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Die tätowierten Augen

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Ich kannte einen Mann, der war schon so lange umhergewandert, dass er fast alles Böse gesehen hatte, was es auf der Welt zu sehen gab. Schließlich wurde es seinen Augen zu viel und er drohte zu erblinden. War er früher von Land zu Land gezogen, um die Erde kennen zu lernen, so war er nun ständig auf der Flucht; denn immer wenn er etwas Böses sah oder sehen musste, kostete es ihn einen Teil seines Augenlichts. Sein Dasein wurde immer hoffnungsloser, denn wohin er auch kam, nirgends gab es nur Gutes, und so kaufte er sich schließlich eine schwarze Brille. Nun wurde es womöglich noch schlimmer, denn natürlich lachten die Leute über ihn, dass er, der doch sehen konnte, überall schwarz sah und selbst bei hellem Tag in eine Lage geraten konnte, in die er offenen Auges nie gelaufen wäre. Manche Menschen wollten ihm sogar helfen. Doch sobald sie merkten, dass er eigentlich sehen konnte, beschimpften sie ihn, weil sie glaubten, er wollte sie hintergehen. Ja, das eine oder andere Mal wurde er deswegen sogar verprügelt, so dass er es schließlich aufgab, sich mit einer Brille zu schützen. Nun blickte er wieder den Tatsachen ins Auge und immer, wenn es ein hässlicher Anblick war, dem er nicht ausweichen konnte, sah er wieder ein bisschen schlechter.

Der Mann hatte längst erkannt, dass es so nicht weiterging. Schließlich entschloss er sich, einen Arzt aufzusuchen. Er fand auch den einen oder anderen Doktor, der ihm das sagte, was er selbst wusste, dass er langsam erblindete. Über die Ursachen freilich liefen die Meinungen der Mediziner weit auseinander und wen er auch aufsuchte, jeder vertrat eine andere Ansicht über den Grund des Leidens. Manche machten es sich ganz leicht: Die sagten, das käme vom Alter. Andere verschrieben ihm Tropfen und Salben, so dass er mit tränenden und halb verklebten Augen umherlief. Ein Doktor glaubte sogar, das Böse in ihm selbst zu erkennen und verlangte: Wenn dich dein Auge ärgert, dann reiß es heraus!

So wanderte der Mann weiter und geriet im Lauf der Zeit auf die andere Seite der Erde. Auch dort glaubten die Leute, sie lebten in der Mitte der Welt und die Ärzte hatten eine noch sonderbarere Medizin erfunden. Manche meinten schon deshalb heilen zu können, weil sie barfuß liefen und andere bohrten, um seinen Augen zu helfen, feine Nadeln in seine Ohren, in die Finger und Zehen, auch in Bauch und Rücken. Die Nadeln spürte er wohl, aber nichts wollte helfen. Weil der Mann inzwischen aber so viele Fachleute befragt und Doktoren besucht hatte, erhielt er auch Ratschläge, wohin er sich wenden sollte und im Verlauf weiterer Jahre stellte er fest, dass er die Erde umrundet hatte und an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt war – verzweifelt und unglücklicher denn je. Als er hier von einem hörte, der dadurch die Leute heilen wollte, dass er eine Weile stumm am Kopfende des Krankenbettes zu sitzen versprach, beschloss er, gar nicht erst hinzugehen.

Eines Tages kam er in eine Hafenstadt. Nachdem er in einer Gastwirtschaft einen getrockneten Fisch gekauft hatte, saß er an der Mole und verzehrte sein karges Mal. Schließlich warf er die Gräten ins Wasser. Wie es so ging, sah er gleich darauf die Gräten wieder, weil sie einem Angler, der geduldig neben ihm saß, an den Haken gerieten.

Doch anstatt zu schimpfen, holte sein Nachbar die Angel ein, löste die Gräten vom Haken und warf sie zurück ins Hafenbecken. Danach nahm er einen frischen Köder und legte die Angel aus.

Du bist mir nicht böse? fragte der Mann den Angler.

Der schüttelte den Kopf: weshalb sollte ich?

Merkwürdig, dachte der Wanderer, und fühlte sich, ohne dass er gleich sagen konnte weshalb, ein bisschen wohler. Nicht, dass er nicht im Lauf seines Lebens auch anderswo freundliche Menschen getroffen hätte – doch diesmal kam ihm, ohne dass der Angler sich weiter erklärte, dessen geduldige Art so eigentümlich vor, dass er ihn genauer betrachtete.

