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Das Haus der Seide

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Erst als ich der Kindheit entwuchs, dämmerte es mir, daß meine Anwesenheit im Haus der Seide ziemlich mysteriöse Gründe hatte. Ich gehörte nicht richtig zum Haushalt, und doch hing ich leidenschaftlich an ihm. Das Haus der Seide war für mich eine Quelle der Verwunderung; ich träumte von den Geschehnissen, die sich dort abgespielt, und den Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte dort gelebt haben mochten.

Natürlich hatte sich im Laufe der Jahre einiges verändert. Die Sallongers hatten das Gebäude umgebaut, als ein Vorfahre von Sir Francis es vor über hundert Jahren erwarb. Er hatte es Haus der Seide genannt – ein höchst unpassender, wenngleich begründeter Name. In den alten Urkunden, die Philip Sallonger mir gezeigt hatte, wird das Gebäude als königliche Jagdhütte in Epping Forest aufgeführt.

Stolz stand es da, als seien die Bäume zurückgewichen, um ihm Platz zu machen. Der Garten muß in der Tudorzeit angelegt worden sein; der ummauerte Teil mit den von roten Ziegelsteinen umschlossenen Kräuterbeeten rings um den Teich, an dem die Hermesstatue stand, als wolle sie jeden Augenblick wegfliegen, war typisch für jene Epoche.

Dichter Wald umgab das Anwesen, und von den Fenstern des obersten Stockwerks aus konnte man die majestätischen Bäume sehen, Eichen, Buchen und Kastanien, schön im Frühling, prachtvoll im Sommer, herrlich im Herbst mit den bunten Blättern, die, wenn sie herabfielen, einen Teppich bildeten, durch den wir so gerne geräuschvoll schlurften; aber auch im Winter waren die Bäume schön, wenn sie, ihres Laubes entkleidet, vor dem grauen und oft stürmischen Himmel reizvolle Strukturen bildeten.

Als die Sallongers das geräumige Haus übernahmen, vergrößerten sie es noch. Es diente ihnen als Landsitz. Sie besaßen auch ein Stadthaus, wo Sir Francis sich die meiste Zeit aufhielt; und wenn er nicht dort war, reiste er durch das Land, denn neben dem Hauptwerk in Spitalfields besaß er Fabriken in mehreren Gegenden Englands. Den Sprung in den Adel hatte sein Großvater geschafft, der als einer der größten Seidenfabrikanten des Landes eine Stütze der Gesellschaft darstellte.

Seide war für Sir Francis wichtiger als alles andere, und er hoffte, daß es bei seinen Söhnen Charles und Philip ebenso sein werde, wenn sie ihm einmal bei der Herstellung des schönsten aller Stoffe zur Hand gingen. Wegen dieser Hingabe der Familie an dieses Erzeugnis und in völliger Mißachtung der historischen Zusammenhänge waren die Worte HAUS DER SEIDE in großen Bronzelettern über dem alten Eingangstor angebracht worden.

Ich konnte mich nicht erinnern, daß ein anderer Ort als das Haus der Seide je mein Heim gewesen wäre. Ich befand mich in einer merkwürdigen Situation, und ich wunderte mich über mich selbst, daß mir das nicht früher aufgefallen war. Kinder halten wohl fast alles für selbstverständlich. Sie kennen nichts anderes als ihre unmittelbare Umgebung.

Ich wuchs in der Kinderstube mit Charles, Philip, Julia und Cassandra, gewöhnlich Cassie genannt, auf. Es war mir nicht bewußt, daß ich wie ein Kuckuck im Nest war. Für sie waren Sir Francis und Lady Sallonger Papa und Mama, für mich waren sie Sir Francis und Lady Sallonger. Nanny, die Herrscherin über die Kinderstube, musterte mich oft mit geschürzten Lippen, denen leise Luft entwich, was auf eine kritische Einstellung hindeutete. Ich wurde schlicht Lenore gerufen, nicht Fräulein Lenore. Bei den anderen hieß es stets Fräulein Julia und Fräulein Cassie. Auch die Haltung des Kindermädchens Amy, die mich bei den Mahlzeiten immer zuletzt bediente, brachte diese Einstellung zum Ausdruck. Ich spielte mit den abgelegten Spielsachen von Julia und Cassie, nur dann und wann bekam ich eine eigene Puppe oder dergleichen zu Weihnachten. Miss Everton, die Erzieherin, betrachtete mich zuweilen mit einer Miene, die an Verachtung grenzte, und es schien ihr gegen den Strich zu gehen, daß ich eine schnellere Auffassungsgabe besaß als Julia und Cassie. Ich hatte also gewarnt sein müssen.

Der Butler Clarkson übersah mich, aber die anderen Kinder übersah er genauso. Er war ein sehr bedeutender Herr, der mit Mrs. Dillon, der Köchin, im Parterre regierte. Sie waren die Aristokraten der Dienstbotenquartiere, wo die Klassenunterschiede strikter beachtet wurden als in den oberen Etagen. Alle Bediensteten hatten ihren festen Platz in der Hierarchie, von dem sie nicht abrücken konnten. Clarkson und Miss Dillon wachten so streng über das Protokoll, wie es am Hofe der Königin Viktoria angemessen gewesen wäre. Bei Tisch hatte jeder der Dienstboten seinen bestimmten Platz, Clarkson am oberen Ende, Miss Dillon am unteren. Rechter Hand von Miss Dillon saß der Lakai Henry. Wenn Miss Logan, Lady Sallongers Zofe, in der Küche aß, was sie nicht oft tat, da sie sich ihre Mahlzeiten aufs Zimmer bringen lassen konnte, saß sie an der Seite von Clarkson. Das Stubenmädchen Grace hatte seinen Platz neben Henry. Ferner waren da noch die Dienstmädchen May und Jenny, das Kindermädchen Amy und das Hausmädchen Carrie. Kam Sir Francis ins Haus der Seide, nahm der Kutscher Cobb an den Mahlzeiten des Personals teil, aber die meiste Zeit blieb er in London, wo er über dem an die Stadtresidenz angrenzenden Kutschhaus eine eigene Unterkunft bewohnte. Dann gab es noch etliche Stallburschen, die ihre Quartiere über den Stallungen hatten. Diese waren sehr geräumig, denn außer den Reitpferden beherbergten sie ein Gig und einen Dogcart. Und natürlich wurde dort auch Sir Francis’ Kutsche abgestellt, wenn er ins Haus der Seide kam.

Soweit das Parterre. Und im Niemandsland zwischen den oberen und unteren Rängen der Gesellschaft schwebte gleichsam Miss Everton, die Erzieherin. Ich dachte oft, sie müsse sehr einsam sein. Sie nahm die Mahlzeiten, die ihr von mürrischen Mädchen hinaufgebracht wurden, in ihrem Zimmer ein. Nanny aß natürlich in ihrem an die Kinderstube angrenzenden Zimmer; sie hatte dort einen Spirituskocher, auf dem sie sich selbst etwas zubereitete, wenn sie nicht mit dem vorliebnehmen wollte, was in der Küche aufgetischt wurde. Und stets brannte in ihrem Zimmer ein Feuer im Kamin, der einen Vorsprung für den Wasserkessel besaß, aus dem sie sich ihre unzähligen Tassen Tee aufbrühte.

Julia war ein gutes Jahr älter als ich; die Jungen waren uns um etliche Jahre voraus, Charles war der älteste. Sie wirkten über alles erhaben und sehr erwachsen. Philip übersah uns hauptsächlich, Charles dagegen drangsalierte uns, wenn ihn die Lust ankam. Julia neigte zur Hochnäsigkeit; sie war von hitzigem Temperament und erging sich dann und wann in unbeherrschten Wutausbrüchen. Ich zankte mich ziemlich oft mit ihr. Dann pflegte Nanny zu sagen: »Also, Fräulein Julia! Also, Lenore! Schluß jetzt! Ihr geht mir auf die Nerven.« Nanny machte viel Aufhebens um ihre Nerven. Man mußte stets Rücksicht auf sie nehmen.

Cassie war etwas Besonderes. Sie war die jüngste von uns allen. Ich hatte munkeln hören, daß sie es bei ihrer Geburt Lady Sallonger »sehr schwergemacht« habe und daß die Lady »keine Kinder mehr« bekommen könne. Das war wohl die Erklärung für Cassies Behinderung. Ich hatte die Dienstboten, wenn sie Cassie erspähten, von »Instrumenten« flüstern hören, was mich an die Folterinstrumente und Daumenschrauben der Inquisition denken ließ. Sie spielten jedoch auf Cassies rechtes Bein an, das kürzer geraten war als das linke, weswegen sie hinkte. Sie war klein und blaß und galt als »zart«. Sie besaß dafür ein sanftes, liebenswürdiges Naturell, und ihre Behinderung hatte sie nicht im geringsten verbittert gemacht. Sie und ich liebten einander innig. Wir lasen gemeinsam und nähten oft gemeinsam, denn wir waren beide geschickt im Umgang mit der Nadel. Ich glaube, mein Geschick hatte ich Grandmère zu verdanken.

Grandmère war die wichtigste Person in meinem Leben. Sie war der einzige Mensch im Hause, zu dem ich wirklich gehörte. Wir waren beide vom übrigen Haushalt abgesondert. Sie sah es gern, wenn ich die Mahlzeiten mit den anderen Kindern einnahm, obwohl ich lieber mit ihr gegessen hätte, und sie sah es gern, wenn ich mit ihnen Reitstunden nahm. Vor allem aber wünschte sie, daß ich mit ihnen lernte. Grandmère war ein Teil meines Geheimnisses. Sie war meine Grandmère und nicht die ihre.

Sie bewohnte das oberste Geschoß des Hauses mit dem großen Raum, den ein Sallonger ausgebaut hatte. Dieser Raum hatte hohe Fenster und ein Glasdach, um das Licht einzulassen. Grandmère brauchte das Licht. Hier hatte sie ihren Webstuhl und ihre Nähmaschine, und hier arbeitete sie tagsüber. Neben der Maschine standen die Schneiderpuppen, die wie Abgüsse lebendiger Menschen aussahen: drei wohlgestaltete Damen unterschiedlicher Größe, oft mit erlesenen Kleidungsstücken angetan. Ich hatte ihnen Namen gegeben: Die kleine hieß Emmelina, die mittlere Lady Ingleby, und die größte war die Herzogin von Malfi. Von Spitalfields wurden Stoffballen angeliefert. Grandmère entwarf zunächst die Kleider, dann machte sie sich an die Fertigung. Den Geruch der Stoffballen werde ich nie vergessen. Ich merkte mir ihre exotischen Namen. Neben feinen Seiden, Satins und Brokaten gab es Lustrine, Alamode, Paduasoie, Samt und Duchesse. Oft saß ich da, lauschte auf das Surren der Nähmaschine und beobachtete, wie Grandmères kleiner schwarzer Pantoffel den Tritt bediente.

»Reich mir die Schere, ma petite! « sagte sie. »Bring mir die Stecknadeln! Ah, was täte ich nur ohne meinen kleinen Lehrling.« Dann war ich glücklich.

»Du arbeitest sehr schwer, Grandmère«, sagte ich eines Tages zu ihr.

»Ich hab’s gut getroffen«, erwiderte sie. Sie sprach eine Mischung aus Französisch und Englisch. Im Schulzimmer lernten wir ein etwas gekünsteltes Französisch, indem wir uns als Besitzer eines Federhalters, eines Hundes oder einer Katze auswiesen und uns nach dem Weg zum Postamt erkundigten.

Julia und Cassie hatten es weitaus schwerer dabei als ich, die ich durch die Nähe zu Grandmère die Worte mühelos und mit einem anderen Akzent als Miss Everton aussprechen konnte, was dieser gar nicht behagte.

Grandmère fuhr fort: »Ich bin mit meiner Kleinen in diesem schönen Haus. Ich bin glücklich, sie ist glücklich. Sie wächst zu einer begabten Dame heran. Hier wirst du dir aneignen, was dich in der Welt voranbringt. Wir haben hier ein gutes Leben, mon amour

Ich liebte es, wie sie mon amour sagte. Das bedeutete, daß sie mich herzlich liebte, mehr als irgend jemand sonst.

Sie war nie mit den anderen beisammen. Nur wenn sie Kleider für die Familie schneiderte, kam sie in den Salon zu Lady Sallonger hinunter, weil Lady Sallonger zu gebrechlich war, um zur Anprobe die Treppen hinaufzusteigen.

Jeden Nachmittag machte Grandmère einen Spaziergang im Garten. Dabei leistete ich ihr oft Gesellschaft, und wir setzten uns an den Gartenteich und plauderten. Mit Grandmère gab es immer viel zu bereden. Zum großen Teil drehte sich unsere Unterhaltung um die Stoffe und ihre Webart und für welchen Schnitt sie sich am besten eigneten. Wenn der von zwei Pferden gezogene Lastkarren die fünfundzwanzig Kilometer von Spitalfields nach Epping Forest gefahren kam und die Stoffballen ins oberste Geschoß gebracht wurden, flitzte ich hinauf, um sie sofort mit Grandmère in Augenschein zu nehmen.

Dabei geriet sie ganz außer sich. Sie war sehr leicht erregbar. Sie hielt sich den Stoff an die Wange und seufzte. Dann drapierte sie ihn um mich und klatschte verzückt in die Hände, ihre großen braunen Augen strahlten dabei vor Begeisterung. Wir freuten uns beide jedesmal auf die Ankunft der Stoffballen.

Grandmère war im Hause durchaus eine wichtige Persönlichkeit. Sie stellte ihre eigenen Regeln auf. Ich nehme an, sie hätte die Mahlzeiten mit der Familie einnehmen können, wenn sie gewollt hätte. Aber sie war auf ihre Art so aristokratisch wie Clarkson und Mrs. Dillon.

Die Mahlzeiten wurden ihr ins oberste Stockwerk gebracht, und kein Mädchen wagte es, auch nur eine Spur von Unwillen zu äußern, denn Grandmère strahlte große Würde und Autorität aus. Sie nahm diese Dienste anders entgegen als Miss Everton, die sich stets der ihr gebührenden Ehre versichern mußte. Grandmère dagegen drückte mit ihrem Verhalten aus, daß sie es nicht nötig hatte, auf ihre Wichtigkeit hinzuweisen, da diese ohnehin allen klar war.

Als ich entdeckte, daß ich anders war als die anderen Kinder, war es eine große Erleichterung zu wissen, daß Grandmère und ich zusammengehörten. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Sir Francis ins Haus der Seide kam, stattete er Grandmère jedesmal einen Besuch ab. Sie unterhielten sich stets über die Stoffe und besprachen alles mögliche. Aus diesem Grunde besaß sie bei den übrigen im Hause ein gewisses Ansehen.

Wir bewohnten das obere Geschoß. Es waren vier Räume: das große, helle Atelier, unsere Schlafzimmer – zwei kleine Kammern mit schmalen Fenstern und einer Verbindungstür – sowie ein kleines Wohnzimmer. Die Kämmerchen gehörten zum alten Teil des Hauses, das Atelier freilich hatte ein Sallonger ausgebaut.

»Dies ist unser Reich«, sagte Grandmère, »unser kleines Königreich. Es gehört dir und mir, hier sind wir Könige in unserem Schlößchen, oder sollte ich lieber Königinnen sagen, hm«

Sie war eine zierliche Frau. Ihre üppige Haarpracht war einst schwarz, nun aber mit weißen Strähnen durchzogen. Sie trug die Haare hochgesteckt, von einem funkelnden spanischen Kamm gehalten. Sie war sehr stolz auf ihr Haar.

»Die Frisur muß stets elegant sein«, sagte sie. »Der feinste Satin und die beste Seide der Welt nützen dir nichts, wenn dein Haar keine Fasson hat.« Ihre großen Augen strahlten vor Freude oder blitzten vor Entrüstung, sie konnten kalt vor Verachtung sein oder vor Liebe aufleuchten. Sie verrieten stets Grandmères jeweilige Stimmung. Augen und Haare machten ihre große Schönheit aus. Sie hatte lange, schlanke Finger, und ich werde mich immer an ihre flinken Bewegungen erinnern, wenn sie auf dem großen Tisch im Atelier die Kleider nach selbstentworfenen Schnittmustern zuschnitt. Sie war so leicht, daß ich zuweilen fürchtete, sie würde davonschweben. Einmal sagte ich es ihr und fügte hinzu:

»Was soll ich machen, wenn das passiert«

Gewöhnlich lachte sie über meine Phantastereien, aber diesmal wurde sie sehr ernst. »Dir wird es nicht schlechtgehen... nie, so wie es mir nie schlechtging. Seit meinen Mädchentagen stehe ich fest auf zwei Beinen. Das ist so, weil ich mein Handwerk beherrsche. So muß es auch sein. Wenn du etwas besser kannst als andere, wird in der Welt immer ein Platz für dich sein. Siehst du, ich schaffe mit einem Stoffballen, einer Nähmaschine und einer Schere ein Kunstwerk, aber es ist noch mehr. Den Tritt bedienen können alle, und alle können schneiden und schnippeln. Doch das gewisse Etwas, die Inspiration, ein Hauch von Genie für das Handwerk, das ist es, was zählt. Wenn du das hast, wirst du deinen Platz stets behaupten. Du, meine Kleine, wirst in meine Fußstapfen treten. Ich zeige dir den Weg. Und dann hast du nichts zu befürchten, was auch immer geschieht. Ich werde stets über dich wachen.«

Ja, das wußte ich.

Es fiel mir nicht schwer, von ihr zu lernen. Wenn die Stoffballen kamen, fertigte sie Skizzen an und fragte mich nach meiner Meinung. Als ich einmal einen eigenen Entwurf zeichnete, war sie entzückt. Sie zeigte mir, wo ich etwas falsch gemacht hatte, und fügte geschickt ein paar Striche hinzu; der Entwurf wurde am Ende verwirklicht. »Lenores Kleid« nannte sie das Modell. Es war in einem lieblichen Lavendelton gehalten. Später erzählte mir Grandmère, daß sich Sir Francis sehr zufrieden geäußert habe. Es war das richtige Kleid für diesen Stoff.

Wenn Sir Francis und seine Angestellten die Kleider begutachtet hatten, wurden sie verpackt und fortgebracht, um in einem überaus exklusiven Salon in London verkauft zu werden. Auch dieser gehörte zum Sallongerschen Seidenimperium.

Ich erinnere mich gut an den Tag, als sie mir erzählte, wie es dazu gekommen war, daß wir im Haus der Seide lebten. Ich war nach dem Reiten verstört zu ihr gekommen. Wir hatten jeden Tag Reitunterricht. Ein Stallbursche begleitete uns dabei. Zu Beginn ritten wir immer rund um die Koppel, auf der auch ein Hindernis aufgebaut war. Julia war eine gute Reiterin. Ich war auch nicht schlecht. Nur Cassie kam nicht recht mit. Sie fürchtete sich vor Pferden, obwohl man ihr das frommste Tier im Stall gab. Ich behielt sie stets im Auge, wenn wir um die Koppel galoppierten, und ich glaube, daß sie das beruhigte.

Nach dem Ritt sagte Julia: »Es riecht so gut aus der Küche.« Also gingen wir hinein.

»Habt ihr schmutzige Stiefel« wollte Mrs. Dillon wissen.

»Nein, Mrs. Dillon«, erwiderte Julia.

»Da bin ich aber froh, denn ich dulde keinen Schmutz in meiner Küche, Fräulein Julia.«

»Die Plätzchen riechen aber gut«, sagte Julia.

»Das will ich meinen, bei all den guten Zutaten.«

Wir setzten uns an den Tisch und sahen flehend Mrs. Dillon an,

noch sehnsüchtiger aber auf das Blech mit Plätzchen, das frisch aus dem Ofen gekommen war.

»Na gut«, sagte Mrs. Dillon widerwillig. »Aber Miss Everton wäre das gar nicht recht. Und Nanny auch nicht ... Zwischen den Mahlzeiten essen, na, so was! Ihr solltet bis zum Tee warten.«

»Das dauert ja noch Stunden«, sagte Julia. »Ich will das da.«

»So ein kleiner Nimmersatt«, sagte Mrs. Dillon. »Das ist das größte.«

»Mach Mrs. Dillon ein Kompliment«, ermahnte ich sie.

»Ich brauch’ keine Komplimente, danke, Lenore. Ich weiß, wie meine Plätzchen sind. Sie sind gut. Hier! Eins für Fräulein Julia, eins für Fräulein Cassie und eins für dich, Lenore.«

Da fiel es mir auf. Fräulein Julia. Fräulein Cassie. Und Lenore. Ich sann eine Weile darüber nach, und als ich mit Grandmère am Gartenteich saß, nahm ich die Gelegenheit wahr und fragte sie, warum man mich nie Fräulein nannte, sondern nur einfach beim Vornamen rief wie Grace oder May oder die anderen Bediensteten.

