Читать книгу Fürstenkrone Classic 42 – Adelsroman - Viola Marquardt - Страница 3

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Mein lieber Jaßnitz!

Besten Dank für Ihr Schreiben, das ich schon früher beantwortet hätte, wenn mich die Ernte in diesen Wochen nicht so in Anspruch nähme. Sie wissen ja, wie das ist: Wenn sich der Gutsherr nicht um alles selbst kümmert, machen die Leute, was sie wollen. Immer auf Trab! Aber ich wünsche es mir nicht anders. »Pflichterfüllung ist das erste!«, pflegte mein seliger Vater immer zu sagen. Nun zu Ihnen. Sie fragen ungeduldig, ob ich schon mit meiner Tochter Edith gesprochen habe. Lieber Jaßnitz, ich sagte Ihnen doch: nicht vor Ditschas dreiundzwanzigstem Geburtstag. Sie werden sich also noch ein paar Wochen gedulden müssen. Ich verstehe nicht, warum Sie es gar so eilig haben. Meine Zustimmung haben Sie, und damit ist die Angelegenheit bereits so gut wie geregelt. Ich habe meine Kinder zu Gehorsam und Pflichterfüllung erzogen. Keines von ihnen würde es wagen, sich ernsthaft gegen meinen Willen aufzulehnen. Ein bisschen Geplänkel gibt es freilich immer, zumal meine gute Melanie als schwache Mutter nicht immer die Festigkeit an den Tag legt, die gerade wünschenswert wäre. Wenn Sie aber fürchten, Ditscha könnte eine andere Wahl treffen als die von mir gutgeheißene, dann sind Sie auf dem Holzweg.

Freilich: Ditscha hat einen etwas schwierigen Charakter. Sie werden ein Weilchen brauchen, ehe Sie das ungebärdige Füllen gezähmt haben! Aber da Sie sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt haben – bitte sehr! Jedenfalls wird Ditscha aber meinen Befehlen gehorchen, ebenso wie Egon und Marianne. Also keine Sorge, lieber Jaßnitz! An Ditschas Geburtstag holen Sie sich Ihr Jawort, und unterm Weihnachtsbaum wird Verlobung gefeiert, basta! Die Hochzeit kann dann im Frühjahr stattfinden. Das habe ich Ihnen versprochen – und dabei bleibt es.

Sonst ist auf Bornhagen alles wohlauf. Meine kleine Marianne lernt unter Führung ihrer Mutter die Wirtschaft und stellt sich dabei nicht ungeschickt an. Egon gefällt sich in Berlin. Na, sobald ich mich zur Ruhe setze, hat das fröhliche Leutnantsleben ohnedies ein Ende. Dann heißt es, die Waffe mit dem Pflug vertauschen. Am liebsten bliebe er Offizier, aber daraus wird nichts. Ein Born gehört nach Bornhagen, das ist sein angestammter Platz. Sie fragen, wie es beim Nachbarn steht? Darauf kann ich Ihnen nur antworten: es interessiert mich nicht. Mit den Leuten will ich nichts zu tun haben. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und ich gehöre nicht zu denen, die angetanes Unrecht vergessen.

Lieber Jaßnitz, halten Sie sich’s zugute, dass ich Ihnen einen so langen Brief geschrieben habe – den längsten seit meinen Bräutigamstagen, glaube ich!

Schlägt die Kur an? Dann werden wir Sie ja bald wiedersehen. Ich kann mir unter einer Kur nichts vorstellen. Hab’ mein Lebtag so etwas nicht nötig gehabt.

Es grüßt Sie bestens

Ihr aufrichtiger Freund

Karl Ludwig von Born

Aufatmend legte der Baron die Feder beiseite, faltete den Briefbogen, schob ihn in den Umschlag und schrieb mit seiner charakteristischen steilen Handschrift die Adresse darauf: Freiherrn Waldemar von Jaßnitz, Karlsbad, Hotel Drei Mohren.

Als er eben die Siegellackstange über die Kerze hielt, klopfte es.

»Herein!«, rief er etwas unwillig.

Die Tür öffnete sich leise.

»Karl Ludwig – störe ich?«, fragte eine sanfte Stimme.

»Komm nur herein, Melanie.« Born erhob sich galant. Sein Gesicht, das von buschigen Brauen und einem ebensolchen Schnurrbart beherrscht wurde, entspannte sich merklich!

Nach fast fünfundzwanzig Ehejahren war Baron Born seiner Frau noch immer von Herzen zugetan. Ja, eigentlich mehr als damals, als er sie, dem Wunsch seines Vaters entsprechend, zur Frau genommen hatte. Damals hatte er die sanfte, schüchterne Melanie im stillen eine »pingelige Zierpuppe« genannt. Aber im Laufe der Zeit war ihm klargeworden, was er an ihr hatte.

Frau Melanie war noch immer schön. Man sah ihr ihre achtundvierzig Jahre ebenso wenig an wie ihre drei erwachsenen Kinder. Kein graues Fädchen war in ihrem glatt gescheitelten aschblonden Haar. Ihre Taille war mädchenhaft schlank geblieben, und die wundervollen blauen Augen hatten sich ihren rührend scheuen Ausdruck bewahrt.

Jetzt glitten sie ängstlich über den Brief, der auf der juchtenledernen Schreibmappe lag.

»Du hast an Jaßnitz geschrieben, Karl Ludwig?«

Born nickte.

»Ich konnte ihn nicht länger auf Antwort warten lassen. Sonst schlägt bei ihm womöglich die Kur nicht an!«, fügte er launig hinzu.

Der ängstliche Zug auf Frau Melanies Antlitz vertiefte sich.

»Meinst du denn, dass es richtig ist, Karl Ludwig? Jaßnitz ist vierzig – um siebzehn Jahre älter als Ditscha.«

»Na – und?« Borns Tonfall ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er keinerlei Einspruch duldete. »Siebzehn Jahre sind gar nichts. Die Ehen, in denen der Mann viel älter ist als die Frau, sind die besten. Er wird Ditscha auf Händen tragen.«

Frau Melanie unterdrückte einen tiefen Seufzer.

»Und Ditscha – glaubst du, dass sie sich auf Händen tragen lassen will?«, wagte sie zu erwidern.

Born runzelte die Brauen.