Seine Aufmerksamkeit wurde belohnt. Als der Angler ein weiteres Mal seine Schnur hinaus warf, rutschte der Ärmel des Hemdes zurück und ein prächtig tätowierter Fisch wurde sichtbar. Doch war es nicht eine einfache Zeichnung, wie sie manche Seeleute trugen, sondern ein Kunstwerk für sich. Sah man nämlich genauer hin, dann wurde deutlich, dass der tätowierte Fisch genauestens den Muskeln des Armes angepasst war. Bei jeder Bewegung schien es, als bewegte sich der Fisch, als ließe er Flossen und Schwanz spielen oder als schnappte er nach einem Köder.

Ein schöner Fisch, sagte der Angler, als er die Blicke des Mannes bemerkte.

Wirklich, ein schöner Fisch, konnte der nur zustimmen.

Jeder Fischer besitzt so ein Prachtstück, fuhr der Angler fort.

Tatsächlich? fragte der Mann und ließ keinen Zweifel daran, wie erstaunt er war.

Jeder, sagte der Angler stolz.

Und das hilft beim Angeln? fragte der Mann ungläubig.

Unbedingt, antwortete der Angler, sieh her, der Eimer: halb voll mit Fischen – und ich sitze erst seit dem Morgengrauen hier.

Immer nur Fische? fragte der Mann hartnäckig weiter.

Natürlich nicht, manchmal ist schon ein Schuh dabei oder ein Stück Treibholz. Aber was macht’s? Die sehe ich nicht. Ich fange nur Fische. Schließlich geht es allen so.

Allen? murmelte der Wanderer.

Allen, wiederholte der Fischer. Oh ja, allen. Den großen Fressern tätowiert man Kartoffeln und Würste auf den Bauch und den Frauen, die Kinder lieben, Babys an die Brust und…

… und, unterbrach ihn der Mann, den Trinkern macht man rote Nasen?

Nicht nur, antwortete der Angler, sie bekommen ein Bierfass auf den Bauch.

Unglaublich, erwiderte der Mann: aber wenn einer nun die Frauen liebt?

Dann, antwortete der Angler, wird er mit einer Schönheit versehen, lebensgroß. Aber auch wenn ein Weib hinter den Männern her ist, hat es nichts zu klagen. Ihm wird ein Traummann aufgetragen.

Das hilft wirklich? fragte der Mann ein weiteres Mal.

Was soll ich sagen, antwortete der Angler und zog einen zappelnden Fisch aus dem Wasser.

Da wurde der Wanderer sehr nachdenklich und schwieg so lange, bis sich der Angler ihm zuwandte:

Warum sagst Du nichts, Mann? Du weinst ja. Bist Du krank?

Vielleicht, antwortete der, vielleicht bin ich krank. Jedenfalls bin ich schon halb blind und keiner kann mir helfen. Und dann begann er zu erzählen, dass er schon ein halbes Leben lang unterwegs sei, immer auf der Flucht vor dem Bösen. Nein, schloss er seinen Bericht, mir kann keiner helfen.

Der Angler lächelte, zog einen weiteren Fisch an Land und meinte, damit hätte er nun wirklich genug, um heute nicht nur seine Frau und seine Freunde zu ernähren, für einen Fremdling sei auch was da.

Komm, sagte der Angler, sei mein Gast.

Sie erhoben sich und zu seiner Verwunderung führte der Angler ihn in jene Wirtschaft, in der der Reisende den getrockneten Fisch gekauft hatte. Kaum dass sie das Haus betreten hatten, kam schon der Wirt, nahm dem Angler die Fische ab und versprach, sie gleich zuzubereiten.

Während sie sich an den Tisch setzten, kam ein weiterer Gast, dessen Arme über und über mit Trauben bedeckt schienen, so dass man größte Lust bekommen hätte, eine davon zu pflücken, hätte man nicht gewusst, dass auch sie von einem Meister seines Fachs stammten.

Ich brauche dir unseren Winzer wohl nicht mehr vorzustellen, sagte der Angler und bat den Neuen, ebenfalls Platz zu nehmen. Nachdem der sich gesetzt hatte, erzählte er, dass er gerade einige Fässer Wein eingeliefert hätte. Was die beiden denn von einem kräftigen Schluck hielten?

Der Wirt brachte Gläser und nachdem Frau und Kinder des Anglers gekommen waren, saßen alle einschließlich des Wirtes mit seiner Familie bei Fisch und Wein.

Köstlich, sagte der Angler.

Wie immer, ergänzte der Winzer und alle nickten.

