Читать книгу Der kleine Fürst Classic 37 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 3

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»Du bist also ernsthaft in sie verliebt?«, fragte Marius von Kleberg seinen Freund Gero von Gahlen.

Dieser nickte, freilich mit düsterem Gesicht. »Leider. Aber die Sache ist vollkommen aussichtslos, Marius.«

»Das sagst ausgerechnet du? Ich kenne keinen größeren Frauenhelden unter der Sonne als dich, Gero!«

»Das war vielleicht so, als ich Ludovica noch nicht kannte«, entgegnete Gero niedergeschlagen. »Aber seit ich mich in sie verliebt habe, hat sich mein Leben von Grund auf verändert. Ich kann nicht mehr schlafen, ich habe keinen Appetit mehr, und meine Arbeit leidet darunter, dass ich nur noch an sie denken kann.«

»Ja, aber wo ist denn das Problem?«, rief Marius. Er war gerade erst von einer längeren Reise zurückgekehrt und daher noch nicht wieder auf dem Laufenden. »Sag ihr, was du für sie empfindest, und dann wirst du schon sehen, ob sie deine Gefühle erwidert oder nicht.«

Gero lächelte gequält. »Diese Phase haben wir schon hinter uns, Marius. Wir waren ungefähr zwei Wochen lang sehr verliebt ineinander, ich war buchstäblich im siebten Himmel, obwohl mehrere Leute mich gewarnt haben, mein Glück würde nicht von langer Dauer sein. Und genauso ist es dann ja auch gekommen.«

»Wie konnten denn andere Leute wissen, wie sich eure Beziehung entwickelt? Entschuldige meine vielen Fragen, aber mir scheint, ich verstehe einfach den Kern der Sache nicht.«

»Vicky, also Ludovica, braucht ihre Freiheit, sie will sich nicht einengen lassen. Sobald sie das Gefühl hat, dass ein Mann es ernst mit ihr meint, trennt sie sich von ihm – bei dem einen passiert das früher, beim anderen später. Von mir hat sie sich getrennt, als ich ihr einen Heiratsantrag gemacht habe.«

»Nach zwei Wochen?«, fragte Marius. »Du hast ihr nach zwei Wochen einen Heiratantrag gemacht? Wieso denn nur? Du kanntest sie doch praktisch überhaupt noch nicht.«

»Ich wusste, dass es für mich keine andere Frau mehr geben würde.« Geros Stimme klang leicht pathetisch.

»Aber wenn du wusstest, dass sie dazu neigt, davonzulaufen, wenn es ernst wird: Wie konntest du ihr dann einen Heiratsantrag machen?«

»Ich dachte natürlich, ich sei die große Ausnahme, Marius! Die berühmte Ausnahme von der Regel!«

Marius schwieg erst einmal, um nichts Unbedachtes zu sagen. Schließlich fragte er vorsichtig: »Und jetzt? Willst du den Rest deines Lebens damit zubringen, dieser Vicky nachzutrauern?«

»Vermutlich«, murmelte Gero.

»Das glaubst du doch selbst nicht!« Marius verlor die Geduld. »Herrje, ausgerechnet du, Gero!«

»Das hast du schon einmal gesagt!« Geros Stimme klang vorwurfsvoll. »Aber du kannst das eben nicht nachvollziehen, du warst ja noch nie in dieser Situation. Ich weiß jedenfalls, was ich fühle. Ich werde sie nie vergessen.«

Marius beschloss, sich zu diesem Thema erst einmal nicht mehr zu äußern. Man musste ein wenig Zeit vergehen lassen und Gero die Gelegenheit geben, sich wieder zu fassen. Doch er hatte die Rechnung ohne seinen Freund gemacht, denn Gero wollte über nichts anderes reden, als über Gräfin Ludovica von Schönbrunn, genannt Vicky. Er schwärmte von ihrer außergewöhnlichen Schönheit, ihrer stolzen Haltung, ihrer Klugheit, Belesenheit, Vielsprachigkeit, Eleganz; er pries ihren Charme, ihr sicheres Auftreten, und er hätte wohl noch lange so weitergemacht, wenn Marius ihn nicht irgendwann unwirsch unterbrochen hätte: »Es reicht, Gero. Sie ist offensichtlich nicht von dieser Welt, das habe ich jetzt begriffen.«

»Sie hat nur einen einzigen Fehler«, erwiderte Gero. »Sie ist hochmütig, Marius. Niemand ist ihr gut genug, weil sie genau weiß, wie großartig sie ist.«

»Damit gehört sie dann zu der Art von Menschen, die ich meide wie die Pest«, stellte Marius fest. »Ich bin sehr froh, dass ihr kein Paar mehr seid, Gero, denn ich hätte sie mit Sicherheit nicht leiden können, und darüber wäre vielleicht sogar unsere Freundschaft in Gefahr geraten. So, wie es jetzt gekommen ist, ist es eindeutig besser.«

Gero warf ihm einen Blick zu, der Marius an den Hirsch erinnerte, den sein Vater einmal geschossen und tödlich verwundet hatte, als er, Marius, mit ihm auf die Jagd gegangen war. Er hatte seinen Vater kein zweites Mal begleitet, und Jäger war er auch nicht geworden. »Du denkst nur an dich«, klagte Gero, »aber wie es in meinem Inneren aussieht, das kümmert dich überhaupt nicht.«

