wir bereit sind, wenn der große Augenblick kommt.«

Ich kicherte, weil meine Reitstiefel unter dem Rock des kostbaren Kleides hervorschauten.

»Ihre Füße wird man nicht sehen«, beschwichtigte mich Jago.

»Jetzt nehmen wir die Nebentür zur Galerie. Es ist die Tür, durch die die Musikanten eintreten. Sie ist hinter einem Vorhang verborgen. Hinterher können wir über einen Flur die Steintreppe zum Dachgeschoß erreichen. Könnte gar nicht besser sein.«

Als alles vorbei war, war mir klar, daß ich mich niemals hätte auf dieses Abenteuer einlassen dürfen.

Mit Mühe unser Lachen unterdrückend, kamen wir die Steintreppe hinunter. Ich mußte vorsichtig auftreten, denn diese mittelalterlichen Treppen waren ohnehin schon gefährlich, und mit einem langen Rock, der mir zu groß war und nachschleppte, mußte ich auf jeden Schritt achten.

Jago drängte mich ungeduldig durch den Flur zu der Nebentür. Er zog den Vorhang zur Seite, und wir betraten die Galerie. Für den Bruchteil einer Sekunde, der mir wie eine Ewigkeit vorkam, standen wir da. Jago hatte sich verschätzt. Unser Opfer stand nicht in der Halle, sie war wahrhaftig auf der Galerie. Ich sah ihr Gesicht in Angst und Entsetzen erstarren. Dann schrie sie. Sie trat einen Schritt zurück und packte das Geländer der Balustrade. Es gab unter ihren Händen nach, und sie stürzte in die Halle hinunter.

Wir standen ein paar Sekunden da und starrten auf sie hinab. Dann hörten wir einen Aufschrei. Mr. Arkwright lief zu ihr. Er beugte sich über sie. Auch Paul eilte herbei.

Jago war bleich geworden. Er zog mich hastig hinter den Vorhang, und ich hörte Paul Anweisungen geben.

»Kommen Sie ... schnell«, flüsterte Jago. Er ergriff meine Hand und zog mich von der Galerie.

Wir standen auf dem Dachboden, vor uns die geöffnete Truhe.

»Glauben Sie, daß sie schwer verletzt ist?« flüsterte ich.

Jago schüttelte den Kopf. »Nein ... nein ... Ein kleiner Sturz ... weiter nichts.«

»Sie ist aber sehr tief gestürzt.«

»Die kümmern sich schon um sie.«

»Ach, Jago, und wenn sie stirbt?«

»Ach was, sie stirbt nicht.«

»Wenn sie stirbt ... haben wir sie getötet.«

»Nein ... nein. Sie hat sich selbst getötet. Sie hätte sich nicht so erschrecken sollen ... bloß weil zwei Leute sich verkleidet haben.«

»Aber sie wußte nicht, daß wir uns verkleidet hatten. Sie dachte, wir sind Gespenster, genau wie wir es beabsichtigt hatten.«

»Ihr ist bestimmt nichts passiert«, beschwichtigte mich Jago.

Aber ich war da nicht so sicher.

»Wir sollten hingehen und nachsehen.«

»Wozu? Die anderen kümmern sich doch um sie.«

»Aber es war unsere Schuld.«

Er packte mich am Arm und schüttelte mich. »Hören Sie! Was würde das nützen? Ziehen wir diese Sachen aus. Niemand wird erfahren, daß wir sie getragen haben. Jetzt müssen wir uns nur noch hinausschleichen. Am besten nehmen wir denselben Weg, den wir gekommen sind. Schnell, ziehen Sie das Kleid aus.« Er hatte sein Wams bereits abgestreift und fuhr in seinen Reitrock.

Mit zitternden Fingern zog ich das Gewand aus. Binnen weniger Sekunden waren wir wieder vollständig angezogen, und die Truhe war geschlossen. Jago nahm mich bei der Hand und zog mich hinter sich her. Wir schlichen auf demselben Weg hinaus, den wir gekommen waren, und erreichten unbemerkt den Stall.

Schweigend stiegen wir auf unsere Pferde und ritten davon.

Kein Wort wurde gesprochen. Ich war zutiefst erschrocken und von bitterer Reue erfüllt.

Jago verabschiedete sich von mir, und ich ritt heim nach Tressidor Manor. Bis zum Essen blieb ich in meinem Zimmer.

Ich wollte allein sein, um nachzudenken.

Am nächsten Tag erfuhr ich die Neuigkeit von Cousine Mary.