Grandmère schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Das Personal ist sehr – wie soll ich sagen – genau. Sie achten auf jede Kleinigkeit, etwa wer so oder so genannt wird, wem dieser oder jener Platz zukommt. Du bist meine Enkeltochter. Das ist nicht dasselbe wie die Tochter von Sir Francis und Lady Sallonger. Daher sagen Leute wie Mrs. Dillon eben nicht Fräulein zu dir.«

»Du meinst, ich gehöre zur selben Kategorie wie Grace oder May«

Sie schürzte die Lippen, hob die Hände und wiegte sich von einer Seite zur anderen. Sie machte in Gesprächen ausgiebig Gebrauch von Händen und Schultern, was sehr ausdrucksvoll war.

»Was kümmern uns die Ansichten von Leuten wie Mrs. Dillon Wir lächeln und sagen: Ach so ist das, ja Nun gut. Was bedeutet es schon für mich, daß man mich nicht Fräulein nennt Was heißt überhaupt Fräulein Nichts. Du bist ohne Fräulein genausoviel wert.«

»Ja schon, aber warum, Grandmère«

»Ganz einfach. Du bist keine Tochter des Hauses, darum kann Mrs. Dillon dich nicht Fräulein nennen.«

»Wenn die Dallington-Mädchen zum Tee kommen und mit uns spielen, werden sie auch Fräulein genannt, und sie sind keine Töchter des Hauses. Sind wir hier Dienstboten, Grandmère«

»Wir dienen... wenn einen das zu Dienstboten macht, dann vielleicht. Aber wir sind zusammen, du und ich, wir haben ein gutes, friedliches Leben. Warum soll uns das kleine Wörtchen Fräulein Kummer machen«

»Ich will es bloß wissen, Grandmère. Was tun wir in diesem Haus, wenn wir nicht dazugehören«

Sie zögerte einen Moment, dann schien sie einen Entschluß zu fassen. »Wir kamen hierher, als du acht Monate alt warst. Du warst so ein süßes Baby. Ich dachte, es sei gut für dich. Hier konnten wir Zusammensein, Grandmère und ihr Kleines. Ich dachte, wir könnten hier glücklich sein, und man versprach mir, dich wie eine Tochter des Hauses zu erziehen. Aber von ›Fräulein‹ war dabei keine Rede. Und deshalb nennt man dich nicht so. Wer will schon ein Fräulein sein Du doch nicht! Weißt du, Kleines, das Leben hat mehr zu bieten als das Wörtchen Fräulein.«

»Erzähl mir, wie wir hierhergekommen sind! Warum habe ich keinen Vater und keine Mutter«

Sie seufzte. »Einmal muß es ja sein«, sagte sie mehr zu sich selbst.

»Deine Mutter war das schönste und reizendste Mädchen, das je gelebt hat. Sie hieß Marie Louise. Sie war mein Kind, meine Kleine, mon amour. Wir lebten im Dorf Villers-Mûre. Schön war es dort. Wir hatten viel Sonnenschein, und es war warm. In Villers-Mûre ist der Sommer ein richtiger Sommer. Da wacht man auf und weiß, daß die Sonne den ganzen Tag scheinen wird. Nicht wie hier, wo sie hervorlugt und wieder verschwindet und nicht weiß, was sie will.«

»Möchtest du lieber in Villers-Mûre sein«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Nein, ich gehöre jetzt hierher. Und du auch, ma petite. Du wirst hier glücklich sein, und eines Tages wird es dich nicht mehr kümmern, ob man dich Fräulein nennt oder nicht.«

»Es kümmert mich auch jetzt nicht, Grandmère. Ich wollte es bloß wissen.«

»Villers-Mûre ist weit entfernt von hier, am anderen Ende von Frankreich, und du weißt ja, nicht wahr – die brave Miss Everton hat es dir gewiß beigebracht –, daß Frankreich ein großes Land ist, größer als diese kleine Insel. Von Villers-Mûre ist es nicht weit bis zur italienischen Grenze. Die Maulbeeren gedeihen gut, und das bedeutet Seide. Die kleinen Raupen, die für uns die Seide spinnen, lieben die Maulbeerblätter, und wo die gedeihen, gibt es Seide.«

»Dann hast du dich schon immer mit Seide ausgekannt«

»In Villers-Mûre ist die Seidenraupe zu Hause, und Seide war unser Leben. Ohne Seide gäbe es kein Villers-Mûre. Die Saint Allengères haben immer dort gelebt, und möge es dem lieben Gott gefallen, daß es so bleibt. Die Saint Allengères bewohnen ein herrliches Haus, ähnlich wie dieses, nur gibt es dort keinen Wald, sondern Berge. Es ist ein vornehmes Anwesen und seit Jahrhunderten das Heim der Saint Allengères. Es gibt dort Rasenflächen, Blumen und Bäume, und mitten hindurch fließt ein Flüßchen. Ringsum stehen die kleinen Häuser, in denen die Arbeiter mit ihren Familien wohnen. Das große Fabrikgebäude ist sehr schön, weiß mit Farbtupfern an den Mauern, denn dort gedeihen Oleander und Bougainvillea. Und dann die mûraies, die Maulbeerhaine. Sie haben die besten Seidenraupen der Welt. Und die besten Webstühle, besser als alles, was es in Indien oder China gibt, wo die Seide herkommt. Einige der feinsten Seidensorten der Welt werden in Villers-Mûre hergestellt.«

»Und du hast dort gelebt und für die Saint Allengères gearbeitet« Sie nickte. »Wir hatten ein hübsches kleines Haus, das schönste von allen. Die Mauern waren mit Blumen überwachsen. Es war herrlich, und meine Tochter, meine Marie Louise, war sehr glücklich. Sie war zum Glücklichsein geschaffen. Sie hatte immer etwas zu lachen. Sie war schön. Du hast ihre Augen; sie können tanzen, sie können lachen, aber ihre waren nie so wild, wie deine sein können, meine Kleine. Sie waren tiefblau wie deine, und ihre Haare waren fast schwarz, noch dunkler als deine, weich und wellig. Sie war eine Schönheit. Sie dachte nie an etwas Böses. Sie war arglos... Und dann ist sie gestorben.«

»Wie starb sie«

»Sie starb bei deiner Geburt. Aber sie ließ mir dich zurück, und das macht mich froh.«

»Und mein Vater«

Sie schwieg. Schließlich sagte sie: »So etwas kommt zuweilen vor. Später wirst du es verstehen. Manchmal wird ein Kind geboren... und wo ist der Vater«

»Du meinst, er hat sie verlassen«

Sie ergriff meine Hand und küßte sie. »Sie war wunderschön«, sagte sie. »Doch was immer geschah, sie ließ mir dich zurück, mein Kind, und das war das schönste Vermächtnis, das sie mir hinterlassen konnte. Statt ihrer hatte ich ihr Kind, und seither warst du meine ganze Freude.«

»Ach, Grandmère, es ist so traurig!«

»Es war Sommer«, sagte sie. »Sie hat zu lange auf der süß duftenden Wiese getändelt. Sie war ganz unschuldig. Vielleicht hätte ich sie warnen sollen.«

»Und mein Vater hat sie im Stich gelassen«

»Ich weiß nicht. Ich war so besorgt um sie. Ich wußte nicht, daß du unterwegs warst. Ich erfuhr es erst kurz vor der Niederkunft. Dann war es soweit... und sie starb. Ich saß an ihrem Bett und war von Verzweiflung übermannt, bis die Hebamme dich in meine Arme legte. Du warst meine Rettung. Ich hatte meine Tochter verloren, aber dafür hatte ich ihr Kind. Seitdem warst du mein ein und alles.«

»Ich würde gerne wissen, wer mein Vater ist.«

Sie schüttelte den Kopf und hob die Schultern.

»Und so kamst du hierher« drängte ich weiter.

»Ja, es schien mir das beste. Es ist immer schwierig, wenn solche Dinge sich in einer kleinen Gemeinde abspielen. Es wird geflüstert und geklatscht. Ich wollte nicht, daß du so aufwächst.«

»Du meinst, die Leute hätten mich verachtet, weil meine Eltern nicht verheiratet waren«

Sie nickte. »Die Saint Allengères sind reich... eine mächtige Familie: Sie sind Villers-Mûre. Alle arbeiten für sie. Sie vertreten die große Seidenmarke in Frankreich und auch Italien. Monsieur Saint Allengère, das Oberhaupt, und die Seidenfamilien in aller Welt stehen miteinander – wie sagt man – in Verbindung. Sie kennen sich alle. Sie wetteifern miteinander. Sie sind Konkurrenten. ›Meine Seide ist besser als deine.‹ So ist das bei denen.«

»Ja.« Ich dachte an meine Mutter, den Mann, der sie im Stich ließ, und den Skandal, den es in Villers-Mûre gegeben hätte.

»Sir Francis besucht die Saint Allengères dann und wann. Die zwei Familien demonstrieren Freundschaft, aber ist es wirklich Freundschaft Jede möchte die beste Seide produzieren. Sie haben Geheimnisse. Sie zeigen hier ein bißchen und dort ein bißchen, aber mehr nicht, nichts von Bedeutung.«

»Ja, Grandmère, aber ich möchte mehr von meiner Mutter hören.«

»Sie ist bestimmt glücklich, wenn sie vom Himmel herabschaut und uns beide zusammen sieht. Sie weiß, was wir einander bedeuten. Sir Francis kam nach Villers-Mûre. Es besteht eine Verbindung zwischen den Familien, mußt du wissen. Sie sollen vor vielen Jahren ein- und dieselbe Familie gewesen sein. Hör mal auf die Namen: abgekürzt St. Allengère. Und auf englisch wurde dann Sallonger daraus.«

»Ja wirklich«, rief ich aufgeregt. »Dann ist die hiesige Familie mit der in Frankreich verwandt«

Wieder hob sie die Schultern. »Sicher hast du von Miss Everton vom Edikt von Nantes gehört.«

»O ja. Es wurde von Heinrich IV. von Frankreich im Jahre, ich glaube, es war 1598, erlassen.«

»Ja, richtig, und was hatte es damit auf sich Es gab den Hugenotten Religionsfreiheit.«

»Ja, ich erinnere mich. Der König war damals Hugenotte, und die Pariser wollten keinen protestantischen König, deshalb sagte er: ›Paris ist eine Messe wert‹ und wurde katholisch.«

Grandmère lächelte erfreut. »Ah, es geht doch nichts über eine gute Schulbildung! Aber dann haben sie es geändert.«

»Ludwig XIV. hat das Edikt wieder aufgehoben.«

»Ja, und die Hugenotten wurden zu Tausenden aus Frankreich vertrieben. Ein Zweig der Saint Allongères ließ sich in England nieder. Sie errichteten in verschiedenen Orten Seidenfabriken.

Sie brachten das Wissen mit, wie man diese herrlichen Stoffe webt. Sie arbeiteten hart und hatten Erfolg.«

»Das ist ja hochinteressant! Und Sir Francis besucht manchmal seine Verwandten in Frankreich«

»Sehr selten. Man erinnert sich nicht gern an die Familienverbindungen. Zwischen den Sallongers in England und den Saint Allengères in Frankreich herrscht Rivalität. Wenn Sir Francis nach Frankreich kommt, zeigen sie ihm nur wenig und versuchen herauszubekommen, woran er arbeitet. Sie sind Konkurrenten. So ist das nun mal im Geschäftsleben.«

»Hast du Sir Francis in Frankreich schon gesehen«

Sie nickte. »Ich habe dort gearbeitet, wie ich es hier tue. Ich hatte meinen Webstuhl. Ich kannte eine Menge Geheimnisse und werde sie immer bewahren. Ich war eine gute Weberin. Alle, die dort lebten, hatten mit der Seidenproduktion zu tun, ich also auch.«

»Und meine Mutter«

»Sie natürlich auch. Monsieur Saint Allengère ließ mich kommen und fragte mich, ob ich gern nach England gehen würde. Ich sah gleich, daß es das beste für dich war, und was für dich gut war, mußte auch für mich gut sein. Deshalb nahm ich das Angebot an, in dieses Haus zu kommen, am Webstuhl zu arbeiten, wenn etwas Besonderes verlangt wird, und die eleganten Kleider zu machen, die den Verkauf unserer Seide fördern.«

»Du meinst, Sir Francis hat uns hier ein Heim angeboten«

»Es war zwischen ihm und Monsieur Saint Allengère abgesprochen. Ich sollte meinen Webstuhl und meine Nähmaschine bekommen und hier leben, um für Sir Francis dasselbe zu tun, was ich in Frankreich tat.«

»Und dafür hast du deine Heimat verlassen und die weite Reise in ein Land mit lauter fremden Leuten angetreten«

»Heimat ist, wo man seine Lieben hat. Ich hatte mein Baby, und solange ich mit dir zusammen war, war ich’s zufrieden. Du wirst mit den Töchtern des Hauses erzogen, und ich glaube, du kommst in der Schule gut mit, hm Ist Fräulein Julia nicht ein wenig neidisch, weil du klüger bist als sie Sir Francis ist ein guter Mensch. Er hält sein Wort, und Lady Sallonger... Sie ist anspruchsvoll, aber nicht unfreundlich. Wir haben viel und müssen dafür auch etwas geben. Ich vergesse niemals, dem lieben Gott dafür zu danken, daß er mir einen Ausweg gewiesen hat.«

Ich schlang meine Arme um ihren Hals und klammerte mich an sie. »Uns kann nichts passieren«, sagte ich. »Solange wir zusammen sind.«

So erfuhr ich etwas über meine Vorgeschichte, aber ich hatte das Gefühl, daß es noch viel mehr zu erfahren gab.

Grandmère hatte recht, das Leben war schön. Ich beruhigte mich, und der geringfügige Unterschied in der Art, wie sie mich behandelten, bekümmerte mich nicht sehr. Ich gehörte eben nicht zu ihnen. Aber sie waren gut zu uns gewesen. Sie hatten uns ermöglicht, das Nest zu verlassen, in dem alle wußten, daß meine Mutter mich geboren hatte, ohne verheiratet zu sein.

Ich dachte viel über meinen Vater nach. Manchmal fand ich es recht romantisch, nicht zu wissen, wer mein Vater war. Man konnte sich ein Wunschbild formen, und ich nahm mir vor, mich eines Tages auf die Suche nach ihm zu machen. Nach dem Gespräch mit Grandmère hatte ich eine Menge imaginärer Väter. Natürlich konnte ich nicht erwarten, wie Fräulein Julia oder Fräulein Cassie behandelt zu werden, aber wie uninteressant war ihr Leben im Vergleich zu meinem! Sie waren nicht von dem schönsten Mädchen der Welt geboren worden, und sie hatten keinen mysteriösen, anonymen Vater.

Mir war nun klar, daß wir gewissermaßen Bedienstete des Hauses waren. Grandmère stand freilich auf einer höheren Stufe – vielleicht auf derselben wie Clarkson oder zumindest wie Mrs. Dillon; sie war wegen ihrer Tüchtigkeit hochgeschätzt, und ich war ihretwegen hier. Somit akzeptierte ich mein Los.

Es stimmte, Lady Sallonger war anspruchsvoll. Von mir wurde erwartet, daß ich ihr als Zofe diente. Sie mußte in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein, Spuren davon waren noch vorhanden. Sie lag auf dem Sofa im Schlafzimmer, stets in ein feines, mit Bändern versehenes Negligé gehüllt, und Miss Logan mußte viel Zeit darauf verwenden, sie zu frisieren und ihr bei der Toilette behilflich zu sein. Dann begab sie sich langsam, schwer auf Clarksons Arm gestützt, vom Schlafzimmer in den Salon, während der Lakai Henry den Beutel mit ihrem Stickzeug trug und sich für weitere Hilfsdienste bereithielt. Sie rief mich oft zu sich, um sich vorlesen zu lassen. Es schien ihr zu gefallen, mich zu beschäftigen. Sie war stets sanft und sprach mit müder Stimme, die einen Vorwurf zu enthalten schien – wohl gegen das Schicksal, das es ihr bei Cassies Geburt so schwergemacht hatte und sie zur Invalidin werden ließ.

Es hieß etwa: »Lenore, bring mir ein Kissen! Oh, so ist es besser. Setz dich hierher, ja, mein Kind Bitte lege die Decke über meine Füße, sie werden langsam kalt. Läute, daß man noch Kohlen aufs Feuer legt! Bring mir mein Stickzeug! Oje, ich glaube, das ist ein falscher Stich. Du kannst ihn aufmachen. Vielleicht kannst du ihn berichtigen. Aber mach es später! Lies mir jetzt vor...«

Sie ließ sich, wie mir schien, stundenlang vorlesen. Oft döste sie vor sich hin, und in dem Glauben, sie schlafe, hielt ich mit Lesen inne. Doch sofort wurde ich getadelt und aufgefordert fortzufahren. Lady Sallonger sagte, ich hätte eine beruhigendere Stimme als Miss Logan.

Während ich meine Aufgaben verrichtete, dachte ich die ganze Zeit daran, wieviel Dank wir den Sallongers schuldeten, die es uns ermöglicht hatten, hierherzukommen und der Schande zu entfliehen. Es war genau wie in den Romanen, und ich fand es natürlich aufregend, im Mittelpunkt eines solchen Dramas zu stehen.

Wenn man eine niedere Stellung bekleidet, ist man vielleicht rücksichtsvoller gegen andere. Cassie war immer meine Freundin gewesen; Julia war zu hochnäsig und herablassend, um mir eine richtige Freundin zu sein. Cassie war anders. Sie verließ sich auf meine Hilfe, und für jemanden von meinem Naturell war das sehr angenehm. Es gefiel mir, Autorität auszuüben. Ich kümmerte mich gern um andere Menschen. Ich war mir durchaus im klaren darüber, daß meine Gefühle nicht gänzlich uneigennützig waren. Ich kam mir wichtig vor, wenn ich anderen beistand, deshalb half ich Cassie gern bei den Hausaufgaben. Wenn wir spazierengingen, paßte ich meine Schritte den ihren an, während Julia und Miss Everton vorauseilten. Cassie lohnte mir meine Fürsorge mit stummer Bewunderung, die mir große Befriedigung verschaffte. Noch jemand erregte mein Mitgefühl: Willie. Mrs. Dillon bezeichnete ihn nur als »Minnie Wardles Überbleibsel.« Nach allem, was man so hörte, war Minnie Wardle ein flatterhaftes Ding gewesen. Sie hatte mit Willie ihren »gerechten Lohn« und ihre »wohlverdiente Strafe« empfangen. Das Kind entstammte ihrer Liebschaft mit einem Pferdehändler, der sich in der Nachbarschaft herumgetrieben hatte und, als Minnie schwanger wurde, verschwand. Minnie Wardle glaubte zu wissen, wie man mit so einer Situation fertig wurde, und suchte die weise alte Frau auf, die in einer Hütte im Wald lebte, gut anderthalb Kilometer von Epping Forest entfernt. Aber diesmal war sie nicht weise genug, denn ihre Hilfe funktionierte nicht, und als Willie geboren wurde, war er, wiederum nach Mrs. Dillons Worten, »nicht ganz richtig im Kopf«. Lady Sallonger hatte das Mädchen nicht hinauswerfen wollen und ließ es mitsamt Willie bleiben. Doch ehe das Kind ein Jahr alt war, tauchte der Pferdehändler wieder auf. Minnie verschwand mit ihm und ließ den Lohn ihrer Sünde zurück, auf daß jemand anders sich damit belade. Das Kind wurde von Mrs. Carter, der Frau des Stallmeisters, aufgezogen. Sie hatte trotz gehöriger Anstrengungen keine eigenen Kinder und nahm gern das fremde an. Doch kaum hatte sie Willie bei sich aufgenommen, setzte bei ihr die Fruchtbarkeit ein, und jetzt nannte sie sechs Kinder ihr eigen und hatte nicht mehr viel für Willie übrig, zumal bei ihm »eine Schraube locker« war.

Armer Willie, er gehörte nirgends richtig hin, niemand machte sich etwas aus ihm. Ich dachte oft, er sei nicht so dumm, wie es den Anschein hatte. Er konnte weder lesen noch schreiben, aber das konnten ja viele nicht. Er hatte einen Mischlingshund, der ihm auf Schritt und Tritt folgte und den Mrs. Dillon »dieser verdammte Köter« nannte. Es freute mich, den Jungen mit einem Geschöpf zu sehen, das ihn liebte und dem er seine Zuneigung schenken konnte. Willie wirkte heiterer, seit er den Hund hatte. Gern saß er, das Tier an seiner Seite, an dem See, der nicht weit vom Haus der Seide entfernt im Wald lag. Zwischen den Bäumen war eine Lichtung, dort stieß man unvermittelt auf das Wasser. Kinder fischten darin. Man sah sie mit ihren Eimerchen und hörte sie freudig kreischen, wenn sie eine Kaulquappe erwischten. Weiden hingen ins Wasser hinab, und der Feiberich mit seinen sternförmigen Blüten wuchs zwischen Helmkraut und dem üppig wuchernden Wundkraut. Immer wieder staunte ich über die Wunder des Waldes. Er war voller Überraschungen. Wenn man zwischen den Bäumen ritt, konnte man plötzlich auf eine Häusergruppe, einen kleinen Weiler oder einen Dorfanger stoßen.

Die Verständigung mit Willie war nicht leicht. Wenn man ihn ansprach, machte er ein Gesicht wie ein verschrecktes Reh; er hielt still, wie zur Flucht bereit. Er traute niemandem.