»Doch, es kümmert mich sogar sehr, aber meine Lebenserfahrung sagt mir, dass du darüber hinwegkommen wirst – nach einiger Zeit. Du musst nur Geduld haben.«

»Geduld, Geduld«, sagte Gero. »Die hilft mir auch nicht weiter. Weißt du übrigens, wer ihr neuestes Opfer ist?«

»Natürlich nicht, woher soll ich das denn wissen?«

»Jo, der arme Kerl. Er hat keine Ahnung, was ihm bevorsteht.«

Johannes von Brahms war einer ihrer Freunde, ein liebenswürdiger, sehr kluger junger Mann.

»Er wird es überleben, genau wie du, Gero. Wollen wir noch einen Wein trinken?«

Gero war einverstanden. Er ließ dem einen Wein noch weitere folgen, so dass Marius ihn schließlich nach Hause fahren musste. Gero lebte allein, mit einer alten Haushälterin, die nur einen Blick auf den jungen Mann warf und dann murmelte: »Und alles nur wegen dieser Hexe! Hätte er sie doch bloß nie kennengelernt!«

Diese Worte gingen Marius noch im Kopf herum, als er die kleine Villa betrat, die er von seiner Großmutter väterlicherseits geerbt hatte und seit ihrem Tod bewohnte. Eins hatte seine Unterhaltung mit Gero jedenfalls bewirkt: Er war auf diese Gräfin Ludovica neugierig geworden.

*

»Du kannst jeden haben, Vicky, aber keiner ist dir gut genug«, stellte Alina von Schönbrunn fest, während sie ihrer Cousine Ludovica dabei zusah, wie sie verschiedene Hüte aufprobierte.

»Ja, und? Ist das schlimm?« Ludovica drehte sich zu Alina um. »Ich will eben den Besten.«

Alina seufzte. »Den gibt es doch gar nicht. Einer sieht blendend aus, dafür ist er nicht ganz so humorvoll. Der nächste hat Humor, ist aber nicht ehrlich und auch nicht ganz so schön. Menschen ohne Fehler gibt es nicht – du selbst hast schließlich auch welche. Ich verstehe nicht genau, was du eigentlich suchst.«

Ludovica schleuderte den Hut, den sie gerade in der Hand hielt, in einen Sessel und setzte sich neben ihre Cousine. Ihr ebenmäßiges Gesicht wurde von ausdrucksvollen dunklen Augen beherrscht, über die sich feine dunkle Brauen wölbten. Ihre Nase war schmal und gerade, ausgeprägte Wangenknochen gaben ihren Zügen etwas Eigenwilliges, Unverwechselbares. Ihren Mund mit den vollen Lippen konnte sie, wenn ihr etwas nicht gefiel, unwillig zusammenpressen, bis er kaum mehr als ein Strich war. In diesem Moment aber waren ihre Züge weich und offen. Alina war ihre Vertraute, die beiden Cousinen gingen wie Schwestern oder gute Freundinnen miteinander um.

Warum Ludovica, die sonst keine Freundinnen hatte, sich ausgerechnet mit Alina so gut verstand, darüber machte diese sich keine Illusionen: Sie stellte keine Gefahr für ihre Cousine dar. Alina war zwar hübsch, aber nicht schön. Sie war eine angenehme Erscheinung, dunkelhaarig wie Ludovica, doch nach ihr drehte sich auf der Straße niemand um, und wenn sie einen Raum betrat, wandten nicht alle Anwesenden die Köpfe, um sie bewundernd anzustarren. So aber erging es Ludovica, wo auch immer sie sich befand.

»Ich weiß auch nicht genau, was ich suche, Alina«, sagte Ludovica jetzt ganz freimütig. »Aber Männer, die mir praktisch aus der Hand fressen, kann ich doch nicht ernst nehmen!«

»Du meinst, dir müsste jemand Widerstand entgegensetzen?«, fragte Alina.

»Ja, so etwas in der Art«, murmelte Ludovica. »Wenn man zu viel bewundert wird, langweilt man sich. Ich kann diese Blicke von Männern, die mich anbeten, allmählich nicht mehr sehen.«

»Deine Probleme möchte ich haben«, erklärte Alina. »Ich wünschte, ich könnte mal so richtig baden in anbetenden Män­nerblicken – so wie du. Stattdessen übersehen sie mich einfach, jedenfalls wenn du in der Nähe bist.«

»Tut mir leid«, behauptete Ludovica, doch das entsprach, wie Alina genau wusste, nicht der Wahrheit.

Sie trug es mit Gelassenheit. Oder besser: Bisher hatte sie es mit Gelassenheit getragen. Doch das sah jetzt anders aus, seit ihr auf dem letzten Ball Johannes von Brahms vorgestellt worden war ...

»Ich treffe mich jedenfalls heute mit Jo«, sagte Ludovica in ihre Gedanken hinein.

Alinas Herz machte einen Satz. »Mit welchem Jo denn?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort wusste.

