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ENGLAND UND FRANKREICH Das große Haus

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Das große Haus Framling hatte schon immer eine starke Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Vielleicht begann es damit, daß ich mit zwei Jahren von Fabian Framling entführt und zwei Wochen dort festgehalten worden war. Daß das Haus voller Schatten und Geheimnisse steckte, erfuhr ich später, als ich den Pfauenfederfächer entdeckte. In den langen Huren, auf der Galerie, in den stillen Räumen schien einen die Vergangenheit aus allen Winkeln anzugrinsen, als wolle sie sich heimtückisch der Gegenwart bemächtigen, um sie auszulöschen, was ihr allerdings niemals vollends gelang.

Solange ich zurückdenken kann, hatte Lady Harriet Framling über unser Dorf geherrscht. Die Landarbeiter, die respektvoll an den Straßenrand traten, wenn die Kutsche mit dem majestätischen Wappen der Familie vorüberrollte, berührten grüßend die Stirn, und die Frauen versanken in einen ehrerbietigen Knicks. Sie sprachen im Flüsterton von ihr, als fürchteten sie, ihren Namen zu beschmutzen. In meinem kindlichen Gemüt kam sie der Königin gleich und hatte nur Gott über sich. Kein Wunder, daß ich, als ihr Sohn Fabian mir befahl, seine Sklavin zu sein – ich war damals erst sechs Jahre alt –, nicht widersprach. Es schien nur natürlich, daß wir Leute von niederem Stande dem großen Haus auf jede Weise dienten.

Das große Haus – allgemein »das Haus« genannt, als seien die Behausungen, die wir übrigen bewohnten, etwas anderes – hieß Framling; nicht Framling Hall oder Framling Manor, sondern schlicht Framling. Es war seit hundert Jahren im Besitz dieser Familie. Lady Harriet hatte sich gnädig herabgelassen, in die Familie einzuheiraten, war sie doch die Tochter eines Grafen. Das durfte man niemals vergessen; sie hatte wahrhaftig unter ihrem Stande geheiratet, als sie die Gemahlin eines bloßen Barons wurde. Er war längst tot, der Ärmste, aber ich hörte erzählen, daß sie ihn stets an ihren höheren Rang erinnert hatte, und obwohl sie erst als Braut ins Dorf gekommen war, hielt sie es seitdem für ihre Pflicht, über uns zu herrschen.

Die Ehe war jahrelang unfruchtbar geblieben – sehr zum Leidwesen Lady Harriets. Ich nehme an, sie beklagte sich unentwegt bei Gott dem Allmächtigen bitterlich über ein solches Versehen; doch selbst der Himmel konnte Lady Harriet nicht ewig übergehen, und mit vierzig Jahren, fünfzehn Jahre nach ihrem Hochzeitstag, schenkte sie Fabian das Leben.

Ihre Freude war grenzenlos. Sie betete den Knaben an. Es war nur logisch, daß ihr Sohn vollkommen war. Allen seinen Launen mußten die Bediensteten stattgeben, und die Dienerschaft der Framlings verbreitete, daß Lady Harriet nachsichtig über jede kindliche Missetat lächelte.

Vier Jahre nach Fabian wurde Lavinia geboren. Obwohl sie als Mädchen ihrem Bruder im Range etwas nachstand, war sie als Lady Harriets Tochter dem Rest der Gemeinde weit überlegen. Es amüsierte mich stets, Lady Harriet die Kirche betreten und durch den Mittelgang schreiten zu sehen, gefolgt von Fabian, hinter dem wiederum Lavinia ging. Ehrfürchtig beobachtet, nahmen sie ihre Plätze ein und knieten auf den rotschwarzen, mit dem Buchstaben bestickten Polstern nieder; und die Leute hinter ihnen durften Zeugen des erstaunlichen Schauspiels sein, wie Lady Harriet vor einer höheren Macht kniete – ein Erlebnis, das alles wettmachte, woran es dem Gottesdienst ansonsten mangeln mochte.

Ich starrte die drei verwundert an und vergaß, daß ich in der Kirche kniete, bis ich mich, durch einen Stups von Polly Green ermahnt, auf die Andacht besann.

Das Haus Framling beherrschte das Dorf. Es war über den Häusern auf einem sanften Hang errichtet, so daß es einem das Gefühl gab, es stehe Wache und achte auf jegliche Sünde, die wir begehen mochten. Schon zu Zeiten Wilhelms des Eroberers hatte dort ein Gebäude gestanden, das allerdings im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut wurde, so daß von dem Bau aus der Vor-Tudor-Zeit fast nichts mehr geblieben war. An einem Pförtnerhaus mit Zinnentürmen vorbei gelangte man in einen Innenhof, wo Pflanzen zwischen dem Mauerwerk wuchsen und Sträucher in künstlerischer Üppigkeit in reifengefaßten Kübeln wucherten. In diesem Hof standen Bänke, auf die bleigefaßte Fenster herabblickten – dunkel und geheimnisvoll. Ich bildete mir immer ein, daß hinter diesen Fenstern jemand lauerte und Lady Harriet alles berichtete.

Durch eine schwer beschlagene Tür trat man in einen Bankettsaal, an dessen Wänden die Porträts etlicher längst verblichener Framlings hingen – einige blickten grimmig drein, andere gütig. Die Decke war hoch und gewölbt; der lange, blankpolierte Tisch roch nach Bienenwachs und Terpentin. Über dem großen Kamin verzweigte sich der Familienstammbaum in alle Richtungen. Am einen Ende des Saales führte eine Treppe zur Kapelle, und am anderen Ende befand sich die Tür zum Altar.

Im zarten Kindesalter schien es mir, daß wir im Dorf wie Planeten um die strahlende Sonne namens Framling kreisten.

Unser Haus gleich neben der Kirche war weitläufig und zugig; ich hatte oft sagen hören, es zu heizen koste ein Vermögen. Verglichen mit Framling war es freilich winzig. Obwohl im Wohnzimmer ein großes Feuer brannte und es in der Küche schön warm war, glich im Winter der Gang zu den oberen Räumlichkeiten in meiner Vorstellung einer Expedition zum nördlichen Polarkreis. Mein Vater merkte nichts davon. Er merkte sehr wenig von praktischen Dingen. Sein Herz weilte im alten Griechenland, und Alexander der Große und Homer waren ihm vertrauter als seine Pfarrkinder.

Von meiner Mutter wußte ich wenig, denn sie war gestorben, als ich zwei Monate alt war. Polly Green war als Ersatz gekommen, aber das war erst, als ich meinen zweiten Geburtstag schon hinter mir und meine erste Bekanntschaft mit dem Gebaren der Framlings gemacht hatte.

Polly mußte ungefähr achtundzwanzig gewesen sein, als sie zu uns kam. Sie war Witwe und hatte sich immer ein Kind gewünscht, und als sie bei mir Mutterstelle vertrat, wurde ich für sie das Kind, das sie nie bekommen hatte. Wir verstanden uns bestens. Ich liebte Polly, und es gab nicht den geringsten Zweifel, daß Polly mich liebte. In die Geborgenheit ihrer Arme flüchtete ich in kritischen Momenten. Wenn der heiße Reispudding in meinen Schoß rann, wenn ich hinfiel und mir die Knie aufschürfte, wenn ich nachts aus Träumen von Kobolden und bösen Riesen erwachte, suchte ich bei Polly Trost. Ein Leben ohne Polly Green konnte ich mir nicht vorstellen.

Sie kam aus London – einer Stadt, die ihrer Meinung nach jeder anderen überlegen war. »Hab’ mich auf dem Land vergraben, alles deinetwegen«, pflegte sie zu sagen. Wenn ich sie darauf hinwies, daß man, um begraben zu sein, unter die Erde auf den Friedhof gehörte, zog sie ein Gesicht und sagte: »Das ist fast dasselbe.« Sie verachtete das Landleben. »Ein Haufen Felder und nichts los. War’ ich bloß in London!« Dann erzählte sie von den Straßen der Großstadt, wo immer »was los« war, von den Märkten, die abends von Petroleumlichtern erhellt waren, von den Ständen, wo sich Obst und Gemüse türmten, alte Kleider und »alles, was man sich denken kann«, und von den vielen Händlern, die auf ihre unnachahmliche Weise ihre Waren feilboten. »Eines schönen Tages nehm’ ich dich mit, dann kannst du’s selbst sehen.«

Polly war die einzige von uns, die wenig Respekt vor Lady Harriet hatte. »Was ist sie denn schon?« fragte sie. »Nichts anderes als wir alle. Bloß daß sie ’nen Titel hat.«

Polly war furchtlos. Sie machte keinen demütigen Knicks. Sie drückte sich nicht an die Hecke, wenn die Kutsche vorüberrollte. Sie faßte meine Hand ganz fest und marschierte entschlossen weiter, ohne nach rechts oder links zu blicken.

Polly hatte eine Schwester, die mit ihrem Mann in London lebte. »Arme Eff«, sagte Polly oft. »Er taugt nichts.« Ich hörte Polly ihn nie anders nennen als »er«, anscheinend war er eines Namens nicht würdig. »Er« war faul und ließ Eff alles machen. »Ich hab’ schon am Tag ihrer Verlobung zu ihr gesagt: ›Du wirst vor Kummer vergehen, wenn du den nimmst, Eff!‹ Aber hat sie auf mich gehört?«

Dann schüttelte ich ernst den Kopf, weil ich das schon öfter vernommen hatte und die Antwort kannte.

Polly war der Mittelpunkt meines jungen Lebens. Durch ihre städtischen Manieren hob sie sich von uns Landbewohnern ab. Pollys Art, die Arme zu verschränken und eine kriegerische Haltung anzunehmen, wenn irgend jemand Anstalten machte, sie anzugreifen, machte sie zu einer furchterregenden Gegnerin. Sie pflegte zu sagen, sie lasse sich »von niemand nichts gefallen«, und wenn ich sie, nachdem meine Gouvernante Miss York mich in die Feinheiten der Grammatik eingeführt hatte, darauf aufmerksam machte, daß eine doppelte Verneinung eine Bejahung ergebe, sagte sie nur: »Willst du vielleicht an mir rumnörgeln?«

Ich liebte Polly innig. Sie war meine Verbündete und gehörte ganz mir. Sie und ich hielten zusammen gegen Lady Harriet und die Welt.

Wir bewohnten die oberen Räume des Pfarrhauses. Mein Zimmer lag neben ihrem; so war es vom Tag ihres Kommens an gewesen, und wir wollten es nie ändern. Es gab mir ein wohliges Gefühl, sie so nahe bei mir zu haben. Das Dachgeschoß hatte noch einen weiteren Raum. Hier fachte Polly ein behagliches Feuer an, und im Winter machten wir Toast und rösteten Kastanien. Ich schaute in die Flammen, während Polly mir Geschichten vom Leben in London erzählte. Ich sah die Marktstände und Eff und »ihn« vor mir und das Häuschen, in dem Polly mit ihrem Mann Tom, einem Matrosen, gewohnt hatte. Ich sah Polly warten, daß er auf Urlaub nach Hause käme mit seiner ausgebeulten Hose und der kleinen weißen Mütze, auf der HMS TRIUMPHANT stand, und seinem weißen Bündel über der Schulter. Ihre Stimme zitterte ein wenig, wenn sie mir erzählte, wie er mit seinem Schiff untergegangen war.

»Nichts geblieben«, sagte sie. »Kein Baby, das mich an ihn erinnert.« Ich wies sie darauf hin, wenn sie ein Baby gehabt hätte, würde sie mich nicht gewollt haben, und darum sei ich froh, daß es so kommen mußte.

Sie hatte Tränen in den Augen, und sagte deshalb forsch: »Nicht doch! Willst du mich auf meine alten Tage weichmachen?« Aber sie umarmte mich trotzdem.

Von unseren Fenstern sahen wir auf den Friedhof hinunter: alte Grabsteine, einige halb verfallen, unter denen die vor langer Zeit Verstorbenen ruhten. Ich las die Inschriften und fragte mich, wie die Menschen, die dort lagen, gewesen sein mochten. Die Buchstaben auf einigen Steinen waren fast unleserlich, so alt waren sie.

Unsere Zimmer waren groß und geräumig und hatten auf zwei Seiten Fenster. Auf der dem Friedhof entgegengesetzten Seite sahen wir auf den Dorfanger mit seinem Teich und den Bänken, wo sich die alten Männer zu treffen pflegten. Manchmal unterhielten sie sich, manchmal starrten sie nur schweigend aufs Wasser, bevor sie zum Wirtshaus schlurften, um ein Glas Bier zu trinken. »Auf der einen Seite der Tod«, sagte ich zu Polly, »und auf der anderen das Leben.«

»Du bist mir ’n komischer Fratz«, erwiderte Polly oft. Jede unübliche Bemerkung von mir veranlaßte sie zu diesem Kommentar.

Unser Haushalt bestand aus meinem Vater, mir, meiner Gouvernante Miss York, Polly, Mrs. Janson, die Köchin und Haushälterin in einer Person war, sowie Daisy und Holly, zwei lebhaften Schwestern, die sich die Hausarbeit teilten. Später erfuhr ich, daß die Gouvernante da war, weil meine Mutter etwas Geld mit in die Ehe gebracht hatte, das für meine Erziehung beiseite gelegt worden war, und ich die bestmögliche Ausbildung bekommen sollte, einerlei, welche Härten deswegen zu erdulden waren.