Merkwürdig, wie es manche Menschen freut, die Schwachen zu quälen. Tun sie es, um ihre eigene Stärke zu demonstrieren Mrs. Dillon gehörte zu ihnen. Sie war es ja auch, die darauf hingewiesen hatte, daß ich nicht von demselben Stand war wie meine Gefährtinnen. Und nun wollte mir scheinen, daß sie, statt Willie zu helfen, es auf seine Unzulänglichkeiten abgesehen hatte.

Es wurde natürlich von ihm erwartet, daß er im Haus half. Er holte Wasser vom Brunnen oder fegte den Hof. Diese Aufgaben verrichtete er ganz munter, sie waren ihm zur Gewohnheit geworden. Eines Tages sagte Mrs. Dillon: »Geh in die Vorratskammer, Willie, und hol mir ein Glas Pflaumen! Und sag mir dann, wie viele Gläser noch da sind.«

Sie hoffte natürlich, daß Willie ohne Pflaumen und mit bestürzter Miene zurückkäme, so daß sie Gott oder wer von seinen Engeln auch zuhörte, fragen konnte, was sie verbrochen habe, daß sie mit so einem Idioten geschlagen sei.

Willie war ratlos. Er konnte nicht wissen, wie viele Gläser da waren. Es war nicht einmal sicher, daß er die mit den Pflaumen heraussuchen konnte. Ich witterte eine Chance. Ich winkte ihm und ging mit ihm in die Vorratskammer. Ich holte die Pflaumen und hielt sechs Finger in die Höhe; schließlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht.

Er ging wieder in die Küche. Ich glaube, Mrs. Dillon war enttäuscht, weil er das Gewünschte brachte. »So«, fragte sie, »und wie viele sind noch da« Ich stand in der Tür und hielt hinter Mrs. Dillons Rücken sechs Finger in die Höhe. Willie tat desgleichen.

»Sechs«, rief Mrs. Dillon, »so wenig! Meine Güte, was habe ich getan, daß ich mit so einem Idioten geschlagen bin.«

»Es stimmt schon, Mrs. Dillon«, sagte ich. »Ich habe nachgezählt. Sechs sind noch da.«

»Ach du bist es, Lenore. Du mußt deine Nase aber auch überall reinstecken!«

»Aber Mrs. Dillon, ich dachte, Sie wollten es wissen.«

Ich marschierte aus der Küche, würdevoll, wie ich hoffte, und kam an Willies Hund vorbei, der geduldig auf sein Herrchen wartete. Ich versuchte Willie zu helfen, wann immer ich konnte. Oft schaute er mich von der Seite an, wandte aber hastig die Augen ab, wenn ich ihn dabei ertappte.

Ich unterhielt mich mit Cassie über ihn, die sich sehr leicht zu Mitleid rühren ließ, und auch sie bemühte sich, ihm kleine Gefälligkeiten zu erweisen. So zeigte sie ihm etwa, wo die besten Kohlköpfe im Küchengarten zu finden waren, wenn Mrs. Dillon ihm auftrug, ihr einen zu holen.

Ich interessierte mich sehr für menschliches Verhalten und fragte mich, warum Mrs. Dillon, die es doch recht behaglich hatte, soviel daran gelegen war, jemandem wie Willie das Leben noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon war. Willie war ein verängstigter Junge. Zu Cassie sagte ich: »Wenn er nur diese Angst vor den Menschen los würde, dann wäre er gleich viel normaler.«

Cassie pflichtete mir bei. Das tat sie immer. Vielleicht war ich deswegen so gern mit ihr zusammen.

Mrs. Dillon war unbarmherzig. Sie sagte, Willie gehöre »fortgeschafft«, denn es schicke sich nicht, daß sich in einem Anwesen wie dem Haus der Seide Idioten herumtrieben. Wenn Sir Francis komme, wolle sie mit ihm darüber reden. Es sei sinnlos, sich mit Lady Sallonger darüber zu unterhalten, und Mr. Clarkson habe keine Befugnis, Willie fortzuschicken.

Ich glaube, sie hielt den Hund für ein geeignetes Mittel, um Willie zu kränken. Eines Tages behauptete sie, der Hund habe eine Lammkeule vom Tisch gestohlen und sei damit davongerannt. Ich war dabei, als sie deswegen forderte, der Hund müsse getötet werden.

Clarkson war sehr würdevoll. Er saß am Tisch wie ein Richter.

»Haben Sie gesehen, wie der Hund das Fleisch nahm, Mrs. Dillon«

»So gut wie«, erwiderte sie.

»Dann haben Sie es also nicht gesehen«

»Ich habe den Köter da draußen gesehen. Es ließ die Augen kreisen, was er stehlen könnte, und als ich ihm den Rücken zukehrte, war er drinnen wie der Blitz, stibitzte die Keule vom Tisch und rannte mit ihr weg.«

»Es könnte auch einer von den anderen Hunden gewesen sein«, meinte Clarkson.

Aber davon wollte Mrs. Dillon nichts wissen. »Ich weiß, wer es war. Mir macht man nichts vor. Ich hab’ ihn mit meinen eigenen Augen gesehen.«

Ich konnte mir nicht verkneifen zu sagen: »Aber Sie haben nicht gesehen, wie der Hund das Fleisch genommen hat, Mrs. Dillon.« Sie drehte sich ärgerlich zu mir um. »Was machst du hier Du mischst dich aber auch überall ein! Man könnte meinen, du gehörst zur Familie...«

Ich sah sie fest an. Clarkson wurde verlegen. Er sagte: »Das gehört nicht zur Sache. Wenn Sie nicht wirklich gesehen haben, wie der Hund das Fleisch nahm, können Sie nicht behaupten, daß er es war.«

»Ich hole einen Holzfäller. Er soll dem Köter mit einem Gewehr den Garaus machen. Ich will nicht, daß er sich hier herumtreibt und das Essen klaut, das ich gekocht habe. Das ist ja nicht zum Aushalten! Das lass’ ich mir nicht bieten!«

Die Angelegenheit zog Kreise, und die Leute ergriffen Partei: Der Hund muß erledigt werden; er ist ohnehin bloß ein elender kleiner Köter. Nein, laßt dem armen Kerl doch seinen Hund, er hat sowieso nicht viel vom Leben.

Der arme Willie war verzweifelt. Er lief mit seinem Hund davon. Es war Winter, und alle fragten sich, wie er wohl allein durchkommen würde. Mrs. Carter träumte, daß er irgendwo erfroren im Wald liegt. May sagte, sie vernehme seltsame Geräusche im Haus; sie glaube, einen Hund heulen zu hören. Jenny glaubte sich von jemandem verfolgt, als sie durch den Wald ging. Sie sah sich um und vermeinte, Willie mit seinem Hund zu sehen, zwei geisterhafte Gestalten, die plötzlich verschwanden.

Mrs. Dillon wurde unruhig. Sie war es ja, die Willie drangsaliert hatte. Sie war sich wegen der Lammkeule gar nicht mehr so sicher. Es hätte auch ein anderer Hund sein können. Sie wünschte, sie hätte nicht gesagt, der Mann solle das Tier erschießen. Sie habe es nicht ernst gemeint. Es sei sinnlos, ihr Vorwürfe zu machen, sie habe nur ihre hausfrauliche Pflicht erfüllt.

Die Erleichterung war groß, als Willie zurückkam; zerzaust und halb verhungert. Mrs. Dillon kochte ihm Haferschleim und sagte, er solle nicht mehr solche Dummheiten machen, einfach so davonzulaufen. Niemand werde seinen Hund erschießen. Das habe sie bloß so dahergeredet.

Danach waren alle etwas netter zu Willie. So hatte der Vorfall auch sein Gutes. Willie und sein Hund erholten sich rasch.

Das Leben nahm seinen gewohnten Gang. Julia war manchmal freundlich, doch plötzlich konnte sie hochmütig werden, als falle ihr gerade ein, daß ich nicht richtig zur Familie gehörte. Sie wurde ungeduldig mit Cassie, die rasch ermüdete, war sich jedoch nicht zu schade, im Schulzimmer von mir abzuschreiben und mich nach den Lösungen der Aufgaben zu fragen, die Miss Everton uns stellte. Im großen und ganzen kamen wir recht gut miteinander aus, und ich glaube, sie war im Grunde ganz froh, daß sie mich hatte. Ich war ihr eine bessere Gefährtin als Cassie. Wir übten auf der Koppel springen, und zwischen uns bestand eine gewisse freundschaftliche Rivalität.

Mit Cassie war es anders. Sie mußte sich nachmittags oft hinlegen. Dann zog ich ihr die Stiefel aus, setzte mich zu ihr, und wir unterhielten uns. Wir spielten Ratespiele, und manchmal erzählte ich ihr von den Kümmernissen und Leiden der Frauen in den Romanen. Sie genoß unsere Gespräche und weinte still über die Drangsal dieser unglücklichen Damen.

Die Jungen waren die meiste Zeit im Internat. Wir alle freuten uns, wenn sie in den Ferien nach Hause kamen, aber wenn sie dann da waren, war es nie ganz so, wie wir es uns vorgestellt hatten, und ich fühlte mich oft erleichtert, wenn sie wieder abreisten – vor allem Charles.

Bei Philip war es anders. Er hatte ein ähnlich sanftes Naturell wie Cassie. Ich nahm an, die beiden waren nach Lady Sallonger geraten, die wohl früher so gewesen sein mochte.

Charles war etwa sechs Jahre älter als ich. Er war sehr herrisch und stolzierte durchs Haus, als gehöre es ihm – was auch eines Tages der Fall sein sollte. Er behandelte Bruder und Schwester von oben herab, und da war es kein Wunder, daß er mich verachtete.

In den Ferien verbrachten die Jungen die meiste Zeit beim Reiten, oder sie angelten im Fluß. Sie hatten offenbar viele aufregende Djnge zu tun, von denen wir ausgeschlossen blieben. Ich beneidete sie um ihre Freiheit. Philip ritt jedoch manchmal mit uns aus. Er erkundigte sich bei mir interessiert nach Grandmères Arbeit. Zuweilen besuchte er sie. Sie mochte ihn gern und sagte mir, Philip habe ein echtes Gefühl für Stoffe und wisse eine gute Seide auf Anhieb zu erkennen. »Sein Vater wird mit ihm zufrieden sein, wenn er ins Geschäft einsteigt«, meinte sie.

»Charles dagegen interessiert sich anscheinend überhaupt nicht dafür«, bemerkte ich.

»Das kann noch kommen. Im Augenblick fühlt er sich als der große Herr und macht sich wichtig. Jedenfalls hier vor seinen jüngeren Geschwistern. Vielleicht ist er bei anderen nicht so, wer weiß Wir werden sehen. Nur gut, daß es Philip gibt, er wird ein Segen für seinen Vater sein.«

Mir fiel auf, daß Charles großes Interesse an dem hübschen Stubenmädchen Grace bekundete. Einmal sah ich sie miteinander plaudern. Grace kicherte und wurde ganz rot, er wiederum war gönnerhaft vergnügt und freundlich. Offensichtlich verachtete er nicht alle weiblichen Wesen.

Als Charles die Ferien bei einem Freund verbrachte, verbrachten wir eine sehr angenehme Zeit mit Philip.

Einmal saß ich mit ihm, Julia und Cassie am See. Er erzählte von der Familie und meinte, wie wunderbar es sich doch gefügt habe, daß die Vorfahren sich vor vielen Jahren hier niedergelassen hatten, als sie aus religiösen Gründen aus ihrer Heimat vertrieben worden waren. »Wir konnten nichts anderes als Seide weben und kamen mit nichts hier an, denn wir mußten alles zurücklassen. Wir begannen hierzulande mit der Seidenproduktion. Findet ihr nicht, daß das eine großartige Tat war« Ich bejahte begeistert. Er lächelte mich an und fuhr fort: »Binnen weniger Jahre produzierten wir Stoffe, die ebenso gut waren wie die aus Frankreich. Es war ein hartes Stück Arbeit, aber wir wollten ja arbeiten. Wir waren lange Zeit sehr arm, aber dann kam der Erfolg.«

»Da bin ich aber froh«, sagte Julia. »Arm sein wäre mir zuwider.«

»Es ist wirklich eine aufregende Geschichte, findest du nicht, Lenore«

»O ja«, versicherte ich ihm.

»In ein fremdes Land zu kommen mit nichts als Zuversicht und Hoffnung und dem Willen, Erfolg zu haben.« Sein Gesicht glühte vor Begeisterung. Ich fand Philip sehr nett. Ich bedauerte, daß er bald wieder zur Schule mußte. »Aber es gab endlose Schwierigkeiten«, fuhr er fort. »Als das Land begann, französische Seide zu importieren, waren die Arbeiter von Spitalfields dem Verhungern nahe. Die Leute wollten französische Seide, obwohl unsere genauso gut war. Sie fanden einfach, französische Seide höre sich besser an als Spitalfields-Seide. Unsere Leute waren verbittert. Es kam zu Unruhen. Die Arbeiter zogen durch die Straßen. Es gab keine Arbeit für ihre Webstühle. Wenn sie eine Frau in einem Kattunkleid sahen, rissen sie es ihr vom Leibe. ›Seide! Seide!‹ brüllten sie. ›Alle sollen Spitalfields-Seide tragen!‹ Sie kämpften um ihr Leben. Sie waren hierhergekommen und hatten alles zurückgelassen, was sie besaßen, sie hatten ihre Webstühle aufgestellt, sie hatten schöne Stoffe produziert, und gerade, als der Erfolg sich einstellte, erlaubte die Regierung den Import französischer Seide. Die törichten Leute glaubten, diese sei besser, und brachten unsere Arbeiter an den Rand des Ruins. Aber so sind die Engländer eben. Sie meinen immer, die Ausländer produzieren bessere Ware als ihre eigenen Landsleute. Jedenfalls war unser Geschäft damals fast am Ende.«

»Warum regst du dich jetzt noch so darüber auf« fragte ich. »Das ist doch längst vorbei.«

»Ich fühle mit den armen Menschen, weil ich weiß, wie sie gelitten haben. Und es könnte wieder passieren.«

»Die ärmsten«, sagte Cassie. »Es muß furchtbar sein zu hungern. Vor allem für die kleinen Kinder.«

»Sie leiden zuallererst«, sagte Philip. »Es war eine langwierige ungestüme Geschichte. Vor gut hundert Jahren gab es einen großen Aufstand. Die Regierung hatte soeben den Vertrag von Fontainebleau unterzeichnet, der die steuerfreie Einfuhr von französischer Seide erlaubte. Die Arbeiter waren verzweifelt. Als der König auf dem Weg ins Parlament war, beschlossen sie, dem Unterhaus eine Petition vorzulegen. Sie waren der Meinung, der Herzog von Bedford sei von den Franzosen bestochen worden, um dem Vertrag von Fontainebleau zuzustimmen. Nachdem sie zum Parlament marschiert waren und eine Vertagung erzwungen hatten, überfielen sie den Wohnsitz Bedfords. Die Wachen wurden gerufen. Da flohen die Arbeiter, aber viele wurden von Pferden niedergetrampelt. Manche starben. Sie hatten gedacht, in einen sicheren Hafen zu gelangen, als sie ihre Heimat verließen, aber sie mußten sich ihr Fortkommen hart erkämpfen.«

»Und sie haben es geschafft«, sagte ich, »und jetzt ist alles gut.« Er zuckte mit den Achseln. »Man kann nie wissen, was für Schwierigkeiten auftreten. So ist es nun mal im Leben, Lenore.« Julia gähnte. »Es wird Zeit heimzukehren«, sagte sie.

In diesen Ferien gewann ich Philip recht lieb. Er war ganz anders, wenn Charles nicht dabei war. Philip kam zu Grandmère herauf. Er befühlte kenntnisreich die Stoffballen und sprach über die einzelnen Webarten. Er interessierte sich sehr für Grandmères Webstuhl. »Benutzen Sie ihn oft« fragte er.

»Nur, wenn Sir Francis einen besonderen Wunsch hat.« Sie erzählte von Villers-Mûre und der Fabrik mit den Bougainvillea-Ranken an den Mauern und der Werkhalle mit den großen Fenstern, die das Licht einließen.

Philip war von dem Thema sichtlich angetan. Er sprach von einer neuen Spinnmethode, mittels der, was bislang Abfall war, zu gutem Material verarbeitet werden konnte. »Ein gewisser Mr. Lister aus Bradford hat hierfür einen Spezialwebstuhl entwickelt«, erklärte er. »Er wird die Branche revolutionieren.«

Ich verstand vieles nicht, was sie besprachen, hörte ihnen aber trotzdem gerne zu. Grandmères Wangen waren gerötet, und Philip erzählte begeistert. Sie verstanden sich gut, und es ist immer sehr erfreulich, wenn Menschen, die man gern hat, sich mögen. Grandmère machte Tee, und wir verließen das Atelier, um ihn in ihrem kleinen Wohnzimmer zu trinken. Philip sagte, er wolle endlich ins Geschäft einsteigen. Das Warten falle ihm schwer. Sobald er mit dem Studium fertig sei, könne er mit der Arbeit beginnen, das habe sein Vater ihm versprochen. Er hätte am liebsten auf die letzten Semester seiner Ausbildung verzichtet, aber in dieser Hinsicht sei sein Vater unnachgiebig.

»Und Ihr Bruder« fragte Grandmère.

»Ach, der hat nur sein Vergnügen im Sinn. Aber ich nehme an, das gibt sich.«

»Er hat nicht Ihren Enthusiasmus«, bemerkte Grandmère.

»Das kommt noch, Madame Cleremont«, versicherte Philip.

»Wenn er erst einmal die Nase in dieses faszinierende Geschäft gesteckt hat, kann es doch gar nicht anders sein, oder«

Sie lächelte ihn an. »Ich bin froh, daß Sir Francis Sie als Nachfolger hat. Das muß ihm eine große Freude sein.«

»Mein Bruder wird sich wohl auf einem anderen Gebiet des Gewerbes bewähren. Mir hat es die eigentliche Seidenproduktion angetan, der gesamte Vorgang. Die Raupen, die sich von Maulbeerblättern ernähren und ihre Kokons spinnen, um das edelste Material der Welt zu erzeugen...«

Er sprach viel von Vorgängen, die ich nicht begriff. Ich saß dabei und beobachtete zufrieden, wie Grandmère und Philip sich von Minute zu Minute besser verstanden.

Als er fort war, machte sie aus ihrer Freude keinen Hehl. Während ich ihr half, die Tassen wegzuräumen, sang sie leise vor sich hin:

En passant par la Lorraine

Avec mes sabots...

Das sang sie immer, wenn sie glücklich war. Ich hatte sie einmal gefragt, warum sie dieses Lied so gern habe, und sie erzählte mir, daß sie es schon als Kind gesungen und geliebt habe. Das Mädchen, von dem in den Zeilen die Rede sei, würde von allen für dumm gehalten, weil niemand wisse, daß es vom Sohn des Königs geliebt wurde.

»Und heiratete das Mädchen den Königssohn« fragte ich.

»Wir wissen es nicht. Er hat ihr ein Majoransträußchen geschenkt, und wenn dies blüht, soll sie Königin werden. Aber das Lied hört auf, ehe das erzählt wird, und deshalb habe ich es so gern.« Dann sagte sie lächelnd: »Philip ist einer, der diese Arbeit liebt. Er ist wie sein Vater. Es ist ein Glück für Sir Francis, so einen Sohn zu haben.«

»Du hast ihn sehr gern, nicht wahr, Grandmère«

Sie nickte und lächelte verschmitzt, und sie hatte ganz verträumte Augen.

Wir wurden langsam erwachsen. Julia war fast siebzehn, ich war über fünfzehn. Julia hatte sich verändert. Sie war ganz versessen darauf, uns zu zeigen, daß sie kein kleines Mädchen mehr war. Sie sollte in die Londoner Gesellschaft eingeführt werden. Lady Sallonger sprach viel davon. Wir pflegten den Tee mit ihr im Salon einzunehmen. Ich war oft schon vorher da und las vor. Ab und zu mußte ich innehalten, um ihr das Seidengarn, das sie zum Sticken benötigte, einzufädeln. Sie nahm meine Zeit immer mehr in Anspruch. Julia und Cassie kamen erst Punkt vier Uhr und verbrachten dann eine Stunde bei ihrer Mutter. Clarkson schob den Teewagen herein, und Grace stand bereit, um uns aufzuwarten; doch oft entließ Lady Sallonger sie, und es war meine Aufgabe, den Tee einzuschenken. »Lenore macht das schon«, sagte sie, und dann hieß es: »Lenore, etwas mehr Sahne bitte! Oh, und bring mir ein Hörnchen!« Sie aß aber nicht, sondern zerkrümelte das Hörnchen nur auf ihrem Teller.