»Johannes von Brahms. Er ist immerhin klug und langweilt mich nicht mit irgendwelchen Geschichten von seiner letzten Reise. Ich mag ihn.«

»Und er betet dich wahrscheinlich an und landet bald da, wo all deine Verehrer über kurz oder lang landen«, stellte Alina fest. Sie hoffte, dass ihr nicht anzumerken war, wie sehr es sie traf, dass auch der Mann, den sie von Anfang an attraktiv gefunden hatte, zu den Verehrern ihrer Cousine zählte.

»Ja, sicher«, bemerkte Ludovica gelangweilt. »Verlieben könnte ich mich nie in ihn.«

»Warum gehst du dann mit ihm aus und machst ihm Hoffnungen, Vicky? Man spielt nicht mit den Gefühlen anderer Menschen!« Alina war unversehens heftig geworden, das hatte sie nicht unbedingt vorgehabt. Erschrocken verstummte sie.

Ludovicas Blick war voll grenzenloser Überraschung. »Ich spiele doch überhaupt nicht!«, sagte sie. »Ich finde den Mann nett, also gehe ich mit ihm aus. Mehr hat das nicht zu bedeuten.«

»Weiß er das auch?«

»Ich kann nicht in seinen Kopf sehen«, erklärte Ludovica und stand auf zum Zeichen dafür, dass sie das Gespräch nicht fortzusetzen wünschte. Kritik war sie nicht gewohnt. Sie ließ sich von Alina zwar einiges sagen, aber es gab Grenzen. Dennoch fühlte sie sich genötigt, noch einen Satz zu ihrer Verteidigung anzufügen: »Die Männer sind alle erwachsen, Alina, ich zwinge ja niemanden, mit mir auszugehen – und ich spiele auch niemandem Gefühle vor, die ich nicht habe.«

Alina biss sich auf die Lippen, sie wollte nichts mehr erwidern. Jede Fortsetzung ihres Gesprächs hätte unweigerlich zu einem Streit geführt – zu einem fruchtlosen Streit. Ludovica würde sich niemals ändern. Entweder sie akzeptierte das oder sie musste ihr die Freundschaft kündigen – doch dafür hatte sie ihre Cousine viel zu gern, all ihren Fehlern zum Trotz.

*

»Ich höre, man sieht dich mit Gräfin Ludovica«, sagte Olga von Brahms, als ihr Enkel Johannes sie eines Sonntags besuchte.

»Ja, ich war einige Male mit ihr essen«, erwiderte er. Als sie daraufhin schwieg, beugte er sich vor und griff nach ihren Händen. »Großmama, was ist los? Du hast doch etwas auf dem Herzen. Heraus damit.«

»Ich mache mir Sorgen um dich, das ist alles«, erklärte sie. »Die Gräfin hat einen ... gewissen Ruf, das weißt du hoffentlich?«

Er lächelte. »Du meinst den Ruf, dass sie alle Männerherzen bricht?«

»Ja«, antwortete sie mit Nachdruck. »Ich will nicht, dass sie dich unglücklich macht. Natürlich ist sie sehr schön, und ich verstehe, warum sie eine so große Anziehungskraft auf Männer ausübt, aber …«

Er unterbrach sie. »Ich habe nicht die Absicht, mich in sie zu verlieben, Großmama.«

Ihr Blick hätte erstaunter nicht sein können. »Du bist noch gar nicht in sie verliebt?«

»Nein, bin ich nicht. Ich finde sie attraktiv, das ist richtig, aber wenn ich ehrlich sein soll: Ich mag ihre Arroganz nicht. Sie denkt, dass sie allen überlegen ist – und Männer nimmt sie sowieso nicht ernst. Aber sie kann sehr amüsant sein, und deshalb habe ich die Abende mit ihr in guter Erinnerung.«

»Ach«, sagte Olga, »und ich dachte, ich müsste dich warnen.«

»Nein, musst du nicht. Außerdem werden wir uns nicht mehr treffen, es ist nämlich ein neuer Verehrer am Horizont aufgetaucht, der sich mächtig ins Zeug legt, und ich habe deshalb beschlossen, mich unauffällig zu­rückzuziehen. Sie wird es gar nicht merken, schätze ich.«

»Da bin ich aber froh!«, rief Olga. »Wenn du wüsstest, wie beunruhigt ich war, als ich las, dass man euch zusammen gesehen hat.«

»Das ist auch so ein Punkt«, sagte Johannes. »Wo sie geht und steht, wird sie fotografiert – das wäre nichts für mich, Großmama. Du weißt, ich brauche meine Ruhe.«

Sie sah ihn forschend an. »Warum bist du denn überhaupt mit ihr ausgegangen, Jo?«

Er zuckte mit den Schultern. »Es hat sich eher so ergeben«, antwortete er nach kurzem Nachdenken. »Ich glaube, sie hatte gerade nichts Besseres vor, und ich war in der Nähe – so ähnlich war das. Und ich hatte auch gerade nichts Besseres vor, außerdem war ich neugierig, wie sie wirklich ist. Man erzählt sich ja viele Geschichten über sie. Also, vergiss Ludovica, ja?«

»Gern«, antwortete Olga und fügte dann beiläufig hinzu: »Sie hat eine ganz reizende Cousine, hast du die auch kennengelernt?«

»Nein, nicht dass ich wüsste«, erklärte Johannes.