»Na, hör mal!«, polterte er. »Warum denn nicht? Sie kann von Glück sagen, dass ein Mann wie Jaßnitz sich für sie interessiert! Die jungen Herren hat sie ja alle vergrault mit ihrer Kratzbürstigkeit und ihrer Klugschnackerei! Die mögen so was Blaustrümpfiges nicht. Froh können wir sein, dass Jaßnitz sie haben will!«

In Frau Melanie regte sich der Mutterstolz. »Aber, Karl Ludwig«, entgegnete sie mit sanftem Vorwurf. »Unsere Ditscha … Weit und breit gibt es kein hübscheres Mädel.«

»Aber auch kein eigensinnigeres«, so murrte Born. »Ich möchte wissen, von wem sie das hat.«

Ein Lächeln glitt über Frau Melanies Gesicht.

»Weißt du das wirklich nicht, Karl Ludwig? Ditscha ist dir doch wie aus dem Gesicht geschnitten. Und auch sonst … Ihr seid euch ähnlicher, als ihr selber wisst. Darum geratet ihr ja immer aneinander.«

»Na, erlaube mal!«, verwahrte sich der Baron. »Bin ich etwa eigensinnig, dickköpfig, rechthaberisch?« In aller Unschuld zählte er seine eigenen Eigenschaften auf. »So ein Grünschnabel weiß doch noch gar nicht, was für ihn am besten ist. Dafür sind ja wir Eltern da, mit unserer Erfahrung, unserer Weltkenntnis, damit wir den Kindern den rechten Weg weisen!«

»Gewiss, Karl Ludwig!« Frau Melanie legte dem Gatten versöhnlich die Hand auf den Arm. »Du willst gewiss das Beste für die Kinder. Aber ob das, was uns das Beste dünkt, auch wirklich das Beste ist?«, sagte Frau Melanie leise. Ihr sorgenvoller Blick glitt wieder zu dem Brief auf Borns Schreibtisch. Sie seufzte …

*

Zur gleichen Zeit stand die, um die es ging, in der guten Stube des Doktorhauses vor dem alten Hausarzt der Borns, Dr. Lowitz.

Edith von Born, genannt Ditscha, war eine trotz ihrer Jugend auffallende Erscheinung. Groß und schlank, mit reichem dunklem Haar und tiefblauen Augen, einem feinen, klugen Gesicht und wunderbar ebenmäßigen Zähnen, wäre sie ein bezauberndes Geschöpf gewesen, hätte der trotzige Mund nicht verraten, dass in der schönen Hülle ein ungebürdiger, eigenwilliger Geist wohnte.

»Kind, Kind!«, seufzte der alte Arzt. »Diese Heimlichkeiten wollen mir gar nicht gefallen. Wenn Ihr Vater davon erfährt – na, ich will mir lieber erst gar nicht ausmalen, was dann passiert. Sie kennen ihn ja, Ditscha.«

Der Arzt, der allen Born-Kindern auf die Welt geholfen hatte, durfte sich diese vertrauliche Anrede gestatten.

Der trotzige Zug um den jungen Mund verstärkte sich.

»Ja, Onkel Doktor – und eben darum. Ich bin seine Tochter«, sagte Ditscha und warf den Kopf in den Nacken.

»Er glaubt, weil ich ein Mädchen bin. Warum ist das so, Onkel Doktor? Warum dürfen wir Mädchen nichts Ordentliches lernen? Wäre ich ein Junge, so hätte Vater gewiss erlaubt, dass ich die Universität besuche! Dann wäre er sogar stolz auf mich gewesen! Aber ich bin ja nur ein Mädchen! Und Mädchen sind dazu da, ein wenig Klavier zu spielen, kochen und nähen zu lernen, sie sollen hübsch bescheiden den Mund halten und sich zuletzt standesgemäß verheiraten!« Unsäglich bitter klang es.

»Warum ist das so?«, wiederholte Ditscha heftig. »Es ist so ungerecht! Egon durfte Offizier werden, wenn auch nur auf Zeit, weil er später ja doch das Gut übernehmen muss – aber ich? Mein ganzes Glück wäre es, zu lernen, zu studieren! Alle meine Lehrer sagen, ich hätte den Kopf dazu. Aber Vater findet weibliche Ärzte unschicklich und meine Wünsche verdreht, und daher muss ich das nutzlose Leben einer höheren Tochter führen, obwohl alles in mir nach Betätigung schreit!«

Trotz aller Bedenken musste Dr. Lowitz lächeln. »Der ganze Vater! Ich höre ihn förmlich! Der gleiche Heißsporn! Nur ruhig Blut, Ditscha, es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«

»Ja, das sagen Sie. Aber wenn ich mich nicht mit Gewalt auf eigene Füße stelle, bleibt ja doch alles beim alten. ›Die Frau gehört ins Haus‹, punktum! So war es und so soll es bleiben. Und keiner versteht einen – keiner!«, brach es heiß aus Ditscha hervor.

»Keiner?«, fragte da eine jugendliche Männerstimme von der Tür her.

Ditscha fuhr herum.

Eine zarte Röte färbte ihre Wangen, und ihre blauen Augen leuchteten auf.

»Axel – Sie! Ja, Sie sind mein Bundesgenosse, mein einziger Freund. Wenn Sie mich nicht meiner Unwissenheit erbarmten …«

»Unwissenheit? Dass ich nicht lache!« Der junge Mann, stud. med. Axel Lowitz, trat neben das Mädchen, das er noch um Haupteslänge überragte. Ein blonder blauäugiger Enakssohn war er, kräftig gebaut, sonnengebräunt, ein Sportler und Turner, kein bleichsüchtiger Bücherwurm und Stubenhocker.

»Manche meiner Kommilitonen könnten froh sein, wenn sie Ihre rasche Auffassungsgabe, Ihr Gedächtnis und Ihre Ausdauer besäßen, Fräulein Ditscha«, ganz feurig klang es, bewundernd und begeistert.

»Axel!«, mahnte Dr. Lowitz erschrocken. »Es heißt nicht Fräulein Ditscha, es heißt …«

»Ach was«, unterbrach ihn Ditscha mit dem ihr eigenen Ungestüm. »Soll er mich vielleicht Baronesse titulieren? Mein alter Freund Axel, mit dem ich gespielt habe, als ich noch ein kleines Mädchen war? Nein, das erlaube ich nicht, das würde mich zu sehr kränken.«

Dr. Lowitz seufzte wieder.