Zu dieser Zeit drehten sich alle Gespräche um Julias bevorstehende Einführung in die Gesellschaft. »Meine Güte, ich sollte dabeisein, aber das ist unmöglich. Lenore, ich habe ganz taube Füße. Zieh mir die Pantoffeln aus, und reibe sie ein bißchen, ja Ah, so ist es besser. Welche Erleichterung... Wie gesagt, bei meinem Zustand ist das leider unmöglich. Die Kleider, die du brauchst, Julia, wird natürlich Madame Cleremont anfertigen. Sie muß sich Schnittmuster besorgen. Vielleicht kann dein Vater welche aus Paris kommen lassen.«

Julia faltete die Hände und hörte verzückt zu. Sie sehnte sich danach, »eingeführt« zu werden. Sie sprach mit mir und Cassie fast nur noch von Bällen, Banketten, Lustbarkeiten... und ganzen Heerscharen von jungen Männern, die alle um ihre Hand anhalten würden.

Ich hatte die Zofe Miss Logan, die sich in solchen Dingen auskannte, zu Miss Everton sagen hören: »Kurz und gut, sie sind Geschäftsleute, und das setzt der Sache ’nen Dämpfer auf. Aber sie haben Geld, und Geld spricht für sich.«

Julia sollte also auf den Heiratsmarkt gebracht werden, um ihre Vorzüge zur Schau zu stellen. Sie war jung, zuweilen recht hübsch, wenn sie gut gelaunt war, und konnte es kaum erwarten, einen Ehemann zu finden. Ihr Wert war allerdings vermindert durch das Etikett »Geschäftsleute«, was jedoch durch ein anderes, »Geld«, ausgeglichen wurde.

Lady Sallonger sagte: »Die Gräfin Ballader soll in solchen Angelegenheiten sehr gut sein. Die ärmste, sie braucht das Geld, seit der Graf tot ist. Er hat sie praktisch ohne einen Pfennig zurückgelassen. Spielschulden, heißt es, und Alkohol haben sein ganzes Vermögen verschlungen, und nach seinem Tod kam alles ans Licht. Die arme Gräfin! Allerdings war sie von vornherein nicht ganz... Sie war Schauspielerin oder so etwas. Die dritte Frau des Grafen, und er war schon etwas senil, als er sie heiratete. Und jetzt muß sie sich auf diese Weise ihren Unterhalt aufbessern. Sie ist teuer, aber bei Maria Cranley war sie sehr gut. Ein so unansehnliches kleines Ding, hat aber eine gute Partie gemacht... Allerdings mehr Geld als blaues Blut.«

Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, daß Geld vielleicht nützlicher sei als blaues Blut.

»Das ist wahr, Lenore. Würdest du mir noch ein Kissen hinter den Rücken legen So ist es besser. Ich bin auf einmal so müde. Und ich habe meinen Fächer fallen lassen. Ah, da ist er ja. Und noch eine Tasse Tee, Lenore! Nimm das Hörnchen fort. Oje, der ganze Boden ist voll Krümel. Ist das Madeirakuchen Ich nehme ein Stück. Nein, ich versuche lieber ein Obsttörtchen. Und noch Sahne, bitte! Ja, die Gräfin soll ideal sein. Sie kennt sich in der Gesellschaft aus, und sie ist strebsam und praktisch aufgrund ihrer Herkunft. Aber letztere scheint alle Welt vergessen zu haben, und der Name Ballader gilt sehr viel. Julia, es ist sehr traurig, daß ich als deine Mama nicht das Nötige für dich tun kann.« Dann sprach sie von den benötigten Kleidern.

»Ich werde Madame Cleremont zu mir bitten müssen. Es gibt ja so viel zu tun! Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll.«

Ich mußte unwillkürlich lächeln. Lady Sallonger würde nämlich sehr wenig zu schaffen haben, das erledigten doch andere für sie. Grandmère war ganz aufgeregt wegen der Kleider, die sie für Julia anfertigen sollte. Sie machte eine Menge Entwürfe. Ich zeichnete auch einen. Grandmère wollte ihn mit den anderen zur Begutachtung vorlegen, aber erst sagen, daß er von mir stammte, nachdem die Wahl getroffen war.

Julia, Cassie und ich ritten fast jeden Nachmittag aus. Wenn wir zu dritt waren, durften wir ohne Begleitung eines Stallburschen reiten, vorausgesetzt, wir entfernten uns nicht weiter als bis zu dem kleinen Weiler Branches Burrow auf der einen und King’s Arms auf der anderen Seite. Der Wald war uns im Umkreis von etwa zehn Kilometern um das Haus vertraut, aber jenseits dieser Begrenzung umherzustreifen war gefährlich, denn man konnte sich leicht verirren.

Ich werde diesen entsetzlichen Tag nie vergessen. Wir ritten durch den Wald, alles war so friedlich. Die Sonne schien durch die Blätter und warf ein scheckiges Muster auf den Waldboden, und ein lieblicher Geruch nach feuchter Erde hing in der Luft. Julia redete natürlich von ihrer Einführung in die Gesellschaft. Cassie machte ein nachdenkliches Gesicht, vermutlich fragte sie sich ängstlich, ob auch sie demnächst »eingeführt« würde. Ich hatte solche Sorgen nicht. Ich wußte nicht, ob ich darüber froh oder bekümmert sein sollte. Ich glaube, Grandmère machte sich Hoffnung, daß ich eingeladen würde, auch teilzunehmen, nicht an Julias Einführung, aber an der von Cassie, die, wie ich vermutete, nicht ganz so bombastisch ausfallen würde.

Als wir uns dem See näherten, hörte ich Stimmen und kreischendes Gelächter. »Hier spielen ein paar Buben aus den Dörfern«, meinte Julia. »Sie kommen gern hierher.« Als wir in Sichtweite kamen, bemerkten sie uns. Es waren eigentlich keine Buben mehr; ich schätzte sie auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Als wir heranritten, verstummten sie. Ich wollte meinen Augen nicht trauen: Willie war an einen Baum gefesselt.

Ich rief: »Willie, was machst du da«

Die Jugendlichen, es waren etwa sechs, starrten uns sekundenlang an. Etwas Boshaftes ging von ihnen aus. Ich spürte es, bevor ich gewahr wurde, was sie getan hatten. Einer rief: »Die sind vom Haus!« Darauf rannten alle blitzartig davon.

Ich sprang vom Pferd und lief zu Willie. Er versuchte uns etwas zu sagen, fand aber keine Worte. In seinem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen. Inzwischen waren auch Julia und Cassie herangekommen.

»Oh, seht!« rief Julia und wies mit dem Finger. Da sah ich es. Der Mischlingshund war an einen anderen Baum gebunden. Sein Fell war blutig, und er lag ganz still.

Ich band Willie los. »Was ist passiert« rief ich. Er antwortete nicht. Er lief zu dem Hund und nahm ihn in die Arme. Das Tier gab keinen Laut von sich und regte sich nicht, und da wußte ich, daß es tot war. Die Jungen hatten den Hund getötet. Wie konnten sie etwas so Grausames, Sinnloses tun

»Erzähl uns, was passiert ist!« sagte Julia. Aber Willie konnte noch immer nicht antworten. Er stand da, den Hund an sich gedrückt. Ich sah, daß ein Bein des Tieres gebrochen war.

»Willie«, sagte Cassie sanft, »kannst du uns erzählen, was passiert ist« Willie schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

»Das waren die Jungen«, sagte Julia. »Oh, wie gemein! Willie, warum haben sie das getan« Aber es hatte keinen Sinn zu versuchen, ihn zum Sprechen zu bringen. Er konnte nur an eins denken: Sein Hund war tot. Niemanden hatte Willie so geliebt wie diesen Hund, und niemand hatte Willie so geliebt wie diese kleine Kreatur. Sie hatten einander gefunden, einander getröstet und füreinander gelebt. Und nun war der Hund mutwillig von herzlosen Buben getötet worden, die sich daran ergötzten, ein hilfloses Tier und einen armen Kerl, den sie für geringer als sich selbst erachteten, zu quälen.

Ich wußte nicht, wie wir Willie trösten sollten. Cassie weinte leise. Ich nehme an, das bewies ihm, daß wir mit ihm fühlten. »Willie«, bat ich, »wenn du uns erzählen könntest, was passiert ist...«

Plötzlich fing er an zu sprechen. »Wir sind am See gesessen und ham geguckt. Die sind gekommen und ham uns ausgelacht. Ich hab’ sie nicht angeguckt. Dann hat einer gesagt: ›Du magst doch den See so gern, nicht‹ Und sie ham mich genommen und wollten mich reinschmeißen.« Er sah auf den Hund in seinen Armen und fuhr fort: »Er hat ihn gebissen. Als er mich packte, hat er ihn gebissen.«

»Hoffentlich feste«, sagte ich.

»Dann ham sie das Seil um mich rumgemacht, und ihn ham sie genommen und an den Baum gebunden, und dann ham sie Steine auf ihn geschmissen.«

»Ich werde es Carter melden«, sagte ich. »Sie müssen bestraft werden.«

»Das macht das arme Hündchen auch nicht wieder lebendig«, wandte Julia ein.

»Es wird ihnen zeigen, was mit Rowdys geschieht.« Aber ich wußte, daß Carter keine Gewalt über Jungen hatte, die nicht zu unseren Stallungen gehörten.

»Wir müssen deinen Hund begraben, Willie«, sagte ich.

Willie setzte sich mit dem Hund in den Armen in Bewegung. Wir saßen auf und ritten zum Stall, wo wir Carter, dem Stallmeister, berichteten, was geschehen war.

»Was waren das für Jungen« fragte er.

»Wir kannten sie nicht. Sie sind weggelaufen, als wir auftauchten.«

»Der Hund war sein ein und alles.«

»Deswegen haben sie es ja getan«, sagte ich. »Ich wünschte, wir könnten sie finden. Sie müssen gehörig bestraft werden.«

»Wenn es welche aus meinem Stall gewesen wären, die bekämen was zu hören. Ich hoffe nur, daß keiner von ihnen so etwas tun würde. Aber jetzt müssen wir den Hund fortschaffen.«

Wir gingen traurig nach Hause. Wir waren alle zutiefst erschüttert, und Julia erwähnte ihre Einführung in die Gesellschaft einen ganzen Tag lang mit keinem Wort.

Ich kannte Willie gut genug und wußte, daß er sich nicht freiwillig von dem Hund trennen würde. Er wollte ihn lieber tot als gar nicht.

Man würde ihn ihm mit Gewalt fortnehmen müssen, daher beschloß ich, etwas zu unternehmen. Mit einer kleinen Pappschachtel und einem Bindfaden machte ich mich auf die Suche nach Willie. Ich rechnete kaum damit, ihn am See zu finden, aber dort war er. Er saß bei dem Baum, an den sie den Hund gebunden hatten, und hielt das Tier in den Armen.

»Willie, wir müssen ihm ein Begräbnis geben«, sagte ich. »Ohne das kann er nicht glücklich werden.«

»Sie wollen ihn mir wegnehmen.«

»Ja«, sagte ich, »aber wenn wir ihm ein anständiges Begräbnis geben, nehmen sie ihn dir nicht weg.« Ich hielt ihm die Schachtel hin. »Er mag ausruhen«, fuhr ich fort. »Er ist müde. Man muß ihn in Frieden schlafen lassen.« Zu meiner Überraschung legte er den Hund in die Schachtel. »Wir begraben ihn und machen ihm ein kleines Kreuz«, sagte ich weiter. »Hier, siehst du diese Stöcke Wenn ich sie quer übereinanderlege und zusammenbinde, ergeben sie ein Kreuz, und damit bekommt er ein christliches Begräbnis.« Er beobachtete mich genau, und ich rechnete jeden Moment damit, daß er die Schachtel an sich reißen würde. Sanft sagte ich: »Alle müssen irgendwann sterben. Und wenn sie tot sind, muß man sie respektvoll behandeln. Man muß ihnen ein anständiges Grab geben. Sie wollen in Frieden ruhen.« Er hörte mir still verwundert zu, und ich fuhr fort: »Ich weiß, was wir tun. Das Mausoleum ist genau das richtige.« Er sah mich verständnislos an.

»Es ist das Haus der Toten. Du kennst es. Es ist nicht weit von hier. Dahin werden die Sallongers gebracht, wenn sie gestorben sind. Ein hübsches Plätzchen. Du hast die Engel dort gesehen. Sie bewachen es. Wir bringen ihn dorthin und begraben ihn, ja«

Er sah mich immer noch verwundert an. Ich legte meinen Arm um ihn und drückte ihn an mich. Er zitterte. »Es ist das beste«, sagte ich. »Er wird seinen Frieden haben, und du kannst ihn besuchen kommen. Du wirst wissen, daß er dort unter der Erde liegt. Du kannst an seinem Grab sitzen und zu ihm sprechen. Dann ist es, als wäre er dort bei dir, nur daß du ihn nicht sehen kannst.«

Er hielt die Schachtel fest an sich gedrückt. Ich sagte: »Komm mit, Willie! Wir wollen es jetzt gleich tun.« Ich machte mich auf den Weg und rechnete halb damit, daß er mir nicht folgen würde, aber er kam mit, und ich führte ihn zur Familiengruft der Sallongers. Das Mausoleum hatte mich stets angezogen, seit ich es zum erstenmal sah und Grandmère mir erklärte, was es damit auf sich habe. »Wer von der Familie stirbt, kommt ins Mausoleum. In den Särgen liegen die Gebeine lange verblichener Sallongers«, hatte sie gesagt. »Sie waren im Leben vereint und bleiben es im Tode. Bei großen Familien sind solche Grüften Tradition.«

Ich ging des öfteren hin und sah mir das Mausoleum an, und jedesmal suchte ich Julia und Cassie zum Mitkommen zu überreden. Ich war gefesselt von den zwei Engeln mit den Flammenschwertern. Sie glichen denen im Garten Eden, die in meiner Bibel abgebildet waren. Das eiserne Tor war schön geschmiedet, und in die Steinplatten der Mauer waren Figuren eingemeißelt. Als ich kleiner war, bildete ich mir ein, die Gesichter veränderten sich, während ich sie betrachtete. Manchmal träumte ich von der Begräbnisstätte. Ich sah mich dort eingeschlossen und konnte nicht hinaus, die Särge taten sich auf, und die lange verblichenen Sallongers kamen heraus und sahen mich an.

»Hier wollen wir ein Grab schaufeln, Willie«, sagte ich, »an der Mauer der Gruft. Dein kleiner Hund wird nahe bei den Sallongers ruhen. Das wird ihn freuen, denn es ist ein richtiges Grab. Wir setzen ein Kreuz darauf, dann kannst du es leicht finden. Vielleicht pflanzen wir auch Blumen. Alle werden wissen, daß er dort begraben liegt und wie gern wir ihn hatten.«

Willie nickte bedächtig. Ich hatte eine kleine Schaufel mitgebracht. Die gab ich ihm und sagte: »Du gräbst, Willie. Er will bestimmt, daß du ihn beerdigst. Dich hatte er am liebsten.«

So haben wir denn Willies Hund begraben. Willie ging oft zum Grab, setzte sich und redete zu seinem Liebling.

Die Hündinnen in den Stallungen bekamen oft Junge. Ich veranlaßte Julia, um eins zu bitten, damit wir es Willie schenken konnten. Das tat sie gern. Ich wußte, daß wir ihn am Grab treffen würden. »Hallo, Willie«, sagte ich. »Hier ist ein Hündchen. Es möchte bei dir bleiben, wenn du es haben willst.«

Willie starrte das Hündchen unbewegt an. Cassie streichelte es und sagte: »Du möchtest bei Willie bleiben, nicht wahr« Sie brachte ihr Gesicht nahe an den Welpen und mußte unversehens niesen.

»Einmal Leid, zweimal Freud«, zitierte Julia.

»Dann bekomme ich Freude«, sagte Cassie, denn sie nieste noch einmal. »Du bist wie Pfeffer, Hündchen«, fuhr sie fort. »Du machst mich niesen. Ich werde dich Pepper nennen.«

»Ein hübscher Name für einen Hund«, fand Julia.

Ich nahm den Welpen und hielt ihn Willie mit den Worten hin: »Schau, Pepper, ich glaube, du und Willie, ihr werdet euch verstehen.«

Willie nahm das Hündchen auf den Arm. Es bellte leise und leckte ihm die Hand. Da leuchtete Willies Gesicht plötzlich freudig auf, und ich wußte, daß wir richtig gehandelt hatten.

»Er gehört dir, Willie«, sagte ich. »Er sucht ein Zuhause. Willst du dich um Pepper kümmern«

Ich bin sicher, daß er danach nicht mehr trauerte.

Sir Francis kam ins Haus der Seide. Wie immer wurde sehr viel Aufwand getrieben, wenn er da war. Seine große Kalesche wurde neben dem Gig und dem Dogcart abgestellt, die nun zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen schienen. Der Kutscher Cobb bezog über den Stallungen Quartier. Ich glaube, er übte auf die Stallburschen dieselbe Wirkung aus wie Sir Francis auf das Hauswesen. Weil er aus London kam, fühlte Cobb sich dem armen Landvolk haushoch überlegen. Die Mahlzeiten waren nun feierlicher. Lady Sallonger verwandte mehr Sorgfalt auf ihre Toilette denn je, aber gleichzeitig schien sie noch kränker zu werden, und sie lag elegant mit Bändern und Spitzen angetan auf dem Sofa hingestreckt. Sir Francis setzte sich zu ihr und nannte sie »meine Liebe«. Er tätschelte ihre Hand und hörte geduldig zu, wenn sie ihm ihre Leiden schilderte. Clarkson gab sich noch würdevoller als sonst, und Mrs. Dillon rannte in der Küche hin und her, gab und widerrief Anordnungen, bis Grace sagte, sie wisse nicht mehr, wo ihr der Kopf stehe.

Auch mit Grandmère redete Sir Francis eine Zeitlang unter vier Augen.

Nach ein paar Tagen reiste er wieder ab. Als er fort war, sprach Grandmère mit mir über ihn. »Etwas geht ihm im Kopf herum«, sagte sie. »Mir schwant, die Geschäfte gehen nicht so gut.«

»Hat er sich beklagt«

»Das nicht, aber er machte so ein besorgtes Gesicht. Er sagte, im Absatz sei eine Flaute eingetreten und wir brauchten etwas, das ihn wieder ankurbelt. Das waren seine Worte. Er möchte etwas Neues. Man könne nicht stillstehen. Wir müßten etwas finden und es müsse gut sein. Das Bewährte sei ja gut und schön, aber die Leute wollten etwas Neues. ›Was wir finden müssen, Madame Cleremont‹, sagte er, ›ist eine neue Webart für Seide, etwas Zündendes, das noch niemand hat.‹ Ich habe ihn kaum je in so einer Stimmung gesehen.«

»Meinst du, er ist besorgt wegen Julias Einführung in die Gesellschaft Das muß sehr kostspielig sein.«

Grandmère lachte. »Das glaube ich nicht, mon amour. Das ist bloß eine Nebensache. Sir Francis geht es nur ums Geschäft. Vielleicht hat er dieses Jahr nicht so viel verdient wie letztes Jahr. Er denkt in großen Zahlen. Es wird schon wieder werden. Ihn verlangt bloß nach etwas Neuem. Das wünschen sie sich alle: eine Erfindung, die sie ihren Konkurrenten weit voraus sein läßt.«

»Ist die Konkurrenz denn so groß«

Sie verdrehte die Augen zur Decke. »Chérie, die Konkurrenz schläft nie, und hinzu kommt diese jahrelange Rivalität zwischen den Häusern Saint Allengère und Sallonger. Die einen müssen die anderen übertrumpfen. Die katholischen Saint Allengères und die protestantischen Sallongers. Kannst du dir die Querelen vorstellen, wenn ein Familienzweig eine neue Religion annimmt Die Religion muß für eine Menge Ärger geradestehen, ma petite

»Aber sie sind doch befreundet und besuchen sich!«

Sie schürzte die Lippen. »Es ist, wie sagt man, eine bewaffnete Neutralität. Beide Häuser sind von dem Wunsch beseelt, das andere auszustechen. So geht das seit Jahren.«

»Kam Sir Francis oft nach Villers-Mûre, als du dort warst«

»Äußerst selten.«

»Du bist aber mit ihm hierhergekommen. Das habe ich nie richtig verstanden, und vieles andere auch nicht.«

Sie nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und sah mich zärtlich an. »Es gibt so vieles, was die meisten von uns nicht verstehen, chérie

Bald ging es im Haus wieder normal zu, und den ganzen Sommer hindurch beherrschte Julias bevorstehende Einführung in die Gesellschaft den Haushalt. Die Ballsaison dauerte von Ostern bis zum August, daher mußte Julia bis zum Frühjahr gerüstet sein. Die Gräfin Ballader kam für etwa eine Woche, ich vermutete, sie wollte sich vergewissern, daß Julia ihrer Unterweisung würdig sei. Sie war eine hochgewachsene Frau mit einer imponierenden Ausstrahlung, und man war auf Anhieb von ihrer Vitalität beeindruckt. Ihr kastanienbraunes Haar wirkte etwas heller als von der Natur beabsichtigt, ihre strahlenden Augen schimmerten dunkelgrün. Obwohl sie von den Sallongers angeheuert worden war, um Julia auf den Eintritt in die Gesellschaft vorzubereiten, ließ sie durchblicken, daß sie ihnen eine große Gunst erweise. Sie führte mehrere lange Gespräche mit Lady Sallonger. Manchmal waren Julia, Cassie und ich dabei zugegen. Die großen grünen Augen der Gräfin musterten uns prüfend. Anfangs versuchte sie, Lady Sallonger einzuschüchtern. Sie merkte aber bald, daß sie in ihr eine würdige Gegnerin hatte. Lady Sallonger hatte sich lange darin geübt, Verantwortung auf andere abzuwälzen, und lud sie nun sachte auf die Schultern der Gräfin. Sie sprachen von Bällen, Gästelisten und Kleidern. Julia würde lernen müssen, anmutiger zu gehen; ihr Hofknicks bedürfe der Verbesserung. Die Gräfin wollte sichergehen, daß Julias Eintritt in die Gesellschaft von Erfolg gekrönt sein würde, bevor sie es unternahm, sie vorzubereiten.