»Alina heißt sie.«

»Warte mal, warte mal – da war eine Alina, jetzt erinnere ich mich. So eine Zierliche mit einem runden Gesicht. Auch dunkelhaarig, aber sonst hatte sie überhaupt keine Ähnlichkeit mit Ludovica.«

»Das war sie! Ihr seid also nicht miteinander ins Gespräch gekommen?«

»Nein, irgendwie hatte ich plötzlich Ludovica neben mir, und dann habe ich mich nur noch mit ihr unterhalten. Aber ich erinnere mich jetzt wieder an Alina.« Sie hatte ihn angelächelt, auf eine scheue, aber auch ein wenig spöttische Weise – und dann war sie verschwunden. Fragend sah er seine Großmutter an. »Wenn ich mit Alina ausginge, hättest du also nichts dagegen – obwohl es dieselbe Familie ist?«

»Das ist doch keine Frage der Familie!«, rief Olga. »Es ist eine Frage des einzelnen Menschen, Jo.«

Als er auf dem Heimweg war, nahm er sich fest vor, seine Bekanntschaft mit Alina von Schönbrunn beim nächsten Mal zu vertiefen. Es kam selten genug vor, dass seine Großmutter Sympathie für eine junge Frau äußerte – wenn sie es dann doch einmal tat, musste das ja seine Gründe haben.

*

»Alle fertig?«, fragte Baron Friedrich von Kant. »Können wir abfahren?«

»Konny fehlt noch«, antwortete Baronin Sofia nervös. »Dabei habe ich ihm gesagt, dass wir uns pünktlich auf den Weg machen müssen.«

»Konny ist doch immer unpünktlich«, stellte die dreizehnjährige Anna von Kant fest. »Das wisst ihr doch, Mama und Papa!«

Christian von Sternberg, Sofias Neffe und zugleich Cousin von Anna und ihrem älteren Bruder Konrad, ging zurück zum Hauptportal von Schloss Sternberg. »Ich sehe mal nach, wo er bleibt.«

»Ich bitte Sie, Prinz Christian, das kann ich doch übernehmen«, sagte Eberhard Hagedorn, lang­jähriger Butler auf Sternberg – und einer der besten Butler der Welt.

»Nein, nein, ich mache das schon, Herr Hagedorn.«

Mit diesen Worten betrat Christian das Schloss und lief dann, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, nach oben in den ersten Stock, wo die Privaträume der Familie lagen. »Konny, wir warten alle auf dich!«

Konrad erschien in der Tür seines Zimmers, hochrot im Gesicht. »Ist es schon so spät? Mist, verdammter! Ich habe mich mit Laura gestritten, und jetzt geht sie nicht ans Telefon. Mir ist die ganze Reise nach München verdorben, wenn wir uns nicht versöhnen. Es war alles meine Schuld, ich …«

Christian unterbrach ihn. »Du schreibst ihr im Auto eine SMS und entschuldigst dich«, sagte er. »Die SMS wird sie schon lesen – und jetzt komm endlich, Onkel Fritz ist kurz vorm Platzen.«

Konrad nickte und folgte seinem Cousin.

»Na, endlich!«, rief der Baron. »Was war denn los?«

Christian warf seinem Cousin einen schnellen Blick zu und entschloss sich, ihm zu helfen. »Probleme mit der Fliege«, sagte er. »Aber jetzt ist alles in Ordnung.«

»Das nächste Mal überlege ich es mir drei Mal, ob ich euch mitnehme, wenn wir in die Oper fahren«, brummte der Baron und nickte dem Chauffeur zu. »Wir können!«

Alle stiegen ein, die Limousine setzte sich in Bewegung. Konrad fing sofort an mit seiner SMS an Laura von Wredeburg, seine Freundin. Es wurde, stellte Christian fest, eine längere SMS.

Anna, die sonst beharrlich Fragen stellen konnte, wenn sie etwas herausfinden wollte, hatte sich von einem beschwörenden Blick Christians davon abhalten lassen. Er würde ihr später alles erzählen.

Endlich schickte Konrad seine Nachricht ab. Die Antwort erreichte ihn wenig später in dem Augenblick, als der Chauffeur zur Münchener Oper abbog. Konrad strahlte über das ganze Gesicht, während er las, was Laura ihm geschrieben hatte, und Christian wusste: Der Abend war gerettet.

*

Es war eine glanzvolle Premiere von Verdis »La Traviata« in der Münchener Oper, zu der sich viel Prominenz eingefunden hatte. Auch Reporter und Journalisten waren zahlreich vertreten. In den bunten Blättern würde stehen, wer mit wem erschienen war, welche Damen die aufregendsten Kleider und kostbarsten Schmuckstücke getragen hatten und wer mit wem freundschaftlich umgegangen war – oder eben nicht.