»Ich sollte nicht zulassen, dass Axel hinter dem Rücken Ihres Vaters mit Ihnen Latein treibt, Ditscha! Sie hätten mir die Erlaubnis nicht abpressen dürfen. Sie wissen, das ich ein schwacher Mensch bin und Ihnen keine Bitte abschlagen kann, und das nutzen Sie nun weidlich aus. Wenn Ihr Vater uns erwischt …«

»Werden Sie gevierteilt und gebraten, Onkel Doktor«, lachte Ditscha. Sie wirkte auf einmal ganz vergnügt. »Aber er wird schon nicht. Sie halten dicht, und Axel hält dicht, und wir tun ja schließlich nichts Unrechtes«, fügte sie hinzu. »Ich würde wahrhaftig lieber mit Vaters Erlaubnis hierherkommen, aber das geht nun mal nicht.«

»Weiß es denn Ihre Mutter?«, fragte der Arzt.

Ein warmer Ausdruck trat auf das junge Gesicht. »Muttchen? Ich glaube, sie ahnt etwas, aber sie hütet sich, mich direkt zu fragen. Muttchen brächte es nie über sich, dem Vater etwas zu verschweigen. Sie ist noch dazu erzogen worden, im Mann den Herrn und Gebieter zu sehen, dem die Frau zu gehorchen hat. Wir Jungen denken anders darüber, nicht wahr, Axel?«

»Ja, wir sehen in der Frau die Kameradin, der wir die gleichen Rechte zugestehen«, bestätigte der junge Mann und umfasste Ditscha mit einem aufleuchtenden Blick. »Die Leibeigenschaft der Frau muss abgeschafft werden, sie ist ein unwürdiger Zustand. Warte nur, Vater, wenn das neue Jahrhundert anbricht …«

»Ich weiß, Junge«, der Arzt schüttelte den Kopf. »Das neue Jahrhundert! Von dem erwartet ihr wohl Wunderdinge. Aber die Menschen ändern sich nicht so schnell.«

»Dann muss man eben die Zustände ändern, in denen sie leben!« Axel Lowitz ritt sein Steckenpferd. »Lass du uns nur erst an die Macht kommen, Vater. Wir werden mit den verstaubten Traditionen schon aufräumen, was, Fräulein Ditscha?«

Die beiden strahlend blauen Augenpaare tauchten ineinander. Man spürte: Hier standen zwei, die sich verstanden, die von den gleichen Gedanken und Empfindungen, den gleichen Hoffnungen und Sehnsüchten bewegt wurden.

Ein schönes Paar! dachte der alte Arzt unwillkürlich. Doch sogleich erschrak er vor seinen eigenen Gedanken. Wohin verirrte er sich da? Ditscha war eine Baronesse Born – und Axel nur der Sohn eines bürgerlichen Arztes.

»Dürfen wir jetzt anfangen, Onkel Doktor?«, fragte Ditscha. »Ich bin gut präpariert und brenne darauf, es meinem Lehrmeister zu beweisen!«

»Ich gehe ja schon.« Der Arzt wandte sich seufzend zur Tür. »Aber recht ist es nicht, und ich sollte es euch nicht erlauben.«

»Onkel Doktor! Sie wollen mich doch nicht schrecklich unglücklich machen, oder?«

Lowitz sah das schöne junge Mädchen an, dessen blaue Augen vor Lebenslust und Tatendrang leuchteten.

»Nein, Ditscha«, antwortete er mit einem tiefen Atemzug. »Das will ich nicht.«

*

An dem runden Wohnzimmertisch wurde nun fleißig gebüffelt.

Zwei Stunden lang wechselten Axel Lowitz und Ditscha kein privates Wort. Erst Schlag zwölf klappte Ditscha die Bücher zu und sagte mit einem bedauernden Blick auf die große, altmodische Uhr: »Wir müssen leider Schluss machen, Axel. Wenn ich zu spät zum Essen komme, steht Muttchen Todesqualen aus, und das will ich nicht. Ich werde ihr ohnedies noch genug Kummer bereiten müssen«, fügte sie leiser hinzu.

Axel sah Ditscha bewundernd an.

»Sie wollen es also wirklich durchsetzen, dass Sie nach Berlin gehen und Medizin studieren dürfen?«

Ditscha hob stolz den rassigen Kopf. »Es ist mein fester Entschluss, Axel! Ich will etwas leisten, meinen Platz im Leben ausfüllen. Vater kann mir mein Erbe nicht verweigern. Davon will ich mir eine Praxis als Kinderärztin einrichten. Ich habe alles bis zum letzten durchdacht. Ich werde es schaffen.«

»Das werden Sie!«

»Aber nur dank Ihrer Hilfe, Axel!« Die spröde Mädchenstimme klang auf einmal weich. »Was würde ich ohne Sie anfangen? Es ist schon so, wie ich Ihrem Vater sagte: Sie sind mein einziger Freund auf dieser Welt, der einzige Mensch, der mich versteht.«

Der junge Mann errötete vor Freude.

»Aber, Fräulein Ditscha – Sie haben doch Ihre Eltern und Geschwister.«

»Ja, die habe ich«, entgegnete Ditscha fest und sah ihm ruhig in die Augen, »und Gott möge sie mir lange erhalten. Aber … Muttchen ist ein Engel, doch sie würde nie wagen, einen selbständigen Gedanken zu denken. Sie ist innerlich und äußerlich vollständig abhängig von Vater. Und er … Sie wissen ja, wie er ist! Nur sein Wunsch und sein Wille zählen für ihn. Wie ein kleiner König herrscht er über seine Untertanen, zu denen er auch seine Familie rechnet. Bornhagen ist für ihn die Welt, und diese Welt ist ihm untertan. Sicher meint er es gut, aber gut ist eben nur, was er für gut befindet. Ich liebe ihn, gewiss, aber ich räume ihm nicht das Recht ein, über mein Schicksal zu bestimmen. Egon denkt ähnlich wie ich, aber er fängt es schlauer an. Egon ist der geborene Diplomat. Er setzt meistens seinen Willen durch, weiß es aber so zu drehen, dass Vater glaubt, es wäre der seine. Er würde nie offen gegen Vater auftreten oder sich gar im schroffen Gegensatz zu ihm stellen. Im Grunde hat er nämlich eine Heidenangst vor ihm!«

»Und Fräulein Marianne?«

»Muck?« Ditscha lächelte. »Muck ist ein Kind, ein liebes, gutes Kind, das sorgenlos ins Leben lacht und erwartet, dass es zurücklacht. Vielleicht fände sie meine Pläne spannend, aber ein tieferes Verständnis kann ich auch von ihr nicht erwarten. Nein, nein, Axel, es ist schon so: Sie sind mein bester Freund. Ohne Sie …«

Ditscha brach ab. Eine Blutwelle färbte ihr Gesicht. Rasch erhob sie sich und begann ihre Bücher einzupacken. Dabei brauchte sie Axel nicht anzusehen – und das war ihr gerade recht.