Und jetzt zu dir, begann der Angler und wandte sich an den Reisenden, sobald er bemerkte, dass der sich zurücklehnte und Anstalten machte, sich zu bedanken: Ich werde meinen Freunden deine Geschichte erzählen.

Das tat der Angler und obwohl er sie viel kürzer und einfacher erzählte als es sein Gast getan hätte, schwiegen seine Zuhörer betroffen, bis der Wirt schließlich meinte, dass es so einen Fall hierzulande noch nie gegeben habe.

Nein, wiederholte der Wirt, so etwas hatte er noch nie gehört.

Aber, sagte der Winzer, irgendwann ist uns allen geholfen worden.

Der Angler nickte zustimmend:

Eben, warum sollte man ihm nicht helfen können? Sicher, die Sache liegt schwieriger als bei einem Fischer oder Schuster oder bei einem Jäger – aber bisher wurde allen geholfen.

Noch ein Glas, meinte der Winzer und dann sollte unser Freund erst einmal ausschlafen; morgen, wenn sich nur das Wetter hielte, würde man weiter sehen.

Der Wirt stimmte zu. Ein Zimmer sei gerade frei geworden, das könnte der Fremde haben.

Am nächsten Morgen wurde der Mann von einem Mädchen geweckt, das ihm Milch und Brot ans Bett stellte und die Fenster öffnete, weil es doch so ein schöner Tag zu werden versprach. Und erst, als das Mädchen sein Zimmer verlassen hatte, fiel dem Mann ein, wie wunderschön es gekleidet war und noch einen Augenblick später fragte er sich, ob es wirkliche Kleider gewesen waren, die er gesehen hatte.

Kaum war er aufgestanden, klopfte der Winzer an seine Tür. Er müsse zurück zu seinen Weinbergen, sagte er, könne ihn aber ein Stück mitnehmen. Er hätte schon alles mit dem Wirt und dem Angler besprochen. Man sollte sich nur schnell verabschieden und dann wollten sie aufbrechen.

Der Mann lief zur Mole, wo der Angler schon wartete, und nachdem der ihm Glück gewünscht hatte, kletterte er auf den Sitz neben dem Winzer, der seinen leeren Wagen hinaus in die Felder lenkte.

Angelegentlich schaute der Winzer zum Himmel und nickte zufrieden, weil er kein Wölkchen entdeckte. Langsam wurde es wärmer, und als nach einigen Stunden Fahrt die Sonne hoch am Himmel stand, begann der Winzer zu sprechen:

Wir sind gleich da. Iss erst einmal eine Traube. Etwas Stärkung wirst du schon brauchen. Ich werde Deinen Fall schildern und danach weiterfahren. In einigen Tagen, wenn ich die nächste Fuhre zur Küste bringe, hole ich Dich wieder ab.

Nach einer weiteren Biegung des Weges lag vor ihnen ein kleines Anwesen.

Da ist es schon, sagte der Winzer. Dann wies er auf die Früchte, die seine Arme bedeckten:

Die wurden hier gezogen.

Nachdem er in den Hof eingebogen war, hieß er den Mann warten. Es würde bestimmt nicht lange dauern. Schließlich kam er in Begleitung einer Frau zurück. Sie verabschiedete den Winzer mit einer Handbewegung, ehe sie sich dem Reisenden zuwandte. Dem fielen vor allem ihr schmaler Kopf, voller grauer Locken, vor allem aber eine sonderbare Brille auf, deren kleine, viereckige Gläser ganz dicht bei der Nasenwurzel standen. Eine solche Brille hatte der Mann nur beim Uhrmacher gesehen, wenn es darum ging, die winzigsten Räderwerke zu bearbeiten.

Dein Freund, der Winzer, sagte die Frau statt einer Begrüßung, hat mir Deine Geschichte erzählt. Doch ich muss Dir erst in die Augen sehen. Eins sollte ich Dir freilich jetzt schon sagen: rückgängig machen kann ich nichts. Komm mit!

Sie führte ihn in einen Raum, in dem große und kleine Bilder hingen. Ohne Schwierigkeiten erkannte der Mann auf ihnen den prächtigen Fisch des Anglers, die Trauben, die jetzt die Arme des Winzers schmückten, sowie einige schöne Kleider.

Die meisten Wünsche, sagte die Frau, sind leicht zu erfüllen. Es sind ja auch handfeste Dinge, wie Du siehst. Aber bist Du ganz sicher, dass Du weißt, was Du willst?