Als Ludovica am Arm ihres derzeitigen Begleiters, Graf Ernst zu Stolberg, vor der Oper aus dem Wagen stieg, flammten die Blitzlichter auf. Sie lächelte strahlend, dann schritt sie mit hoch erhobenem Kopf auf den Eingang zu. Auch im Foyer wurde ihr große Aufmerksamkeit zuteil, die sie entgegennahm wie eine Königin die Huldigungen ihrer Untertanen. Von Alina, die mit ihrer gemeinsamen Großmutter Liliane von Schönbrunn ebenfalls im Wagen gesessen hatte, nahm kaum jemand Notiz.

»Das ist sie«, sagte Gero leise zu Marius. »Die große Dunkelhaarige, die gerade hereingekommen ist. Du musst zugeben, sie sieht hinreißend aus.«

Marius kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn in diesem Augenblick trat Johannes von Brahms auf sie zu. »Ihr seid also auch hier«, stellte er fest, nachdem er sie begrüßt hatte, »schön, euch mal wiederzusehen. Wer fasziniert dich denn so, Gero?«

Gero, ertappt, drehte sich sofort um. »Ach, niemand«, behauptete er.

Doch Johannes ließ sich nicht täuschen. Er war Geros Blick gefolgt und hatte ohne große Mühe die richtigen Schlüsse gezogen. »Bist du etwa auch einer von Ludovicas Fans?«, fragte er.

»Leider«, brummte Gero. »Ich versuche, die Frau zu vergessen. Und du?«

»Kein Fan«, stellte Johannes lächelnd fest.

Marius betrachtete ihn neugierig. »Du scheinst eine Ausnahme zu sein.«

»Bin ich. Und du?«

»Ich kenne sie bisher nicht, nur den Ruf, der ihr vorauseilt.«

Johannes lachte. »Ich glaube, sie ist stolz darauf. Ach, seht mal, wer dort kommt!«

Die beiden anderen drehten sich um. »Die Sternberger!«, rief Marius. »Das ist ja eine richtig schöne Überraschung. Kommt, wir müssen sie unbedingt begrüßen.«

Es gab ein großes Hallo, als die drei jungen Männer, die zu den regelmäßigen Besuchern auf Schloss Sternberg zählten, die Familie von Kant und Christian von Sternberg begrüßten. »Und vollzählig seid ihr!«, stellte Marius fest. »Ist das dein erster Opernbesuch, Anna?«

Die Dreizehnjährige schüttelte den Kopf. »Mein zweiter«, gestand sie dann. »Aber in einer Premiere war ich noch nie. Ich wusste nicht, dass das so ein Unterschied ist. Als ich das erste Mal in der Oper war, sahen die Leute nicht so elegant aus wie heute.«

Es klingelte bereits, und so machten sie sich auf den Weg zu ihren Plätzen. »Wir sehen uns hoffentlich in der Pause«, rief die Baronin ihnen noch zu.

»Der kleine Fürst ist ganz schön groß geworden«, stellte Johannes fest, als sie weitergingen. »Ob er den Namen wohl noch lange behält? Chris ist jetzt fünfzehn. Wenn er volljährig wird, ist er der nächste Fürst von Sternberg. Da können sie ihn doch nicht mehr ›der kleine Fürst‹ nennen.«

»Bis dahin fließt noch viel Wasser die Isar hinunter«, erwiderte Marius. »Jetzt jedenfalls halten die Leute an diesem Kosenamen noch fest, und er gefällt ihm auch, das hat er mir selbst einmal gesagt.«

»Er wirkt ernst für sein Alter«, meinte Gero. »Aber wenn man mit fünfzehn beide Eltern verliert, muss man wohl sehr schnell erwachsen werden.«

Christians Eltern, Fürstin Elisabeth und Fürst Ludwig von Sternberg, waren Monate zuvor bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen. Seitdem lebte er in der Familie seiner Tante Sofia – aber weiterhin auf Schloss Sternberg, da Sofia und Friedrich mit ihren Kindern schon vor langen Jahren dorthin gezogen waren, des engeren Familienzusammenhalts wegen.

»Er hält sich tapfer, sagen Sofia und Fritz«, berichtete Marius. »Ich wollte demnächst mal wieder hinfahren. He, Jo, was ist los?«

»Ich suche jemanden«, murmelte Johannes. »Ich muss da rüber, wir sehen uns später. Bis dann.«

»Das glaube ich ihm nicht«, sagte Gero, als Marius und er ihre Plätze einnahmen.

»Wovon redest du?«

»Dass er kein Fan von Ludovica ist. Ich kenne keinen einzigen Mann, der sich nicht in sie verliebt hat – da wird doch Jo nicht gerade die Ausnahme sein, oder?«

»Gero, Gero«, seufzte Marius, »wann schlägst du dir endlich diese Frau aus dem Kopf?«

Statt einer Antwort vertiefte sich Gero in das Programmheft, und das war gut so, denn in diesem Augenblick erschien Gräfin Ludovica, die einen Platz in der ersten Reihe hatte. Marius konnte sie sich also in aller Ruhe ansehen, und er stellte fest, dass Gero zumindest in der Beschreibung ihres Äußeren nicht übertrieben hatte: Sie war von atemberaubender Schönheit.

*

Als die letzte Arie der sterbenden Violetta verklungen war, hatte Alina Tränen in den Augen. Musik übte auf sie häufig diese Wirkung aus – ebenso wie Filme, wenn sie ihr zu Herzen gingen. Dann saßen die Tränen locker. Schon oft hatte ihre Cousine sie deshalb aufgezogen. Ludovica weinte nie, weder im Kino noch in der Oper. Und, vermutete Alina, auch sonst nicht.