Als sie fertig war, hatte sie auch ihre Befangenheit überwunden. Sie streckte Axel die Hand entgegen. »Also – auf morgen?«

»Auf morgen«, erwiderte er und hielt ihre Hand fester, als es unbedingt nötig gewesen wäre. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Fräulein Ditscha. Ich werde es niemals enttäuschen.«

Wie ein Schwur klang es.

Und Ditscha musste sehen, dass sie zur Tür kam. Die dumme Röte war

ihr nun schon wieder zu Kopf gestiegen …

*

Es war Abend. Im urgemütlichen Erker der Wohnstube, Frau Melanies Reich, brannte schon die Lampe. Zwischen grünen und blühenden Pflanzen stand da der zierliche Nähtisch der Hausfrau. In dem bequemen, mit Gobelinstickerei verzierten Lehnstuhl saß die Baronin und hielt den aschblonden Kopf über den Stickrahmen gebeugt.

Melanie Born war noch eine Dame vom alten Schlag – eine, die gelernt hatte, dass es der Frau, egal welchen Standes, nicht wohl ansteht, die Hände müßig in den Schoß zu legen. Darum liebten die Dienstleute ihre Herrin abgöttisch und gehorchten ihr auf den leisesten Wink. Wussten sie doch, dass diese zarten, gepflegten Hände jederzeit mit zugreifen konnten, wenn Not am Mann war. Frau Melanie wusste, was es heißt: ein Vorbild sein. Schwer war es mitunter, das eigene Ich hintanzustellen, aber auch lohnend.

Ihr zu Füßen, auf einem Korbstühlchen, saß Marianne und förderte ihre Häkelarbeit. Aber die kleinen braunen Hände waren heute nicht mit dem gewohnten Eifer bei der Sache.

»Muttchen?«

»Ja, mein Kind?«

Marianne ließ die Arbeit sinken und sah fragend zur Mutter empor. »Muttchen, warum verkehren wir eigentlich nicht mit Herrn von Ellern?«, fragte sie mit etwas unsicherer Stimme.

Eine zarte Röte färbte Frau Melanies Antlitz. »Wie kommst du darauf, Marianne?«

»Ach – nur so … Es fiel mir eben ein!«

»Vater wird seine Gründe haben.«

Marianne seufzte. Den Ton kannte sie. Niemals hätte die Mutter eine Kritik an einer Entscheidung des Vaters laut werden lassen. Aber diesmal gab sich Marianne nicht damit zufrieden.

»Hat Herr von Ellern – ich meine Leonhard von Ellern – Papa beleidigt?«, forschte sie weiter. »Ist es ein Geheimnis, über das man nicht reden darf?«

Frau Melanie seufzte. Wie hartnäckig die Kleine sein konnte – ganz wie der Vater. Behutsam die Worte wägend, erwiderte sie: »Es ist kein Geheimnis, Muck. Papa will nur nicht an diese alte Geschichte erinnert werden, und diesen Wunsch haben wir zu respektieren.«

»Sicher, Muttchen. Ich frage ja auch nicht Papa, sondern dich«, sagte Marianne mit entwaffnender Logik.

Frau Melanie kämpfte mit sich. Sollte sie ihrer angeborenen Wahrheitsliebe nachgeben oder ihrer anerzogenen Abneigung dagegen, irgend etwas ohne Wissen und Zustimmung des Gatten zu sagen oder zu tun? Endlich siegte doch ihre Wahrheitsliebe.

Sie fuhr fort, zu sticken, Stich auf Stich mit Seidengarn auf den vom Rahmen gespannten Batist zu legen. »Herrn von Ellerns Vater hat Papa beleidigt«, antwortete sie. »Er war – etwas zu galant gegen mich, als ich noch mit Papa verlobt war. Als Papa ihn deshalb zur Rede stellte, wurde Maximilian von Ellern handgreiflich. Papa blieb nach dem damals und auch noch heute herrschenden Ehrenkodex nichts anderes übrig, als Herrn von Ellern zu fordern.«

»Ein Duell? Erzähle weiter, Muttchen! Das ist ja riesig spannend.«

Frau Melanie schüttelte mit sanftem Vorwurf den Kopf. »Diese jungenhaften Ausdrücke höre ich gar nicht gern aus deinem Mund, Marianne. Ein Duell ist auch durchaus nicht spannend, sondern ein Ereignis von schwerwiegender Bedeutung.«

Marianne schluckte den Tadel hinunter. »Ja, Muttchen! Verzeih! Aber wie ist es denn ausgegangen? Ich meine das Duell. Wer hat gesiegt?«

»Bei einem Duell gibt es weder Sieger noch Besiegte.«

Frau Melanie war sehr ernst geworden. Die Hand, die die Nadel führte, zitterte leicht. »Dein Vater traf Herrn von Ellern an der Hüfte und verletzte ihn schwer. Herr von Ellern behielt davon ein steifes Hüftgelenk zurück. Dein Vater wurde nur an der Schulter gestreift. Das alles liegt schon fünfundzwanzig Jahre zurück. Herr von Ellern war damals bereits Witwer.«

Mariannes Atem ging schneller. Ja, fünfundzwanzig Jahre! Endlos lang kam ihr diese Zeitspanne vor. Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Aber, Muttchen! Leonhard von Ellern war doch damals erst fünf Jahre alt! Er hat doch mit der ganzen Sache nichts zu tun! Und der alte Herr ist tot. Ich verstehe nicht, warum Papa auch von Leonhard von Ellern nichts wissen will. Verstehst du es, Muttchen?«

»Es steht uns nicht zu, an deinem Vater Kritik zu üben. Vielleicht will er nicht an jenes schreckliche Ereignis erinnert werden. Wie dem auch sei: Du hast seine Einstellung zu respektieren.« Frau Melanie griff wieder nach der Nadel, wie um anzudeuten, dass sie nicht weiter über die Sache zu sprechen gewillt war.