Ich liebte meinen Vater, aber er war in meinem Leben nicht so wichtig wie Polly. Wenn ich ihn im weißen Chorrock von der Kirche über den Friedhof zum Pfarrhaus gehen sah, das Gebetbuch in der Hand, die feinen weißen Haare vom Wind zerzaust, erwachte in mir der dringende Wunsch, ihn zu beschützen. Er wirkte so verletzlich, so unfähig, für sich selbst zu sorgen. Deshalb war es seltsam, in ihm den Hüter einer frommen Herde zu sehen, zumal diese Lady Harriet mit einschloß. Man mußte ihn an die Mahlzeiten erinnern, ihm sagen, wann er saubere Kleider anziehen mußte, und er verlegte andauernd seine Brille, die sich an den unwahrscheinlichsten Stellen wiederfand. Er kam wegen irgendwas in ein Zimmer und vergaß, was er dort wollte. Auf der Kanzel war er redegewandt, doch ich war überzeugt, daß zumindest die Dorfbewohner seine Anspielungen auf die Klassiker und die alten Griechen nicht verstanden.

»Er würde noch seinen Kopf vergessen, wenn er nicht fest auf seinen Schultern säße«, bemerkte Polly in dem halb liebevollen, halb verächtlichen Ton, den ich so gut kannte. Aber sie hatte meinen Vater gern und hätte ihn notfalls mit ihrer ganzen drastischen Redekunst, die sich zuweilen sehr von unserer Sprache unterschied, verteidigt.

Mit zwei Jahren hatte ich jenes Erlebnis, von dem mir so wenig in Erinnerung geblieben ist. Ich kannte die Geschichte eher vom Hörensagen, doch sie gab mir das Gefühl, irgendwie mit dem großen Haus verbunden zu sein. Wäre Polly damals schon bei mir gewesen, wäre die Geschichte nie passiert, und ich glaube, meinem Vater war aufgrund dieses Vorfalls klargeworden, daß ich ein zuverlässiges Kindermädchen brauchte.

Was damals geschah, gibt Aufschluß über Fabian Framlings Charakter und darüber, wie sehr seine Mutter in ihn vernarrt war. Fabian war damals ungefähr sieben. Lavinia war vier Jahre jünger, und ich, wie gesagt, zwei Jahre alt. Einzelheiten über den Vorfall habe ich aufgrund der Freundschaft zwischen unseren Dienstboten und dem Personal der Framlings erfahren. Mrs. Janson, unsere Köchin und Haushälterin, die uns so treue Dienste leistete und im Haus für Ordnung sorgte, erzählte mir alles.

»Das war die seltsamste Sache, die ich je gehört habe«, sagte sie.

»Dieser junge Master Fabian, Seine Lordschaft, tanzt allen im Haus auf der Nase herum. Lady Harriet glaubt, daß Sonne, Mond und Sterne aus seinen Augen leuchten. Sie läßt nicht zu, daß ihm was in die Quere kommt. Ein kleiner Kaiser ist er, jawohl. Wenn er seinen Willen nicht kriegt, ist der Teufel los. Weiß der Himmel, was aus dem wird, wenn er ’n bißchen älter ist. Also, seine kleine Majestät hat die alten Spiele satt. Er will was Neues, und so bildet er sich ein, er ist ein Vater. Wenn er es sich in den Kopf setzt, dann muß es sein. Die von da oben haben mir erzählt, er verlangt, daß ihm alles gehört, was er haben will. Und das tut keinem gut, laß dir das von mir gesagt sein, Deborah!«

Ich machte ein entsprechend beeindrucktes Gesicht, denn ich wollte unbedingt, daß sie mit ihrer Geschichte fortfuhr.

»Du warst im Pfarrhausgarten und krochst zwischen den Büschen herum. Sie hätten besser auf dich aufpassen sollen. Aber da war diese May Higgs, das flatterhafte Stück. Nichts für ungut, sie hatte kleine Kinder gern, aber damals hatte sie ’ne Liebschaft mit diesem Jim Fellings, und der kam gerade vorbei. Und sie schäkert mit ihm und sieht nicht, was passiert. Master Fabian wollte unbedingt Vater sein, und ein Vater mußte ein Kind haben. Er sah dich und nahm dich mit nach Hause. Du warst sein Baby, und er wollte dein Vater sein.«

Mrs. Janson stemmte die Hände in die Hüften und sah mich an. Ich lachte. Ich fand das sehr lustig. »Weiter, Mrs. Janson! Und was dann?«

»Meine Güte, das war eine schöne Bescherung, als sie merkten, daß du verschwunden warst. Sie konnten sich nicht vorstellen, wo du warst. Dann schickte Lady Harriet nach deinem Vater. Der Ärmste, er war fassungslos. Er nahm May Higgs ins Gebet. Sie war in Tränen aufgelöst und machte sich Vorwürfe, und das mit Recht. Weißt du was, ich glaube, das war der Anfang vom Ende zwischen ihr und Jim Fellings. Sie gab ihm die Schuld. Und im Jahr darauf hat sie Charlie Clay geheiratet.«

»Erzählen Sie mir, wie mein Vater ins große Haus ging, um mich zu holen!«

»Also, da brach ein Sturm los! Ein regelrechter Orkan war das. Master Fabian hat gerast und getobt. Er wollte dich nicht hergeben. Du warst sein Baby. Er wollte dein Vater sein. Wir fielen aus allen Wolken, als der Pfarrer ohne dich zurückkam. Ich fragte ihn: ›Wo ist die Kleine?‹ und er sagte: ›Sie bleibt im großen Haus, bloß für ein, zwei Tage.‹ Ich sagte erschrocken: ›Sie ist doch noch ein Baby.‹ Da sagte er: ›Lady Harriet hat mir versichert, daß gut für sie gesorgt wird. Miss Lavinias Kindermädchen kümmert sich um sie. Es wird ihr an nichts fehlen.‹ Fabian bekam einen solchen Wutanfall, als er glaubte, dich hergeben zu müssen, daß Lady Harriet befürchtete, er würde sich etwas antun. Da sagte ich: ›Lassen Sie sich das von mir gesagt sein, mit diesem Jungen– auch wenn er Lady Harriets Sohn ist – nimmt’s ein schlimmes Ende.‹ Es war mir egal, ob es Lady Harriet hinterbracht wurde, ich mußte es einfach sagen.«

»Und ich bin zwei Wochen im großen Haus geblieben?«

»Allerdings. Es soll richtig komisch gewesen sein, wie Master Fabian dich umsorgte. Er hat dich im Garten in Miss Lavinias Kinderwagen herumgeschoben. Er hat dich gefüttert und angezogen. Sonst hatte er immer wüste Spiele geliebt ... und nun spielte er Familie. Er hätte dich überfüttert, wenn Nanny Cuffley, das Kindermädchen, nicht gewesen wäre. Sie sprach ein Machtwort und trat ausnahmsweise mal energisch auf, und siehe da: er gehorchte. Er muß dich wirklich gerngehabt haben. Weiß der Himmel, wie lange das noch gegangen wäre, wenn Lady Milbanke nicht mit ihrem kleinen Ralph gekommen wäre, der ein Jahr älter war als Master Fabian. Er lachte ihn aus und sagte, das wäre wie mit Puppen spielen; es mache überhaupt keinen Unterschied, daß diese lebendig sei. Das sei etwas für Mädchen. Nanny Cuffley erzählte, Master Fabian habe wirklich einen bedrückten Eindruck gemacht. Er wollte dich nicht hergeben. Aber ich vermute, er hielt es für unvereinbar mit seiner Männlichkeit, sich um ein Baby zu kümmern.«

Ich liebte diese Geschichte und bat Mrs. Janson viele Male, sie zu wiederholen.

Fast unmittelbar nach diesem Vorfall kam Polly zu uns.

Immer, wenn ich Fabian sah – meistens von weitem – betrachtete ich ihn verstohlen, und ich sah vor meinem geistigen Auge, wie er mich zärtlich umsorgte. Es war so komisch, daß ich jedesmal lachen mußte.

Ich bildete mir auch ein, daß er mich sehr merkwürdig ansah, obwohl er immer so tat, als sähe er mich nicht.

Aufgrund unserer Stellung im Dorf – der Pfarrer stand auf einer Stufe mit dem Arzt und dem Rechtsanwalt, wenngleich uns natürlich Abgründe von den Höhen trennten, auf welchen die Framlings residierten – lud man mich, als ich älter wurde, dann und wann ein, mit Miss Lavinia Tee zu trinken.

Obwohl mir die Teestunden selbst keinen rechten Spaß machten, fand ich es doch immer aufregend, in das Haus zu gehen, von dem ich bis dahin wenig gesehen hatte.

Lavinia war hochmütig, überheblich, aber sehr schön. Sie erinnerte mich an eine Tigerin. Sie hatte lohfarbene Haare und goldene Sprenkel in ihren grünen Augen; ihre Oberlippe war kurz, und ihre schönen weißen Zähne standen leicht vor; ihre Nase war klein, die Spitze ganz leicht nach oben gebogen, was ihrem Gesicht einen kecken Zug verlieh. Das Prächtigste war jedoch ihr herrlich üppiges, lockiges Haar. Sie war in der Tat sehr attraktiv.

Die erste Einladung zum Tee bleibt mir unvergeßlich. Miss York begleitete mich. Miss Etherton, Lavinias Gouvernante, begrüßte uns, und sie und Miss York verstanden sich auf Anhieb.

Wir wurden ins Schulzimmer geführt, einen großen Raum mit getäfelten Wänden und Gitterfenstern. In den geräumigen Schränken vermutete ich Schiefertafeln, Griffel und vielleicht Bücher. An dem langen Tisch hatten wohl Generationen von Framlings ihre Lektionen gelernt.

Lavinia und ich betrachteten einander mit einer gewissen Abneigung. Polly hatte mich instruiert, bevor ich ging: »Vergiß nicht, du bist so gut wie sie! Besser, schätz’ ich.« Mit Pollys Worten in den Ohren trat ich Lavinia eher als Feindin denn als Freundin gegenüber.

»Wir trinken im Schulzimmer Tee«, sagte Miss Etherton, »und dann könnt ihr zwei euch kennenlernen.« Sie lächelte Miss York beinahe verschwörerisch zu. Es war klar, daß die beiden sich eine kleine Erholung von ihren Schutzbefohlenen ersehnten. Lavinia führte mich zu einem Fensterplatz, und wir setzten uns.

»Du wohnst in diesem gräßlichen Pfarrhaus«, sagte sie.

»Igitt!«

»Es ist sehr hübsch«, erklärte ich.

»Aber nicht wie hier.«

»Muß es auch nicht, um hübsch zu sein.«

Lavinia machte ein betroffenes Gesicht, weil ich ihr widersprochen hatte, und ich spürte, daß unser Verhältnis zueinander nicht so einfach sein würde, wie das zwischen Miss York und Miss Etherton zu werden versprach.

»Was für Spiele magst du?« fragte sie.

»Oh – Ratespiele. Mit meinem Kindermädchen Polly und mit Miss York. Manchmal tun wir so, als machten wir eine Weltreise und nennen alle Städte, durch die wir kommen.«

»So ein langweiliges Spiel!«

»Gar nicht!«

»Doch«, beharrte sie, als sei dies das letzte Wort in dieser Angelegenheit.

Ein Mädchen mit gestärktem Häubchen und ebensolcher Schürze brachte den Tee. Lavinia flitzte an den Tisch.

»Vergiß deinen Gast nicht«, sagte Miss Etherton. »Deborah, möchtest du dich hierher setzen?«

Es gab Brot mit Butter und Erdbeermarmelade sowie kleine Küchlein mit bunter Glasur.

Miss York beobachtete mich. Ich nahm zuerst Brot und Butter. Es war unhöflich, zuerst nach dem Kuchen zu greifen. Aber Lavinia befolgte die Regeln nicht. Sie nahm sich ein Küchlein. Miss Etherton sah Miss York entschuldigend an, die so tat, als merkte sie nichts. Als ich meine Scheibe Brot mit Butter gegessen hatte, bekam ich Kuchen angeboten. Ich nahm mir ein Stück mit blauer Glasur.

»Das ist das letzte blaue«, verkündete Lavinia. »Das wollte ich haben!«

»Lavinia!« ermahnte sie Miss Etherton.

Lavinia achtete nicht auf sie. Sie sah mich an. Ich wußte, sie erwartete von mir, daß ich ihr das blaue Küchlein gab. Pollys Ermahnung im Ohr, tat ich es nicht. Bedachtsam nahm ich den Kuchen von meinem Teller und biß hinein.

Miss Etherton hob die Schultern und sah Miss York an. Es war eine unbehagliche Teestunde. Ich glaube, Miss York und Miss Etherton waren beide sehr erleichtert, als wir schließlich zum Spielen geschickt wurden.

Ich folgte Lavinia, die mir erklärte, wir würden jetzt Verstecken spielen. Sie zog eine Münze aus ihrer Tasche und sagte: »Wir werfen.« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte. »Du mußt Kopf oder Wappen wählen«, sagte sie.

Ich wählte Kopf.

Sie warf die Münze hoch, und sie landete in ihrer Hand. Sie hielt sie so, daß ich sie nicht sehen konnte, und sagte: »Ich hab’ gewonnen. Das heißt, ich darf wählen. Du versteckst dich, und ich such’ dich. Los, ich zähl’ bis zehn ...«

»Wo ...« begann ich.