Der Mann konnte nur nicken.

Nun gut, sagte sie im nächsten Zimmer. Setz Dich mal auf den Stuhl. Ja, auf den vor dem Fenster. Ich sagte ja, ich muss erst Deine Augen prüfen. Und dann beugte sie sich über ihn und durch ihre Brille und eine große Lupe senkte sie ihren Blick in seinen.

Und jetzt schau mal nach oben, und jetzt nach unten, befahl sie, und jetzt ein bisschen nach links und jetzt nach rechts.

So ging das eine Weile, wobei sie sich räusperte und manchmal ´hm, hm´ machte und manchmal gar nichts. Schließlich setzte sie die Lupe wieder ab und meinte, so einen Fall hätte sie tatsächlich noch nicht gehabt.

Komm, sagte sie, ich werde Dir etwas zeigen.

Dabei nahm sie seine Hand, so dass er aufstehen musste und ihr wie ein Kind folgen.

Leise, sagte sie, wir dürfen jetzt nicht stören.

Der Mann ließ alles mit sich geschehen. So dicht am Ziel seiner Wünsche, wollte er keinen Fehler machen. Schweigend folgte er ihr in den Garten. Zwischen Blumen und Gemüsebeeten stand auf einem Gestell eine kürbisgroße, gläserne Kugel, in der sich das Sonnenlicht sammelte. Dort, wo das Licht gebündelt und gleißend aus der Kugel austrat, lenkte es ein Junge mit einem Spiegel in eine Röhre, die wie ein Fernrohr aussah. Beweglich, am Ende des Rohres, war eine bleistiftdünne weitere Röhre befestigt, die ein bärtiger Mann in der Hand hielt und aus deren Spitze nadelfeine Blitze sprühten. Punkt für Punkt brannte der Bärtige mit dem Instrument einem Mädchen einen Ring um den Finger. Blitz auf Blitz bohrte sich in die Haut und hinterließ eine farbenprächtige Spur, die schließlich ihren Finger umschloss.

So einfach ist das, sagte der Mann, und ließ die Hand seiner Führerin los.

Ja, antwortete sie, so einfach – wenn man es kann. Aber komm zur Seite. Du darfst meinen Helfer nicht stören. Die Kleine wollte mehrere Ringe. Etwas musst du noch warten. Leg dich inzwischen ins Gras. Ich pflücke noch einige Kirschen, Tollkirschen, fügte sie hinzu.

Kaum hatte sie ihn verlassen, war sie schon wieder da.

Es wird schmerzen, sagte sie, das Licht wird Dich blenden und zunächst wirst Du gar nichts erkennen. Aber Böses wird Deinen Augen nicht mehr schaden. Das kann ich versprechen.

Genau das wünsche ich mir doch, sagte der Mann.

Ja, ja, das wünschst Du Dir, antwortete sie geduldig, das heißt aber noch lange nicht, dass das Böse aus der Welt verschwindet.

Hauptsache, sagte der Mann, ich werde nicht blind.

Wenn Du unbedingt willst, sagte sie, komm, die beiden sind jetzt fertig. Als erstes träufele ich Dir Tollkirschensaft in die Augen, damit sie sich weiter öffnen. Aber ich warne Dich. Es wird wehtun und es wird eine Zeitlang dauern. Danach führte sie ihn zu der gläsernen Kugel. Der Mann musste sich ins Gras legen; sie kniete an seiner Seite nieder und nahm das Röhrchen zur Hand, aus dem die Blitze schossen.

Schau, sagte die Frau und griff sich ein welkes Blatt. Ein greller Strahl durchbohrte das Blatt.

Schau, wiederholte sie und hielt das Blatt vor sein Gesicht, damit er das Löchlein sah.

Los! sagte er.

Da holte sie wieder ihre Lupe hervor, beugte sich über sein Gesicht und ließ den ersten Blitz in sein Auge fahren. Dann kamen die Blitze Schlag auf Schlag und ihm war, als müsste er direkt in ein Feuer schauen. Nach einer Weile hätte er am liebsten die Augen geschlossen und den Kopf zur Seite gedreht. Aber sein Wunsch war stärker und obwohl ihn die Lichtblitze zunehmend schmerzten und die Augen zu tränen begannen, hielt er still. Als er meinte, es nicht mehr ertragen zu können, sagte die Frau:

Das war das eine, jetzt das andere Auge.

Der Mann nickte. Obwohl er wusste, was ihn erwartete, schien jetzt alles nur noch schlimmer. Ihm war, als läge er unter einer Nähmaschine und als würde eine Nadel immer schneller und heftiger in sein Auge fahren.