Aber vor ihrem inneren Augen erschien das Bild eines schlanken dunkelhaarigen Mannes mit lachenden Augen: Maximilian von Ellern. Vielleicht war sie schuld daran gewesen, dass Karl Ludwig ihn zum Krüppel geschossen hatte? Nein, sie hatte den Charmeur Ellern nicht ermutigt, das gewiss nicht. Aber sie hatte seine Huldigungen auch nicht zurückgewiesen – jedenfalls nicht energisch und unmissverständlich genug. Vielleicht – Frau Melanie wagte den Gedanken kaum zu Ende zu denken – hatte sie sich sogar ein wenig gesonnt in der Wärme dieser bewundernden Blicke? Und wer weiß – wenn die Eltern die Verbindung mit Baron Born nicht so ausdrücklich gewünscht hätten, vielleicht wäre es dann der junge Witwer Maximilian von Ellern gewesen, dem sie die Hand fürs Leben gereicht hätte.

Ach, wozu darüber nachdenken? Es war fast ein Vierteljahrhundert seither vergangen. Der alte Ellern schlief seit sechs Jahren den Ewigen Schlaf in der Ellernschen Familiengruft. Frau Melanie dachte kaum mehr an jene Zeit voller Herzensnot zurück. Warum hatte das Kind all dies Begrabene wieder ans Licht zerren müssen?

*

Mein gutes Muttchen!

Du wirst schon wissen, was Dein ungeratener Sohn von Dir will, noch ehe Du das Kuvert geöffnet hast. Und Du hast recht, Muttchen – recht wie immer! Berlin ist ein teures Pflaster und Dein Egon ein schwaches Menschenkind. Aber lege Deine hübsche Stirn nicht in Sorgenfalten. Gestern, in der elendsten Katzenjammerstimmung, bin ich über mich selbst zu Gericht gesessen und habe das strengste Urteil über mich verhängt. Es lautet: kein Kartenspiel mehr in Zukunft! Es soll wirklich und wahrhaftig das letzte Mal sein, dass ich Dir, mein bestes Muttchen, Kummer bereite. Hilf mir nur noch diesmal aus der Patsche, Muttchen! Ich will mich bessern, so wahr ich ein unnützer Schlingel namens Egon Born bin!

Du hast mir bei meinem letzten Besuch so lieb ins Gewissen geredet. Aber sieh, Muttchen, eine Frau kann sich gar nicht vorstellen, was für Versuchungen ein lebenslustiger junger Mann – und nun gar ein Leutnant! – ausgesetzt ist. Da gibt es Kartenpartien, Zechereien, Bälle, Landpartien – ach, und noch so mancherlei, was uns lockt. Das Leben ist ja so köstlich – und man ist nur einmal jung. Später einmal, wenn ich meinen Abschied genommen und meine Zelte für immer in Bornhagen aufgeschlagen habe, werde ich mich gewiss zu einem Muster aller Tugenden mausern. Dann soll selbst mein gestrenger Herr Papa nichts mehr an mir auszusetzen haben.

Du meinst, ich solle mich an Vater wenden und Dich nicht zu meiner Komplizin machen, wie Du es ausdrückst. Aber sieh, Muttchen, ich weiß ja, dass Papa mir helfen würde. Doch diese Hilfe wäre verpackt in tausend Ermahnungen und Vorwürfen – und ein Heer von Befehlen käme hintendrein. Ist es so unbegreiflich, dass ich mich dem zu entziehen trachte? Papa ist sehr gut, aber auch sehr eigensinnig. Ihn von einer vorgefassten Meinung abzubringen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Vielleicht wäre ich schon längst für immer nach Bornhagen zurückgekehrt, wenn ich nicht wüsste, was mich dort erwartet. Viel Gutes, Muttchen, gewiss, aber auch manches Unerträgliche. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, aber für Papa werde ich ewig der kleine Junge im weißen Röckchen bleiben, dessen Bild auf Deinem Tisch steht. Frag nur die Ditscha. Ich bin sicher, sie empfindet genauso wie ich. Der Muck freilich, Papas Hätschelkind, hat noch nichts davon zu kosten bekommen. Darum fällt es ihm auch leicht, sich unterzuordnen.

Was als Pumpbrief begonnen hat, ist nun eine Abhandlung geworden. Ich muss zum Dienst. Der Herr Oberst wird heute zur Inspektion erwartet.

Hilf, Muttchen!

Dein Dich liebender Sohn Egon.

P.S. Es sind zweihundert Euro.

Mit einem tiefen Seufzer ließ Frau Melanie diesen Brief sinken. Sie schalt sich eine schwache Mutter, weil es ihr unmöglich war, dem Sohn ernstlich zu zürnen. Sie sorgte sich um ihn, grollte ihm wohl auch zuweilen – aber böse konnte sie ihm nicht sein.

War er doch ihr Herzblatt, ihr Goldjunge, ihr Stolz! Freilich – bewusst gab sie keinem ihrer drei Kinder den Vorzug vor den anderen. Dazu war Frau Melanie viel zu gerecht. Aber der Sohn wird dem Herzen der Mutter naturgemäss immer am nächsten stehen. Sie mag es drehen und wenden wie sie will: er ist es, an dem sie mit ganzem Herzen und ganzer Seele hängt.

Zweihundert Euro! Und wieder Spielschulden! Und was schrieb er über den Vater?

Papa ist sehr gut, aber auch sehr eigensinnig. Und: Vielleicht wäre ich ja längst nach Bornhagen zurückgekehrt, wenn ich nicht wüsste, was mich dort erwartet.

So ein Frechdachs!

*

Baron Born durchschritt den weiträumigen Flur und stieg über die Treppe in das obere Stockwerk empor, wo die Mädchen ihre Zimmer hatten.

An Ditschas Tür klopfte er, rasch und hart, und trat unmittelbar darauf ein.

In ihm lebte noch der alte, patriarchalische Grundsatz, dass Kinder vor ihren Eltern keine Geheimnisse haben durften. Also wartete er Ditschas Aufforderung, einzutreten, erst gar nicht ab.

Ditscha blickte von dem Buch auf, aus dem sie gelernt hatte.

Zwischen ihren Brauen erschien eine feine Falte. Überfälle liebte Ditscha gar nicht. Sie klappte das Buch zu und erhob sich.

»Du wünschst, Papa?«, fragte sie beherrscht.