»Auf Landower hat es einen Unfall gegeben«, sagte sie. »Jemand kam das Haus besichtigen, und eine junge Frau ist von der Galerie in die Halle gestürzt. Ich hab dir doch erzählt, wie baufällig das Haus ist. Die Balustrade auf der Musikantengalerie hat nachgegeben. Man hatte die Leute offensichtlich gewarnt, aber die junge Frau ist trotzdem gestürzt.«

»Ist sie schlimm verletzt?«

»Das weiß ich nicht. Sie ist aber noch dort. Ihr Vater ist bei ihr. Sie ist wohl nicht transportfähig.«

»Dann muß sie schlimm verletzt sein.«

»Ich denke, das wird sie vom Kauf des Hauses abhalten.«

»Weiß man, warum sie gestürzt ist?«

»Davon hab ich nichts gehört. Ich schätze, sie hat sich gegen die hölzerne Balustrade gelehnt und die hat nachgegeben.«

An diesem Tag wanderte ich umher wie in Trance. Ich hatte sogar meine bevorstehende Abreise vergessen. Jago bekam ich nicht zu sehen. Ich fragte mich, ob er mir wohl ebenso auswich wie ich ihm.

Die nächste Neuigkeit erfuhr ich wieder von Cousine Mary.

»Ich glaube nicht, daß sie sehr schlimm verletzt ist, aber man weiß noch nichts Genaues. Die Ärmste. Sie sagt, sie hätte Gespenster auf der Galerie gesehen. Der Vater findet das lächerlich. Die sind ein nüchterner Schlag, diese Leute aus Yorkshire. Die Landowers machen ein großes Theater um die zwei. Sie kümmern sich rührend um sie und erweisen ihnen alle nur möglichen Dienste. So habe ich es wenigstens gehört.«

»Ich nehme nicht an, daß sie das Haus jetzt noch kaufen wollen.«

»Ich habe das Gegenteil gehört. Sie gewinnen es immer lieber ... das jedenfalls hat ein Dienstmädchen unserer Mabel erzählt. Der Mann soll seine Tochter überzeugt haben, daß sie die Schatten für Gespenster gehalten hat.«

Die Zeit verging. Noch ein Tag, dann sollte Miss Bell eintreffen.

Ich ging mich von meinen Bekannten verabschieden. Ich trank im Pförtnerhaus Tee mit Jamie McGill. Er schüttelte tieftraurig den Kopf und sagte, die Bienen hätten ihm erzählt, daß ich eines Tages wiederkommen werde.

Jago sah ich auch noch einmal, bevor ich abreiste. Er machte ein betrübtes Gesicht. Er war ein anderer Mensch geworden. Beide waren wir nicht mehr jung und unbeschwert.

Wir konnten nicht vergessen, was wir getan hatten.

Ich sagte: »Wir hätten hinterher nicht fortlaufen dürfen, sondern hätten nachsehen müssen, ob wir etwas tun konnten.«

›Wir hätten nichts tun können. Wir hätten es nur noch schlimmer gemacht.«

»Zumindest hätte sie gewußt, daß sie keine Gespenster gesehen hat.«

»Sie ist halbwegs überzeugt, daß sie sich das eingebildet hat. Ihr Vater redet ihr das unaufhörlich ein.«

»Aber sie hat uns gesehen.«

»Er macht sie glauben, das Licht habe ihr einen Streich gespielt.«

»Und das nimmt sie ihm ab?«

»Halb und halb. Sie scheint eine hohe Meinung von ihrem Pa zu haben. Er hat immer recht. Sie möchten am liebsten beichten, nicht wahr, Caroline?«

»Geht es ihr sehr schlecht?«

»Sie kann noch nicht laufen, aber sterben tut sie bestimmt nicht.«

»Ach, ich wünschte, wir hätten es nicht getan.«

»Ich auch. Zumal es das Gegenteil von dem bewirkt hat, was ich beabsichtigte. Sie wohnen jetzt bei uns im Haus. Paul behandelt sie wie Ehrengäste ... und mein Vater auch. Das Haus ist ihnen ans Herz gewachsen. Sie haben beschlossen, es zu kaufen.«

»Das ist ein Gottesurteil«, fand ich.

Er nickte betrübt.

»Hoffentlich bleibt sie nicht ihr Leben lang ein Krüppel.«

»Gwennie doch nicht. Das würde ihr Pa nicht zulassen. Die sind zäh, diese Arkwrights, das kann ich Ihnen sagen. Die haben ihre Moneten nicht mit Sanftheit verdient.«

»Übermorgen reise ich ab.«

Er sah mich trübsinnig an.

All unsere Pläne hatten zu nichts geführt. Landower würde an die Arkwrights verkauft werden, und ich reiste nach Hause.

Am nächsten Tag kam Miss Bell, und tags darauf brachen wir nach London auf.

Das Vermächtnis der Landowers

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