Читать книгу Der neue Dr. Laurin 20 – Arztroman - Viola Maybach - Страница 3

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»Weil Martin sich morgen in den Urlaub absetzt, während wir hier weiter schuften müssen, gibt er heute einen aus«, verkündete Jonas Schmieder mit lauter Stimme.

Fröhliches Geschrei antwortete ihm, und Martin Wiedemeyer wurde von mehreren Kollegen so kräftig auf die Schulter geklopft, dass er in die Knie ging. Jonas schenkte ihm sein breitestes, unschuldigstes Grinsen, denn er wusste ganz genau, dass Martin nichts Dergleichen vorgehabt hatte. Er würde sich bei Gelegenheit dafür rächen, dass sein Kollege und bester Freund ihn so überfahren hatte, nahm Martin sich vor.

Natürlich machte er gute Miene zum bösen Spiel, und so zog wenig später eine Gruppe von fünf Rettungssanitätern in die nahe gelegene Kneipe, zwei Frauen und drei Männer. Die Stimmung war gut, und Martin hatte sich bereits damit ausgesöhnt, dass Jonas ihn hereingelegt hatte. Ihr Dienst war meistens hart, sie sahen viel Leid und Elend, da musste man sich kleine Inseln schaffen, auf denen man sich wohlfühlte und vergessen konnte, was der Beruf an Belastungen mit sich brachte. Und wenn es ein Feierabendbier war – oder auch mehrere, denn darauf würde es heute natürlich hinauslaufen, das war ihm von Anfang an klar.

Letzten Endes gab er nicht nur eine Runde aus, sondern sogar drei. Ihm war plötzlich danach. Er fühlte sich gut. Bianca Sommer, die neue Kollegin, flirtete ein bisschen mit ihm, und er würde sich vielleicht darauf einlassen. Sie war sehr hübsch, und er war frei und ungebunden. Eigentlich fand er diesen Zustand ganz schön, er hatte in den letzten Jahren fast immer Freundinnen gehabt, aber es war nie die Eine dabei gewesen, mit der er gern zusammengeblieben wäre, um sein Leben mit ihr zu teilen. Aber er war ja noch jung, erst sechsundzwanzig, er hatte es nicht eilig.

Auch nicht mit Bianca. Das konnte warten bis nach seinem Urlaub. Erst einmal würde er in den Bergen wandern, sich nur draußen aufhalten, seinen Kopf durchlüften. Das hatte er nötig.

Ihre Kollegin Amelie Düringer war auch hübsch, aber eher auf die unauffällige Art, und sie war eine ganz Stille. Fachlich war sie erstklassig, aber er wurde nicht klug aus ihr. Immerhin war sie mitgegangen, das gefiel ihm.

Und dann war da noch Jasper Kobel, der immer für einen dummen Spruch gut war. Er redete zu laut, liebte schmutzige Witze und fiel schon mal aus der Rolle, wenn er ein Bier zu viel getrunken hatte, aber er hatte das Herz auf dem rechten Fleck und arbeitete, wenn es nötig war, bis zum Umfallen. Sie wussten, was sie an ihm hatten. Im größten Chaos war Jasper plötzlich der Fels in der Brandung, auf den sich die anderen hundertprozentig verlassen konnten.

Als sie sich von Bianca, Amelie und Jasper verabschiedet hatten, machten sich Martin und Jonas auf den Heimweg.

»Ich dachte eigentlich, du und Bianca …«, begann Jonas, doch Martin winkte gleich ab.

»Vielleicht später«, sagte er. »Jetzt habe ich Urlaub, da fange ich doch vorher nichts mit einer Frau an.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich dann ständig telefonieren und Nachrichten schicken muss, das kann ich jetzt nicht gebrauchen. Ich will überhaupt keine Verpflichtungen haben, wenn ich in den Bergen herumkraxele.«

»Du warst ein bisschen sauer vorhin, oder? Weil ich gesagt habe, dass du einen ausgibst?«

»Zuerst ein bisschen, dann fand ich es eigentlich nett. Aber rechne damit, dass ich mich bei Gelegenheit revanchiere.«

Jonas grinste. »Das war mir von Anfang an klar.« Er verstummte, und Martin ahnte, dass er etwas auf dem Herzen hatte, aber noch nicht wusste, wie er es ausdrücken sollte.

»Spuck’s aus«, sagte er, als ihm das Schweigen zu lange dauerte.

Jonas warf ihm einen schrägen Blick zu, er fühlte sich ertappt. »Du kennst mich zu gut, das finde ich unheimlich«, sagte er.