»Überall ...«

»Aber das Haus ist so groß, ich kenn’ mich nicht aus.«

»Klar ist es groß. Es ist ja nicht euer dämliches Pfarrhaus.« Sie gab mir einen Schubs. »Los jetzt! Ich fang’ an zu zählen.«

Natürlich, sie war Miss Lavinia vom großen Haus. Sie war ein Jahr älter als ich und kam mir sehr erfahren und vornehm vor, außerdem war ich ein Gast. Miss York hatte mir erklärt, daß Gäste leider oft Dinge tun müßten, die sie lieber nicht tun würden. Dies gehöre zu den Pflichten, die man als Gast habe.

Ich lief aus dem Zimmer, während Lavinia drohend zählte: » ... drei, vier, fünf ...« Es hörte sich an wie das Läuten der Sterbeglocke.

Ich irrte herum. Das Haus schien mich auszulachen. Wo konnte ich mich in einem Gebäude verstecken, dessen Inneres mir unbekannt war?

Ich versuchte es blindlings, kam an eine Tür und öffnete sie. Ich befand mich in einem kleinen Raum. Einige Stühle standen darin, deren Rückenlehnen in blauer und gelber Petit-point-Stickerei gehalten waren. Doch es war die Decke, die meine Aufmerksamkeit fesselte; sie war mit kleinen feisten Amoretten bemalt, die auf Wolken saßen. Dieser Raum hatte eine zweite Tür. Ich ging hindurch und war in einem Flur.

Hier war kein Platz, um sich zu verstecken. Was sollte ich tun? Vielleicht ins Schulzimmer zurückgehen und Miss York sagen, ich wolle nach Hause. Ich wünschte, Polly wäre mit mir gekommen. Sie hätte mich niemals dieser Miss Lavinia auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert.

Ich mußte versuchen, den Weg zurück zu finden. Ich drehte mich um und ging, wie ich glaubte, wieder zurück. Ich kam an eine Tür und erwartete, die feisten Amoretten an der Decke zu sehen, aber nein, ich befand mich in einer langen Galerie, deren Wände voll Bilder hingen. An einem Ende war ein Podium, auf dem ein Cembalo und vergoldete Stühle standen.

Ich betrachtete ängstlich die Porträts. Sie wirkten wie lebendige Menschen, die mich streng ansahen, weil ich in ihre Privatsphäre eingedrungen war.

Mir kam es vor, als ob das Haus mich verhöhnte, und wieder wünschte ich, Polly wäre bei mir gewesen. Ich war der Panik nahe und hatte das unbehagliche Gefühl, gefangen zu sein und nie mehr hinauszukommen; ich würde für den Rest meines Lebens durch das Haus irren und den Weg nach draußen suchen.

Am einen Ende der Galerie war eine Tür. Ich öffnete sie und gelangte in einen anderen langen Hur. Vor mir war eine Treppe. Ich konnte nun weitergehen oder in die Galerie zurückkehren. Ich stieg die Treppe hinauf; wieder ein Hur und dann ... eine Tür.

Ich drückte mutig die Klinke und trat in ein kleines, dunkles Zimmer. Trotz meiner wachsenden Angst war ich fasziniert. Der Raum hatte etwas Fremdartiges. Die Vorhänge waren aus schwerem Brokat, und ich nahm einen eigenartigen Geruch wahr. Später erfuhr ich, daß es Sandelholz war. Die geschnitzten Holztische hatten Verzierungen aus Messing. Es war ein aufregender Raum, und für einen Augenblick vergaß ich meine Beklemmung. Auf dem Kaminsims lag ein Fächer. Er war sehr schön mit seinem herrlichen Blauton und den großen schwarzen, kreisrunden Hecken. Ich wußte, was es war, denn ich hatte Bilder von Pfauen gesehen: ein Fächer aus Pfauenfedern. Ich verspürte den Drang, ihn zu berühren. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich ihn gerade erreichen. Die Federn waren sehr weich.

Dann sah ich mich um. Da war eine Tür. Ich ging hin. Vielleicht konnte ich jemanden finden, der mir den Weg zum Schulzimmer und zu Miss York zeigte.

Ich öffnete die Tür und spähte vorsichtig in den nächsten Raum.

Eine Stimme sagte: »Wer ist da?«

Ich trat in das Zimmer und sagte: »Ich bin Deborah Delany. Ich bin zum Tee gekommen und hab’ mich verlaufen.«

Ich ging ein Stück weiter. In einem hochlehnigen Sessel saß eine alte Dame. Sie hatte eine Decke über den Knien, woraus ich schloß, daß sie krank war. Neben ihr stand ein Tisch, übersät mit Papieren, die wie Briefe aussahen.

Sie musterte mich, und ich erwiderte tapfer ihren Blick. Ich konnte nichts dafür, daß ich mich verlaufen hatte. Ich war nicht behandelt worden, wie es sich für einen Gast geziemte.

»Warum bist du zu mir gekommen, Kleine?« fragte sie mit hoher Stimme. Die Frau war sehr blaß, und ihre Hände zitterten. Einen Moment lang hielt ich sie für ein Gespenst.

»Ich wollte nicht zu Ihnen. Wir spielen Verstecken, und ich hab’ mich verlaufen.«

»Komm her, Kind!«

Ich ging zu ihr.

Sie sagte: »Dich habe ich noch nie gesehen.«

»Ich wohne im Pfarrhaus. Ich bin zu Lavinia zum Tee gekommen, und dies soll ein Versteckspiel sein.«

»Mich kommt nie jemand besuchen.«

»Das tut mir leid.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich lese seine Briefe«, sagte sie dann.

»Er war einfach wunderbar. Es war Schicksal. Ich habe ihn vernichtet. Es war meine Schuld. Ich hätte es wissen müssen. Ich war gewarnt ...«

Sie war die merkwürdigste Person, der ich je begegnet war. Ich hatte immer gespürt, daß sich in diesem Haus seltsame Dinge zutragen würden.

Ich sagte, ich müsse ins Schulzimmer zurück. »Sie werden sich fragen, wo ich geblieben bin. Und es ist nicht sehr höflich, wenn Gäste in Häusern herumspazieren, nicht wahr?«

Sie streckte eine Hand aus, die mir wie eine Klaue vorkam, und packte mein Handgelenk. Ich wollte schon um Hilfe rufen, als die Tür aufging und eine Frau hereintrat. Ihre Erscheinung erschreckte mich. Sie war keine Engländerin. Sie hatte sehr dunkle Haare und tiefliegende schwarze Augen; sie trug ein Gewand, das, wie ich später erfuhr, ein Sari war. Es war von einem ähnlichen Dunkelblau wie der Fächer, und ich fand es schön.

Sie bewegte sich sehr graziös und sagte in einem angenehmen Singsang: »Ach du liebe Zeit! Miss Lucille, was ist das? Und wer bist du, Kleine?«

Ich erklärte, wer ich war und wie ich hierhergekommen war.

»Oh, Miss Lavinia ... aber das ist sehr, sehr ungezogen von ihr, dich so zu behandeln. Verstecken spielen!« Sie hob die Hände.

»Und das in diesem Haus ... und du findest Miss Lucille. Hier kommen nie Leute her. Miss Lucille ist gern allein.«

»Es tut mir leid, es war keine Absicht.«

Sie klopfte mir auf die Schulter. »O nein, nein, es war die ungezogene Miss Lavinia. Eines Tages ...« Sie schürzte die Lippen, dann legte sie die Handflächen aneinander und blickte einen Moment zur Decke. »Aber du mußt zurück. Ich zeig’ dir den Weg. Komm mit!«

Sie nahm meine Hand und drückte sie begütigend.

Ich sah Miss Lucille an. Tränen liefen ihr langsam über die Wangen.

»Dieser Teil des Hauses ist für Miss Lucille«, wurde ich belehrt.

»Ich wohne hier bei ihr. Wir sind hier ... und nicht hier ... verstehst du?«

Ich verstand sie nicht, aber ich nickte.

Wir gingen durch die Galerie zurück und dann durch Räume, die ich vorher nicht gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, bis wir beim Schulzimmer anlangten.

Die Frau öffnete die Tür. Miss York und Miss Etherton waren ins Gespräch vertieft. Von Lavinia war nichts zu sehen. Sie erschraken, als sie mich sahen.

»Was ist passiert?« fragte Miss Etherton.

»Sie spielen Verstecken. Die Kleine hier ... in einem Haus, das sie nicht kennt. Sie hat sich verlaufen und kam zu Miss Lucille.«

»Oh, das tut mir sehr leid«, sagte Miss Etherton. »Miss Lavinia hätte besser auf ihren Gast aufpassen sollen. Danke, Ayesha!«

Ich lächelte die Frau an. Ich mochte ihre sanfte Stimme und ihre gütigen, schwarzen Augen. Sie erwiderte mein Lächeln und entfernte sich anmutig.

»Ich hoffe, Deborah hat nicht ... hm ...« begann Miss York verlegen.

»O nein. Miss Lucille wohnt separat mit ihrem Personal ... alles Inder. Sie war dort, wissen Sie. Die Familie hat Verbindungen zur Ostindischen Kompanie. Miss Lucille ist ein bißchen ... seltsam geworden.«

Beide Gouvernanten sahen mich an, und ich vermutete, die Angelegenheit würde weiter besprochen, sobald sie allein waren.

Ich sagte zu Miss York: »Ich will nach Hause.«

Sie machte ein verdutztes Gesicht, aber Miss Etherton schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln.

»Nun«, meinte Miss York, »ich denke, es wird Zeit.«

»Wenn Sie müssen ...«, erwiderte Miss Etherton. »Ich möchte nur wissen, wo Miss Lavinia steckt. Sie sollte doch ihren Gast verabschieden.«

Lavinia fand sich ein, bevor wir aufbrachen.

Ich sagte kühl: »Danke.«

Sie antwortete: »Es war blöd von dir, dich zu verlaufen. Aber du bist ja auch Häuser wie dieses nicht gewöhnt, nicht?«

Miss Etherton sagte: »Ich bezweifle, daß es noch so ein Haus wie dieses gibt, Lavinia. Aber du, Deborah, mußt wiederkommen.«

Miss York und ich gingen, Miss Yorks Lippen waren geschürzt. Doch sie sagte zu mir: »Ich möchte nicht in Miss Ethertons Haut stecken, nach dem, was sie mir erzählt hat ... Und der Junge ist noch schlimmer.« Dann besann sie sich, mit wem sie sprach, und sagte, es sei wirklich ein sehr angenehmer Besuch gewesen.

Das konnte ich nicht finden. Aber ich hatte zumindest Aufregendes erlebt, das ich nicht so leicht vergessen sollte.

Obgleich ich auf keinen weiteren Besuch im großen Haus erpicht war, hielt die Faszination, die es auf mich ausübte, unvermindert an. Immer, wenn ich vorüberkam, machte ich mir Gedanken über die seltsame alte Dame und ihre Gefährtin. Die Neugier nagte an mir, denn ich war von Natur aus wißbegierig; diesen Charakterzug hatte ich mit Polly gemein.

An manchen Tagen, wenn mein Vater nicht beschäftigt war, ging ich in sein Studierzimmer. Das war immer gleich nach dem Tee. Ich hatte oft das Gefühl, eins von den Dingen wie seine Brille zu sein, die er von Zeit zu Zeit vergaß. Wenn er seine Brille brauchte, suchte er sie, und wenn ihn das väterliche Pflichtgefühl überkam, erinnerte er sich an mich.

Seine Vergeßlichkeit hatte etwas Liebenswertes. Er war immer zärtlich zu mir, und ich war überzeugt, wäre er nicht so sehr mit dem Trojanischen Krieg befaßt gewesen, hätte er sich öfter an mich erinnert.

Mit ihm zu reden war wie ein Spiel, weil es stets sein Ziel war, auf ein klassisches Thema zu sprechen zu kommen, meines jedoch, ihn davon abzulenken.

Er fragte immer nach meinen Fortschritten im Unterricht und ob ich mich gut mit Miss York verstünde. Ich fand, daß ich ganz gut vorankam und sagte ihm, Miss York scheine zufrieden.

Da nickte er lächelnd. »Sie findet dich ein wenig impulsiv«, sagte er dann. »Ansonsten hat sie eine gute Meinung von dir.«

»Vielleicht findet sie mich impulsiv, weil sie es nicht ist.«

»Möglicherweise. Aber du mußt lernen, nicht unbesonnen zu sein. Denke an Phaethon!«

Ich wußte nicht recht, wer Phaethon war, aber wenn ich fragte, würde er sich des Gesprächs bemächtigen, und Phaethon konnte zu einer anderen Persönlichkeit aus den alten Zeiten führen, wo die Menschen sich in Lorbeer und alle möglichen Pflanzen verwandelten und die Götter Schwäne und Stiere wurden, um Sterbliche zu umwerben. Mir kam dieses Verhalten sehr merkwürdig vor, und ich glaubte ohnehin nicht daran.

»Vater«, fragte ich, »weißt du etwas über Miss Lucille Framling?«

Seine Augen nahmen einen verschwommenen Ausdruck an. Er griff nach seiner Brille, als könne sie ihm dazu verhelfen, die Dame zu sehen.