Sie tupfte sich verstohlen über die Augen. Zum Glück saß ihre Großmutter zwischen ihr und Ludovica, so dass sie hoffen konnte, ihre Cousine würde die Tränen nicht bemerken. Bis das Licht im Saal anging, hatte sie sich jedenfalls wieder gefasst.

»Es war wundervoll, nicht wahr?«, flüsterte Liliane ihr zu.

Alina sah, dass sie ebenfalls feuchte Augen hatte und nickte stumm.

Der Beifall war überwältigend. Alina hörte auf, die Vorhänge zu zählen, es waren jedenfalls sehr viele. »Wundervolle Stimmen«, sagte ihre Großmutter. »Ich bin froh, dass ich euch begleitet habe, obwohl ich Premieren immer ein wenig anstrengend finde.«

»Wieso denn, Omi?«, fragte Alina, während der Beifall langsam verebbte.

»Ach, bis man sich in Schale geworfen hat und einigermaßen zufrieden mit seinem Äußeren ist«, seufzte Liliane, »das kostet in höherem Alter doch sehr viel mehr Zeit als früher.«

Alina lachte und gab ihr einen Kuss. »Du siehst klasse aus für dein Alter, Omi, du musst dich wirklich nicht verstecken.«

»Ich danke dir, mein Kind.«

Ludovica beugte sich herüber. »Wir essen noch eine Kleinigkeit, ja? Ernst hat einen Tisch reservieren lassen.«

»Fein«, sagte Liliane erfreut, »die Musik hat mich richtig hungrig gemacht.«

Als Alina aufstand, sah sie wenige Reihen hinter sich Johannes von Brahms im Gespräch mit zwei jungen Männern, von denen ihr einer vage bekannt vorkam. Er sah aus wie einer von Ludovicas Begleitern der letzten Zeit. Den anderen kannte sie nicht.

Hastig wandte sie den Blick ab, sie wollte nicht dabei überrascht werden, wie sie Johannes von Brahms anstarrte. Aber die wenigen Sekunden hatten genügt, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie war erst zwei oder drei Mal verliebt gewesen in ihrem Leben, sie hatte nicht viel Erfahrung, was die Liebe betraf. Hoffentlich konnte sie Johannes von Brahms schnell wieder vergessen. Wenn eine Sache aussichtslos war, musste man sie am besten umgehend beenden, das wusste sie. Und dieser attraktive junge Mann hatte bisher noch nicht einmal zur Kenntnis genommen, dass sie existierte – es war also höchst unwahrscheinlich, dass er sich in sie verlieben würde, auch wenn sich Ludovica offenbar nicht mehr mit ihm traf.

»Was ist denn, Kind?« Liliane drehte sich zu ihr um. »Was stehst du da und träumst?«

»Ich träume nicht, Omi!«, behauptete Alina und beeilte sich, ihrer Großmutter zu folgen. Ludovica und Ernst waren bereits nicht mehr zu sehen.

*

Es war Zufall, dass Marius beobachtete, wie Gräfin Ludovica ihr Opernglas liegen ließ, nachdem Graf zu Stolberg ihr in die elegante Abendjacke geholfen hatte. Er widerstand dem Impuls, sich einfach nicht darum zu kümmern – das wäre nicht nett gewesen. Eigentlich hatte er keine große Lust, sie anzusprechen. Nach allem, was er von Gero gehört hatte, war sie keine Frau, deren Bekanntschaft er gern machen wollte.

Er überwand sich dennoch, nahm das Opernglas an sich und sagte, bevor die Gräfin und ihr Begleiter das Gebäude verließen, höflich: »Verzeihung, ich glaube, Sie haben das hier liegen lassen.«

Ludovica drehte sich um und sah ihn verwundert an. Sicherlich vermutete sie einen der zahlreichen Tricks, mit denen Männer versuchten, ihre Bekanntschaft zu machen. Dann sah sie das Opernglas in Marius’ Hand. »Oh, vielen Dank«, sagte sie. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Ihr Lächeln war gewinnend, ihre Augen lockten ihn, sich vorzustellen und ihr zu zeigen, wie beeindruckt er von ihr war. Marius fühlte Ärger in sich aufsteigen. Mit mir machst du deine Spielchen nicht, dachte er. »Bitte sehr, das war doch selbstverständlich«, erwiderte er mit kühlem Lächeln, deutete eine knappe Verbeugung an, drehte sich um und kehrte zurück ins Foyer, wo Gero ihn bereits aufgeregt erwartete. »Was sollte das denn? Plötzlich warst du weg – und dann sehe ich dich mit Ludovica reden. Was hat sie gesagt? Weiß sie, dass du mit mir hier bist?«

»Gero, es ging überhaupt nicht um dich, entschuldige bitte. Sie hatte ihr Opernglas liegen lassen. Ich habe es ihr gegeben, das war alles. Können wir jetzt gehen?«

Gero schluckte, dann nickte er. »Jo hat gefragt, ob wir noch eine Kleinigkeit essen gehen wollen. Was meinst du?«

»Nichts dagegen«, erwiderte Marius.