»Schon wieder über den Büchern?« Born trat näher und las den Titel. »Der gallische Krieg. Was ist das? Was soll das? Ist das die passende Lektüre für ein junges Mädchen?«

»Es ist jedenfalls interessanter als die Bücher, die wir in der Pension zu lesen bekamen«, antwortete Ditscha kühl.

»Interessant!«, wiederholte Born in abfälligem Ton. »Du solltest dich lieber auf deinen Beruf als Frau und Mutter vorbereiten, statt deinen Kopf mit unverdaulichem Zeug vollzustopfen! Das hier ist etwas für Jungen.«

»Warum?« Ditscha warf die Lippen auf. »Warum bloß für Jungen? Ich kenne Jungen, die im Gymnasium immer gerade nur mit knapper Not durchrutschen! Egon zum Beispiel! Wir Mädchen sind nicht dümmer als die Jungen. Man traut uns nur leider nicht zu, dass wir ebenso viel oder mehr zu leisten vermögen!«

Born lief rot an. »Weißt du, wie du redest? Wie diese grässlichen englischen Weiber – wie nennt man sie nur?«

»Suffragetten, Papa«, antwortete Ditscha ruhig. »Ich finde sie übrigens nicht so grässlich, sondern ganz vernünftig. Sie wollen das Unrecht abschaffen, das uns, den Frauen, seit Jahrhunderten angetan wird.«

»Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Born starrte die Tochter an, die in kämpferischer Haltung vor ihm stand und ihm unerschrocken die Stirn bot. »Du redest dieser Bewegung das Wort, die nur darauf abzielt, die alten Grundfesten der Familie, Zucht und Ordnung, zu erschüttern. Schämst du dich nicht?«

»Nein, Papa!«, entgegnete Ditscha fest. »Aber du brauchst nicht zu fürchten, dass ich auf die Barrikaden steige. Ich beanspruche für mich nur das Recht, das du mir nicht verweigern würdest, wenn ich ein Junge wäre: mich mit dem zu beschäftigen, was mich interessiert und wofür ich begabt bin. Egon durfte Soldat werden. Warum erlaubst du mir nicht, dass ich mich weiterbilde?«

»Warum? Warum?« Born schlug mit der Hand auf den Tisch. »Weil es einer Frau nicht wohl ansteht, ihre ureigenste Aufgabe zu vernachlässigen und sich statt dessen in gelehrten Kram zu verbohren! Ein Mann will keine Schulmeisterin heiraten, sondern eine Frau, die seinem Haus vorsteht und seinen Kindern Mutter ist.«

»Und wer sagt dir, dass ich Lust habe, einen Mann zu heiraten, der so gering von der Frau denkt, dass er sie in Küche und Kinderstube verbannt und ihr kein freies geistiges Leben zu führen erlauben wird?« Hochaufgerichtet stand das Mädchen vor dem Vater. Ihre Augen blitzten, und ihre Wangen brannten. »Nie – hörst du: nie! – werde ich eine solche Ehe eingehen! Wenn ich überhaupt je heirate, dann nur einen Mann, der in mir nicht die Sklavin, sondern die gleichgestellte Gefährtin sieht.«

»Du dummes, unreifes Ding!«, wetterte Born. »Sieh deine Mutter an, dieses Vorbild wahrer Weiblichkeit! Willst du etwa behaupten, dass sie ein Sklavendasein führt?«

»Hast du Mama jemals eine freie Meinung zugestanden?«, fragte Ditscha zurück. »Sie lebt doch gar nicht ihr Leben, sondern unseres, das deine und das ihrer Kinder. Was weißt du überhaupt von ihr, von ihren geheimen Gedanken, Wünschen und Sehnsüchten?«

»Du Grünschnabel!«, wetterte Born. »Du wagst es, an die Ehe deiner Eltern zu rühren? Ist dir denn nichts heilig? Ich sehe schon, dass ich dich bisher viel zu sanft angefasst habe. Aber künftig werden andere Seiten aufgezogen! Ab morgen wirst du dich mehr um die Wirtschaft und weniger um gedrucktes Zeug kümmern, verstanden? Ich werde mit deiner Mutter beraten, was zu deiner hausfraulichen Weiterbildung zu geschehen hat. Die alte Christel soll dich in die Lehre nehmen, damit du dich endlich mit vernünftigen Dingen zu beschäftigen lernst. Und wenn du mir noch einmal so frech entgegentrittst, stecke ich dich in eine Haushaltungsschule, damit dir die Mucken ausgetrieben werden!«

Born verließ das Zimmer. Die Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloss.

Nun war es auch um Ditschas Beherrschung geschehen. Sie sank auf den Sessel und barg das Gesicht in den Händen. Schluchzen schüttelte ihren Körper.

»Warum – warum bin ich nur als Mädchen auf die Welt gekommen?« Sie stieß es wütend hervor. »Wäre ich doch ein Junge! Dann wüsste ich, was ich zu tun hätte.«

*

»Kochen soll ich lernen!« Ditscha rief es mit dem Ausdruck abgrundtiefer Verzweiflung. »Kochen! Was sagen Sie dazu, Axel?«

Der junge Mann verbiss sich das Lachen. Bei allem aufrichtigen Mitgefühl, das er für Ditscha empfand, war doch sein Sinn für Humor stark genug entwickelt, um ihn den drolligen Beiklang aus Ditschas Ausdruck heraushören zu lassen.

»Was ich dazu sage, Fräulein Ditscha? Ja nun – dass es auch für eine Jüngerin Äskulaps nicht von Nachteil ist, wenn sie die edle Kochkunst beherrschen lernt«, erwiderte er launig. »Und dass ich mich schon jetzt darauf freue, die erste Probe Ihrer Kunst zu verkosten! Ich bin nämlich durchaus kein reiner Geist, Fräulein Ditscha, sondern den leiblichen Genüssen rechtschaffen zugetan. Wenn es wahr ist, dass ein voller Bauch nicht gern studiert, dann ist es ebenso wahr, dass auch ein knurrender Magen kein guter Lehrmeister ist. Kochen Sie immerhin, Fräulein Ditscha, kochen Sie! Ich werde schon dafür sorgen, dass die Wissenschaft darüber nicht zu kurz kommt.«

Ditscha stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ach, Axel!«, sagte sie. »Was täte ich ohne Sie? Sie verstehen es, allem die beste Seite abzugewinnen! Als ich herkam, war ich so verzweifelt, und nun ist …«

»Verzweifelt – wegen des Kochens? Aber, Fräulein Ditscha!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht nur deshalb! Für so dumm müssen Sie mich nicht halten, Axel! Aber dass Vater so wenig Verständnis für mich hat, so wenig Einfühlungsvermögen …«

»Er stammt aus einer anderen Zeit, Fräulein Ditscha.«

»Ihr Vater auch, Axel, und doch … Er hätte Ihnen gewiss nichts in den Weg gelegt, wenn es Ihr Wunsch gewesen wäre, Jurist oder Ingenieur zu werden oder auch Künstler. Er denkt zuerst an Ihr Glück. Aber Papa …«

»Fräulein Ditscha!«, mahnte Axel Lowitz. »Sie werden doch nicht Gericht halten über Ihren Vater?«

Ditscha errötete tief.