»Ich hörte Lady Harriet einmal etwas sagen ... Jemand in Indien, glaube ich.«

»Sie hat eine indische Dienerin. Ich hab’ sie gesehen. Ich hab’ mich beim Versteckspielen verlaufen, und da fand ich sie. Die Inderin hat mich wieder zu Miss York gebracht. Es war ziemlich aufregend.«

»Ich wußte, daß die Framlings irgendwelche Verbindungen zu Indien haben, die Ostindische Kompanie, vermute ich.«

»Ich möchte wissen, warum sie so abgeschieden in einem Fügel des Hauses lebt.«

»Ich meine gehört zu haben, daß sie ihren Geliebten verloren hat. Das kann sehr traurig sein. Denke an Orpheus, der in die Unterwelt ging, um Eurydike zu suchen!«

Ich war so mit Miss Lucille Framlings Geheimnis beschäftigt, daß ich meinen Vater diese Runde gewinnen ließ. So verging die restliche Zeit mit Orpheus und seiner Reise in die Unterwelt, wo er seine Gemahlin wiederfinden wollte, die ihm am Hochzeitstag entrissen worden war.

Trotz des unglücklichen Beginns machte meine Bekanntschaft: mit Lavinia Fortschritte, und obwohl zwischen uns stets eine gewisse Distanz bestand, fühlte ich mich doch zu ihr und vielleicht vor allem zum großen Haus hingezogen, wo alles mögliche passieren konnte. Ich betrat es nie ohne das Gefühl, daß ich mich auf ein Abenteuer einließ.

Auch Polly hatte ich von dem Versteckspiel erzählt, und davon, wie ich die alte Dame getroffen hatte.

»Na, so was!« sagte sie. »Das ist mir ’ne nette kleine Madam! Hat keine Ahnung, wie man Gäste behandelt, das ist mal sicher. Und so was nennt sich ’ne Dame!«

»Sie hat gesagt, das Pfarrhaus ist klein.«

»Die würd’ ich gern mal Kohlen die Treppen raufschleppen lassen.«

Bei dieser Vorstellung mußte ich lachen.

Polly tat mir wohl. »Du hast mehr von ’ner kleinen Dame als sie«, sagte sie. »Das ist mal sicher. Biete ihr nur die Stirn. Sag ihr deine Meinung, und wenn’s ihr nicht paßt, schadet’s nicht, oder? Schätze, du könntest dich mit mir anderswo amüsieren ... besser als in dem alten Kasten. Höchste Zeit für den Abbruchunternehmer, wenn du mich fragst.«

»Aber Polly, es ist ein wunderbares Haus!«

»Nur schade, daß seine Bewohner nicht wissen, was sich gehört.«

Ich dachte stets an Polly, wenn ich in das Haus ging. Du bist ebenso gut wie die, ermahnte ich mich. Im Unterricht war ich sogar besser. Das war Mrs. Janson entschlüpft. Ich hatte sie sagen hören, daß Miss Lavinia Miss Etherton das Leben ganz schön schwer mache und sich weigere zu lernen, wenn sie keine Lust hatte, so daß die junge Dame etliche Jahre hinter manch anderer zurück sei. Ich wußte, wer mit »manch anderer« gemeint war, und das machte mich ziemlich stolz. Es tat gut, sich in Lavinias Gegenwart an dieses Wissen zu erinnern. Überdies wußte ich mich besser zu benehmen als sie. Aber vielleicht wußte sie es auch und weigerte sich nur, sich so zu verhalten, wie man es ihr beigebracht hatte. Ich war inzwischen lange genug mit Lavinia zusammen, um zu wissen, daß in ihr eine Rebellin steckte. Und mit Pollys Ermahnung, Lavinia alles mit gleicher Münze heimzuzahlen, fühlte ich mich nicht ganz so verwundbar wie am Anfang.

Mein Vater sagte ständig, jegliches Wissen sei gut, und man könne nie genug erfahren. Miss York pflichtete ihm bei. Doch etwas gab es, das ich lieber nicht erfahren hätte.

Lady Harriet hatte meine Freundschaft mit Lavinia lächelnd gutgeheißen, und deshalb mußte sie fortgesetzt werden. Lavinia lernte reiten, und Lady Harriet meinte, ich solle an ihren Reitstunden teilnehmen. Mein Vater war hocherfreut, und so ritt ich mit Lavinia. Unter dem wachsamen Auge des ersten Stallburschen Joe Cricks umrundeten wir endlos die Koppel.

Lavinia ritt gern und stellte sich daher recht geschickt an. Es machte ihr einen Riesenspaß zu demonstrieren, wieviel geschickter sie war als ich. Sie war verwegen und befolgte die Anweisungen nicht, wie ich es tat. Der arme Joe Cricks bekam es wirklich mit der Angst, wenn sie seine Instruktionen mißachtete, und bald schon verlangte sie von ihm, sie ohne Leitzügel reiten zu lassen.

»Wenn Sie sich auf Ihrem Tier wohl fühlen wollen«, sagte Joe Cricks, »dürfen Sie keine Angst vor ihm haben. Zeigen Sie ihm, wer die Herrin ist! Andererseits kann es gefährlich sein.«

Lavinia schüttelte ihre lohfarbenen Haare. Sie liebte diese Geste. Ihre Haare waren wirklich prachtvoll, und sie erregte Aufmerksamkeit mit ihnen.

»Ich weiß schon, was ich tue, Cricks«, sagte sie.

»Ich hab’ nicht behauptet, daß Sie das nicht wüßten, Miss Lavinia. Ich sag’ ja bloß, daß ... Sie müssen auch mit dem Pferd rechnen, nicht nur mit sich selbst. Sie mögen ja wissen, was Sie tun, aber Pferde, das sind nervöse Geschöpfe. Die setzen sich was in den Kopf, was Sie nicht erwarten.«

Lavinia tat weiterhin, was sie wollte, und ihre Kühnheit und die Zuversicht, es besser zu wissen als sonst jemand, führten sie ans Ziel.

»Sie wird mal eine gute Reiterin«, fand Joe Cricks. »Das heißt, wenn sie nicht zuviel wagt. Miss Deborah dagegen, die ist eher vorsichtig. Mit der Zeit wird’s schon werden ... und dann wird sie richtig gut.«

Ich liebte die Reitstunden, wenn ich um die Koppel trabte, und dann erst die Aufregung beim ersten Galopp.

Es geschah an einem Nachmittag. Unser Reitunterricht war zu Ende, und wir hatten die Pferde in den Stall gebracht. Lavinia stieg ab und warf dem Stallburschen die Zügel zu. Ich blieb immer gerne noch ein paar Minuten da, um das Pferd zu streicheln und ihm zuzureden, wie Joe es uns beigebracht hatte. »Vergessen Sie das nie!« sagte er. »Behandeln Sie Ihr Pferd gut, dann behandelt es Sie auch gut. Pferde sind wie Menschen. Daran müssen Sie immer denken!«

Ich kam aus dem Stall und ging über den Rasen zum Haus. Dort sollte ich mich im Schulzimmer zum Tee mit Lavinia einfinden. Miss York war schon da und genoß ihr Tête-à-tête mit Miss Etherton.

Im Haus waren Gäste. Das kam oft vor, aber wir hatten nichts mit ihnen zu tun. Wir bekamen Lady Harriet kaum zu sehen – und dafür war ich äußerst dankbar.

Ich mußte am Fenster des Salons vorüber, das offenstand, und ich erhaschte einen Blick auf ein Stubenmädchen, das mehreren Leuten Tee servierte. Ich ging eilends vorüber, den Blick abgewendet. Dann blieb ich stehen, um zu dem Flügel des Hauses hinaufzusehen, in dem sich Miss Lucilles Räume befinden mußten.

Da hörte ich eine Stimme aus dem Salon. »Was ist das für ein unansehnliches Kind, Harriet?«

»Oh ... du meinst die Pfarrerstochter. Sie ist ziemlich oft hier, um Lavinia Gesellschaft zu leisten.«

»So ein Gegensatz zu Lavinia! Aber Lavinia ist ja auch zu schön.«

»O ja ... Weißt du, es gibt hier so wenig Leute, und ich höre von der Gouvernante, daß sie ein sehr nettes Kind ist. Und es tut Lavinia gut, dann und wann Gesellschaft zu haben. Wie gesagt, es gibt nicht viele Leute hier. Wir müssen uns mit dem begnügen, was wir bekommen können.«

Ich starrte vor mich hin. Das unansehnliche Kind war ich, und ich war hier, weil sie nichts anderes bekommen konnten. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Gewiß, meine Haare waren von einem undefinierbaren Braun, glatt und kaum zu bändigen, ganz im Gegensatz zu Lavinias lohfarbener Pracht, und meine Augen hatten überhaupt keine Farbe. Sie waren wie Wasser, und wenn ich Blau trug, waren sie bläulich, trug ich Grün, waren sie grünlich, trug ich aber Braun, waren sie gänzlich farblos. Ich hatte einen großen Mund und eine ganz gewöhnliche Nase. Das war also unansehnlich! Und Lavinia war natürlich schön.

Mein erster Gedanke war, ins Schulzimmer zu gehen und zu verlangen, sofort nach Hause gebracht zu werden. Ich war ganz durcheinander. Ich hatte einen dicken Klumpen in der Kehle. Aber ich weinte nicht. Weinen tat ich bei oberflächlicheren Emotionen. Nun jedoch war etwas in meinem Inneren zutiefst verletzt, und ich glaubte, die Wunde würde mir ewig bleiben.

»Du kommst zu spät«, begrüßte mich Lavinia.

Ich gab ihr keine Erklärung. Ich wußte, wie sie reagiert hätte. Ich betrachtete sie von neuem. Kein Wunder, daß sie sich schlecht benehmen konnte. Sie war so schön, daß es den Leuten nichts ausmachte.

Polly fiel am Abend meine Verstimmung natürlich auf. »Sag, willst du’s mir nicht lieber erzählen?«

»Was, Polly?«

»Warum du ein Gesicht machst wie sieben Tage Regenwetter.«

Gegen Polly war ich machtlos, deshalb erzählte ich ihr alles. »Ich bin unansehnlich, Polly. Und das heißt häßlich. Und ich bin bloß ins große Haus eingeladen, weil’s hier niemand besseren gibt.«

»So ’n Haufen Unsinn hab’ ich noch nie gehört. Du bist nicht unansehnlich. Du bist, was man interessant nennt, und das ist auf lange Sicht viel besser. Und wenn du nicht in das große Haus gehen willst, dann sorg’ ich dafür, daß du’s bleiben lassen kannst. Ich geh’ zum Pfarrer und sag’ ihm, daß Schluß sein muß. Nach dem, was ich so höre, bist du ohne die auch nicht schlechter dran.«

»Wie unansehnlich bin ich, Polly?«

»So unansehnlich wie ein Weihnachtspudding.«

Da mußte ich lächeln.

»Du hast ein Gesicht, daß die Leute stehenbleiben und genauer hingucken. Und diese Lavinia, oder wie die sich nennt, ich kann sie gar nicht hübsch finden, wenn sie ’n finsteres Gesicht macht, und du meine Güte, das macht sie oft. Ich will dir was sagen: Sie wird Krähenfüße um die Augen und tiefe Falten im ganzen Gesicht haben, wenn sie so weitermacht. Und ich sag’ dir noch was: Wenn du lächelst, strahlt dein ganzes Gesicht, dann bist du ’ne richtige Schönheit, jawohl!«

Polly gelang es, mich aufzuheitern, und nach einer Weile vergaß ich, daß ich unansehnlich war, und da das große Haus mich nach wie vor anzog, versuchte ich, nicht daran zu denken, daß man mich nur ausgesucht hatte, weil niemand besseres zu haben war.

Ab und an erhaschte ich einen Blick auf Fabian, allerdings nicht oft. Immer wenn ich ihn sah, dachte ich daran, wie er mich zu seinem Baby gemacht hatte. Er mußte sich gewiß daran erinnern, denn er war damals schon sieben gewesen.

Er war die meiste Zeit im Internat und kam oft auch in den Ferien nicht nach Hause, sondern verbrachte sie bei einem Schulfreund. Manchmal kamen seine Schulfreunde auch ins große Haus, aber sie beachteten uns kaum.

Einmal – ich glaube, es war Ostern – war Fabian in den Ferien daheim. Bald nachdem Miss York und ich zum Tee gekommen waren, begann es zu regnen. Lavinia und ich überließen die Gouvernanten bald ihrem üblichen Plausch und überlegten gerade, was wir tun sollten, als die Tür aufging und Fabian hereinkam.

Er sah Lavinia ziemlich ähnlich, war jedoch viel größer und wirkte sehr erwachsen. Er war vier Jahre älter als seine Schwester, und da ich noch nicht ganz sieben war, kam er mir mit seinen zwölf Jahren ungeheuer reif vor.

Lavinia trat zu ihm und hängte sich bei ihm ein, als wollte sie sagen: Das ist mein Bruder. Du kannst wieder zu Miss York gehen. Ich brauch’ dich jetzt nicht mehr.

Er sah mich seltsam an, und ich merkte, daß er sich erinnerte. Ich war das Kind, das er für sein eigenes gehalten hatte. Eine solche Episode mußte sich auch jemandem, der so weltgewandt war wie Fabian, eingeprägt haben.