Gleich darauf kam Johannes, und sie verließen die Oper. Marius war in sich gekehrt und hörte nicht zu, was seine Freunde redeten. Er ärgerte sich über sich selbst: Er hatte sich nicht beeindrucken lassen wollen von Ludovica, doch nun musste er feststellen, dass es ihm nicht gelang, sie wieder aus seinen Gedanken zu vertreiben.

Das passte ihm nicht. Es passte ihm ganz und gar nicht.

*

Auf Schloss Sternberg klingelte das Telefon. Eberhard Hagedorn meldete sich, aber er kam nicht einmal dazu, seinen Namen ganz auszusprechen, als er auch schon von einer aufgeregten Männerstimme unterbrochen wurde. »Herr Hagedorn, hier ist Strobel, ich muss unbedingt den Herrn Baron sprechen. Ich weiß, es ist schon sehr spät, aber die Sache duldet keinen Aufschub!«

Der Blick des alten Butlers glitt unwillkürlich zu der großen Standuhr an der Wand gegenüber – es war bereits nach elf Uhr abends. Er wartete darauf, dass die Herrschaften aus München zurückkehrten, aber er wusste, dass das noch gut und gern eine Stunde dauern konnte. »Ich bedauere, Herr Strobel«, erwiderte er höflich, »aber die Frau Baronin und der Herr Baron sind noch unterwegs.«

»Er hat wieder zugeschlagen, Herr Hagedorn!« Klaus Strobel war Oberförster in dem Waldgebiet, das zu Schloss Sternberg gehörte, und Eberhard Hagedorn wusste leider nur zu genau, was diese Worte bedeuteten: Seit einiger Zeit machte ein Wilderer die Wälder unsicher. Der Oberförster erregte sich weniger über den Verlust, der dadurch entstand, als vielmehr über die Art und Weise, wie der Mann das Wild erbeutete: Er erlegte es nämlich nicht mit einer Kugel, sondern er stellte Fallen auf, die die Tiere verletzten und vor ihrem Tod unnötig leiden ließen. Klaus Strobel war dem Mann schon öfter direkt auf den Fersen gewesen, doch in letzter Minute war er ihm immer wieder entwischt.

»Ich habe zwei Fallen gefunden, eine war leer, in der anderen quälte sich ein kapitaler Hirsch, den ich töten musste. Es ist Tierquälerei, was dieser Mann macht, Herr Hagedorn.«

»Und Sie sind sicher, dass er allein ist, Herr Strobel? Es könnten doch auch mehrere sein.«

»Der ist ein Einzelgänger, das weiß ich so sicher, als hätte er mir bereits seinen Namen verraten!«, rief der Förster. »Wann erwarten Sie den Herrn Baron zurück, Herr Hagedorn?«

Der Butler traf seine Entscheidung innerhalb von Sekunden. Er wusste, dass Baron Friedrich in diesem Fall mit Sicherheit sofort informiert werden wollte – selbst nach einem Opernbesuch. »Wenn Sie sich herbemühen würden, Herr Strobel?«, fragte er höflich. »In spätestens einer Stunde dürften die Herrschaften wieder hier sein – und ich denke, der Herr Baron würde gern persönlich mit Ihnen sprechen.«

»Ich mache mich gleich auf den Weg, vielen Dank, Herr Hagedorn.« Es klickte, damit war das Gespräch beendet.

»Schlechte Nachrichten, Herr Hagedorn?«

Der Butler drehte sich um. Es war Marie-Luise Falkner, die junge Köchin, die ihm diese Frage gestellt hatte. Er nickte. »Der Wilderer hat wieder zugeschlagen, Herr Strobel war sehr aufgeregt.« Er berichtete ihr, was der Förster ihm erzählt hatte.

»Wozu macht der das?«, fragte Marie-Luise. »Können Sie mir das mal erklären? Wenn er Jäger wäre, könnte ich es noch verstehen, obwohl er sich auch dann strafbar machen würde. Aber diese grässlichen Fallen, die die Tiere verletzen …« Sie schüttelte den Kopf. »Hoffentlich kann man ihm bald das Handwerk legen.«

»Ja, das hoffen wir alle.«

»Ich habe Kaffee gekocht – möchten Sie einen? Ich weiß ja, dass Sie nicht zu Bett gehen, bevor die Herrschaften zurück sind.«

Eberhard Hagedorn lächelte die junge Frau erfreut ein. »Einen Kaffee trinke ich sehr gern, Marie-Luise.«

Er folgte ihr in die Küche, wo sie ihr Gespräch fortsetzten.

*

»Ein ungehobelter Klotz!«, fauchte Ludovica. »Sich einfach umzudrehen und zu gehen, das gehört sich nicht.«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass er dir dein Opernglas wiedergebracht hat«, wandte Alina ein. »Ich finde das sehr nett von ihm – und sehr aufmerksam.«

»Danach hat er sich einfach umgedreht und ist wieder gegangen, das ist doch keine Art!« Ludovica konnte sich gar nicht beruhigen.