»Sie haben Recht, Axel!«, gab sie zu. »Ich sage so häßliche Sachen – verzeihen Sie mir. Ach, Sie wissen ja ganz gut, dass ich meinen Vater liebe. Aber deswegen kann ich doch nicht alles gutheißen, was er sagt und tut! Wenn er an meine freie Verantwortlichkeit appellieren würde – ich würde alles für ihn tun, glauben Sie mir! Aber als Untertanen behandeln lasse ich mich nicht. Ich will mein Leben leben, nicht das meiner Eltern! Ist das sehr schlecht von mir, Axel?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf. Seine Augen ruhten mit warmem Ausdruck auf ihrem stolzen Antlitz. »Wie könnte von Ihnen etwas Schlechtes kommen, Fräulein Ditscha«, sagte er fast leidenschaftlich.

Wieder errötete das Mädchen. »Sie haben eine allzu gute Meinung von mir, Axel!«, entgegnete sie nicht ohne Befangenheit. »Mein alter Pastor Windmöller sagte immer, ich dürfe dem Hochmutsteufel keine Macht über mich einräumen. Daran will ich künftig denken. Aber, nicht wahr,

Axel …«, sie blickte ängstlich zu ihm auf. »Vater kann nicht von mir verlangen, dass ich einen Mann heirate, den er mir als Gatten bestimmt?«

Axel Lowitz’ sonnengebräuntes Gesicht wurde um einen Schein blasser.

»Hat er das denn verlangt?«, stieß er mit rauher Stimme hervor.

Ditscha schüttelte langsam den Kopf.

»Nein, Axel, aber es sähe ihm ähnlich! Er ist so fest davon überzeugt, dass nur er weiß, was uns Kindern zu unserem Besten dient, dass er sich nicht scheuen würde, unsere Ehepartner zu bestimmen. Davor ist mir manchmal etwas bang. Denn nie würde ich einen Mann heiraten, den ich nicht von ganzem Herzen lieben und achten kann und von dem ich nicht weiß, dass er mich ebenso liebt wie ich ihn.«

Axel Lowitz trat einen Schritt zurück! Verwirrung spiegelte sich auf seinen klaren, ausdrucksvollen Zügen.

»Natürlich, Fräulein Ditscha«, murmelte er, »so soll es auch sein!«

»Ja, nicht wahr?« Ditscha holte tief Atem. Ihre blauen Augen tauchten in die des jungen Mannes.

Plötzlich lag etwas wie eine geheime Spannung in der Luft.

Die beiden jungen Menschen, wie Geschwister miteinander aufgewachsen, sahen einander an – und es war, als sähen sie einander zum ersten Mal. Als wäre ein Schleier zerrissen, der ihre Gefühle bisher verhüllt hatte.

Endlich fragte Axel gepresst: »Haben Sie Ihre Bücher mitgebracht, Fräulein Ditscha?«

»Ja, hier sind sie«, antwortete Ditscha mit unsicherer Stimme.

Beide griffen danach. Und über dem »Gallischen Krieg« und dem »Lexikon der Lateinischen Sprache« begegneten sich ihre Hände.

*

In straffer Haltung schritt der Leutnant Egon von Born durch die Berliner Tiergartenstraße.

Immer wieder hob er grüßend die Hand an die Schläfe. Obwohl er Zivil trug, sah man ihm den kaiserlichen Offizier schon von weitem an. Und viele bewundernde, kokett oder schüchterne Frauenblicke folgten ihm auf seinem Weg.

Das war verständlich. Egon von Born war eine auffallend stattliche Erscheinung.

Groß und schlank, mit einem feingeschnittenen Gesicht, das stark an das von Frau Melanie erinnerte, leicht gelocktem aschblondem Haar und einem kecken blonden Schnurrbärtchen, war er der Leutnant par excellence. Der elegante Gesellschaftsanzug kleidete ihn ebenso gut wie die Uniform.

Ab und zu griff er in die Tasche und befühlte ein längliches, in Seidenpapier eingeschlagenes Päckchen. Dann kräuselte jedes Mal ein erwartungsvolles Lächeln seinen Mund.

Als er zuletzt in der Villa Barby zu Besuch gewesen war, hatte die schöne Nadine immer wieder von einem bestimmten Fächer geschwärmt, den sie im Schaufenster eines bekannten Luxusartikelhändlers Unter den Linden entdeckt hatte.

»Einfach himmlisch! Elfenbein und echte Brüsseler Spitzen! Wie geschaffen für meine neue Balltoilette! Aber Papa will ihn mir nicht spendieren. Denken Sie nur, Baron Egon, so herzlos kann ein Vater sein! Ich werde den alten Straußenfederfächer zum Spitzenkleid tragen müssen, ist das nicht entsetzlich?«

Und dazu hatte sie ihn mit ihren großen schwarzen Augen angesehen, dass ihm noch bei der bloßen Erinnerung daran heiß wurde.

Ob es stimmte, was in den Berliner Salons gemunkelt wurde? Dass die Barbys – Oberst von Barby, seine Gattin Antoinette, geborene Fleury, und beider Kinder, Rittmeister Alexander von Barby und Nadine – nur mehr einen Schritt vom Abgrund des völligen finanziellen Ruins entfernt waren?

Ach was, Geschwätz, dachte Egon. Wer ein Haus führt wie die Barbys, der kann nicht so schlecht gestellt sein! Fast jeden Tag Gäste, jede Woche eine Soiree, ein kleines Jeu im Roten Salon, eine Schlittenpartie, ein Kostümball – Alexander hat sich erst neulich wieder ein fabelhaftes Pferd zugelegt – und Nadines Toiletten sind die elegantesten von ganz Berlin. Die Leute mit ihrem bösartigen Klatsch! Neidisch sind sie, weiter nichts.