»Bleibst du bei mir?« bat ihn Lavinia. »Sagst du mir, was wir anfangen können? Deborah hat so blöde Ideen. Sie mag nur so kluge Spiele. Miss Etherton sagt, sie weiß mehr als ich ... von Geschichte und so.«

»Sie muß nicht viel wissen, um mehr zu wissen als du«, sagte Fabian, eine Bemerkung, die, hätte sie jemand anders geäußert, bei Lavinia einen Wutanfall hervorgerufen hätte. Aber weil Fabian es gesagt hatte, kicherte sie vergnügt. Es war für mich eine regelrechte Offenbarung, daß es außer Lady Harriet einen Menschen gab, vor dem Lavinia Respekt hatte.

Er sagte: »Geschichte ... Ich liebe Geschichte, die Römer und alles. Sie hatten Sklaven. Wir machen ein Spiel.«

»O Fabian, wirklich?«

»Ja, ich bin ein Römer, sagen wir, der Cäsar.«

»Welcher?« fragte ich.

Er überlegte. »Julius ... oder vielleicht Tiberius.«

»Der war sehr grausam zu den Christen.«

»Du brauchst keine christliche Sklavin zu sein. Ich bin Julius Cäsar. Ihr seid meine Sklavinnen, und ich stell’ euch auf die Probe.«

»Ich bin deine Königin, oder was so ein Cäsar hat«, verkündete Lavinia. »Deborah kann unsere Sklavin sein.«

»Du bist auch eine Sklavin«, sagte Fabian zu Lavinias Verdruß und meiner Freude.

»Ich stell’ euch Aufgaben, die euch unmöglich erscheinen. Das ist, um euch zu prüfen und zu sehen, ob ihr es wert seid, meine Sklavinnen zu sein. Ich werde sagen, bringt mir die goldenen Äpfel der Hesperiden oder so was.«

»Wie können wir sie bekommen?« fragte ich. »Sie sind in den griechischen Legenden. Mein Vater spricht immer davon. Es gibt sie nicht wirklich.«

Lavinia wurde ungeduldig, weil ich, die unansehnliche Außenstehende, zu viel redete.

»Ich stelle euch die Aufgaben, und ihr müßt sie ausführen, oder ihr bekommt meinen Zorn zu spüren.«

»Aber keine, bei denen wir in die Unterwelt gehen und Menschen rausholen müssen, die tot sind oder so was«, sagte ich.

»So etwas werde ich euch nicht befehlen. Die Aufgaben werden schwierig sein ... aber lösbar.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust und schloß die Augen, wie in Gedanken vertieft. Dann sprach er, als sei er das Orakel, von dem mein Vater hin und wieder erzählte. »Lavinia, du bringst mir den silbernen Kelch. Er hat eingravierte Akanthusblätter.«

»Das kann ich nicht«, sagte Lavinia. »Der ist in dem Zimmer, in dem es spukt.«

Nie hatte ich Lavinia so bestürzt gesehen, und es erstaunte mich, daß ihr Bruder in der Lage war, ihr das Aufsässige auszutreiben.

Er wandte sich zu mir. »Du bringst mir einen Fächer aus Pfauenfedern. Wenn meine Sklavinnen zu mir zurückkehren, wird der Kelch mit Wein gefüllt, und während ich trinke, wird meine Sklavin mir mit dem Pfauenfedernfächer Luft zufächeln.«

Meine Aufgabe kam mir nicht so schwer vor. Ich wußte, wo ein Pfauenfedernfächer zu finden war. Ich kannte mich unterdessen im Haus besser aus und würde den Weg zu Miss Lucilles Gemächern unschwer finden. Ich konnte in das Zimmer schleichen, in dem der Fächer lag, ihn nehmen und Fabian bringen. Ich wollte es so rasch tun, daß er mich für die prompte Erledigung lobte, während die arme Lavinia allen Mut zusammennehmen mußte, um das Spukzimmer zu betreten.

Ich machte mich geschwind auf den Weg. Eine ungeheure Aufregung nahm von mir Besitz. In Fabians Anwesenheit mußte ich dauernd daran denken, daß er mich entführt und daß ich zwei Wochen wie ein Mitglied der Familie im großen Haus gelebt hatte. Ich wollte ihn mit der Schnelligkeit, mit der ich meine Aufgabe erledigte, in Erstaunen setzen.

Ich gelangte zu dem Zimmer. Und wenn die Inderin da war, was dann? Was sollte ich ihr sagen? Kann ich bitte den Fächer haben? Wir machen ein Spiel, und ich bin eine Sklavin.

Ich nahm an, sie würde lächeln und mit ihrer Singsangstimme sagen: Ach, du liebe Zeit. Sicher würde sie amüsiert und entgegenkommend sein, aber ich fragte mich, was die alte Dame wohl dazu sagen würde. Doch die würde mit der Decke über den Knien im Sessel sitzen und der Vergangenheit nachweinen, die in den Briefen wieder lebendig wurde.

Ich hatte die Tür vorsichtig geöffnet. Ich nahm wieder den intensiven Sandelholzgeruch wahr. Alles war still. Und dort, auf dem Kaminsims, lag der Fächer.

Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, holte ihn herunter und rannte aus dem Zimmer, zurück zu Fabian.

Er starrte mich verwundert an. »Du hast ihn schon gefunden?«

Er lachte. »Das hätte ich nie gedacht. Woher wußtest du, wo er war?«

»Ich hab’ ihn schon mal gesehen, als ich mit Lavinia Verstecken spielte. Ich kam zufällig in das Zimmer. Ich hatte mich verlaufen.«

»Hast du meine Großtante Lucille gesehen?«

Ich nickte.

Er starrte mich weiterhin an. »Gut gemacht, Sklavin«, sagte er. »Jetzt darfst du mir Luft zufächeln, während ich auf meinen Weinkelch warte.«

»Willst du das wirklich? Es ist ziemlich kalt hier.«

Er sah zum Fenster, von dem ein leichter Zug herüberwehte. Regentropfen rannen die Scheiben hinab.

»Zweifelst du an meinen Befehlen, Sklavin?« fragte er.

Da es ein Spiel war, erwiderte ich: »Nein, mein Gebieter.«

»Dann tu, wie befohlen!«

Kurz darauf kam Lavinia mit dem Kelch. Sie warf mir einen gehässigen Blick zu, weil es mir schneller als ihr gelungen war, die Aufgabe zu bewältigen. Ich fand allmählich Gefallen an dem Spiel.

Wein mußte besorgt und der Kelch gefüllt werden. Fabian streckte sich auf einem Sofa aus. Ich stand hinter ihm und wedelte mit dem Pfauenfedernfächer. Lavinia bot ihm kniend den Kelch dar.

Kurz darauf gab es Ärger. Wir hörten laute Stimmen und rennende Schritte. Ich erkannte Ayeshas helle Stimme.

Miss Etherton stürmte ins Zimmer, gefolgt von Miss York. Es war ein dramatischer Augenblick. Andere Leute, die ich noch nie gesehen hatte, waren auch da, und alle starrten mich an.

Einen Moment lang herrschte tiefe Stille, dann herrschte Miss York mich an: »Was hast du getan?«

Ayesha sah mich und stieß einen leisen Schrei aus. »Du hast ihn«, sagte sie. »Du warst es. Ach, du liebe Zeit ... du warst es also.« Da merkte ich, daß sie von dem Fächer sprachen.

»Wie konntest du nur?« fragte Miss York. Ich machte ein verwirrtes Gesicht, und sie fuhr fort: »Du hast den Fächer genommen. Warum?«

»Es ... es war ein Spiel«, stammelte ich.

»Ein Spiel!« sagte Miss Etherton. »Der Fächer ...« Ihre Stimme zitterte vor Erregung.

»Es tut mir leid«, begann ich.

Da kam Lady Harriet herein. Sie sah aus wie eine Rachegöttin, und meine Knie fühlten sich plötzlich an, als wollten sie mich nicht mehr tragen.

Fabian hatte sich vom Sofa erhoben. »So ein Theater!« sagte er. »Sie war meine Sklavin. Ich habe ihr befohlen, mir den Fächer zu bringen.«

Ich sah die Erleichterung in Miss Yorks Gesicht und bekam einen Lachanfall. Dies mag zwar eine leicht hysterische Reaktion gewesen sein, aber es war immerhin ein Lachen.

Auch Lady Harriets Miene war sanfter geworden. »O Fabian!« murmelte sie.

Ayesha sagte: »Aber der Fächer! Miss Lucilles Fächer ...«

»Ich hab’s ihr befohlen«, wiederholte Fabian. »Sie hatte keine andere Wahl, als zu gehorchen. Sie ist meine Sklavin.«

Lady Harriet fing jetzt auch an zu lachen. »Schön, jetzt verstehst du, Ayesha. Bring Miss Lucille den Fächer zurück. Er hat keinen Schaden genommen, und damit ist die Sache erledigt.« Sie wandte sich an Fabian. »Lady Goodman hat geschrieben und läßt fragen, ob du Adrian in den Sommerferien besuchen möchtest. Was meinst du dazu?«

Fabian zuckte nonchalant mit den Achseln.

»Wollen wir es besprechen? Komm, mein Junge! Ich denke, wir. sollten unverzüglich antworten.«

Fabian warf einen verächtlichen Blick auf die Gesellschaft, die von einer Banalität wie dem Borgen eines Fächers ein solches Aufhebens machte, und ging mit seiner Mutter hinaus.

Ich hielt den Vorfall für erledigt. Sie waren zwar alle so besorgt gewesen, und mir schien, daß es mit dem Fächer eine besondere Bewandtnis haben mußte, doch Lady Harriet und Fabian hatten den Vorfall zu einer bedeutungslosen Angelegenheit heruntergespielt.

Ayesha war gegangen – sie hatte den Fächer wie etwas sehr Kostbares gehalten –, und die zwei Gouvernanten folgten ihr, so daß Lavinia und ich allein waren.

»Ich muß den Kelch zurückbringen, bevor sie entdecken, daß wir den auch hatten. Komisch, daß sie nichts gemerkt haben, aber es war ja so ein Aufstand wegen dem Fächer. Du mußt mit mir kommen!«

Ich war noch ganz verwirrt, weil ich den Fächer entwendet hatte, der ein sehr wichtiger Gegenstand sein mußte, nachdem sein Fehlen einen solchen Aufruhr verursacht hatte. Ich fragte mich, wie das Ganze wohl ausgegangen wäre, wenn Fabian mich nicht von jeder Schuld freigesprochen hätte. Mir wäre vermutlich für immer das Haus verboten worden. Obwohl ich mich dort nie recht willkommen fühlte, besaß es dennoch eine starke Anziehungskraft auf mich. Alle Menschen darin interessierten mich, sogar Lavinia, die oftmals verletzend und gewiß niemals gastfreundlich war.

Ich mußte daran denken, wie edel Fabian ausgesehen hatte, als er alle mit Verachtung überschüttete und die Verantwortung auf sich nahm. Sicher, er war verantwortlich, und es war daher nur gerecht, daß er sich die Schuld gab. Aber er hatte es so aussehen lassen, als gäbe es keine Schuldigen und als wären alle sehr töricht, so ein Theater zu machen.

Willig folgte ich Lavinia in einen anderen Teil des Hauses, den ich noch nie betreten hatte.

»Unsere Großtante Lucille wohnt im Westflügel. Dies ist der Ostflügel«, erklärte sie mir. »Wir gehen ins Nonnenzimmer. Sieh dich lieber vor. Die Nonne kann Fremde nicht leiden. Mir tut sie nichts. Ich gehör’ zur Familie.«

»Warum hast du dann Angst, allein hineinzugehen?

»Ich hab’ keine Angst. Ich dachte bloß, du möchtest es gern sehen. Ihr habt doch keine Gespenster in dem ollen Pfarrhaus, oder?«

»Wer will schon Gespenster? Wozu sind sie gut?«

»Ein feines Haus hat immer welche. Sie warnen die Menschen.«

»Aber wenn mich die Nonne nicht mag, laß ich dich lieber allein hineingehen.«

»Nein, nein. Du mußt mitkommen!«

»Und wenn ich nicht will?«

»Dann darfst du nie mehr in unser Haus kommen.«

»Das ist mir egal. Du bist nicht sehr nett ... keiner von euch.«

»Oh, wie kannst du dir das herausnehmen! Du bist bloß die Tochter des Pfarrers, und er verdankt uns seine Stellung.«

Ich fürchtete, daß etwas Wahres daran sein könnte. Vielleicht konnte Lady Harriet uns hinauswerfen, wenn sie über mich ungehalten war. Aber ich durchschaute auch Lavinia. Sie wollte mich dabeihaben, weil sie sich fürchtete, allein ins Nonnenzimmer zu gehen.

Wir gingen einen Flur entlang. Sie drehte sich um und nahm meine Hand. »Komm!« flüsterte sie. »Wir sind gleich da.«

Sie öffnete eine Tür. Wir befanden uns in einer kleinen Kammer, die wie eine Klosterzelle aussah. Die Wände waren kahl, und über einem schmalen Bett hing ein Kruzifix. Ansonsten gab es nur noch einen einzigen Stuhl und einen Tisch. Es war ein karger Raum.

Lavinia stellte den Kelch auf den Tisch und rannte in großer Hast wieder hinaus, ich hinterdrein. Wir flitzten durch die Flure, dann drehte sie sich um und sah mich zufrieden an. Ihre angeborene Arroganz und Gefaßtheit waren zurückgekehrt. Sie ging voran zu dem Zimmer, wo vor kurzem Fabian auf einem Sofa ausgestreckt gelegen und ich ihm mit dem Pfauenfedernfächer Luft zugefächelt hatte.