Es war schließlich Graf Ernst, der dem Wortwechsel ein Ende bereitete, indem er vorschlug: »Wir sollten uns auf den Weg machen. Oder bin ich etwa der Einzige, der hungrig ist?«

»Nein, das sind Sie nicht, lieber Graf«, sagte Liliane und schenkte ihm ein dankbares Lächeln, weil er zumindest versuchte, ihre verärgerte Enkelin auf andere Gedanken zu bringen. Ihr selbst war nicht entgangen, dass der Überbringer des Opernglases Ludovica tatsächlich bemerkenswert kühl behandelt hatte – er wusste offenbar, wer sie war, und er hatte ihr zeigen wollen, dass sie ihn nicht beeindruckte. Sie bedauerte, dass sie den Mann nicht kannte, sein Gesicht und seine Art, mit Ludovica zu reden, hatten ihr sofort gefallen.

Sie ließen sich also in das Restaurant bringen, in dem Graf Ernst einen Tisch reserviert hatte. Dort herrschte Hochbetrieb – offenbar hatten nicht wenige Premierengäste den gleichen Gedanken gehabt wie sie, denn sie erkannten etliche Gesichter wieder, die sie zuvor in der Oper gesehen hatten.

Ludovica blieb gereizt, und es wurde noch schlimmer, als eine Viertelstunde nach ihrem Eintreffen drei junge Männer das Restaurant betraten – zu ihnen gehörte der ›ungehobelte Klotz‹. Da die drei jedoch offenbar nicht reserviert hatten, wandten sie sich beinahe umgehend wieder zum Gehen. Der Blick des Mannes, der Ludovica das Opernglas zurückgebracht hatte, streifte sie gleichmütig – er schien sie nicht zu erkennen. Dann war er mit seinen Freunden auch schon wieder gegangen.

»Er ist mit Gero befreundet!«, sagte Ludovica. »Und mit Jo!«

»Von wem sprichst du, Kind?«, fragte Liliane erstaunt.

»Ich habe nur laut gedacht, Omi!«

Liliane lächelte in sich hinein. Sie sah mehr, als ihre Enkelinnen glaubten. Und so war ihr auch aufgefallen, dass Alina zuerst blass, dann rot geworden war, als die drei jungen Männer das Restaurant betreten hatten. Einer von ihnen gefiel ihr also, die Frage war nur: welcher?

Liliane bestellte vergnügt ein ganzes Menü. Sie hatte die Premiere genossen, und sie würde sich diesen Abend von niemandem verderben lassen.

*

»Das war toll!«, sagte Anna. »Ich habe geweint, ich konnte die Tränen einfach nicht zurückhalten.« Sie schielte zu ihrem Bruder hinüber, der diese Bemerkung normalerweise zum Anlass genommen hätte, sie aufzuziehen, doch zum allgemeinen Erstaunen gestand er: »Mir sind auch die Tränen gekommen. Ich wusste nicht, dass das so eine tragische Liebesgeschichte ist.«

Baronin Sofia und Baron Friedrich freuten sich über den Erfolg dieses Premierenabends, denn auch ihr Neffe Christian hatte sich bereits beeindruckt von den vergangenen Stunden gezeigt. Es war nicht einfach, Jugendliche heutzutage für die Oper zu begeistern, doch offenbar hatten sie den ersten Schritt erfolgreich getan.

Sofia gähnte verhalten. »Jetzt bin ich müde«, gestand sie.

»Sternberg kommt schon in Sicht, Frau Baronin«, sagte der Chauffeur. »In einer Viertelstunde sind wir oben.«

Sie legte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes. Die Limousine war äußerst geräumig, sie bot ihnen allen genügend Platz. »Das ist gut«, murmelte sie. »Ich könnte nämlich gerade so einschlafen.«

Das tat sie dann auch, doch als sie auf den Schlosshof fuhren, war sie mit einem Schlag wieder hellwach, denn der Baron stellte beunruhigt fest: »Da steht ein fremdes Auto auf dem Hof – wer kann das denn sein? Wir werden doch nicht unerwartet Besuch bekommen haben?«

»Das ist das Auto von Herrn Strobel«, stellte Christian fest. »Wenn er um diese Zeit hierhergekommen ist, kann das ja nur eins bedeuten, Onkel Fritz.«

»Der Wilderer!«, brummte der Baron. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Nimmt das denn kein Ende?«

Der aufgeregte Förster wurde in die Bibliothek gebeten – denn natürlich wollte niemand ins Bett gehen, ohne gehört zu haben, was Herr Strobel mitzuteilen hatte. Er beschrieb die beiden Fallen, die er ausfindig gemacht hatte, und Anna traten zum zweiten Mal an diesem Abend Tränen in die Augen, als er mit leiser Stimme erzählte, wie er den verletzten Hirsch getötet hatte.

»Ich brauche mehr Leute, Herr Baron, sonst kann ich den Mann nicht fangen. Immer wieder finde ich Spuren von ihm, aber wir sind zu wenige, um die alle zu verfolgen. Und ich habe keine ruhige Minute mehr, seit dieser Kerl da draußen sein Unwesen treibt, ich kann ja nicht einmal mehr richtig schlafen.«

Der kleine Fürst Classic 37 – Adelsroman

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