Wieder griff er in die Tasche und lächelte. Nadine würde sich freuen. Kleine Aufmerksamkeiten schätzte sie über alles. Übrigens hatte ihn die »kleine Aufmerksamkeit« an die hundert Euro gekostet. Wie gut, dass

Muttchen für Nachschub gesorgt hatte.

Freilich – sie brauchte nicht zu wissen, dass ihre heimlichen Zuwendungen fast alle in irgendeiner Form den Weg in die Barbysche Tiergartenvilla nahmen. Aber er war nun einmal bis zur Tollheit verliebt in die reizende Nadine und dachte ernstlich daran, sie zu seiner Frau zu machen. Wenn er dem Großstadtleben schon früher oder später ade sagen musste, wollte er wenigstens ein Stückchen der großen Welt mit sich in die Mark nehmen, eben in Gestalt der kapriziösen Nadine.

Mit ihr halte ich es sogar in Bornhagen aus! dachte er.

Mittlerweile war er am Tor der Villa Barby angelangt und zog an der Klingelschnur.

Ein alter Diener mit weißem Backenbart öffnete.

»Guten Abend, Herr Baron!«, grüßte er ehrerbietig. »Darf ich um Herrn Barons Hut und Handschuhe bitten?«

»Abend, Theodor«, erwiderte Egon. »Viele Gäste da?«

»Ziemlich viele, Herr Baron. Graf Tollen, Oberleutnant von Rietz, Major Janda, Freiherr von Zülch, Herr von Ellern …«

»Der auch?«, entfuhr es Egon unmutig. »Jawohl, Herr Baron. Darf ich Herrn Baron melden?«

»Lassen Sie, Theodor! Ich muss doch noch … Es ist gut, ich brauche Sie nicht mehr. Den Weg finde ich schon.«

Egon zog ein silbernes Bürstchen aus der Brusttasche, um Haar und Bart den letzten Schliff zu geben.

»Wie Herr Baron empfehlen. Die Herrschaften sind im Roten Salon.«

Der Diener zog sich mit einer Verbeugung diskret zurück.

Egon zupfte verärgert an seiner seidenen Krawatte. Ellern – immer Ellern! Warum blieb er nicht dort, wohin er gehörte: auf Ellernried? Kaum eine Woche verging, in der er nicht in Berlin – und leider auch im Hause Barby – auftauchte, von Nadine jedes Mal mit dem schmelzenden Lächeln empfangen, mit dem sie alle ihre Verehrer bedachte.

Egon war sehr missgestimmt auf einmal. Seine Freude war wie weggeblasen.

Eigentlich hatte er nichts gegen den Mann. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, da er die Abneigung seines Vaters gegen den Gutsnachbarn innerlich borniert genannt hatte. Doch nun begann er in Ellern einen höchst unbequemen Rivalen zu sehen. Warum musste Ellern auch mit den Barbys verwandt sein! Es war freilich nur eine sehr weitläufige Verwandtschaft, aber sie genügte doch, um ihm das Haus der Barbys zu öffnen.

Egon seufzte. Er vergewisserte sich nochmals, dass das Päckchen mit dem Fächer an seinem Platz lag, und durchschritt dann die teppichbelegte Halle in der Richtung, aus welcher der Klang fröhlicher Stimmen kam.

Sein Herz klopfte rascher, als er die Klinke niederdrückte. Gleich darauf stand er im Roten Salon, der seinen Namen der bordeauxfarbenen Damastbespannung der Wände verdankte. In den gläsernen Glaslüstern brach sich regenbogenfarbig das Licht.

Aber noch heller strahlte das Lächeln Nadine von Barbys, die im Kreis ihrer Anbeter »Hof hielt«.

*

Die Barbys waren Angehörige der französischen Kolonie. Franz – oder, wie er sich lieber nennen ließ: Francois von Barby, war nur von kleinem Adel, seine Gattin, Antoinette Fleury, eine ehemals wohlhabend gewesene Seidenhändlerstochter, die sich seinerzeit in den schönen, wenn auch armen Offizier verliebt und ihm eine beachtliche Mitgift in die Ehe mitgebracht hatte.

Von diesem Vermögen lebten die Barbys offenbar noch jetzt. Sie führten ein großes Haus, gaben glänzende Gesellschaften und erfreuten sich besonders in Offizierskreisen größter Beliebtheit, wozu die berückend schöne Tochter des Hauses in nicht geringem Maß beitrug. Wer sich amüsieren, glänzend speisen und die besten Weine trinken wollte, der kam bei Barbys auf seine Rechnung.

Nadine von Barby trug ein tiefausgeschnittenes dunkelrotes Atlaskleid, das ihre prachtvollen Schultern und Arme freiließ. Ihr rabenschwarzes Haar war nach der neuesten Mode frisiert. In ihren kleinen, wohlgeformten Ohren funkelten diamentene Tropfen an hauchzarten Goldfäden, die jede Bewegung ihres Körpers mitmachten. Ihr porzellanblasser Teint ließ die schwarzen Augen noch größer und schwärzer erscheinen.

Nadine von Barby war im Augenblick unstreitig die Schönheit des Viertels, vielleicht der ganzen Stadt. Dabei war sie, bei genauerem Hinsehen, keineswegs schön im Sinne klassischer Regelmäßigkeit der Züge. Ihre Stirn war nicht sehr hoch, ihre Nase allzu kurz und der Mund um eine Spur zu üppig. Alles zusammen ergab jedoch im Verein mit ihrem lebhaften Mienenspiel ein Antlitz von unwiderstehlich pikantem Reiz.

»Da ist er ja!«, rief sie Egon entgegen und reichte ihm mit verführerischem Lächeln die Hand zum Kuss. »Sie Böser – so spät zu kommen! Ich muss mir noch eine Strafe für Sie ausdenken!«

»Was Ihnen sicher nicht schwerfallen wird, mein gnädiges Fräulein«, ergänzte Leonhard von Ellern mit feinem Spott.

Nadines schwarze Augen blitzten.

»Wie meinen Sie das? Bin ich so hart gegen meine Freunde, Herr von Ellern?«, fragte sie kokett.

Fürstenkrone Classic 42 – Adelsroman

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