»Du siehst«, sagte Lavinia, »unsere Familie ist tief mit der Geschichte verflochten. Wir sind mit Wilhelm dem Eroberer hergekommen. Ich schätze, deine Leute waren Leibeigene.«

»O nein, das waren wir nicht.«

»Wart ihr schon! Die Nonne war eine Vorfahrin von uns. Sie hat sich in einen nicht standesgemäßen Mann verliebt ... Ich glaube, er war Vikar oder Pfarrer. Solche Leute heiraten nicht in Familien wie unsere ein.«

»Sie sind bestimmt gebildeter als eure Leute.«

»Wir brauchen uns nicht um Bildung zu kümmern. Das müssen bloß Leute wie ihr. Miss Etherton sagt, du weißt mehr als ich, obwohl du ein Jahr jünger bist. Das macht mir nichts aus. Ich muß nicht gebildet sein.«

»Bildung ist das höchste Gut, das man haben kann«, zitierte ich meinen Vater. »Erzähl mir von der Nonne!«

»Er war so weit unter ihrem Stand, daß sie ihn nicht heiraten konnte. Ihr Vater hat es ihr verboten, und da ging sie in ein Kloster. Aber sie konnte nicht ohne ihn leben, deshalb floh sie und ging zu ihm. Ihr Bruder verfolgte sie und tötete den Geliebten. Sie wurde nach Hause gebracht und in das Zimmer gesteckt, das wie eine Zelle eingerichtet war. Es ist nie verändert worden. Sie trank Gift aus dem Kelch, und man sagt, daß sie in das Zimmer zurückkommt und darin spukt.«

»Glaubst du das?«

»Natürlich.«

»Dann mußt du große Angst gehabt haben, als du den Kelch geholt hast.«

»Das muß man immer, wenn man Fabians Spiele mitmacht. Ich dachte, wenn Fabian mich schickt, würde das Gespenst nichts tun.«

»Du hältst deinen Bruder für so was wie einen Gott.«

»Ist er ja auch«, erwiderte sie.

Offenbar wurde er in diesem Hause tatsächlich dafür gehalten.

Auf dem Heimweg sagte Miss York: »Meine Güte, was für ein Wirbel wegen eines Fächers! Es hätte wirklich Unannehmlichkeiten gegeben, wenn nicht Mr. Fabian dahintergesteckt wäre.«

Das große Haus faszinierte mich immer mehr. Oft mußte ich an die Nonne denken, die aus dem Kelch getrunken und sich aus Liebe das Leben genommen hatte. Ich sprach mit Miss York darüber, die von Miss Etherton erfahren hatte, daß Miss Lucille sofort krank geworden war, als sie das Fehlen des Pfauenfedernfächers bemerkte hatte.

»Kein Wunder«, sagte sie, »daß deswegen so ein Wirbel gemacht wurde. Mr. Fabian hätte dir nie auftragen dürfen, ihn zu holen. Du konntest es ja nicht wissen. Reiner Mutwille, nenne ich so etwas.«

»Warum soll ein Fächer so wichtig sein?«

»Oh, Fächer aus Pfauenfedern sind etwas Besonderes. Ich habe gehört, sie bringen Unglück.«

Ich fragte mich, ob dieser Glaube etwas mit der griechischen Mythologie zu tun hatte, denn dann wußte mein Vater bestimmt etwas darüber. Ich beschloß, eine seiner Lektionen in Kauf zu nehmen und ihn zu fragen.

»Vater, Miss Lucille im großen Haus hat einen Fächer aus Pfauenfedern. Es hat eine besondere Bewandtnis mit ihm. Gibt es einen Grund, weshalb Pfauenfedern so bedeutend sind?«

»O ja, Hera hat die Augen des Argus in den Pfauenschwanz gesteckt. Du kennst die Geschichte natürlich.«

Natürlich kannte ich sie nicht, und ich bat ihn, sie mir zu erzählen.

Es war eine weitere Geschichte von Zeus, der eine Sterbliche umwarb. Diesmal handelte es sich um die Tochter des Königs von Argos, und Zeus’ Gemahlin Hera war dahintergekommen.

»Das hätte sie nicht zu überraschen brauchen«, sagte ich. »Er war immer hinter einer her, die er nicht hätte umwerben sollen.«

»Das stimmt. Er hat die blonde Io in eine weiße Kuh verwandelt.«

»Das war mal was anderes. Gewöhnlich hat er sich selbst verwandelt.«

»Diesmal war es umgekehrt. Hera war eifersüchtig.«

»Das wundert mich nicht, bei so einem Gemahl.«

»Sie stellte den Riesen Argus, der hundert Augen hatte, als Wache auf. Zeus, der das wußte, schickte Hermes aus, um Argus mit seiner Lyra in Schlaf zu lullen und ihn dann zu töten. Hera war wütend, als sie erfuhr, was geschehen war, und steckte die Augen des toten Riesen in die Schwänze ihrer Lieblingspfauen.«

»Bringen die Federn deshalb Unglück?«

»Tun sie das? Wenn ich darüber nachdenke, meine ich, etwas Derartiges gehört zu haben.«

Mehr konnte er mir also nicht erzählen. Ich dachte: Es ist wegen der Augen. Sie wachen die ganze Zeit ... Warum war Miss Lucille so besorgt? Etwa weil die Augen nicht da waren, um für sie zu wachen?

Die Sache wurde immer geheimnisvoller. Was für ein erstaunliches Haus, mit einem Gespenst in Gestalt einer lange verblichenen Nonne und einem magischen Fächer mit Augen, die für seine Besitzerin Wache hielten. Ob der Fächer wohl vor drohendem Unheil warnte?

Ich hatte das Gefühl, daß in diesem Haus alles mögliche geschehen konnte; es gab so vieles zu entdecken, und obwohl ich unansehnlich war und nur eingeladen wurde, weil keine andere Gefährtin für Lavinia zur Verfügung stand, wollte ich im großen Haus weiterhin ein- und ausgehen.

Ungefähr eine Woche nach dem Vorfall mit dem Fächer entdeckte ich, daß ich beobachtet wurde. Als ich auf der Koppel ritt, verspürte ich einen unwiderstehlichen Drang, zu einem bestimmten Fenster hoch oben in der Mauer hinaufzusehen, denn von dort aus fühlte ich mich überwacht. Es war ein Schatten, der einen Moment am Fenster war und dann verschwand. Mehrmals glaubte ich dort jemanden zu sehen. Es war ausgesprochen unheimlich.

Ich fragte Miss Etherton: »Welcher Teil des Hauses geht auf die Koppel hinaus?«

»Der Westflügel. Er wird kaum benutzt. Miss Lucille wohnt dort. Er gilt sozusagen als ihr Reich.«

Das hatte ich schon vermutet, und jetzt fühlte ich mich bestätigt.

Als ich eines Tages mein Pferd in den Stall brachte, lief Lavinia voraus, und während ich gerade ins Haus gehen wollte, sah ich Ayesha. Sie trat rasch auf mich zu, nahm meine Hand und sah mir ins Gesicht.

»Deborah«, sagte sie, »ich habe darauf gewartet, dich allein anzutreffen. Miss Lucille möchte dich unbedingt sprechen.«

»Was?« rief ich. »Jetzt?«

»Ja«, erwiderte sie, »jetzt gleich.«

»Aber Lavinia wartet auf mich.«

»Das spielt im Moment keine Rolle.«

Ich folgte ihr ins Haus und die Treppe hinauf zu dem Zimmer im Westflügel, wo Miss Lucille mich erwartete.

Sie saß in einem Sessel an dem Fenster, das auf die Koppel hinausging, und von wo aus sie mich tatsächlich beobachtet hatte.

»Komm her, mein Kind!« sagte sie.

Ich ging zu ihr. Sie nahm meine Hand und blickte mir forschend ins Gesicht. »Bring einen Stuhl, Ayesha!« bat sie.

Ayesha stellte einen Stuhl dicht neben Miss Lucilles Sessel. Dann zog sie sich zurück, und ich war mit der alten Dame allein.

»Erzähle mir, warum du es getan hast«, sagte sie. »Warum hast du den Fächer genommen?«

Ich erzählte ihr von Fabian und seinem Sklavinnenspiel, bei dem er uns auf die Probe gestellt hatte.

»Soso, dann hat Fabian damit zu tun. Aber du hast den Fächer genommen, damit war er eine Weile in deinem Besitz. Das wird vermerkt werden.«

»Von wem?«

»Vom Schicksal, mein Kind. Es tut mir leid, daß du den Fächer genommen hast. Alles andere hättest du unbeschadet für euer Spiel holen können, aber die Pfauenfedern haben etwas Geheimnisvolles ... und Bedrohliches.«

Ich sah mich schaudernd um. »Bringen sie Unglück?«

Sie machte ein bekümmertes Gesicht. »Du bist ein liebes kleines Mädchen, und es tut mir leid, daß du ihn berührt hast. Du wirst von nun an auf der Hut sein müssen.«

»Warum?« fragte ich aufgeregt.

»Weil der Fächer Unheil bringt.«

»Wie das?«

»Ich weiß nicht, wie. Ich weiß nur, daß es so ist.«

»Wenn Sie das glauben, warum behalten Sie ihn dann?«

»Weil ich für seinen Besitz bezahlt habe.«

»Womit?«

»Mit meinem Lebensglück.«

»Sollten Sie den Fächer nicht lieber wegwerfen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das darf man nicht. Sonst wird der Fluch weitergegeben.«

Der Fluch! Es wurde immer phantastischer. Das schien mir noch verrückter als Vaters Erzählung von dem Mädchen, das in eine weiße Kuh verwandelt wurde.

»Warum?« fragte ich.

»Weil es geschrieben steht.«

»Wer hat es geschrieben?«

Sie schüttelte den Kopf, und ich fuhr fort: »Wie können Federn Unglück bringen? Es ist doch bloß ein Fächer, und wer kann dem etwas tun, der ihn gehabt hat? Der Pfau, von dem die Federn sind, muß schon lange tot sein.«

»Du warst nicht in Indien, mein Kind. Dort geschehen seltsame Dinge. Ich habe in den Basaren Männer Giftschlangen beschwören und gefügig machen sehen. Ich habe den berühmten Seiltrick gesehen, bei dem ein Wahrsager ein Seil ohne Stütze aufrecht stehen läßt und ein kleiner Junge daran hochklettert. Wenn du in Indien lebtest, würdest du diese Dinge glauben. Hierzulande sind die Menschen zu nüchtern; sie sind nicht im Einklang mit dem Mystischen. Ohne diesen Fächer wäre ich eine glückliche Ehefrau und Mutter geworden.«

»Warum beobachten Sie mich? Warum haben Sie mich kommen lassen?«

»Weil der Fächer in deinem Besitz war. Das Unglück könnte dich ereilen. Ich möchte, daß du auf der Hut bist.«

»Ich hab’ nicht einen Augenblick gedacht, daß es mein Fächer ist. Ich hab’ ihn bloß kurze Zeit weggenommen, weil Fabian es mir befohlen hat. Es war doch nur ein Spiel.«

Ich hielt sie für verrückt. Wie konnte ein Fächer etwas Böses sein?

»Wieso sind Sie sicher, daß der Fächer Unglück bringt?« fragte ich sie.

»Wegen dem, was mir zugestoßen ist.« Sie fixierte mich mit ihrem tragischen Blick, doch sie schien an mir vorbeizustarren, als sähe sie etwas, das nicht in diesem Zimmer war.

»Ich war so glücklich«, sagte sie. »‘Vielleicht ist es ein Fehler, so glücklich zu sein. Es ist eine Herausforderung des Schicksals. Gerald war wunderbar. Ich begegnete ihm in Delhi. Unsere Familien hatten dort Geschäftskontakte. Meine Angehörigen fanden, es sei gut für mich, eine Weile ins Ausland zu gehen, und dort gab es ein reges gesellschaftliches Leben. Wie Geralds Familie waren auch wir an der Ostindischen Kompanie beteiligt. Deswegen war er dort. Er war so stattlich und charmant ... Einen wie ihn gibt es nicht noch einmal. Wir verliebten uns gleich am ersten Tag, als wir uns kennenlernten.« Sie lächelte mich an. »Du bist zu jung, um das zu verstehen, mein Kind. Es war so vollkommen. Unsere Familien waren von unserer Bekanntschaft angetan. Es gab keinen Grund, weshalb wir nicht hätten heiraten sollen. Alle waren entzückt, als wir unsere Verlobung bekanntgaben. Meine Eltern gaben einen Ball, um sie zu feiern. Es war ein glanzvolles Ereignis. Ich wünschte, ich könnte dir Indien beschreiben, mein liebes Kind. Wir führten ein wunderbares Leben. Wer hätte geahnt, daß eine Tragödie auf uns lauerte? Alles kam ganz plötzlich ... wie ein Dieb in der Nacht, so heißt es in der Bibel, glaube ich. So hat es mich ereilt.«

»Wegen des Fächers?« fragte ich zitternd.