»Ich hatte mit all meinen Mädchen Erfolg«, verkündete sie.

Lady Sallonger lächelte und meinte, die Gräfin könne sich glücklich schätzen, bei so guter Gesundheit zu sein. Wenn nur sie selbst kräftiger wäre! Sie ließ sich sogar von der Gräfin ein Kissen für ihren Rücken bringen und ihren Fächer aufheben, den sie in bestimmten Momenten gerne fallen ließ.

Ich fand das alles höchst erstaunlich und aufregend, und zu Cassie sagte ich: »In zwei, drei Jahren bist du an der Reihe.« Cassie schauderte. »Ich dagegen«, fuhr ich fort, »werde mir selbst einen Mann suchen müssen, wenn ich einen haben will.«

»Du hast es gut«, sagte Cassie.

»Bis dahin hast du noch viel Zeit, und wenn es soweit ist, wirst du von Julia alles darüber erfahren haben«, beschwichtigte ich sie. Im Atelier ging es hoch her. Julia war oft zur Anprobe da.

»Sind die Sachen, die du da nähst, nicht nächstes Jahr schon wieder aus der Mode« fragte ich Grandmère.

»Auf die Mode kommt es mir nicht so sehr an«, antwortete sie.

»Ich mache, was ihr steht. Julia braucht Rüschen und Bänder. Ich arbeite für Julia, nicht für die Mode. Wärst doch du diejenige! Welch ein Kleid würde ich dir machen!«

»Ich werde nie diejenige sein. Vergiß nicht: Ich bin nur Lenore, kein Fräulein.« Sogleich wünschte ich, ich hätte das nicht gesagt, denn sie machte ein trauriges und etwas erschrockenes Gesicht, so daß ich den Wunsch hatte, sie zu trösten. Ich legte meinen Arm um sie und drückte sie an mich.

»Es wäre wunderbar, wenn...«, begann sie.

»Wenn was« fragte ich.

Aber sie wollte nicht weitersprechen. Ich mutmaßte, sie war bekümmert, weil ich nicht in die Gesellschaft eingeführt werden würde, und sie fragte sich, wie ich einen netten, reichen Ehemann finden solle.

In diesem Sommer kam Drake Aldringham ins Haus der Seide. Wir wußten, daß Charles in den Ferien einen Freund mitbringen würde. Philip kam als erster. Er kannte Drake. »Charles kann sich etwas darauf einbilden, daß er Drake bewog hierherzukommen«, sagte er.

»Warum« wollten wir wissen.

»Warum« rief Philip beinahe entrüstet. »Es handelt sich immerhin um Drake Aldringham.«

»Was ist so besonders an ihm« fragte Julia aufgeregt, denn seit von ihrer Einführung in die Gesellschaft die Rede war, interessierte sie sich sehr für junge Männer. Das war wohl ganz natürlich, da sie ja demnächst darauf abgerichtet wurde, einen von ihnen in den Stand der Ehe zu locken.

»Er ist ein Aldringham«, sagte Philip.

»Na und« fragte Julia.

»Willst du etwa behaupten, du hast noch nie von Admiral Aldringham gehört Das ist Drakes Vater.«

»Ist er sehr berühmt« fragte ich.

»Hm ja, einigermaßen.«

Das war eine recht unverbindliche Antwort, und mehr war aus Philip vorerst nicht herauszubekommen.

Nachmittags beim Tee wurde über den Besuch gesprochen. Ich schenkte ein, und Philip reichte seiner Mutter ihre Tasse. »Danke, mein Lieber«, sagte sie. »Etwas mehr Milch, und ich nehme ein Butterbrot. Ist Honig da Klarer oder fester« Es war fester. »Oje, laß klaren kommen! Und lege die Decke um mich, sei so gut, Lenore! Draußen scheint die Sonne, aber hier drinnen ist es kühl.« Als der klare Honig gebracht war und sie damit herumgespielt und ich ihre Tasse wieder gefüllt hatte, kam Lady Sallonger auf den bevorstehenden Besuch zu sprechen. »Wann, glaubst du, werden Charles und Drake Aldringham eintreffen, Philip« fragte sie.

»Das weiß ich nicht genau, Mama. Sie wollten eine Wanderung im Seengebiet machen, aber ich denke, Charles und sein Gast werden bald hier sein.«

»Ich freue mich darauf, seine Bekanntschaft zu machen. Der Sohn des Admirals! Und gibt es nicht auch einen Aldringham im Kabinett«

»Ja, Mama, das ist Sir James, Drakes Onkel. Die Aldringhams sind eine sehr angesehene Familie.«

»Drake ist ein außergewöhnlicher Name.«

»Er ist nach dem großen Sir Francis Drake benannt.«

»Sich vorzustellen, wie ein großer Held der Vergangenheit zu heißen! Da hätte man ja das Gefühl, man müsse ihm nacheifern.«

»Bloß würde man von dir nicht erwarten, daß du die spanische Armada besiegst«, sagte Philip. »Der Name hat aber noch eine andere Bedeutung. Drakon. Es ist ein altes englisches Wort, und das lateinische ist draco, Drache.«

»Wie gebildet du bist!«

»Ich habe nachgesehen.«

»Wegen dieses Drake«

»Ich fand es interessant.«

»Ich bin gespannt, wie er ist«, sagte Julia.

»Ein großer Kapitän zur See oder ein Drache« rätselte ich.

Cassie meinte: »Er ist wahrscheinlich ganz sanft und bescheiden, kein bißchen wie Sir Francis Drake oder ein Drache. Es kommt oft vor, daß die Menschen ganz anders sind, als ihre Namen vermuten lassen.«

»Laßt euch überraschen«, sagte Philip.

»Lenore, bring mir ein Obsttörtchen!« befahl Lady Sallonger.

»Das sind ja Himbeeren! Ich möchte lieber schwarze Johannisbeeren. Ob es wohl Törtchen mit schwarzen Johannisbeeren gibt« Es war das übliche Spielchen. Ich läutete, Grace erschien und kehrte alsbald mit Johannisbeertörtchen zurück.

Ich lächelte, als Lady Sallonger sich eins nahm, an dem sie bestimmt wieder bloß knabbern würde. Wären es von vornherein schwarze Johannisbeeren gewesen, hätte sie Himbeeren verlangt. Aber in der Küche war man an ihre Marotten gewöhnt.

Ich war überzeugt, daß wir von Drake Aldringham enttäuscht sein würden.

Dann kam Charles allein, und alle waren bestürzt. Wir hatten so viel von Drake Aldringham gehört, daß wir ihn ungeduldig erwarteten. Charles sagte, Drake müsse noch für ein paar Tage zu einer alten Tante und werde ins Haus der Seide kommen, sobald er dort fortkönne.

Charles hatte sich verändert. Er war jetzt richtig erwachsen. Er hatte einen wiegenden Gang und sprach ein wenig schleppend. Er spielte den weltgewandten jungen Herrn, was mich amüsierte. Ich sah, wie er Grace wohlgefällig mit den Blicken folgte, und hörte Miss Logan zu Miss Everton sagen, sie möchte wissen, was er im Schilde führe, vielleicht sei es aber besser, es nicht zu wissen.

Miss Everton seufzte und sagte gefühlvoll: »Sie bleiben nicht lange jung.« Ich glaubte, sie spielte darauf an, daß sie im Haus der Seide nun bald nicht mehr gebraucht würde.

Philip war viel ernster als Charles. Ich hatte den Eindruck, daß Charles sich nicht besonders für die Familienfirma interessierte. Dafür interessierte er sich ungeheuer für die Weiblichkeit.

Einmal fühlte ich zu meinem Schrecken seinen Blick auf mir ruhen, als erwäge er... ja, was Ich hatte keine Ahnung. Aber der durchdringende Blick behagte mir nicht, und mir wurde unwillkürlich ganz heiß dabei.

Eines Tages saß ich allein im Garten und wartete auf Grandmère, die sich um diese Zeit oft zu mir gesellte. Ich hörte Schritte, und in der Annahme, sie sei es, blickte ich auf. Es war aber ein junger Mann. Hochgewachsen und sehr blond, ein gutaussehender nordländischer Typ. Als er mich sah, lächelte er freundlich.

»Oh, hoffentlich störe ich nicht«, sagte er.

»Nein«, erwiderte ich. »Was wünschen Sie Suchen Sie jemand«

»Ja, Charles Sallonger. Es war keine Zeit mehr, ihn zu verständigen. Ich habe mein Gepäck ins Haus gebracht, und weil von der Familie niemand da war, wollte ich mich ein bißchen im Garten umsehen. Ein hübsches Fleckchen ist das hier.«

»Sind Sie zu Besuch Dann sind Sie...«

»Drake Aldringham«, stellte er sich vor.

»Das habe ich mir fast gedacht.«

»Sind Sie Julia«

»Nein, ich bin Lenore Cleremont.« Sicher wußte er nichts damit anzufangen, deshalb erklärte ich: »Ich wohne hier. Ich gehöre nicht zur Familie. Meine Großmutter arbeitet hier, und ich bin hier zu Hause.«

»Charles sagte mir, dies ist der Landsitz der Sallongers. Sie haben noch ein Haus in London.«

»Ja, am Grantham Square. Ich war erst ein- oder zweimal dort. Sir Francis, Charles’ Vater, hält sich die meiste Zeit dort auf.« Ich war von seiner Freundlichkeit sehr angetan, und sein Verhalten hatte sich auch nicht geändert, als er erfuhr, daß ich nicht zur Familie gehörte. »Charles oder Philip werden sicher bald zurück sein«, sagte ich.

»Ich wollte Lady Sallonger meine Aufwartung machen, aber man sagte mir, sie ruhe gerade.«

»Ja, um diese Zeit zieht sie sich immer zurück«, sagte ich. »Wir haben Sie ungeduldig erwartet.«

»Wie nett von Ihnen.«

»Wir haben viel von Ihnen gesprochen... von wegen Sir Francis Drake und so.«

Er verzog das Gesicht. »Sie können sich denken, was ich mit so einem Namen zeit meines Lebens zu hören bekomme.«

»Er ist doch sehr anregend, möchte ich meinen.«

»Eher entmutigend. Man erwartet, daß ich zur See gehe.«

»Und wollen Sie das nicht«

Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte in die Politik.«

»Das ist bestimmt sehr aufregend. Immer ist etwas los, und Sie wirken am Geschick des Landes mit.«

Er lachte. »Wie Sie das sagen, hört es sich nach einer großen Verantwortung an, und das ist es ja auch. Ich wollte immer schon wissen, was vorgeht und wie wir uns in die europäische Politik einfügen. Ich habe mich viel mit meinem Onkel unterhalten. Er kennt meine Interessen.«

»Es muß sehr befriedigend sein zu wissen, was man will. Das befähigt einen, auf sein Ziel hinzuarbeiten. So viele Menschen sind unentschlossen.«

»Oft muß man Widerstände überwinden.«

»Aber das macht es um so spannender. Wie fängt man es an, daß man Politiker wird«

»Man beginnt auf der Universität. Ich mache alles mögliche, ich bin in einem Debattierverein und in einem politischen Club. Ich suche meinen Onkel häufig auf und verfolge seine Arbeit im Parlament. So etwas hat man im Blut. Ich lese Zeitungen und bilde mir meine Meinung über das Geschehen. Ich diskutiere darüber mit meinem Onkel, der mich in jeder Weise unterstützt. Ein Glück, daß ich ihn habe. Es ist so spannend, von allen möglichen Ereignissen zu erfahren. Die Menschen neigen dazu, sich in kleinen Kokons abzukapseln. Sie wissen, was in ihrem unmittelbaren Umkreis geschieht, aber von den Vorgängen in Afrika wissen sie eigentlich nichts. Das heißt, sie haben keine Ahnung, warum etwas geschieht. Verzeihen Sie, ich rede zuviel.«

»Nein, das interessiert mich sehr. Sie werden bestimmt ein hervorragender Politiker.«

In diesem Augenblick kam Grandmère in den Garten. »Grandmère«, rief ich ihr zu, »Mr. Drake Aldringham ist da, und er hat niemanden angetroffen.«

Sie kam sehr würdevoll auf uns zugeschritten. Man hätte sie für die Herrin des Hauses halten können. »Wir haben so viel von Ihnen gehört«, sagte sie. »Charles wird bestimmt untröstlich sein, weil er nicht da war, um Sie zu begrüßen.«

»Daran bin ich selbst schuld«, sagte er. »Ich hätte ihm Bescheid geben sollen, aber ich dachte, es geht schneller, wenn ich einfach komme.«

»Und so wurden Sie von meiner Enkeltochter empfangen.«

»Ja, wir haben uns sehr angeregt unterhalten, aber ich fürchte, ich habe zuviel von mir gesprochen.«

»Das zeichnet einen guten Politiker aus«, erwiderte ich, und er lachte.

Wir setzten uns an den Teich, und ich erklärte: »Mr. Aldringham hat mir von seinen Zukunftsplänen erzählt, Grandmère.«

Der Besucher meinte, er sei sehr gespannt auf das Haus der Seide gewesen. Es sei doch ein recht ungewöhnlicher Name.

»Sicher wissen Sie, daß die Sallongers die größten Seidenfabrikanten des Landes sind«, sagte Grandmère. Das wußte er nicht, aber es interessierte ihn, und ich erzählte ihm, wie die hugenottischen Saint Allengères nach England gekommen und Sallongers geworden waren. Darauf meinte er, er werde den Aufenthalt im Haus der Seide, nachdem er nun die faszinierende Geschichte kenne, um so mehr genießen.

Ich merkte Grandmère an, daß er ihr gefiel. Ich sah es an ihrem Blick; sie lächelte und nickte und war sehr gesprächig. Wir hätten uns noch lange munter so weiter unterhalten können, aber dann kam Charles. Bei seiner Rückkehr hatte man ihm sogleich berichtet, daß sein Gast eingetroffen und in den Garten gegangen sei. Charles stand am Gartentor und blickte erstaunt auf Drake Aldringham, der zwischen Grandmère und mir saß und mit uns plauderte wie mit alten Freunden. »Drake, alter Knabe!« rief er. Drake stand auf. »Da bist du ja! Ich hätte dich verständigen sollen, aber ich hielt es für vernünftiger, einfach herzukommen.«

»Schön, dich zu sehen. Tut mir leid, daß ich unterwegs war und du niemanden angetroffen hast.«

»Aber Fräulein Lenore und ihre Großmutter waren ja da. Wir haben sehr unterhaltsam geplaudert.«

Charles lachte. Uns würdigte er kaum eines Blickes. Er nahm Drakes Arm und sagte: »Gehen wir hinein!«

Drake lächelte uns über die Schulter zu. »Bis später!« sagte er.

Damit verschwanden sie. Grandmère sah mich an, ihre Augen lächelten. »Der ist ja reizend. Er ist sehr interessant. Er gefällt mir. Ein sehr netter junger Mann.«

»Ja, ich finde ihn sehr sympathisch.«

»Gut, daß solche Leute ins Haus kommen«, sagte Grandmère. Sie sah mich mit verträumten Augen an. Da wurde mir klar, wie sehr sie um meine Zukunft besorgt war. Als wir ins Haus zurückkehrten, summte sie »En passant par la Lorraine« vor sich hin.

Das ganze Haus war von Drake Aldringham bezaubert. Er hatte ein natürliches Auftreten, war leicht zu begeistern und nett zu jedermann. Sogar Cassie ging aus sich heraus und unterhielt sich ganz zwanglos mit ihm. Lady Sallonger war von ihm entzückt. Sie forderte ihn auf, sich zu ihr zu setzen und mit ihr zu plaudern. »Mein lieber Junge, Sie müssen mir alles von sich erzählen. Ich finde es ja so aufregend! Ich bin gleichsam eine Gefangene, dazu verurteilt, mein Leben hier auf der Couch zu verbringen, und Sie... Sie haben so wunderbare Pläne. Erzählen Sie mir von Ihrem Onkel, und natürlich von Ihrem Vater! Wann ziehen Sie ins Parlament ein Sie müssen unser Abgeordneter werden, nicht wahr, Julia Wir würden ihn alle unterstützen, nicht«

»O ja«, bestätigte Julia inbrünstig. Sie war auf dem besten Wege, sich in Drake zu verlieben, aber ich glaube, sie hätte sich in jeden jungen Mann vergafft, der damals aufgekreuzt wäre.

Er war überaus charmant. Er konnte auf Lady Sallongers leicht kokette Konversation eingehen und ganz ernst mit Philip reden; ich hörte ihn herzhaft mit Charles lachen; er verkehrte mit allen ganz ungezwungen. Für mich hatte er stets ein extra Lächeln, und im Salon setzte er sich oft neben mich. Ich dachte, weil er mich als erste angetroffen hatte, sei eine besondere Freundschaft zwischen uns entstanden.

Julia war darüber ein wenig verstimmt. Ich konnte das gut verstehen. Sie wünschte sich Drakes ungeteilte Aufmerksamkeit, und es war unverzeihlich, daß ich, die ich nicht einmal zur Familie gehörte, ihn ihr abspenstig machte. Wenn ich mit ihm zusammensaß, gesellte sich Cassie oft zu uns, und es war erstaunlich, wie sie in seiner Gesellschaft ihre Scheu verlor.

Immer öfter fühlte ich Charles’ Augen auf mich gerichtet, sein forschender Blick bereitete mir Unbehagen. Ich glaubte, er wolle mir damit bedeuten, ich solle nicht vergessen, wo mein Platz war. Um dem Gast etwas zu bieten, plante Lady Sallonger einen festlichen Abend. Etwa zwanzig Gäste sollten eingeladen und es sollte auch getanzt werden. Der Ballsaal des Hauses wurde kaum genutzt, aber das sollte sich nach Julias Einführung in die Gesellschaft natürlich ändern. Lady Sallonger gedachte, etliche Leute aus der näheren Umgebung einzuladen; die brauchten nicht hier zu übernachten. Und für die wenigen, die aus London kommen und über Nacht bleiben würden, bot das Haus der Seide Platz genug. Lady Sallonger wurde bei der Planung ganz aufgeregt.

Mir wurde aufgetragen, ihr Schreibblock und Federhalter zu bringen. »Nicht den, Lenore, den großen aus meinem Sekretär!« Schließlich hatten wir den richtigen Block und den richtigen Federhalter, und mit der Aufstellung der Liste konnte begonnen werden.

Nicht nur Lady Sallonger, das ganze Haus war in Aufregung. Auch ich sollte an dem Fest teilnehmen. Mir wurden bestimmte Aufgaben zugeteilt. »Du wirst dich um die Barkers kümmern, Lenore«, sagte Lady Salonger. »Ich nehme an, niemand wird sich mit ihnen unterhalten wollen, und die Leute fühlen sich nicht gerne vernachlässigt. Das würde ja dann den Anschein haben, daß das Fest kein Erfolg war. Vielleicht hätte ich sie nicht einladen sollen. Sie sind sehr, sehr reich, aber das ganze Geld kommt aus einem Bauunternehmen. Die Leute könnten das vielleicht vergessen, aber Jack Barker läßt es nicht zu. Die ganze Zeit spricht er von Grundstückserschließungen und dem Niedergang des Gewerbes. Ich habe sie nur eingeladen, um die Zahl komplett zu machen und weil sie so nahe wohnen, daß sie hinterher nach Hause gehen können.«

Als ich Grandmère erzählte, daß ich an dem Fest teilnehmen und die Barkers betreuen sollte, war sie hoch erfreut. »Ich werde dir ein Kleid nähen, mon enfant, in dem du alle ausstichst.«

»Das würde aber Julia nicht recht sein«, gab ich zu bedenken.

»Ach, es wird ihr gar nicht auffallen. Sie hat keinen Stil. Sie erkennt nicht, wenn etwas perfekt ist. Sie macht sich zuviel aus Prunk und Flitter, aber das hat nichts mit Stil zu tun, o nein. Das ist nicht chic..

Sie nähte mir ein Kleid, mein erstes Erwachsenenkleid. Es war aus flammenfarbener Seide, die gut zu meinen Haaren paßte; es hatte ein enganliegendes Mieder und kurze Puffärmel. Der Clou aber war der weite Rock mit den unzähligen Volants. Als ich es anprobierte, hatte Grandmère Tränen in den Augen.

»Du siehst deiner Mutter so ähnlich«, sagte sie. »Ich könnte beinahe glauben...«

Ich umarmte sie und sagte, das Kleid sei herrlich und würde für den Rest meines Lebens mein Lieblingskleid sein.