»Du kennst mich auch zu gut, wir sind also quitt. Nun sag schon, was dir zu schaffen macht.«

»Die Bianca … also, sie gefällt mir, und ich dachte, ich könnte versuchen, sie näher kennenzulernen, aber wenn du … Also, ich meine, sie steht auf dich, nicht auf mich, jedenfalls im Moment, aber wenn …« Jonas brach ab. Es kam selten vor, dass er um Worte verlegen war. Martin staunte, er hatte seinen Freund noch nie so erlebt.

»Dich hat es ja richtig erwischt«, stellte er fest. »Dass ich das noch erleben darf!«

»Sieht so aus«, gab Jonas verlegen zu. »Blöd, nicht? Ich habe ja die Blicke gesehen, die sie dir vorhin zugeworfen hat …«

»Die haben doch nicht viel zu bedeuten«, erwiderte Martin ruhig. »Du kennst das Spiel. Man testet zuerst mal, was geht. Gut, ich war nicht abgeneigt, aber ich bin nicht verliebt, überhaupt nicht. Sonst würde ich ja jetzt auch nicht sagen: Das kann warten. Wenn man verliebt ist, kann überhaupt nichts warten.«

»Du hast also nichts dagegen, wenn ich es mal versuche? Ich meine, vielleicht gelingt es mir ja, sie zu überzeugen, dass ich die bessere Wahl bin …« Jonas grinste schon wieder, was Martin sehr erleichterte.

»Meinen Segen hast du«, erklärte er betont feierlich. »Sie ist nett, und sie ist hübsch, und sie beherrscht ihren Job.«

»Na ja«, bemerkte Jonas betont gleichmütig, »wahrscheinlich will sie nichts von mir wissen, aber ich teste mal, wie meine Chancen stehen.«

»Ich bin gespannt, ob ich Bianca bei meiner Rückkehr morgens im Badezimmer begegne«, erwiderte Martin.

Jonas und er teilten sich eine Zweizimmerwohnung im Münchener Südwesten. Sie hatten Glück, die Miete war erschwinglich, und sie hatten nette Nachbarn im Haus, die die beiden jungen Männer wegen ihrer medizinischen Sachkenntnis zu schätzen wussten. Schon zwei Mal hatten sie Erste Hilfe geleistet, was ihr Ansehen im Haus stark hatte ansteigen lassen.

»Das wird nicht passieren«. versicherte Jonas. »Du kennst mich doch, ich bin in diesen Dingen nicht so schnell«,

Martin schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. Sie hatten es beide leicht bei den Frauen, aber während Martin sich wieder trennte, sobald ihn etwas störte, hielt Jonas eher an Beziehungen fest, weil er die Hoffnung nicht zu schnell aufgeben wollte. Seit einigen Monaten waren sie nun beide Singles. Aber während Martin dieser Zustand recht gut gefiel, machte er Jonas unruhig: Er wollte heiraten und Kinder haben, am liebsten drei oder vier, und er fand, bei diesen Plänen musste er früh anfangen. Nur fehlte ihm leider die Frau, mit der er sie hätte umsetzen können.

»Du machst das schon, Jo!«

Sie nahmen den Aufzug ins Dachgeschoss, wo ihre kleine Wohnung sich befand. Das Haus war schon dunkel und still, nur im zweiten Stock war noch Licht.

»Bleibt es dabei, dass du morgen nicht so früh aufbrichst?«, fragte Jonas.

»Auf jeden Fall, ich will ausschlafen, sonst habe ich ja schon gleich wieder Stresse, den brauche ich nicht.«

»Sehr gut«, seufzte Jonas. »Ich habe ja Spätdienst, also kann ich auch ausschlafen, und vielleicht frühstücken wir beide dann noch zusammen.«

»So gegen Mittag, schätze ich. Gute Nacht, Alter, träum schön von Bianca.«

Jonas zeigte seinem besten Freund eine unflätige Geste, sah aber ganz vergnügt dabei aus. Dann verschwand er in seinem Zimmer.

Als Martin im Bett lag, war ihm etwas schwindelig. Natürlich, er hatte eindeutig zu viel getrunken, aber das machte nichts. Er würde erst wieder aufstehen, wenn er sich ausgeschlafen fühlte, und dann würde er die Arbeit und alles, was damit zusammenhing, erst einmal hinter sich lassen.

Zufrieden rollte er sich auf die Seite und war im nächsten Moment eingeschlafen.

*

»Aber du hast gesagt, du kommst mit!« Jasmin Schaller war einigermaßen fassungslos und zeigte das auch deutlich.