»Oh, der Fächer. Wie jung wir waren! Wie unerfahren! Wir gingen zusammen zum Basar, denn da wir offiziell als Verlobte galten, war uns das gestattet. Die Basare sind so faszinierend! Allerdings habe ich mich dort immer ein wenig gefürchtet, aber natürlich nicht, wenn Gerald bei mir war. Es war aufregend ... die Schlangenbeschwörer, die Straßen, die eigenartige Musik, der scharfe Geruch, der zu Indien gehört. Und all die feilgebotenen Waren: herrliche Seiden und Elfenbein ... und exotische Lebensmittel. Und dann sahen wir den Mann, der die Fächer verkaufte. Ich war von ihnen entzückt. ›Wie schön sie sind!‹ rief ich. Gerald sagte: ›Sie sind sehr hübsch. Du mußt einen haben.‹ Ich erinnere mich an den Verkäufer. Er war arg verkrüppelt. Er konnte nicht stehen und saß auf einer Matte. Ich erinnere mich, wie er uns angelächelt hat. Damals nahm ich keine Notiz davon, aber später kam es mir wieder in den Sinn. Es war ... ein böses Lächeln. Gerald öffnete den Fächer, und ich nahm ihn. Er war mir doppelt kostbar, weil Gerald ihn mir geschenkt hatte. Gerald lachte über mein Entzücken. Er hielt meinen Arm ganz fest. Die Leute sahen uns an, als wir weitergingen. Ich dachte, das taten sie, weil wir so glücklich aussahen. In meinem Zimmer legte ich den Fächer geöffnet auf einen Tisch, damit ich ihn immer sehen konnte. Als meine indische Dienerin hereinkam, starrte sie ihn entsetzt an. Sie sagte: ›Pfauenfedernfächer ... O nein, nein, Miss Lucille ... Die bringen Unglück. Sie dürfen ihn nicht behalten!‹ Ich erwiderte: ›Sei nicht albern! Mein Verlobter hat ihn mir geschenkt, und aus diesem Grunde werde ich ihn stets in Ehren halten. Es ist das erste Geschenk, das er mir gemacht hat.‹ Sic schüttelte den Kopf und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, wie um sich vor dem Anblick des Fächers zu schützen. Dann sagte sie: ›Ich bringe ihn dem Mann zurück, der ihn Ihnen verkauft hat, auch wenn er schon in Ihrem Besitz war ... Das Übel ist da, aber vielleicht ist es nur ein kleines Übel.‹ Ich dachte, sie sei verrückt geworden, und erlaubte ihr nicht, den Fächer anzurühren.«

Miss Lucille hielt inne, und die Tränen liefen ihr über die Wangen.

»Ich habe den Fächer geliebt«, fuhr sie nach einer Weile fort.

»Wenn ich morgens aufwachte, war der Fächer das erste, was ich sah. Ich wollte mich immer an den Augenblick im Basar erinnern, als Gerald ihn mir gekauft hatte. Er lachte über mein Entzücken. Damals wußte ich es noch nicht, aber heute weiß ich es: Der Fächer hatte mich schon in seinen Bann gezogen. ›Es ist nur ein Fächer‹, sagte Gerald. ›Warum liegt dir so viel an ihm?‹ Ich sagte, daß er das erste Geschenk von ihm sei, und er fuhr fort: ›Dann will ich ihn deiner Aufmerksamkeit würdiger machen. Ich lasse etwas Kostbares einarbeiten, und jedesmal, wenn du ihn siehst, wirst du daran erinnert, wieviel du mir bedeutest.‹ Er sagte, er wolle ihn zu einem Juwelier in Delhi bringen, den er kenne. Der Mann sei ein Künstler. Wenn ich den Fächer zurückbekäme, würde ich wahrlich stolz auf ihn sein können. Ich war begeistert und so glücklich. Ich hätte wissen müssen, daß ein solches Glück nicht von Dauer ist. Er nahm den Fächer und ging in die Stadt. Den Tag werde ich nie vergessen. Jede Sekunde hat sich meinem Gedächtnis für immer eingeprägt. Er ging in das Juweliergeschäft. Er blieb dort ziemlich lange. Und als er herauskam ... da lauerten sie ihm auf. Es gab oft Querelen. Die Kompanie hatte sie unter Kontrolle, aber es traten immer wieder ein paar Verrückte auf. Sie sahen nicht, wieviel Gutes wir ihrem Land brachten. Sie wollten uns vertreiben. Geralds Familie spielte, ebenso wie meine, eine große Rolle im Land. Er war ihnen wohlbekannt. Als er aus dem Juweliergeschäft trat, haben sie ihn erschossen. Er starb dort auf der Straße.«

»Eine traurige Geschichte. Es tut mir so leid, Miss Lucille«, sagte ich.

»Mein liebes Kind, das seh’ ich dir an, du bist ein gutes Kind. Ich bedaure, daß du den Fächer genommen hast.«

»Sie glauben, es war alles wegen des Fächers?«

»Wegen des Fächers war er in dem Geschäft. Nie werde ich den Ausdruck in den Augen meiner Dienerin vergessen. Diese Menschen besitzen eine Weisheit, die uns fehlt. Oh, ich wünschte, ich hätte den Fächer nie gesehen ... Wäre ich doch an jenem Morgen nicht in den Basar gegangen! Wie unbekümmert und vergnügt war ich – und mein törichtes Verlangen hat ihn das Leben gekostet und meines ruiniert.«

»Es hätte auch anderswo passieren können.«

»Nein, es war der Fächer. Er hatte ihn zu diesem Juwelier gebracht. Sie müssen ihm gefolgt sein und draußen auf ihn gewartet haben.«

»Ich glaube, es hätte auch ohne den Fächer passieren können.« Sie schüttelte den Kopf. »Bald darauf bekam ich ihn vom Juwelier zurück. Ich will dir zeigen, was er mit ihm gemacht hatte.

« Sie saß eine Weile da, während ihr die Tränen über die Wangen strömten.

Ayesha kam herein. »Aber, aber!« sagte sie. »Sie hätten nicht alles wieder aufleben lassen dürfen! Ach, du liebe Zeit, das ist nicht gut, kleines Fräulein ... nicht gut.«

»Ayesha«, sagte Miss Lucille, »bring mir den Fächer!«

Ayesha entgegnete: »Nein, vergessen Sie ihn! Regen Sie sich nicht auf!«

»Bring ihn bitte, Ayesha!«

Darauf holte sie ihn.

»Siehst du, mein Kind, das hat er für mich machen lassen. Man muß wissen, wie man dieses Plättchen verschiebt. Schau, hier ist ein kleiner Verschluß. Der Juwelier war ein großer Künstler.«

Sie schob das Kläppchen auf dem Fächergriff zurück und zeigte mir einen prachtvollen Smaragd, der von kleineren Diamanten umgeben war. Ich hielt den Atem an. Es war wunderschön.

»Er ist ein kleines Vermögen wert, sagt man mir, wie um mich zu trösten. Als ob mich irgend etwas trösten könnte. Aber es war sein Geschenk für mich. Deswegen ist mir der Fächer teuer.«

»Aber wenn er Ihnen Unglück bringt ...«

»Das hat er schon getan. Mehr kann er mir nicht antun. Ayesha, bring ihn zurück! Ich habe dir das alles erzählt, weil du den Fächer kurze Zeit in deinem Besitz hattest. Du mußt von nun an sehr vorsichtig sein. Du bist ein gutes Kind. So, und nun geh zu Lavinia! Ich habe meine Pflicht getan. Sei auf der Hut! Auch vor Fabian. Er trägt einen Teil der Schuld. Nachdem der Fächer nur kurze Zeit in deinem Besitz war, wirst du vielleicht verschont. Er aber wird nicht von der Schuld freigesprochen ...«

Ayesha sagte: »Es wird Zeit für dich.« Sie brachte mich zur Tür und ging mit mir durch die Hure. »Du darfst nicht allzusehr darauf achten, was sie sagt«, erklärte sie. »Sie ist sehr traurig, und sie redet wirr. Es war dieser furchtbare Schock, Mach dir keine Sorgen wegen dem, was du gehört hast! Vielleicht hätte ich dich nicht zu ihr bringen sollen, aber sie wollte es unbedingt. Sie fand keine Ruhe, ehe sie nicht mit dir gesprochen hatte. Jetzt hat sie es sich von der Seele geredet, verstehst du?«

»Ja.« Und ich dachte mir: Was geschehen ist, hat sie wahnsinnig gemacht.

Der Gedanke an die gespenstische Nonne im Ostflügel und die Wahnsinnige im Westflügel faszinierte mich immer mehr.

Mit der Zeit dachte ich nicht mehr an den Pfauenfedernfächer und an die schrecklichen Dinge, die mir zustoßen mochten, weil er einmal kurz in meinem Besitz war. Ich besuchte nach wie vor das große Haus, die Gouvernanten blieben befreundet, und meine Beziehung zu Lavinia hatte sich ein wenig verändert. Ich mochte immer noch unansehnlich sein und nur eingeladen werden, weil ich in der Nachbarschaft das einzige Mädchen in Lavinias Alter und nicht von zu geringem Stand war, um gänzlich übergangen zu werden, aber ich gewann eine leichte Überlegenheit über Lavinia, weil sie zwar ungemein hübsch, ich aber klüger war. Miss York prahlte ein wenig damit vor Miss Etherton, und als Miss Etherton einmal krank war, vertrat Miss York sie bis zu ihrer Genesung im großen Haus. Damals offenbarte sich die Kluft zwischen mir und Lavinia. Das kam mir sehr zugute und verfehlte auch seine Wirkung auf Lavinia nicht.

Ich wuchs heran. Ich ließ mir nichts mehr gefallen und drohte sogar, nicht mehr ins große Haus zu kommen, wenn Lavinia sich nicht besserte. Sie aber wollte offensichtlich nicht auf meine Besuche verzichten. Wir waren uns nähergekommen, waren sogar Verbündete, wenn die Situation es mit sich brachte. Ich mochte unansehnlich sein, aber ich war klug. Sie mochte schön sein, aber sie konnte nicht so gut denken und planen wie ich, und sie verließ sich darauf – auch wenn sie es nicht zugeben wollte –, daß ich die Führung übernahm.

Fabian sah ich gelegentlich. Er kam in den Ferien nach Hause und brachte manchmal Freunde mit. Sie schenkten uns keine Beachtung, aber mir fiel allmählich auf, daß Fabian mich nicht so ignorierte, wie er uns glauben machen wollte. Manchmal fing ich seinen verstohlenen Blick auf. Ich vermutete, daß er immer noch an das lange Zeit zurückliegende Abenteuer dachte, als ich ein Baby war und er mich entführt hatte.

Es wurde jetzt gemunkelt, daß Miss Lucille wahnsinnig sei. Mrs. Janson war mit der Köchin im großen Haus befreundet, daher hatte sie es »aus erster Hand«, wie sie sagte.

Polly liebte Klatsch über alles. Wir unterhielten uns oft über das große Haus, denn sie schien davon ebenso fasziniert zu sein wie ich. »Die alte Dame ist verrückt«, sagte sie. »Das steht fest. War nie ganz richtig im Kopf, seit sie ihren Geliebten in Indien verloren hat. Die Menschen müssen sich auf Scherereien gefaßt machen, wenn sie in diese ausländische Gegend gehen. Das hat Miss Lucille den Kopf verdreht. Mrs. Bright sagt, sie wandert neuerdings durchs Haus ... kommandiert alle herum wie ihre schwarzen Dienstboten. Das kommt davon, wenn man nach Indien geht. Warum die Leute nicht zu Hause bleiben können, ist mir unbegreiflich. Sie bildet sich ein, sie ist noch in Indien. Das macht diese Ayesha. Und sie hat auch ’nen schwarzen Diener.«

»Das ist Imam. Er kommt auch aus Indien.«

»Die sind mir unheimlich. Diese ausländischen Kleider und die schwarzen Augen, und dieses Geschnatter, wenn sie reden.«

»Das ist kein Geschnatter. Es ist ihre Sprache.«

»Warum hat sie nicht ’n nettes englisches Paar, das sie versorgt? Und dann dieses Spukzimmer und irgendwas mit ’ner Nonne. Hat auch was mit Liebeskummer zu tun. Ich weiß nicht, ich glaub’, die Liebe ist was, das man sich besser vom Leibe hält, wenn du mich fragst.«

»So hast du aber nicht gedacht, als du Tom noch hattest.«

»Männer wie meinen Tom findet man nicht wie Sand am Meer. Laß dir das von mir gesagt sein!«

»Aber alle hoffen es. Deshalb verlieben sie sich.«

»Du wirst mir langsam zu schlau, mein Mädchen. Guck dir doch unsere Eff an!«

»Ist ›er‹ immer noch so schlimm?«

Polly schnalzte nur mit der Zunge.

Seltsamerweise kam bald nach diesem Gespräch eine Nachricht von »ihm«. Offenbar hatte er es eine Zeitlang »auf der Brust gehabt«, wie Polly sagte. Ich erinnere mich an den Tag, als die Nachricht kam, daß er gestorben sei. Polly war zutiefst erschüttert. Sie wußte nicht, wie Eff es aufnehmen würde.

»Ich muß zur Beerdigung«, sagte sie. »Ich muß schließlich ein bißchen Achtung zeigen.«

»Du hattest nicht viel Achtung vor ihm, als er noch lebte«, hielt ich ihr vor.