Der Abend kam, die Gäste trafen ein. Lady Sallonger empfing sie auf ihrer Couch. Sie sah sehr majestätisch aus, als alle herantraten und sich vor ihr verbeugten. Charles und Philip standen bei ihr und natürlich Drake Aldringham. Alles war sehr glanzvoll.

Es sollte ein warmes Buffet geben, im Speisezimmer waren Tische aufgestellt. Die Musikanten spielten schon im Ballsaal, und Lady Sallonger hatte sich, schwer auf Charles’ Arm gestützt, dorthin begeben und Platz genommen, um den Tanzenden zuzusehen.

Ich saß natürlich bei den Barkers. Mr. Barker sprach die ganze Zeit von seiner Baufirma. Mrs. Barker sagte sehr wenig; sie saß da, die Arme wie ein chinesischer Buddha über dem mächtigen Bauch verschränkt, und betrachtete ihren Mann, als seien die Worte, die seinem stets offenen Mund entströmten, ein göttliches Evangelium.

Dennoch machte es mir Spaß dabeizusein. Ich erfuhr etwas von dem Unterschied zwischen Ziegel- und Steinbauten, von der Schwierigkeit, Arbeiter zu finden, die ihr Handwerk verstanden, und davon, daß bei all dem Gerede von Reformen die Leute nicht mehr so zupackten wie früher. Es gehe bergab, seit Hinz und Kunz mitreden könnten. Ich war nicht sehr aufmerksam, nahm mir jedoch Mrs. Barker zum Vorbild und mimte die respektvolle Zuhörerin, während ich meine Gedanken und meine Blicke unbemerkt schweifen ließ.

Ich sah Drake Aldringham mit Julia. Cassie saß bei ihrer Mutter. Wegen ihres Beines konnte sie nicht tanzen. Arme Cassie, sie hatte wohl nicht viel Freude an solchen Veranstaltungen.

Charles blickte in meine Richtung und kam zu meiner Verwunderung herübergeschlendert. »Guten Abend, Mr. Barker, guten Abend, Mrs. Barker«, sagte er. »Ich hoffe, daß Sie sich gut unterhalten.«

»Glänzend, glänzend«, erwiderte Mr. Barker. »Dieser Raum hat herrliche Proportionen. Damals verstand man noch zu bauen.«

»Wohl wahr«, sagte Charles und warf mir einen verschwörerischen Blick zu. »Leider waren Sie zu jener Zeit noch nicht auf der Welt, Mr. Barker. Sonst wäre er gewiß noch viel prächtiger geworden.«

Mr. Barker machte ein erfreutes Gesicht. »Oh, ich hätte ihn etwas modernisiert. Sehen Sie sich den Kamin an! Der muß ja tonnenweise Kohlen verbrauchen. Müßte flacher sein.«

»Sicher haben Sie recht. Ich werde Ihnen Lenore jetzt entführen. Sie sieht aus, als ob sie unbedingt tanzen wolle.«

Ich sah Mrs. Barker an. Es kam mir seltsam vor, daß Charles um mich besorgt sein sollte.

Mrs. Barker sagte: »Das ist recht. Junge Leute sollen sich amüsieren. Bis später, Miss Cleremont!«

Charles nahm meinen Arm und führte mich zum Tanz. »Ah, ein Walzer«, sagte er. »Ich liebe Walzer, du nicht« Er legte seinen Arm um meine Taille und zog mich an sich. Mein Herz schlug sehr schnell. Er war mir nicht geheuer. Ich verstand nicht, warum er so leutselig zu mir war, nachdem er mir gegenüber so oft Gleichgültigkeit, wenn nicht Verachtung an den Tag gelegt hatte.

»Ich hoffe«, fuhr er fort, »du bist mir dankbar, daß ich dich von den zwei alten Langweilern erlöst habe.«

»So schlimm sind sie gar nicht«, erwiderte ich. »Mr. Barker muß ein hervorragender Bauunternehmer sein.«

»Ich weiß nicht, warum Mama ausgerechnet die beiden einladen mußte. Und dich dann noch dazu verdammen, dich ihrer anzunehmen! Das nenne ich Grausamkeit gegen die Jugend! Lenore, du siehst heute abend ausgesprochen hübsch aus.«

»Danke. Das liegt sicher an dem Kleid.«

»Wenn du mich fragst, liegt es eher an dem, was in dem Kleid steckt.«

Seine Finger glitten zu meinem bloßen Hals hinauf, und ein Schauder durchlief mich. Er merkte es. »Du bist sehr jung, Lenore. Eigentlich noch ein kleines Mädchen.«

»Ich werde bald sechzehn.«

»Meine Güte! Welch hohes Alter! Süße sechzehn und noch ungeküßt. Oder etwa nicht«

Er wirbelte mich mit großer Geschwindigkeit herum. Ich tanzte gern. Ich tanzte immer mit Julia, wenn Miss Logan sie unterrichtete. Tanzen gehörte zu den Fertigkeiten, die man beherrschen mußte, wenn man in die Gesellschaft eingeführt wurde. Ich übernahm bei Julias Tanzstunden die Rolle des Partners, und es machte mir immer großen Spaß. Aber jetzt machte mir das Tanzen überhaupt keinen Spaß. Charles wirkte so verändert, ganz anders als der junge Mann, den ich bislang kannte. Als wir uns einer Tür näherten, umfaßte er meine Taille fester, dann schwenkte er mich aus dem Ballsaal und den ganzen Flur entlang. Ich keuchte: »Was hast du vor Wo willst du mit mir hin«

»Abwarten«, trällerte er. Er öffnete eine Tür, und wir befanden uns in der kleinen Kammer, in der die Mädchen täglich die Blumen versorgten. Sie enthielt einen Ausguß und eine Wasserpumpe. Es war kalt und dunkel. Plötzlich fühlte ich Charles’ Lippen auf meinem Mund. Selten war ich so entsetzt gewesen.

»Laß mich los!« schrie ich.

»Warum sollte ich Ich finde dich sehr hübsch, weißt du. Du bist ein Kindskopf, aber Kindsköpfen kann man allerhand beibringen, und ich könnte dich eine Menge lehren.«

»Ich will nichts davon hören. Ich will wieder in den Ballsaal. Ich muß den Barkers etwas zu essen besorgen.«

»Die können sich selbst verpflegen. Komm, Lenore, was ist los Du weißt doch, daß ich dich gern habe, oder«

»Ach was, du hast mich immer verachtet.«

»Hübsche Mädchen verachte ich nie.« Er versuchte, seine Finger in den Halsausschnitt meines Kleides zu schieben.

»Wie kannst du es wagen!« rief ich. »Ich gehe jetzt, auf der Stelle.«

Er vertrat mir den Weg. »Na komm schon! So kannst du mich nicht foppen. Ich mag keine Mädchen, die mich zum Narren halten.«

»Und ich mag keine Leute, die sich anderen aufdrängen.«

»Ah, du bist ein hochmütiges Ding, wie«

»Ich bin ich und suche mir die Leute aus, mit denen ich reden will.«

»Du kleiner Bastard!« sagte er.

Mir stockte der Atem, und er lachte höhnisch.

»Warum so entsetzt Es stimmt doch. Wieso du bei uns im Haus bist, weiß ich nicht. Spielst dich auf, sperrst dich gegen einen freundschaftlichen Kuß, und das, nachdem du mich verlockt hast.«

Ich war stumm vor Zorn und Entrüstung.

Im Dunkeln konnte er mein Gesicht nicht sehen. Er sagte nun etwas sanfter: »Sei nicht albern, Lenore! Ich mag dich. Das sollte dich freuen. Tut es sicher auch. Wir werden es schön zusammen haben. Wir wollen Freunde sein. Dies ist nur der Anfang. Schade, daß du gleich neben deiner Großmutter schläfst. Meinst du, die alte Dame hört etwas, wenn ich leise hinaufkomme«

»Ich weiß nicht, warum du so mit mir redest!« rief ich.

»Weil du dich zu einem anziehenden Mädchen mauserst und es Zeit wird, daß du erfährst, welchen Spaß anziehende Mädchen haben können.«

Eiskalte Wut packte mich. Er deutete an, aufgrund meiner alles andere als respektablen Geburt müßten mir die Aufmerksamkeiten des Sohnes des Hauses willkommen sein. Ich hatte ihn nie leiden können. Jetzt haßte ich ihn.

»Ich will auf der Stelle gehen. Ich lasse mir so ein Benehmen nicht länger gefallen!«

»Ah, sie ist hochmütig, wie Was bildest du dir eigentlich ein, wer du bist Französischer Abschaum, das bist du. Und weil ich nett zu dir sein und dir zeigen will, was ein Gentleman für dich tun kann, spielst du dich auf.«

»Das dumme ist nur, du bist kein Gentleman.«

Er packte mich grob am Arm. »Hör mich an, Mädchen. Ich will doch bloß ein bißchen Spaß mit dir. Dafür sind Mädchen wie du geschaffen. Du hast in diesem Haus keine Rechte. Daß deine Großmutter für uns arbeitet, bedeutet noch lange nicht, daß du die hochmütige Dame spielen kannst... Es sei denn, du verdienst dir das Recht dazu. Komm schon, Lenore, ich hab’ dir doch gesagt, daß ich dich mag! Gib mir einen Kuß!«

Ich hatte panische Angst allein mit ihm in diesem finsteren Kabuff. Ich hob abrupt meine Hand und schlug ihn ins Gesicht. Es traf ihn unerwartet, und ich hörte ihn überrascht stöhnen. Er ließ mich los. Ich verlor keine Zeit. Ich schob mich an ihm vorbei und flitzte in den Flur. Ich hörte nicht auf zu rennen, denn ich fürchtete, er würde mich verfolgen. Ich raste in mein Zimmer und sah mich im Spiegel an. Mein Gesicht war gerötet, meine Frisur zerzaust. Ich wusch mich mit kaltem Wasser und sah erleichtert, daß die roten Flecken auf meinen Armen schon verschwanden. Ich kämmte mich mit zitternden Fingern, doch langsam wurde ich ruhiger.

Vielleicht hatte er zuviel Rotweinbowle getrunken. Ich konnte nicht glauben, daß ich ihm wirklich gefiel. Er empfand für mich dasselbe wie für die Hausmädchen, die kicherten, wenn er zu ihnen hinsah, und verschwörerisch dreinblickten, als bestünde zwischen ihnen ein besonderes Einverständnis. Er wollte mich genauso behandeln, wie er sie behandelte. Ich war ganz verschreckt, aber ich mußte in den Ballsaal zurück, sonst würde man mich vermissen. Die Gesellschaft war nicht so groß, daß jemand unbemerkt lange fehlen konnte. Ich ging hinunter und schlich mich in den Saal. Niemand sah mich erstaunt an. Die Barkers waren noch allein, und ich ging zu ihnen.

»Haben Sie schön getanzt« fragte Mrs. Barker. Ich lächelte unverbindlich und fragte, ob sie etwas essen wollten. Als ich sie ins Speisezimmer führte, sah ich Charles. Er sprach mit der Tochter unserer nächsten Nachbarn. Er sah durch mich hindurch, als nehme er mich gar nicht wahr.

»Ein schöner Raum«, sagte Mr. Barker soeben. »Da oben scheint Feuchtigkeit einzudringen. Das muß behoben werden.«

Philip kam mit Cassie zu uns. Cassie sah etwas müde aus. Sicher war sie froh, wenn der Abend zu Ende ging. Es muß traurig sein, beim Tanzen zusehen zu müssen, ohne teilnehmen zu können. Philip unterhielt sich mit Mr. Barker, vielmehr, er ließ ihn reden und schien sich sehr für das Baugewerbe zu interessieren. Vielleicht war er aber auch nur höflich. Hinterher erzählte er mir, Menschen, die sich mit Leib und Seele ihrem Beruf verschrieben, seien ihm sehr sympathisch. Es sei dasselbe wie bei ihm und der Seide.

Den Rest des Abends erlebte ich wie benommen. Der unangenehme Vorfall mit Charles ging mir nicht aus dem Sinn. Als ich mich schließlich zurückzog, kam Grandmère zu mir herein. In ihrem seidenen Morgenrock, der, da sie ihn selbst genäht hatte, der Inbegriff von Eleganz war, setzte sie sich auf meine Bettkante.

»Nun« fragte sie. »Hast du getanzt«

»Ein bißchen. Mr. Barker tanzt nicht, und ich mußte mich um ihn und seine Frau kümmern.«

»Hast du mit Mr. Aldringham getanzt«

»Nein, er war viel mit Julia zusammen.«

Sie machte ein enttäuschtes Gesicht.

»Die Barkers und ich haben zusammen mit Philip und Cassie gegessen, und danach habe ich mit Philip getanzt.«

Grandmère wirkte nicht gerade zufrieden. »Du bist müde«, sagte sie, »du mußt jetzt schlafen.«

Ich wollte eigentlich nicht schlafen, sondern nur allein sein, um über den Abend, und das hieß über den unangenehmen Vorfall mit Charles, nachzudenken.

Grandmère war enttäuscht. Ein junges Mädchen sollte nach seinem ersten Ball ganz hingerissen sein und nahezu platzen von dem Bedürfnis, von dem aufregenden Abend zu erzählen. Ich aber mußte nur an diese gräßlichen Minuten in dieser Kammer denken. Ich konnte einfach nicht anders.

Als ich Charles am nächsten Tag sah, schien er mich nicht zu bemerken. Ich war erleichtert. Er hatte es vergessen. Er hatte mich behandelt wie jedes weibliche Wesen, das er für unter seinem Stande erachtete. Vielleicht war meine Angst übertrieben gewesen. Er war bei mir abgeblitzt und war über den Schlag, den ich ihm versetzt hatte, bestimmt sehr wütend. Er mußte ihn sowohl als körperlichen Schmerz als auch als Kränkung empfunden haben.

Am Morgen darauf war Julia verärgert, weil Charles und Philip mit Drake einen ganztägigen Ausflug unternommen hatten. Nachmittags ging ich mit ihr und Cassie reiten. Julia sprach die ganze Zeit nur von dem Fest. »Es war wirklich sehr vergnüglich«, sagte sie. »Ich kann’s gar nicht erwarten, bis ich ›eingeführt‹ werde. Dann gibt es andauernd solche Feste. Drake wird in London sein. Wegen seines Vaters und seines Onkels wird er zu fast allen Festlichkeiten eingeladen. Minister sind bei den Leuten noch angesehener als Admiräle.«

»Das möchte man gar nicht meinen«, sagte ich, »wenn man bedenkt, wie sie von der Presse angegriffen werden.«

»Gerade deswegen interessiert sich das Volk für sie. Seeleute müssen erst in einen Krieg verwickelt werden, damit sie in aller Munde sind. Ich hoffe, daß Drake in die Politik geht. Das wird sehr aufregend.«

Cassie fragte nachdenklich: »Glaubst du, du wirst dabeisein und die Aufregungen mitbekommen«

Julia wurde rot. »So ein Leben habe ich mir schon immer gewünscht. Diese spannenden Wahlen, und man geht ins Parlament und trifft Leute wie Lord Beaconsfield und Mr. Gladstone. Mary Anne Wyndham Lewis wurde die spätere Lady Beaconsfield. Es ist schrecklich romantisch. Sie hatte eine Menge Geld. Deswegen hat Lord Beaconsfield sie geheiratet.«

»Sehr romantisch«, sagte ich sarkastisch, »findest du nicht auch, Cassie«

»Vernunftehen funktionieren oft sehr gut«, fuhr Julia fort. »So war es auch bei ihnen, und sie hat immer gesagt, er habe sie vielleicht wegen ihres Geldes geheiratet, aber nach ihrem jahrelangen Zusammenleben würde er sie aus Liebe geheiratet haben. Drake hat sehr interessant erzählt. Es hätte dir gefallen, Cassie, und dir auch, Lenore. Aber du mußtest dich ja um die langweiligen Barkers kümmern.«

»Philip und Cassie kamen mir zu Hilfe, da war es gar nicht mehr so schlimm.«

»Die Barkers führen eine glückliche Ehe«, sagte Cassie. »Mrs. Barker findet Mr. Barker einfach wunderbar. Es ist ganz reizend zu beobachten, wie sie ihm zuhört und dabei die ganze Zeit nickt. Ich glaube, wenn jemand ein Wort gegen ihn sagen oder versuchen würde, ihm zu widersprechen, den könnte sie glattweg umbringen.«

»Eine Ehe, in der ein Partner dem anderen Untertan ist, muß ja gutgehen«, sagte ich. »Ich schätze, darauf haben es alle Männer abgesehen.«

»Ich glaube nicht, daß Drake das möchte. Er liebt Widerspruch, das ist mir aufgefallen.«

»Mir nicht«, sagte Cassie.

»Liebe Cassie, du warst nicht so viel mit ihm zusammen wie ich«, brüstete sich Julia. »Er ist so amüsant. Er hat eine herrliche Geschichte von Lord Beaconsfields Gattin erzählt. Ich glaube, damals hieß er noch schlicht Mr. Benjamin Disraeli. Sie verletzte sich an der Hand, als sie in die Kutsche stieg, um ihn ins Parlament zu begleiten, wo er eine wichtige Rede halten sollte. Sie sagte ihm aber nicht, daß sie sich beim Einsteigen die Hand in der Kutschentür eingeklemmt hatte. Sie muß schreckliche Schmerzen gehabt haben, aber sie saß lächelnd und plaudernd da, als sei nichts geschehen, aus Angst, er könne sich aufregen und seine Rede verpatzen.«

»Eine hübsche Geschichte«, sagte Cassie, »findest du nicht auch, Lenore«

»Ja. Aber ich möchte nicht der Schatten meines Mannes sein wie zum Beispiel Mrs. Barker. Ich möchte ich selbst sein. Ich möchte im Leben etwas erreichen, nicht bloß heiraten.«

»Oh, ich möchte auch nicht jemandes Schatten sein«, sagte Julia.

»Politikerfrauen haben eben ihren Platz in der Gesellschaft. Disraelis Mary Anne hat alle Vorgänge im Parlament verfolgt, und zu Hause wartete sie auf ihn und hatte immer ein kaltes Abendbrot für ihn bereit, egal, wann er heimkam, und dann erzählte er ihr alles, was im Parlament vorgefallen war. Und Mrs. Gladstone ist in der Gesellschaft wohlbekannt. Sie kümmert sich stets darum, daß für das leibliche Wohl ihres Mannes gesorgt ist. Drake sagte, zu Hause hat sie das Sagen. Ihr seht also, es ist ein höchst aufregendes Leben.«

»Wieso interessierst du dich plötzlich so für die Welt der Politik« fragte Cassie.

Julia errötete leicht. »Ich nehme an, das kommt von meinen Gesprächen mit Drake.«

Cassie und ich wechselten Blicke. Julia war eindeutig verliebt. Das war zu erwarten. Sie war siebzehn, und Drake dürfte etwa vier Jahre älter gewesen sein, damit waren beide im heiratsfähigen Alter.

Auf dem Heimweg trafen wir Drake und Charles. »Hallo«, sagte Drake, »wo kommen Sie denn her«

»Von unserem Nachmittagsritt«, erklärte Julia.

Er lächelte uns allen auf seine freundliche Art zu. Julia starrte ihn an. Ich fand, sie zeigte ihre Verliebtheit zu deutlich, und ich fragte mich, ob ich es wagen könne, ihr zu raten, ihre Gefühle lieber etwas zurückzuhalten.

»Wolltet ihr gerade nach Hause« fragte Charles.

Julia bejahte. Ich sagte nichts. Charles hatte mich nicht angesprochen. Er tat, als wäre ich nicht da. Ob er mich von jetzt an stets übersehen würde Ich hätte nichts dagegen gehabt. Es wäre mir sogar sehr recht gewesen.

Drake ritt nun zwischen Julia und mir. »Das war ein sehr interessanter Abend gestern«, sagte er.

»Ja, nicht wahr«, erwiderte Julia.

»Ich sah, daß Sie sehr beschäftigt waren«, wandte er sich an mich.

»Lenore hatte Anweisungen von Mama«, erklärte Julia. »Mama fürchtete, die Leute würden die Barkers langweilig finden, deshalb mußte Lenore sich um sie kümmern.«

»Das war sehr nobel von Ihnen«, sagte Drake.

»Nicht im mindesten. Es war mir aufgetragen.«

»Ist ja auch egal«, sagte Julia. »Jedenfalls warst du dabei und hast mit Charles und Philip getanzt. Wir haben uns gut amüsiert, nicht wahr, Drake«

»Ja, sehr«, erwiderte er.

»Und du, Charles« fragte Julia.

»Oh, für mich war es ein sehr schöner Abend.«

»Hast du dich mit den jungen Damen vergnügt«

»Und wie.«

Wir waren zum Mausoleum gekommen. »Ein ungewöhnliches Gebäude«, bemerkte Drake.

»Das ist unser Mausoleum«, erklärte Julia.

»Es wurde vor über hundert Jahren erbaut«, ergänzte Charles.