Als die Frau schließlich aufstand, sagte er:

Jetzt bin ich wirklich blind.

Geblendet, antwortete die Frau. Kein Wunder, bei diesem Licht. Bleib liegen und erhole Dich ein bisschen. Vielleicht hörst Du das Gras wachsen.

Sie lachte leicht und er hörte, wie sich Ihre Schritte entfernten. Dann war es still. Das Gras raschelte an seinem Ohr; in der Ferne vernahm er den Gesang einer Lerche. Als die Frau nicht wieder kam, blinzelte er vorsichtig unter den Lidern hervor. Das war gut so, denn das Licht blendete ihn so stark, dass gleich wieder Tränen flossen.

Immerhin, sagte er sich, ganz blind bin ich nicht.

Der zweite Versuch verlief schon besser und nach dem dritten stand er auf und ging ins Haus. Da saßen die Frau mit ihrem bärtigen Helfer und der junge Mann, der den Spiegel gehalten hatte, um einen Tisch.

Setz Dich, lud die Frau ihn ein, hier sind Brot und Wein. Danach kannst Du schlafen.

Und der Bärtige sah ihm direkt in die Augen und wandte sich dann an die Frau:

Gute Arbeit.

Ich weiß, erwiderte sie, es ist gute Arbeit.

Als der Winzer einige Tage später vorbeikam, um den Mann abzuholen, war er nicht wenig erstaunt, ihn bei der Gartenarbeit zu treffen.

Ich hole nur mein Bündel, sagte der Reisende. Verabschiedet habe ich mich schon.

Als sie dann auf der Fahrt nebeneinander saßen, meinte der Winzer:

Ich sehe keinen Unterschied.

Ich auch nicht, antwortete der Mann. Jedenfalls nicht im Spiegel. Als ich danach fragte, erklärte die Frau: mir würde es gehen wie dem Angler, der sehe auch nur die Fische. Und nach einer Pause habe sie hinzugefügt: ich würde jetzt gute Freunde brauchen.

Fein, sagte der Winzer, neben Dir sitzt schon einer. Dann lenkte er die Fuhre um ein Schlagloch.

-.-

Kaum schwieg der alte Abel, sagte der Junge, der noch immer zu seinen Füßen saß und nur von Zeit zu Zeit das Feuer geschürt und nachgelegt hatte:

Das war ein schönes Märchen.

Moment, Moment, meldete sich jemand zu Wort, Abels Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Doch, sagte der Junge und zu Abel: die Geschichte ist doch zu Ende?

Nein, nein widersprach die Stimme aus dem Hintergrund: das geht noch weiter. Die Frau hat etwas mit seinen Augen gemacht, das muss doch eine Wirkung haben. Ich möchte auch wissen, was sie ihm hineingezeichnet hat…

Wird man das je erfahren? fragte die junge Frau eher sich selbst.

Aber das muss weitergehen, beharrte die Stimme, die sich bisher so hartnäckig geäußert hatte: der Mann kann doch wieder sein Leben in die Hand nehmen, ohne Angst zu erblinden. Das geht bestimmt weiter…

Ja, ja, stimmte Abel zu, das geht weiter. Ich bin nur ein bisschen müde geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass mich eine so kurze Erzählung dermaßen ermüden könnte. Nun ja, die letzten Tage.

Sicher nicht nur die letzten Tage, sagte plötzlich der Verwundete, es waren Jahre, schlimme Jahre.

Und es ist noch nicht vorbei, meinte die junge Frau.

Mir, sagte der andere Uniformierte, der mit dem roten Stern, und wiederholte dann: Frieden!

Dabei sprach er so laut und heftig, dass alle erschraken. Vielleicht auch, weil seine Stimme rau und fremd klang und gleichzeitig so schmerzlich, als müsste er sich zwingen, in dieser Sprache zu sprechen

Plötzlich schien es taghell zu werden. Eine nackte Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing, war unvermittelt aufgeflammt. Abel schien der Einzige zu sein, der nicht geblendet zu Boden blickte.

Jetzt haben wir auch Licht, Licht und Wasser meinte er. Etwas scheint ja immer noch zu funktionieren.

Wie lange? fragte die junge Frau.

Wir werden sehen, antwortete Abel, falls wir es überhaupt wollen. Wo Licht ist, ist auch ein Schalter.

Da ist auch ein Schrank, sagte der Junge. Alle blickten sich um.