»Es ist was anderes, wenn die Menschen tot sind.«

»Wieso?«

»Ach, du immer mit deinen Wiesos und Warums. Es ist eben so, und damit basta.«

»Polly«, sagte ich, »warum kann ich nicht mit zur Beerdigung kommen?«

Sie starrte mich verblüfft an. »Du? Das wird Eff nicht erwarten.«

»Fein, überraschen wir sie.«

Polly schwieg. Ich sah ihr an, daß sie sich meinen Vorschlag im Kopf herumgehen ließ. »Nun gut«, sagte sie schließlich, »es würde ein Achtungsbeweis sein.«

So erfuhr ich, daß Achtung ein sehr wichtiger Bestandteil von Begräbnissen ist.

»Wir müssen deinen Vater fragen«, meinte sie dann.

»Es würde ihm nicht auffallen, wenn ich weg wäre.«

»So darfst du nicht von deinem Vater sprechen.«

»Warum nicht, wenn’s doch wahr ist? Und mir ist es recht so. Es würde mir gar nicht passen, wenn er sich um alles kümmerte. Ich sag’s ihm.«

Er wirkte kein bißchen erstaunt. Er griff nach seiner Brille, die er oben auf seinem Kopf vermutete. Sie war nicht da, und er blickte hilflos drein, als könne er sich unmöglich mit der Angelegenheit befassen, solange er die Brille nicht gefunden hatte. Sie lag zum Glück auf seinem Schreibtisch, und ich reichte sie ihm beflissen.

»Es ist Pollys Schwester, und es zeugt von Achtung«, erklärte ich ihm.

»Ich hoffe nicht, daß Polly uns jetzt deswegen verlassen will.«

»Uns verlassen!« Auf den Gedanken war ich noch gar nicht gekommen. »Sie will uns bestimmt nicht verlassen.«

»Vielleicht möchte sie bei ihrer Schwester leben.«

»O nein«, rief ich aus. »Aber ich finde, ich sollte zur Beerdigung gehen. Ich möchte Pollys Schwester kennenlernen. Sie spricht andauernd von ihr.«

Er nickte. »Gut, dann geh.«

»Wir werden ein paar Tage fort sein.«

»Schon recht, du hast ja Polly bei dir.«

Polly war froh, daß ich mit ihr kam. Sie meinte, Eff werde sich freuen.

So nahm ich an der Trauerfeier teil, und ich fand sie sehr aufschlußreich. Ich staunte über die Größe von Effs Haus. Es ging auf einen kleinen Park hinaus, der von vierstöckigen Häusern wie von Wächtern umstanden war. »Eff hatte immer gern ’n bißchen was Grünes um sich«, erklärte Polly. »Und hier hat sie’s nun. Bißchen was Ländliches und doch Pferdegetrappel, damit sie weiß, daß sie nicht in der Wildnis ist.«

»Das nennt man Äpfel und Birnen von einem Baum ernten«, sagte ich.

»Daran ist nichts auszusetzen«, meinte Polly.

Eff war etwa vier Jahre älter als Polly, sah aber noch älter aus. Als ich das erwähnte, erwiderte Polly: »Das macht das Leben, das sie geführt hat.« Sie erwähnte »ihn« nicht, weil er tot war, und wenn die Menschen gestorben waren, merkte ich, wurden ihre Sünden von der ach so wichtigen Achtung getilgt. Ich aber wußte nun, daß das Leben mit »ihm« Eff über ihre Jahre hinaus hatte altern lassen. Das überraschte mich, denn sie schien mir nicht die Sorte Frau, die sich so leicht einschüchtern ließ, auch nicht von »ihm«. Sie glich Polly in vieler Hinsicht. Beide besaßen dieselbe gewitzte Lebensanschauung und dazu dieses Selbstvertrauen, das besagte, sie ließen sich von niemandem hereinlegen. Während meines kurzen Aufenthaltes bemerkte ich auch bei anderen Menschen diese Einstellung; sie schien eine typische Auswirkung der Straßen von London zu sein.

Der Besuch war eine große Offenbarung für mich. Mir war, als habe ich eine andere, aufregendere Welt betreten. Polly war ein Teil von ihr, und ich wollte mehr über diese Welt wissen.

Eff war anfangs meinetwegen etwas nervös. Dauernd entschuldigte sie sich für irgend etwas: »Es ist sicher nicht, was du gewöhnt bist«, bis Polly sagte: »Mach dir wegen Deborah keine Gedanken, Eff. Sie und ich kommen prima miteinander aus, stimmt’s?« Ich versicherte Eff, daß es so war.

Hin und wieder lachten Polly und Eff, doch dann fiel ihnen ein, daß »er« feierlich aufgebahrt im Salon lag.

»Eine schöne Leiche«, sagte Eff. »Mrs. Green hat ihn ganz wunderbar hergerichtet.«

Wir saßen in der Küche und sprachen von ihm. Ich erkannte das Ungeheuer aus der Vergangenheit nicht wieder. Ich wollte Polly schon daran erinnern, aber als ich dazu ansetzte, gab sie mir unter dem Tisch einen leichten Tritt, womit sie mich rechtzeitig ermahnte, daß wir dem Toten Achtung schulden.

Ich schlief mit Polly in einem Zimmer. Am ersten Abend lagen wir im Bett und sprachen über Begräbnisse, und daß niemand gewußt hatte, wie krank »er« war, bis er »plötzlich dahingerafft« worden war. Es war tröstlich für mich, Polly in diesem fremden Haus so nahe bei mir zu haben, weil unter uns im Salon »die Leiche« lag.

Dann kam der feierliche Tag. Ich erinnere mich noch verschwommen an die ernsten Bestatter in ihren Zylinderhüten und schwarzen Röcken, an die mit Federn geschmückten Pferde, und an den Sarg, »massive Eiche mit echten Messingbeschlägen«, wie Eff stolz erklärte.

Der Sarg war mit Blumen überhäuft. Eff hatte »ihm« DAS TOR ZUM HIMMEL STEHT AUF als letzten Gruß zugedacht, was ich etwas optimistisch fand für jemanden mit diesem Ruf–vor seinem Tod allerdings. Polly und ich waren in das Blumengeschäft geeilt und hatten einen Kranz in Gestalt einer Lyra gekauft, was auch nicht ganz passend schien. Aber ich wurde belehrt, daß der Tod alles ändert.

Beim feierlichen Gottesdienst wurde Eff auf der einen Seite von Polly gestützt und auf der anderen von Mr. Branley, der in ihrem Haus zur Miete wohnte. Sie hielt die Augen gesenkt und betupfte sie unentwegt mit einem schwarzgeränderten Taschentuch. Mir kam der Gedanke, daß Polly mir über »ihn« nicht die Wahrheit erzählt hatte.

Anschließend gab es Schinkenbrote und Sherry im Salon; mit hochgezogenen Jalousien und ohne den Sarg sah er ganz anders aus, ein bißchen steif und unbewohnt, aber ohne die Leichendüsternis.

Ich bemerkte eine enge Bindung zwischen Polly und Eff, auch wenn sie sich etwas kritisch gegenüberstanden: Polly, weil Eff »ihn« geheiratet hatte, und Eff, weil Polly »in Stellung« gegangen war. Ihr Vater, ließ Eff durchblicken, wäre damit niemals einverstanden gewesen. Allerdings, lenkte Eff ein, sei es eine besondere Stellung, und Polly gehöre ja fast zur Familie dieses Pfarrers, der anscheinend nie wisse, ob er auf dem Kopf oder auf den Füßen stehe. Auch gab Eff zu, daß ich »ein liebes kleines Ding« sei.

Ich erfuhr, daß Eff keine finanzielle Not litt. Polly erzählte mir, daß Eff es war, die alles im Haus am Park in Gang gehalten hatte. »Er« hatte wegen eines Brustleidens seit Jahren nicht gearbeitet. Eff hatte Mieter ins Haus genommen. Die Branleys waren seit zwei Jahren bei ihr, und sie waren mehr Freunde als Mieter. Eines Tages, wenn ihr Knirps größer war, wollten sie sich allerdings ein eigenes Haus mit Garten suchen, aber im Moment waren ihr die Branleys noch sicher.

Ich merkte, daß Effs Anhänglichkeit an die Branleys hauptsächlich diesem Knirps zu verdanken war. Der Knirps war sechs Monate alt und sabberte und schrie grundlos. Eff erlaubte ihnen, seinen Kinderwagen in der Diele stehen zu lassen – ein großes Entgegenkommen, dem Vater nie zugestimmt hätte –, und Mrs. Branley brachte den Kleinen hinunter in den Garten an die frische Luft. Das gefiel Eff, und Polly auch, wie ich merkte. Wenn er in seinem Wagen lag, fand Eff immer einen Vorwand, in den Garten zu gehen und ihn zu betrachten. Wenn er schrie, was oft der Fall war, plapperte sie ihm unsinniges Zeug vor. »Will Diddilein sein Mamilein?« oder dergleichen, was aus ihrem Munde recht seltsam klang, da sie und Polly recht »scharfzüngig« waren, wie Mrs. Janson gesagt hatte. Im Umgang mit diesem Baby waren sie völlig verändert.

Mir kam der Gedanke, daß der große Mangel in beider Leben ein eigenes Baby war. Babys schienen sehr begehrte Geschöpfe zu sein – sogar Fabian hatte sich eins gewünscht.

Ich erinnere mich sehr gut an einen Vorfall zwei Tage nach dem Begräbnis. Polly und ich wollten am nächsten Tag ins Pfarrhaus zurückkehren. Polly hatte an unserem letzten Tag einiges mit mir unternommen, und wir waren »im Westen«, in Londons vornehmem Stadtteil Westend, gewesen.

Wir waren in der Küche. Ich saß am Feuer und war so müde, daß ich eindöste.

Undeutlich hörte ich Polly sagen: »Guck dir Deborah an! Sie schläft schon halb. Wir sind ja auch ganz schön rumgelatscht, das kann ich dir sagen.« Dann schlief ich richtig ein.

Plötzlich wachte ich auf. Eff und Polly saßen am Tisch, eine große braune, irdene Teekanne zwischen sich.

Eff sagte gerade: »Schätze, ich könnte noch zwei Leute reinnehmen.«

»Ich weiß nicht, was Vater dazu gesagt hätte, daß du Mieter aufnimmst.«

»Zahlende Gäste heißt das ... in dem Haus, das ich haben werde. Hast du gewußt, Polly, daß die Martins nebenan ausziehen? Ich schätze, ich kann das Haus übernehmen.«

»Wozu denn bloß?«

»Für mehr zahlende Gäste natürlich. Ich schätze, ich könnte das zu ’nem richtigen Gewerbe ausbauen, Poll.«

»Das trau’ ich dir glatt zu.«

»Weißt du – ich würde Hilfe brauchen.«

»Was hast du vor ... Willst du jemanden einstellen?«

»Ich möchte wen, den ich kenne, dem ich vertrauen kann.«

»Gar nicht so einfach.«

»Wie wär’s mit dir, Poll?«

Es entstand eine lange Pause. Ich war jetzt hellwach.

»Wir zwei würden das Geschäft richtig in Schwung bringen«, sagte Eff. »Ein hübsches kleines Unternehmen. Du in Stellung ...

Du weißt, das hätte Vater nicht gepaßt.«

»Ich möchte Deborah nicht verlassen. Ich hänge sehr an dem Kind.«

»Liebes kleines Ding. Keine Schönheit ... aber sie ist helle, und ich schätze, sie weiß sich durchzusetzen.«

»Pst!« sagte Polly. Sie sah zu mir herüber, und ich machte geschwind die Augen zu.

»Du wirst ja nicht ewig bei ihr bleiben, Poll. Ich finde, Schwestern sollten zusammenhalten.«

»Wenn es sie nicht gäbe, ich wäre wie der Blitz bei dir, Eff.«

»Hört sich doch gut an, oder?«

»Ich würde gern hier leben. Auf dem Land ist es so fade. Ich hab’ gern ein bißchen Leben um mich.«

»Als ob ich das nicht wüßte!«

»Solange sie mich braucht, bleibe ich dort.«

»Überleg’s dir! Du wirst nicht dein Leben lang nach anderer Leute Pfeife tanzen wollen. Das war nie deine Art.«

»Oh, ich tanze nach keiner Pfeife, Eff. Er ist ein sanfter Mensch ... und sie ist wie mein eigenes Kind.«

»Nun, es wäre ein schönes Leben, wenn wir zusammenarbeiten würden, wir zwei.«

»Es ist gut zu wissen, daß du da bist, Eff.«

So war eine neue Furcht in mein Leben getreten. Der Tag stand bevor, an dem ich Polly verlieren würde.

»Polly«, sagte ich an jenem Abend zu ihr, als wir uns zurückgezogen hatten, »du gehst nicht fort von mir, nicht wahr?«

»Wovon redest du?«

»Vielleicht möchtest du zu Eff ziehen.«

»Na, so was! Wer hat belauscht, was nicht für sie bestimmt war? Hat getan, als ob sie schlafe. Ich kenn’ dich. Ich hab’ dich durchschaut.«

»Aber du gehst nicht fort, nicht wahr, Polly?«

»Nein. Ich bleib’ so lange da, wie ich gebraucht werde.«

Ich umarmte sie und drückte sie ganz fest aus Angst, sie könnte mir entschlüpfen.

Es würde lange dauern, bis ich vergessen konnte, wie Eff ihrer Schwester den Köder der Freiheit hingehalten hatte.

Der indische Fächer

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