»Ziemlich unheimlich, nicht«

»Das ist wohl nicht anders zu erwarten«, meinte Drake. »Ist es offen«

»Du lieber Himmel, nein! Es wird nur ganz selten geöffnet, nur wenn jemand bestattet wird. Stellt euch vor, ich werde eines Tages da drin liegen, und Philip auch. Ihr Mädchen werdet wohl heiraten, und dann seid ihr keine Sallongers mehr und damit der Stätte nicht würdig.«

»Mausoleen haben mich schon immer interessiert«, sagte Drake. Er war abgestiegen. »Ich möchte mir das Gebäude gern ansehen. Das Mauerwerk ist ungewöhnlich. Die viele Arbeit... alles für die Ruhestätte der Toten.«

»Ich nenne es das Totenhaus«, sagte Cassie.

»Das hört sich ziemlich erschreckend an«, meinte Julia schaudernd.

»Ich möchte nicht nachts hier vorbeigehen«, sagte Cassie. »Du, Lenore«

»Mir wäre dabei wohl auch etwas mulmig zumute«, gab ich zu.

»Ich möchte wissen, warum man es Mausoleum nennt«, sagte Julia. »Ein passender Name. Man könnte sich kein Fest in einem Mausoleum vorstellen.«

»Ich glaube, das Unheimliche haftet dem Wort nur wegen dem an, was es verkörpert«, sagte Drake.

»Woher mag der Ausdruck wohl stammen« fragte Cassie.

»Das kann ich Ihnen sagen«, verkündete Drake. »Ich habe eine Zeitlang Archäologie studiert. Wenn ich als Politiker versage, kann ich dieses Studium wiederaufnehmen. Es heißt Mausoleum nach dem Grabmal, das Mausolos, dem König von Karien, um 353 vor Christus in Halikarnassos von seiner Witwe errichtet wurde. Das Denkmal muß groß und prächtig gewesen sein und zählte zu den sieben Weltwundern.«

»Das würde ich gern sehen!« rief ich aus.

Er wandte sich lächelnd an mich. »Das ist ganz unmöglich. Es ist im 13. und 14. Jahrhundert zerfallen, und die Leute haben Teile davon als Baumaterial fortgeschleppt.«

»Die Barkers des 13. und 14. Jahrhunderts«, murmelte ich.

»Aber wenn Sie mal in London sind, Lenore, gehe ich mit Ihnen ins Britische Museum. Die Grabstelle wurde vor gar nicht langer Zeit entdeckt, um 1857, und was zu retten war, wurde nach England gebracht und ist nun im Museum zu besichtigen.«

»Ich möchte es auch gern sehen«, sagte Julia.

»Es wird mir ein großes Vergnügen sein, mit Ihnen beiden hinzugehen.«

»Mit mir auch« fragte Charles.

»Aber selbstverständlich. Ich sehe, es ist mir gelungen, euer Interesse zu wecken. Ist es möglich, das Innere zu besichtigen« wandte er sich an Charles.

»Ich denke, schon. Es muß einen Schlüssel geben. Clarkson wird wissen, wo er ist.«

»Geh ihn doch holen, Charles!« schlug Julia vor. »Dann können wir es gleich besichtigen.«

»Gut«, sagte Charles und machte sich auf den Weg.

»Hoffentlich langweile ich Sie nicht mit meiner Begeisterung«, sagte Drake.

»Das ist etwas ganz anderes als Mr. Barkers endloses Gerede«, erwiderte ich.

Er lachte, und Julia mischte sich ein: »Ich finde die Vergangenheit so faszinierend. Es muß Ihnen viel Freude machen, Drake, all diese Dinge zu entdecken.«

»Und ob es faszinierend ist. Ich würde gerne an einer ganz besonderen Entdeckung beteiligt sein, der Ausgrabung einer verschwundenen Stadt, eines Tempels oder Grabmals. So ein Glück hat man natürlich nur einmal im Leben. Das meiste ist mühsame Plackerei, die sich nicht lohnt.«

»Ich sehe schon, die Politik wird siegen«, sagte ich.

Er lächelte wehmütig. »Das scheint mir auch so.«

Wir sprachen eine Weile von alten Grabmälern und dem Fest gestern abend, bis Charles zurückkam und triumphierend den Schlüssel in die Höhe hielt.

»So«, sagte er, »jetzt kann eure makabre Neugierde gestillt werden.«

Wir waren alle abgestiegen und folgten Charles an den Engeln mit dem Flammenschwert vorüber zum Tor. Neben dem Mausoleum bemerkte Drake das Holzkreuz, das aus der Erde ragte. »Sieht wie ein Miniaturgrab aus«, sagte er.

»Es ist auch eins«, erklärte Julia. »Da liegt ein Hund begraben.«

»Einer von den Ihren«

»Nein, keiner von den unseren«, sagte Julia.

Ich erklärte ihm, was es mit dem Grab auf sich hatte, und schloß: »Wie Menschen so etwas tun können, ist mir unbegreiflich.« Die Erinnerung an jenen Vorfall ging mir immer noch sehr nahe. Willie besuchte das Grab oft und sprach zu dem Hund. Ich hatte ihn gehört. Er hatte zwar jetzt den kleinen Pepper, aber den Mischlingshund würde er wohl nie ganz vergessen. Ich hatte Tränen in den Augen und schämte mich ein bißchen.

»So eine Gemeinheit«, sagte Drake heftig. »So handeln nur herzlose Idioten.« Er drückte mir mitfühlend den Arm.

»Seid ihr bereit« fragte Charles. »Jetzt kommt der große Augenblick.« Er steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn mühsam herum. »Es geht so schwer, weil es so selten geöffnet wird«, erklärte er, »nur wenn sie einen armen Sallonger zu seinen Vorfahren bringen.«

»Die Luft da drin dürfte nicht gerade gut sein«, meinte Drake.

»Ich glaube, es gibt irgendwo ein Luftloch«, erklärte Charles. Die Tür war aufgesprungen. Wir standen vor einer steilen Treppe, die in die Finsternis hinabführte. Wir stiegen einer nach dem anderen hinunter, Charles vorneweg.

»Vorsicht«, rief er, »daß ihr nicht ausrutscht! Man weiß nie, was einem hier drin zustoßen kann.«

Tiefer und tiefer stiegen wir. Es müssen mindestens dreißig Stufen gewesen sein. Dann befanden wir uns in der hohen unterirdischen Grabkammer. Wir sahen uns einer großen Statue der heiligen Jungfrau mit dem Jesuskind gegenüber sowie einer weiteren Frauenstatue mit zwei Engeln. Eine Figur neben dieser Gruppe stellte unverkennbar Satan dar. Mit seinem Zepter schien er die Engel anzugreifen. Vermutlich rangen sie um die Seele der verstorbenen Frau. Hier war es wahrlich unheimlich, denn nur ein einziger Lichtstrahl fiel von einem Mauerloch ganz oben herein, das sich draußen zur ebenen Erde befunden haben muß. An den Seiten des Raumes waren Särge aufgereiht.

Es war sehr kalt, und ich schauderte. Mir war, als habe sich die Vergangenheit meiner bemächtigt.

»Beeindruckend«, flüsterte Drake. »Wißt ihr, daß es denselben Grundriß wie Mausolos’ Grabmal hat Ich habe Bilder gesehen, wie es vor langer Zeit gewesen sein muß, bevor es zerfiel.«

»Was würdet ihr davon halten, eine Nacht hier unten zu verbringen« erkundigte sich Charles. »He, Cassie, wie fändest du das«

»Ich glaube, ich würde über Nacht weiße Haare kriegen«, sagte Cassie. »Das kann passieren, wenn man einen schlimmen Schock erleidet.«

»Es wäre doch recht spaßig, dich mit weißen Haaren zu sehen«, meinte Charles. »Wollen wir sie hierlassen«

»Nein!« kreischte Cassie.

»Das würden wir doch niemals tun«, versicherte ihr Drake. »Hier wirkt nur wegen der Dunkelheit und der Gedanken an die Toten alles so gespenstisch. Es ist nichts weiter als ein unterirdisches Grabmal.«

»Ich möchte wissen, was hier nachts vorgeht«, sagte Julia. »Meint ihr, sie steigen aus ihren Särgen und tanzen hier herum«

»Dürfte nicht gerade schön anzusehen sein, bloß in ihren Totenhemden«, meinte Charles.

Drake ging umher. Er betrachtete die Wände und war von allem fasziniert.

»Wir sollten unser Mausoleum zur Besichtigung freigeben«, sagte Charles.

»Aber es ist so kalt«, wandte Julia ein.

»Ihr seid alle Feiglinge«, sagte Charles. »Aber was kann man von einer Horde Mädchen schon erwarten«

Die Feuchtigkeit drang in meine Knochen. Ich betrachtete die Särge auf ihren Gestellen und dachte, daß noch für viele weitere Platz war.

Plötzlich fühlte ich mich an den Schultern gepackt.

»Hab’ ich dich«, flüsterte eine Stimme in mein Ohr. »Ich bin der Mausoleumsgeist. Ich behalte dich hier unten als meine Braut.« Ich drehte mich abrupt um und blickte in Charles’ funkelnde Augen. Sein Gesicht war ganz nahe an meinem, und ein Zittern befiel mich.

»He, du hast ja Angst«, sagte er lachend.

»Wer würde sich nicht fürchten, wenn er an einer solchen Stätte überfallen wird«, sagte Drake. »Hör auf mit dem Quatsch!«

»Ich hätte nicht gedacht, daß sie sich so leicht Angst einjagen läßt«, erwiderte Charles. »Du bist ein furchtsames kleines Ding, Lenore, auch wenn du noch so mutig tust.«

»Laßt uns gehen!« sagte Julia. »Ich hab’ genug. Wir haben es gesehen, das war’s doch, was Sie wollten, Drake.«

»Ja, und es war hochinteressant. Ich würde gerne nochmals hierherkommen. Nächstes Mal sollten wir aber Kerzen mitbringen.«

»Und warme Mäntel«, fügte Cassie hinzu.

Julia strebte auf die Treppe zu.

»Ich geh’ voraus«, verkündete Charles.

»Und ich bilde die Nachhut«, sagte Drake.

»Ich hatte mich schon gefragt, wer als letzter gehen würde«, sagte Charles. »Die Mädchen hätten ja bloß Angst, daß sie einer von hinten krallt und zurückzerrt. Ihr habt euch aber auch richtig schlecht benommen; einfach ungebeten in das Privatgemach der Toten einzudringen!«

»Mich kriegen sie nicht«, sagte Drake. »Kommt jetzt, es ist wirklich kalt hier.«

Schwer atmend nach dem Treppensteigen traten wir blinzelnd an die frische Luft.

»Na, es hat euch hoffentlich Spaß gemacht«, sagte Charles. »Alle vollzählig versammelt« Er sah mich an. »Du machst ein Gesicht, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Nein«, sagte ich. »Der Überfall war bloß so plötzlich.«

Er verzog das Gesicht. »Ich muß Clarkson den Schlüssel zurückbringen. Bis nachher!« Er ritt davon.

»Das war ja wirklich ein Abenteuer«, sagte Drake und sah dabei mich an.

Es war am Nachmittag des folgenden Tages. Drake war am frühen Morgen mit Charles und Philip zu einem ganztägigen Ausflug aufgebrochen. Julia zeigte sich deswegen schlecht gelaunt. Sie wäre am liebsten die ganze Zeit mit Drake zusammengewesen.

Ich wollte gerade mit einem Buch zum Gartenteich gehen, als ein Stalljunge atemlos zu mir gelaufen kam. »Oh, ich muß Sie unbedingt sprechen.«

»Was gibt’s« fragte ich.

»Willie vermißt seinen Hund.«

»Nein...«

»Doch, Miss. Er ist völlig durcheinander. Er hat ihn den ganzen Tag im Wald gesucht. Ich glaub’, ich weiß, wo der Hund ist.«

»So Wo denn«

»Er ist in dieser Grabstätte, Miss. Da waren gestern Leute drin. Vielleicht ist er reingelaufen, als die Türe offen war. Ich denk’, ich hab’ ihn da gehört, durch das Loch in der Mauer.«

»Und hast du es Willie gesagt«

»Könnt’ ihn nicht finden. Ich dachte, weil Sie... Sie meinen es doch gut mit ihm... und ich mag da nicht alleine rein.«

»Dann wollen wir mal nachsehen.«

Er hielt einen Schlüssel in die Höhe. »Den hab’ ich von Mr. Clarkson. Ich will da nicht alleine rein, und da dachte ich, daß Sie...«

Es war durchaus möglich, daß Pepper ins Mausoleum geschlüpft war, als die Tür offenstand und wir alle dort unten waren. Er kam ja oft genug mit Willie dorthin. Es behagte mir gar nicht, mich in die unterirdische Stätte zu begeben, aber ich sagte zu dem Jungen: »Komm, sehen wir uns mal um!« Er zögerte. »Na, komm schon«, sagte ich ungeduldig, »ich bin ja bei dir.«

Der Junge schloß die Tür auf und ließ den Schlüssel stecken. Wir stiegen die Treppe hinab, ich voran. Ich ermahnte ihn zur Vorsicht. »Paß auf, die Stufen sind feucht und schlüpfrig!« Er gab keine Antwort. Da merkte ich, daß er mir nicht folgte. Ich hörte Stimmen oben an der Tür. Gottlob, da war noch jemand.

»Pepper!« rief ich. »Pepper, wo bist du«

Ein Schatten war hinter mir. »Er versteckt sich vermutlich«, sagte ich. »Er war sicher ziemlich erschrocken, als er merkte, daß er nicht hinauskonnte.« Ich war am Fuße der Treppe angelangt und drehte mich um.

Ich erstarrte vor Schreck. Charles war hinter mir.

»Charles!« rief ich.

»Höchstpersönlich.«

»Wie bist du hierhergekommen«

»Auf die übliche Art und Weise – auf meinen zwei Beinen.«

»Wo ist der Junge«

»Ich hab’ ihn weggeschickt. Oh, keine Bange, ich hab’ den Schlüssel.« Er hielt ihn lächelnd in die Höhe.

Ich wollte auf keinen Fall zeigen, wie sehr ich mich fürchtete, an so einer Stätte mit Charles allein zu sein. Dabei war es mehr als Furcht. Es war ein Alptraum.

»Pepper!« rief ich wieder. »Wo bist du«

»Das kleine Ungeheuer versteckt sich vermutlich. Wir werden ihn schon finden... wenn er hier ist. Pepper! Hierher!«

Keine Antwort. An diesem seltsamen Ort klangen unsere Stimmen fremd. »Wenn er nicht hier ist, sollten wir lieber wieder gehen«, sagte ich. »Der Junge meinte, hier drinnen einen Hund gehört zu haben.«

»Ich glaube nicht, daß er hier ist.« Charles sah mich an. »Du hast ja Angst.«

»Hier gefällt es mir nicht.«

»Nicht sehr gemütlich, wie Und es gefällt dir erst recht nicht, daß du hier mit mir allein bist.«

Konnte ich mich an ihm vorbeidrängen und zur Treppe flitzen Konnte ich vor ihm oben sein Nein, unmöglich. Es war so düster, daß man sich vorsichtig bewegen mußte.

»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte er mit sanfter Stimme. »Du weißt, ich will dein Freund sein. Aber du läßt mich ja nicht.«

»Auf so eine Art von Freundschaft kann ich verzichten.«

»Oh, ich weiß, du bist eine keusche junge Dame. Schade. Wovor fürchtest du dich«

»Wir sollten jetzt gehen. Der Hund kann nicht hier sein. Sonst würde er sich rühren, wenn man ihn ruft.«

»Du denkst, daß ich über dich herfallen will, stimmt’s Daß ich dich zwingen werde, dich meinem unsittlichen Begehren zu fügen, hab’ ich recht Gib’s zu. Du denkst, ich bin dazu imstande, nicht«

»Ja.«

Er lachte. »Du bist mir das rechte Frauenzimmer! Laß dir sagen, daß ich es nicht nötig habe, um eine Gunst zu betteln.«

»Davon bin ich überzeugt. Warum nimmst du sie dann nicht von denen, die willens sind und vielleicht sogar darauf brennen, sie zu gewähren«

»Davon gibt es jede Menge, das kannst du mir glauben. Und deswegen werde ich nicht tun, was mir ein leichtes wäre, denn hier unten, mein stolzer kleiner Bastard, bist du mir auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert. Welch eine Stätte für eine Entehrung ! Von Toten umringt.«

»Ich gehe jetzt.«

»Nicht so eilig. Du solltest panische Angst haben, daß ich dir deine Unschuld raube... du bist doch noch unschuldig, oder Du hast mir eine gehörige Ohrfeige verpaßt, ich spüre sie jetzt noch. Nein, was ich zu bieten habe, schenke ich keiner Schlampe, die es nicht zu schätzen weiß.«

»Das kann ich verstehen. Es tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe. Aber nachdem wir uns nun einig sind, können wir den Vorfall vielleicht vergessen.«

»Eine Beleidigung vergesse ich nicht so schnell.«

»Ich denke, ich bin diejenige, die beleidigt wurde.«

»Weil du dir was auf deinen Status einbildest, kleine Miss Cleremont«

»Vielleicht. Aber ich werde dir hoffentlich damit keinen Ärger mehr machen.«

»Dann laß uns gehen!« Er war mir auf der Treppe ein wenig voraus. Plötzlich drehte er sich um und sagte: »Horch! Hast du das gehört«

Ich blieb still stehen, um zu lauschen. Ich drehte mich um und Starrte hinunter in die dunkle Kammer. »Nein, ich kann nichts hören.«

Da lachte er laut. Während ich ihm den Rücken zugekehrt hatte, war er weiter die Treppe hinaufgestiegen. Jetzt rannte er weit voraus. Kurz bevor ich oben ankam, fiel die Tür mit einem Knall zu. Dann hörte ich, wie der Schlüssel herumgedreht wurde. Schreckliche Angst überkam mich. Ich war allein im Totenhaus eingeschlossen.

Ich hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür. »Laß mich raus! Laß mich raus!« schrie ich.

Er muß dicht bei der Tür gewesen sein, denn ich hörte sein Lachen.

»Du warst unverschämt zu mir, du kleiner Bastard«, rief er.

»Dafür mußt du bestraft werden. Bleib bei den Verblichenen, und denk darüber nach, wie du den Sohn des Hauses behandelt hast, das jahrelang dein Wohltäter war. Du undankbares kleines Miststück. Das soll dir eine Lehre sein!« Das Lachen würde schwächer. Er war gegangen.

Ich setzte mich auf die Steinstufen und schlug die Hände vors Gesicht. Ich dachte: Es ist nicht wahr. Es ist ein Traum. Bald werde ich aufwachen. Aber es war kein Traum. Charles mußte sich das am Vortag ausgedacht haben, als wir alle hier unten waren. Er hatte mich wohl hierhergelockt. Der Junge hatte auf seine Anweisungen gehandelt. Von einem vermißten Hund konnte keine Rede sein.

»Hilfe! Hilfe!« Der Widerhall meiner Stimme klang schwach durch die unterirdische Kammer. Wenn jemand draußen war, würde man mich vielleicht hören. Aber wer sollte da schon sein Wie lange mußte ich hier bleiben

Ich hatte Angst, mich von der Treppe zu entfernen. Ich wollte nicht in die Kammer mit den Särgen hinunter.

Man würde mich bald vermissen. Grandmère würde sich Sorgen machen und darauf drängen, daß man mich suchte. Es konnte nicht lange dauern. Aber auch eine kurze Zeitspanne war an so einem Ort entsetzlich.

Ich starrte in die Finsternis hinab. Stille kann beängstigend sein. Ich spitzte die Ohren, um einen Laut von den Toten zu vernehmen. Gespenstergeschichten, die ich gehört hatte, fielen mir ein. Wenn es irgendwo auf der Welt Gespenster gab, dann an einer Stätte wie dieser.

Ich betete stammelnd: »Bitte, lieber Gott, mach, daß jetzt jemand kommt... schnell... jetzt... jetzt!«

Ich stand auf. Meine Beine waren schon steif. Wieder hämmerte ich an die Tür, bis meine Fäuste schmerzten. Ich wußte, es war vergeblich, trotzdem machte ich weiter. Angenommen, es kam niemand... erst wenn wieder ein Sallonger starb und man die Tür öffnete, um den Sarg hereinzubringen, und dann würden sie mich finden... tot.

Nein, sie würden mich suchen. Sie mußten mich finden. Aber wer würde auf die Idee kommen, hier nachzusehen Der Stalljunge wird es ihnen erzählen. Aber nein, er war von Charles angestiftet worden. Mein Haß auf Charles verdrängte vorübergehend meine Angst. Warum waren die Menschen so ekelhaft Warum taten sie anderen solche Gemeinheiten an Die grausamen Buben, die Willies Hund gesteinigt hatten; Charles, der mir das antat, weil ich mich seinen lüsternen Nachstellungen nicht fügen wollte.

Wie lange war ich wohl schon hier Fünfzehn Minuten Dreißig War es wahrscheinlich, daß jemand hier vorbeikam Wenn es Abend wurde, bestimmt nicht. Sollte ich eine Nacht hier verbringen müssen Und wenn sie vorüber war, was dann Aber sie mußten mich suchen kommen, dafür würde Grandmère schon sorgen. Noch würde sie mich nicht vermissen, erst zur Schlafenszeit. Dann bekäme sie es mit der Angst zu tun.