Ihr Freund Severin Korte überspielte sein schlechtes Gewissen, indem er laut wurde. »Ja, ich weiß, dass ich das gesagt habe, aber ich bin ja kein Hellseher, der damals schon wusste, dass ich leider für einen Kollegen einspringen muss und dich nicht begleiten kann.«

»Und das weißt du erst seit heute? Das konntest du mir nicht schon etwas früher sagen?«

»Tut mir leid, dass ich es vergessen habe. Hey, Jasmin, jetzt mach kein Drama draus, okay? Deine Oma will sowieso vor allem dich sehen …«

»Darum geht es nicht.«

Jasmin war eine zarte Blondine, deren feines Gesicht von veilchenblauen Augen beherrscht wurde. Diese Augen waren es, die den meisten Betrachtern zuerst auffielen. Es war nicht nur die ungewöhnliche Farbe, die Aufmerksamkeit erregte, sondern auch der intensive Blick, mit dem Jasmin andere Menschen zu betrachten pflegte: ganz so, als versuchte sie, ihnen auf den Grund der Seele zu blicken. Genau so sah sie jetzt Severin an, der sich unter ihrem Blick mit jeder Sekunde unbehaglicher fühlte.

»Es geht darum«, fuhr Jasmin fort, »dass du mir erst so spät Bescheid sagst. Jetzt habe ich keine Möglichkeit mehr, den Besuch zu verlegen, und das weißt du auch ganz genau. Du hattest keine Lust, mit mir zu meiner Oma zu fahren, und hast deshalb nach einem Grund gesucht. Wahrscheinlich hast du dem Kollegen selbst angeboten, für ihn einzuspringen.«

Das kam der Wahrheit so nahe, dass Severin es vorzog, darauf nichts zu erwidern. Er hatte tatsächlich keine Lust gehabt, Jasmin zu ihrer Oma zu begleiten. Für ihn waren das langweilige Stunden in diesem Nest in den Bergen, die er lieber anderweitig verbringen wollte. Er hatte ohnehin wenig Freizeit, da brauchte er sich nicht auch noch lästige Besuche bei Leuten aufzuhalsen, mit denen er nicht einmal verwandt war. Jasmin zuliebe hatte er sie einige Male begleitet, aber er fand, der Aufwand war einfach zu groß. Also hatte er zwar nicht direkt angeboten, für seinen Kollegen einzuspringen, aber doch deutlich durchblicken lassen, dass es ihm nicht besonders viel ausmachen würde …

»Jetzt sei nicht mehr sauer«, sagte er. »Beim nächsten Mal komme ich ja wieder mit.«

Er ging zu Jasmin und umarmte sie. Zuerst machte sie sich steif, doch dann gab sie nach und ließ ihren Kopf an seine Brust sinken. »Ich bin trotzdem immer noch sauer«, ließ sie ihn wissen.

Er begann sie zu streicheln und zu küssen, aber damit kam er dieses Mal nicht durch. Sie befreite sich kurzerhand aus seiner Umarmung. »Ich muss packen«, sagte sie. »Ich bleibe über Nacht.«

»Du bleibst über Nacht? Seit wann das denn?«, fragte er verwundert. »Das war doch gar nicht geplant. Man kann sehr gut an einem Tag hin- und auch wieder zurückfahren.«

Sie ließ ihn nicht aussprechen, ihre schönen Augen blitzten ihn an und rieten ihm, besser den Mund zu halten. »Es war auch nicht geplant, dass ich allein fahre«, sagte sie. »Trotzdem ist es jetzt so. Mir ist das zu anstrengend an einem Tag, ich komme erst morgen zurück. Vielleicht auch erst am Wochenende.«

»Du hast doch morgen gar keinen Urlaub!«

»Doch, habe ich.« Sie funkelte ihn zornig an. Jasmin war Fremdsprachenkorrespondentin bei einer mittelständischen Firma. »Ich habe heute und morgen Urlaub genommen, weil ich dachte, dass wir beide vielleicht Lust hätten, noch in den Bergen zu bleiben.« Damit ließ sie ihn stehen.

Severin biss sich ärgerlich auf die Unterlippe. Sie war echt sauer, damit hatte er nicht gerechnet. Jasmin war der sanfteste Mensch, den er kannte, sie schaffte es einfach nicht, jemandem länger böse zu sein, besonders dann nicht, wenn er sich bei ihr entschuldigt hatte. Und das hatte er schließlich getan! Außerdem: Wieso hatte sie ihm nicht gesagt, dass sie zwei Tage Urlaub genommen hatte vor dem Wochenende?