Tatsächlich, sagte die Dunkelhäutige, und was ist das?

Sie wies auf einen großen Kasten, der in einer Nische stand.

Ein Radio, antwortete Abel.

Ziemlich groß, sagte der Verwundete. Fast so groß wie der Schrank.

Ein Schrankradio, sagte der Junge.

Lass die Finger davon, wollte der Verwundete rufen, da hatte der Junge schon an einem der Knöpfe gedreht.

Es knackte, dann brummt es leise und dann lauter und schließlich, während das Brummen verschwand, klang Musik auf – so laut, dass das Gewölbe davon erfüllt wurde.

Leiser, befahl die junge Frau.

Du musst den Knopf drehen, mit dem Du es eingeschaltet hast, sagte Abel.

Es wurde tatsächlich leiser. Jetzt konnte man auch ein Tuch erkennen, hinter dem sich der Lautsprecher befinden musste. Und eine gelblich erleuchtete Skala trug auf ihrer gewölbten Fläche eine Reihe von Stationsnamen, die der Junge vorzulesen versuchte.

Lass das, bat der Verwundete.

Das hat wirklich noch Zeit, stimmte die junge Frau zu, wir müssen uns erst umsehen. Was ist denn im Schrank?

Der Junge öffnete die Tür.

Käse, sagte er enttäuscht.

Wirklich Käse? fragte Abel und stand auf.

Das wäre eine Gottesgabe, murmelte er. Scheint wirklich Käse zu sein. Alter, harter Käse.

Und Wein? fragte jemand.

Da wäre ein Haufen Kisten beiseite zu räumen, meinte Abel, aber vielleicht lohne der Versuch. Doch während er das sagte, flackerte das Licht einige Male auf und ab, um dann ganz zu verlöschen. Mit einem klagenden Ton erstarb auch die Musik.

Schade, sagte der Junge und ging zum Feuer. Die anderen standen noch unschlüssig umher, doch dann kehrten auch sie zu ihren Plätzen zurück.

Eigentlich ist es eine gute Sache, sagte der Verwundete, sich die Zeit mit Geschichten zu vertreiben. Ich heiße Toni, nein, eigentlich heiße ich Anton, aber zuhause wurde ich immer Toni genannt. Leider ist meine eigene Geschichte nicht sehr interessant, ich bin auch kein guter Erzähler, aber wenn ich zuhöre, habe ich das Gefühl, mir könnte etwas einfallen, was ich einmal gehört habe. Kurz, ehe das Licht ausging, war mir, als müsste ich nur anfangen zu sprechen… Aber dann wurde es hell und der Einfall war fort.

Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, meinte Abel und hüllte sich in seinen Mantel.

Nun, fuhr der Verwundete fort, wenn mir im Augenblick auch nichts zur Unterhaltung einfällt, ich habe da etwas… Und er begann mit seinem gesunden Arm unter seinem Mantel zu suchen. Da ist es, meinte er schließlich zufrieden, und holte ein Päckchen hervor. Vielleicht möchte noch jemand rauchen. Mir ist jedenfalls danach. Damit reichte er das Päckchen der jungen Frau, die neben ihm saß; nachdem sie sich bedient hatte, gab sie das Päckchen weiter.

Ganz hinten, im Dunkeln, saß jemand, der bisher geschwiegen hatte, jetzt aber meinte:

Eigentlich rauche ich nie. Aber wenn ich darf, nun wäre mir auch danach.

Nur zu, bitte, sagte Toni

Früher hieß es immer, dass alte Damen nicht rauchen sollten, aber irgendwie ist es doch ein besonderer Anlass. Allerdings sind mir früher auch immer lustige Geschichten eingefallen, wenn meine Enkel danach fragten. Wenn Ihr wollt, könnte ich ja ein Märchen erzählen, ich fürchte nur, es wird ein trauriges Märchen…

Nur zu, bitte, wiederholte Toni.

Und Abel fragte:

Wollen Sie nicht ein bisschen näher rücken?

Ein Nachbar schob ihre Kiste zum Feuer hin, so dass man ihr Gesicht sehen konnte, das von weißen Haaren umrahmt war. Nun saß sie Abel genau gegenüber. Der Junge ging mit einem glimmenden Holzspan von Platz zu Platz, um denen, die rauchen wollten, Feuer zu reichen. Dann begann die alte Dame:

Ihr könnt mich Tulla nennen. Ich weiß nicht, weshalb, aber meine Freunde nannten mich so. Also hört zu.

Die tätowierten Augen

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