Wieder hämmerte ich in meiner Not an die Tür. Ich rief um Hilfe, als könne mich jemand hören. Es war so finster hier. Drunten in die unterirdische Kammer fiel wenigstens ein mattes Licht durch das schmale Mauerloch. Ich stieg die Treppe hinab, dann stand ich in der düsteren Grabstätte mit den Särgen auf den Gestellen. In meiner augenblicklichen Stimmung kam es mir vor, als seien die Statuen zum Leben erwacht. Satans Zepter schien sich zu bewegen. Mir war, als ob er mich beobachtete. Ich wandte die Augen ab und starrte auf die Maueröffnung. Wenn ich mich direkt darunterstellte und rief, könnte mich vielleicht jemand hören. Aber was hatte das für einen Sinn Es war niemand in der Nähe.

Ich konnte es nicht aushalten in der düsteren Kammer, wo der Tod so gegenwärtig war. Doch wenn ich gehört werden wollte, mußte ich bleiben... wegen der Öffnung über mir. Ich starrte hinauf. Sie schien die einzige Hoffnung auf Verbindung zur Außenwelt zu sein.

Wie lange sollte ich hier bleiben Charles mußte doch wissen, wie mir zumute war. Er würde bald zurückkommen, wenn er fand, ich sei genug bestraft. Mir fiel ein, was Cassie gesagt hatte. Sie würde über Nacht weiße Haare bekommen. Vorsichtig betastete ich meine Haare. Ich konnte nicht die ganze Nacht hier bleiben. So grausam konnte niemand sein, nicht einmal Charles.

Doch die Menschen waren grausam. Nie würde ich die Buben vergessen, die Willies Hund gesteinigt hatten. Solch sinnlose Gewalt entsprang hirnlosen Köpfen. Aber Charles war nicht so. Er war doch gebildet. Dies war keine hirnlose Grausamkeit, sondern Rache. Ich hatte ihn abgewiesen, und aufgrund meiner niederen Geburt hatte ihn das schrecklich ergrimmt, deshalb wollte er mir eine Lektion erteilen.

Wieder betete ich, diesmal zu der Statue der Jungfrau mit dem Jesuskind. Ich setzte mich auf die unterste Treppenstufe und widerstand dem Drang hinaufzulaufen, um dem Anblick der düsteren Kammer mit den Statuen und den Särgen der Verstorbenen zu entfliehen.

Wasser rann die Mauern herab, ich sah zwei Tropfen, die parallel liefen wie bei einem Wettrennen. Wie konnte man in einer solchen Situation derartige Dinge bemerken

Soll ich hier unten sterben dachte ich. Angenommen, sie finden mich nicht. Ich mußte an die Braut denken, die sich an ihrem Hochzeitstag beim Spielen in einer Truhe versteckt hatte. Das Schloß schnappte ein, und sie konnte nicht mehr heraus. Die anderen suchten sie, aber man fand sie nicht. Erst als jemand Jahre später die Truhe öffnete, entdeckte man ihre sterblichen Überreste im Hochzeitskleid.

Die Geschichte hatte mich immer gefesselt. Die arme Braut! Wie war ihr wohl zumute gewesen, als sie sich nicht befreien konnte Mein Fall war wenigstens nicht ganz so hoffnungslos.

Er wird wiederkommen, redete ich mir ein. Er will mich nur zum Narren halten. Er läßt mich vielleicht eine Stunde hier, dann kommt er die Tür aufschließen und lacht mich aus.

Wieviel Zeit war vergangen Ich hatte keine Ahnung. In so einem Zustand kommt einem jedes Zeitgefühl abhanden.

Stille, diese entsetzliche Stille. Ich lauschte angestrengt nach einem Laut, einem Anzeichen, daß jemand in der Nähe sei. Ich sehnte mich nach einem Geräusch, irgendeinem.

Nichts.

Ich fühlte mich von einer unsichtbaren geisterhaften Wesenheit beobachtet. Noch fiel Licht durch die Öffnung. Draußen mußte es sonnig sein. Es war also noch nicht Abend.

War es eine Halluzination, oder hörte ich Hundegebell Ich lauschte angespannt. Ja, ganz entfernt. Es kam von draußen. Ich durchquerte die Kammer und stellte mich direkt unter die Öffnung. »Hilfe! Hilfe!« rief ich. »Ich bin im Mausoleum eingeschlossen!«

Stille.

Dann hörte ich den Hund wieder, diesmal deutlicher, und ich schrie aus Leibeskräften. Ich vermeinte einen Schatten über der Öffnung zu sehen. »Hilfe! Hilfe! Holt mich hier raus!« Der Schatten war verschwunden. Ich blieb noch eine Weile angestrengt lauschend stehen, aber ich konnte nichts mehr hören. Ich war vor lauter Verzweiflung ganz ermattet. War dort wirklich jemand gewesen, oder hatte ich es mir eingebildet Vielleicht hatte ich in meinem gegenwärtigen Zustand nur gehört, was ich gern hören wollte Ich schauderte, ob vor Kälte oder vor Angst, wußte ich nicht. Niemand kommt hier vorbei, sagte ich mir. Und wenn, würde man mich nicht hören. Ich würde die Nacht hier verbringen, es sei denn, Charles käme zurück. Er mußte kommen.

Die Zeit verging. Mir schwanden die Kräfte. Meine Füße und Hände waren taub. Die Kälte von den Steinen durchdrang meine Kleidung.

Noch konnte Grandmère nichts ahnen. Bestimmt arbeitete sie im Atelier. Da war sie immer ganz vertieft. Sobald sie erfährt, daß man mich vermißt, gerät sie in Panik und drängt darauf, daß man mich überall sucht. Aber wem wird das Mausoleum einfallen

Plötzlich vernahm ich ein Geräusch. Es war das Schaben des Schlüssels, der im Schloß herumgedreht wurde. Die Treppe kam mir nicht mehr so dunkel vor. Ein Lichtstrahl fiel herab, als die Tür aufgerissen wurde.

Eine Stimme sagte: »Lenore« Ich hörte einen Hund bellen. Ich stolperte die Treppe hinauf. Jemand fing mich in seinen Armen auf.

»Drake«, murmelte ich, »Drake...«

»Alles ist gut«, sagte Drake. »Mein Gott, Sie sind ja eiskalt!«

Der Hund bellte wieder. Ich wurde ins Freie gebracht. Die frische Luft wirkte berauschend. Mir schwindelte. Ich fürchtete, ohnmächtig zu werden.

»Ist ja gut, ist ja alles gut!« Das war Drakes Stimme. Dann sah ich Willie, und abermals hörte ich den Hund bellen.

»Ich bringe Sie nach Hause«, sagte Drake.

Darauf fühlte ich, wie ich zu Boden sank. Als ich wieder zu mir kam, saß ich auf der Stufe vor dem Tor, und Drake hob meinen Kopf, der mir zwischen die Knie gesunken war. »Es wird schon wieder! Sie armes, armes Kind! Wie ist das passiert Einerlei. Jetzt ist es ja vorbei.«

»Drake«

»Ja«

»Sie haben mich gerettet.«

»Kommen Sie! Ich bringe Sie schleunigst nach Hause. Sie brauchen ein warmes Bett und etwas zur Beruhigung. Können Sie aufstehen«

Ich erhob mich schwankend. Willie sah mich verwundert an.

»Nicht sehr stabil«, sagte Drake, und dann hob er mich auf.

»Sie können mich nicht...«

»Doch. Sie sind federleicht.« Er trug mich zum Haus. Ich sagte: »Hat Charles Ihnen gesagt...«

»Charles«

»Er hat mich eingesperrt.«

Drake erwiderte nichts, sondern trug mich schweigend weiter. Als wir in die Halle traten, sagte er: »Das hast du gut gemacht, Willie, danke!«

»Dann hat es also Willie gesagt« fragte ich.

»Er hörte Sie rufen und besaß die Geistesgegenwart, hierherzukommen. Ich sah ihn, und er erzählte es mir, darauf holte ich den Schlüssel und ging gleich hin.«

Ich konnte vor Erleichterung nicht sprechen.

Und dann war Grandmère da. Sie übernahm sogleich das Kommando. Sie ließ mich in mein Zimmer hinaufbringen. Kurz darauf lag ich gut zugedeckt und mit einer Wärmflasche an den Füßen im Bett. Grandmère saß bei mir.

Ich schlief unruhig. Ich wachte andauernd auf und glaubte, im Mausoleum zu sein. Ich schrie ängstlich auf. Grandmère blieb die ganze Nacht bei mir. Sie verabreichte mir einen beruhigenden Kräutertrank. Und schließlich sank ich in einen friedlichen Schlaf. Ich vertraute darauf, daß sie mich nicht verlassen und mich, sollte ich entsetzt aufwachen, mit ihrer Anwesenheit trösten würde.

Am nächsten Morgen ging es mir besser, doch Grandmère bestand darauf, daß ich im Bett blieb. Ich sei bis auf die Knochen durchfroren gewesen, sagte sie, und habe entsetzliche Angst ausgestanden. Dann erzählte ich ihr alles, angefangen bei dem Vorfall auf dem Fest. »Es war seine Rache, Grandmère«, erklärte ich.

»Mon Dieu!« murmelte sie. »Daß er so etwas tun konnte! Vor dem muß man sich in acht nehmen. Aber wenigstens wissen wir jetzt, ma petite, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben. Ich wünschte, ich könnte dich von hier fortbringen. Philip ist ein lieber, netter Junge, so ganz anders. Dagegen dieser Charles... Bösartig ist er, jawohl. Aber, chérie, es hätte noch schlimmer kommen können. Wenn ich bedenke, daß ihr allein an dieser Stätte wart und was er dir hätte antun können... Ich wollte dich schon lange über die Gefahren aufklären. Du bist kein kleines Mädchen mehr. Du wirst Blicke auf dich ziehen... wie die von Charles. Ich danke dem lieben Gott, daß nichts Schlimmeres geschehen ist. O ja, ich weiß, wie du gelitten hast, wie entsetzlich es für dich war. Wie hättest du dich denn nicht ängstigen sollen, eingesperrt in diese Stätte! Aber das ist nun vorbei, ist nur noch ein böser, böser Traum. Doch wenn ich daran denke, was so ein Mann hätte tun können... Dann wäre der Teufel los gewesen. Dafür könnte ich ihn umbringen.«

Ich wußte, was sie meinte.

»Gut, daß er bald wieder abreist«, fuhr Grandmère fort. »Dann sind wir ihn los. Ich werde nicht mehr froh, solange er im Haus ist.«

»Er haßt mich, Grandmère.«

»Weil du seine Eitelkeit verletzt und ihn abgewiesen hast. Ja, ein Ausbund an Hinterlist, das ist er. Er hält sich für unwiderstehlich. Vor solchen Männern muß man auf der Hut sein. Wir sind gewarnt. Aber manchmal ist es gut, den Charakter der Menschen zu durchschauen, mit denen wir zusammenleben. So hat auch das Böse sein Gutes. Wir wissen jetzt, womit wir bei diesem Charles rechnen müssen.«

»Und wir sind beisammen, Grandmère.«

»Solange ich gewünscht werde, bin ich da. Wenn du älter bist, wirst du Mann und Kinder haben, und dann ist Grandmère nicht mehr so wichtig. Das ist nur natürlich und recht. Aber vorläufig sind wir noch zusammen, hm Und solange ich bei dir bin, passe ich auf dich auf, und du sagst mir, wenn du dich fürchtest. Ich weiß, daß du eines Tages glücklich sein wirst. Ich wünsche dir alles, was deiner Mutter versagt war. Sie war so unbekümmert, so fröhlich, aber allzu vertrauensselig... Aber das ist Vergangenheit, und wir leben in der Gegenwart.«

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, befiel mich einen Moment entsetzliche Angst, ich könne noch im Mausoleum sein. Dann aber nahmen die vertrauten Gegenstände in meinem Zimmer Formen an. Grandmère trat an mein Bett.

»Du hast aber fest geschlafen«, sagte sie.

»Und du warst die ganze Zeit hier«

»Ich habe ganz gemütlich im Sessel gedöst. Jetzt hole ich dir was Gutes. Haferbrei, ein Butterbrot. Der Haferbrei war Mrs. Dillons Idee. Sie sagte, er sei beruhigend. Alle sind ganz besorgt und wollen helfen. Clarkson ist ganz aufgebracht, weil Charles den Schlüssel genommen hat, ohne zu fragen.«

Ich verzehrte das Frühstück und wollte aufstehen, doch Grandmère meinte, ich solle eine Weile ruhen. »Du warst bis aufs Mark durchfroren. Ich möchte nicht, daß du dich erkältest.«

Ich fühlte mich noch matt und hatte nichts dagegen, im Bett zu bleiben. Ich sagte Grandmère, sie brauche nicht den ganzen Tag bei mir zu sitzen. Da käme ich mir wie eine Kranke vor; wenn sie im Atelier sei, wisse ich sie ja in meiner Nähe.

Cassie kam mich besuchen. Sie stand an meinem Bett und betrachtete mich mit verwunderter Zärtlichkeit. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie mir zumute war, als ich hörte, daß du drei Stunden da drin warst. Ich wäre gestorben!«

»Ich dachte auch, ich würde sterben.«

»Deine Haare haben sich kein bißchen verändert. Nichts Weißes zu sehen.«

»Ich komme schon darüber hinweg, auch wenn ich heute nacht viel davon geträumt habe und beim Aufwachen das entsetzliche Gefühl hatte, noch dort zu sein.«

»Ich kann mir nichts Gräßlicheres vorstellen.«

»Es gibt Schlimmeres.«

»Du bist sehr tapfer, Lenore.«

»Du hättest mich zittern sehen sollen. Ich hab’ mir alle möglichen schrecklichen Dinge ausgedacht: Geister, Gespenster... Ich war alles andere als tapfer.«

»Es hat eine Menge Ärger gegeben«, berichtete sie. »Es war furchtbar. Mama ist sehr betrübt. Sie ist in ihrem verdunkelten Zimmer und läßt niemanden außer Miss Logan in ihre Nähe.«

»Was ist denn passiert«

»Drake und Charles haben sich gestritten. Alles wegen dir. Sie haben gerauft, und Drake hat Charles zu Boden gedrückt, da mußte er ihm genau erzählen, wie er dich ins Mausoleum eingesperrt hat. Charles sagte, es sei seine Angelegenheit und er wolle dir eine Lektion erteilen. Man müsse dir einen Denkzettel verpassen, weil du dir zu viel einbildest. Drake hat ihn angeschrien und gesagt, er sei ein Schuft... und noch Schlimmeres. Er sagte, Charles habe den Stalljungen zu dir geschickt, er solle dich dorthin locken, damit Charles dich einsperren konnte. Der hat gesagt, das streite er nicht ab und was das Drake überhaupt angehe. Drake sagte, es gehe jeden anständigen Menschen etwas an und weil Charles so viel von Lektionen halte, bekomme er jetzt selbst eine erteilt. Wir waren fassungslos. Drake ist ja größer und stärker als Charles, er konnte ihn hochheben wie einen Hund, und er hat ihn einfach geschüttelt. Am Ende hat er ihn in den See geworfen. Julia hat geheult. Ich war auch nahe dran. So was habe ich noch nie gesehen.«

»Und Charles lag im See«

»Er ist rausgewatet. Er war ja nicht weit drin. Inzwischen war Drake ins Haus zurückgegangen. Er packte seinen Koffer, ging zu Mama und sagte, er müsse abreisen. Er sei plötzlich abberufen worden. Mama war außer sich. Aber sie mußte Drake natürlich Lebewohl sagen. Dann ging er hinaus und bat einen Stallburschen, ihn zum Bahnhof zu fahren, und dann war er weg.«

»Wie furchtbar! Und Charles«

»Er reist heute abend ab. Er will nicht sagen, wohin, bloß daß er bei einem Freund wohnen und gleich von dort zur Universität zurückkehren will.«

»Dann sind also beide weg... und alles wegen mir.«

»Drake konnte nicht in einem Haus bleiben, in dem er sich so furchtbar mit seinem Gastgeber gestritten hat. Und Charles, er schämt sich vielleicht. Philip ist sehr besorgt um dich.«

»Philip war immer nett zu mir.«

»Ich denke, er wird bald hier sein. Er wollte dich schon gestern abend besuchen, aber Madame Cleremont hielt es für besser, dich nicht zu stören.«

»Was für ein schreckliches Ferienende!«

Als Cassie fort war, dachte ich an Drake, wie er ins Mausoleum gekommen war, mich aufgehoben und ins Haus getragen hatte. Ich würde ihn wohl nie wiedersehen. Er würde sicher nicht mehr als Charles’ Gast ins Haus der Seide kommen. Bestimmt haßten sie sich jetzt. Mich bewegten gemischte Gefühle. Ich war dankbar, daß Drake mich verteidigt hatte; das war fast wie ein Turnierkampf oder ein Duell. Ich kam mir richtig bedeutend vor, und nach der mir von Charles zugefügten Demütigung hatte ich das nötig. Aber ich bedauerte, daß ich Drake nie wiedersehen sollte.

Da kam Philip mich besuchen. »Meine liebe Lenore«, sagte er, »das ist ja furchtbar! Es muß entsetzlich für dich gewesen sein!«

»Es ist lieb von dir, mich zu besuchen«, erwiderte ich. »Dabei wäre es dir nicht zu verdenken gewesen, wenn du keine Lust dazu gehabt hättest, nach all dem Ärger.«

»Dann weißt du das mit Drake schon«

»Cassie hat es mir erzählt.«

»Ich schäme mich so für meinen Bruder, Lenore. Er ist im Augenblick in einer arroganten Phase. Er meint immer, er muß sich alles selbst beweisen. Ich bin sicher, das vergeht wieder. Im Grunde ist er kein schlechter Kerl.«

Ich lächelte. Philip gehörte zu den Menschen, die es mit der ganzen Welt gut meinen und glauben, alle anderen sind wie sie.

»Wie fühlst du dich jetzt«

»Grandmère verhätschelt mich, und alle sind so lieb. Sogar Mrs. Dillon hat gesagt, ich solle Haferbrei essen.«

»Du mußt ja auch rasch gesund werden.«

»Ich bin nicht krank... bloß mitgenommen.«

»In ein, zwei Tagen bist du wieder auf dem Damm. Cassie und ich haben beschlossen, daß wir uns um dich kümmern. Mein Vater kommt bald nach Hause. Er möchte ernsthaft mit uns über die Firma reden. Natürlich auch mit Charles.«

»Aber Charles reist doch ab.«

»Ich glaube, Charles macht sich nicht viel aus der Firma. Er ist zufällig der ältere, aber die wichtigen Dinge möchte Vater mit mir besprechen. Ich will ihn überreden, daß er mir erlaubt, mein Studium abzubrechen. Ich möchte sofort ins Geschäft eintreten.«

»Meinst du, er ist einverstanden«

»Schon möglich. Er ist so froh, daß ich mich für die Firma interessiere. Charles hat überhaupt kein Interesse, und das bekümmert Vater. Aber wenigstens ist einer von uns interessiert.« Es war schön, mit ihm zu reden. Sein Enthusiasmus und seine Liebenswürdigkeit gefielen mir. Er hatte so etwas Natürliches. Als er mich verließ, ging es mir merklich besser. Ich war froh, daß Charles abends abreisen und ich ihn voraussichtlich eine ganze Weile nicht mehr sehen würde.

Ich hatte nicht mit Julia gerechnet. Als Philip fort war, kam sie in mein Zimmer. Sie sah verweint aus und war sehr wütend. Sie stellte sich ans Fußende meines Bettes und sah mich mit funkelnden Augen an. »Es ist deine Schuld«, sagte sie. »Ich fürchtete schon, Drake würde Charles umbringen.«

»Ich hab’s gehört. Es tut mir leid, daß das passiert ist.«

»Du hast damit angefangen.«

»Ich Ich habe nicht darum gebeten, im Mausoleum eingesperrt zu werden.«

»Du hast Drake dumme Geschichten erzählt. Ich hab’ dich beobachtet. Dauernd hast du versucht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, und du hast gedacht, dies wäre eine gute Methode, zu erreichen, daß er dich beachtet.«

»Julia, was redest du da! Glaubst du, ich habe mich freiwillig in dieses gräßliche Loch einsperren lassen Ich bin vor Angst fast wahnsinnig geworden. Es war schrecklich mit all den Särgen.«

»Aber Drake kam und hat dich errettet, oder Das wolltest du doch.«

»Er kam, weil Willie mich gehört hatte und jemanden holen wollte. Zufällig traf er Drake an.«

»Jetzt ist er weg, und ich werde ihn vermutlich nie wiedersehen.« Ihre Lippen zitterten. »Wir haben uns so gut verstanden, und du mußtest alles verderben.«

»Julia«, sagte ich fest, »es war nicht meine Schuld. Es war Charles...«

Sie sah mich nur eisig an und lief, den Tränen nahe, aus dem Zimmer. Ich wußte natürlich, was sie für Drake empfand, und nun gab sie mir die Schuld daran, daß sie ihn verloren hatte.

Fluch der Seide

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