Er sah auf die Uhr und fluchte. Höchste Zeit, dass er ins Büro kam. Er würde Jasmin später eine Nachricht schicken und sich noch einmal entschuldigen, dann würde sie sich schon wieder einkriegen.

Sein Abschiedsgruß wurde mit einem knappen Kopfnicken erwidert. Er entschied sich daraufhin, zu gehen und nicht sofort den nächsten Versöhnungsversuch zu unternehmen. Ganz offensichtlich brauchte sie noch Zeit, um sich wieder abzuregen.

Als er das Haus verließ, war seine Laune im Keller. Kein Mensch brauchte solchen Ärger – und schon gar nicht am frühen Morgen!

*

»Aber du fährst vorsichtig!«, sagte Frederik Strasser zu seinem Sohn Philipp. »Du hältst dich an die vorgegebene Geschwindigkeit, du trinkst keinen Tropfen Alkohol, und dein Smartphone ist während der Fahrt tabu!«

»Mann, Papa, das weiß ich doch alles, du musst mir das nicht vor jeder Fahrt erzählen.« Philipp hatte den Führerschein seit einem halben Jahr, und er war stolz darauf. Bei seinen ersten Fahrversuchen mit Führerschein hatte sein Vater darauf bestanden, ihn zu begleiten, mittlerweile vertraute er ihm immerhin so weit, dass er ihn kürzere Fahrten auch allein machen ließ. Philipp fehlte die Fahrpraxis, aber er verhielt sich, soweit seine Eltern das beurteilen konnten, am Steuer sehr vernünftig.

An diesem Tag wollte er mit dem Auto zur Schule fahren, um direkt von dort einen Freund zu besuchen, der außerhalb von München wohnte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln würde die Fahrt viel zu lange dauern, das hatte auch Philipps Vater Frederik eingesehen, und so schließlich die Erlaubnis erteilt. Sie hatten nur ein Auto in der Familie, einen Kleinwagen, wie er in einer Stadt mit fehlenden Parkplätzen sinnvoll war. Philipp war mit dem Wagen vertraut, und er würde vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein, so war es ausgemacht. Frederik würde ausnahmsweise mit der Bahn in sein Büro fahren.

»Können wir jetzt endlich fahren?« Philipps jüngere Schwester Mara stand an der Tür. Er würde sie mitnehmen zur Schule.

»Ja, könnt ihr«, sagte Frederik. »Also dann, gute Fahrt, ich muss jetzt los, mit der Bahn brauche ich ja etwas länger als sonst.«

»Danke, Papa!«

Frederik verließ das Haus, seine Frau war schon weg, sie arbeitete am liebsten frühmorgens. In ihrer Behörde gab es eine Gleitzeitregelung, die ihr entgegenkam. Sie war immer die Erste im Büro und daher auch die Erste, die nachmittags wieder nach Hause kam.

Wenig später brachen auch Philipp und Mara auf. Mara sagte kein Wort mehr, nachdem sie ihrem Bruder mitgeteilt hatte, dass sie gleich eine Mathearbeit schreiben würde, auf die sich nur höchst ungenügend vorbereitet hatte.

Er sagte nichts dazu. Mara war ein Superhirn, niemand konnte ihr das Wasser reichen. Selbstverständlich war sie die beste Schülerin ihrer Klasse, sie fühlte sich immer ungenügend vorbereitet, das war nichts Neues. Trotzdem schrieb sie nur Einsen.

Er war ganz froh darüber, dass sie keine Unterhaltung von ihm erwartete, er hatte eigene Probleme, die ihm zu schaffen machten. Die Fahrt zur Schule verlief ohne Zwischenfall, aber er musste noch die Sache mit Selina, seiner Freundin, in Ordnung bringen. Erst dann stand einem schönen Nachmittag bei seinem Freund Niko nichts mehr im Weg.

Selina war sauer auf ihn, sie hatten sich am Tag zuvor heftig gestritten, weil er über eine neue Schülerin in ihrer Klasse, Alissa, gesagt hatte, er fände sie sehr attraktiv – was der Wahrheit entsprach. Aber seine Äußerung war bei Selina nicht gut angekommen, zumal sie bemerkt hatte, dass er der Neuen mehrfach hinterhergesehen hatte.

»Sag doch gleich, dass du mit mir Schluss machen und mit Alissa gehen willst!«

»Das will ich doch überhaupt nicht! Meine Güte, darf ich andere Mädchen nicht einmal mehr ansehen und attraktiv finden?«

»Doch, das darfst du, aber nicht, wenn du darüber vergisst, dass ich auch noch da bin!«

So war das hin- und hergegangen, bis sie ihn zum Schluss einfach hatte stehen lassen. Er hasste es, wenn sie Streit hatten, das konnte er nicht gut aushalten, und Selina wusste das natürlich. Deshalb ließ sie ihn jetzt zappeln, was ihn wütend machte: Sie wollte ihm, so sah er es, den Nachmittag mit Niko verderben, denn dass er sich mit seinem Freund verabredet hatte, passte ihr auch nicht. »Immer sind dir andere wichtiger als ich«, hatte sie geklagt.

Sie war ihm wichtig, aber er schaffte es nicht, ihr zu sagen, dass er auch noch mit anderen zusammen sein wollte, nicht nur mit ihr. Warum mussten Mädchen so kompliziert sein?

Als er den Klassenraum betrat, war Selina schon da. Sie unterhielt sich lebhaft mit einem anderen Mädchen. Obwohl sie ihn sicher hatte hereinkommen sehen, machte sie keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen. Sie wandte sich sogar ab, als wollte sie ihn warnen, sie anzusprechen.

Auf einmal wurde er sauer. Er hatte nichts Falsches getan, und dafür sollte er sich schlecht behandeln lassen? Wenn sie nicht mit ihm reden wollte, dann sollte sie es eben lassen. Er würde ihr jedenfalls nicht hinterherlaufen.

In diesem Augenblick kam Alissa herein und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Er konnte gar nicht anders, als dieses Lächeln zu erwidern, und so kam Alissa direkt auf ihn zu. »Ich habe gesehen, dass du heute mit dem Auto zur Schule gekommen bist«, sagte sie. »Meine Eltern würden mir das nie erlauben, die haben viel zu viel Angst, dass ich einen Unfall baue.«

»Diese Angst haben meine auch, aber ich will nachher zu einem Freund rausfahren, das ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln viel zu umständlich.«

Er konnte förmlich spüren, wie ihn Selina mit Blicken aufspießte, aber er drehte sich nicht zu ihr um und bemühte sich auch nicht, das Gespräch mit Alissa abzukürzen.

Selbst schuld, dachte er, und dann kam Herr Fausing herein, und der Unterricht begann.

*

»Wie war‘s?«, erkundigte sich Dr. Leon Laurin, als er morgens die Kayser-Klinik betrat und zuerst auf den Notaufnahmechef Dr. Timo Felsenstein traf, der dafür, dass er Nachtdienst gehabt hatte, erstaunlich frisch und munter aussah.

»Ruhig, stell dir vor«, erwiderte Timo. »Ich würde beinahe sagen, dass ich ausgeruht bin. Ich habe mindestens drei Stunden schlafen können, die anderen auch. Ein paar harmlose Unfälle, eine jugendliche Komatrinkerin, die wir aber ziemlich schnell wieder hingekriegt haben, und ein Herzinfarkt. Keine Notoperationen, keine dramatischen Unfälle.«

»Freut mich für euch«, sagte Leon. »Dann sieh mal zu, dass du nach Hause kommst.«

Timo nickte. »Müde ich natürlich trotz der drei Stunden Schlaf, man rechnet ja immer damit, dass man gleich wieder aufstehen muss und schläft deshalb nicht so ruhig. Und du hast jetzt deine gynäkologische Sprechstunde?«

Leon warf einen Blick auf die Uhr. »Ja, sie fängt in einer Viertelstunde an.«

Er hatte zwei Facharztausbildungen gemacht, weil er sich nicht hatte entscheiden wollen, und so war er nicht nur Gynäkologe geworden, sondern auch Chirurg, und er legte Wert darauf, auf beiden Gebieten auch weiterhin tätig zu sein. Dass er außerdem noch die Klinik leitete, war nur möglich, weil er gelernt hatte, Aufgaben abzugeben und, wann immer möglich, im Team zu arbeiten. Das funktionierte bestens, auch weil in der Kayser-Klinik ausschließlich Menschen arbeiteten, die so dachten wie er, wenn es darum ging, wie Patientinnen und Patienten zu behandeln waren – und diese Vorstellungen betrafen nicht nur die ärztliche Versorgung, sondern auch Zuwendung und Fürsorge für die ihnen allen anvertrauten kranken Menschen.

»Dann trink noch einen Kaffee mit mir«, schlug Timo vor.

Leon willigte ein. Timo war ein Glücksgriff als Notaufnahmechef. Leon hatte lange nach jemandem gesucht, der die Station leiten könnte und war schon der Verzweiflung nahe gewesen, als sich Timo bei ihnen beworben hatte. Er war dann notgedrungen gleich ins kalte Wasser gesprungen, an einem Tag, an dem es in der Notaufnahme drunter und drüber gegangen war. Das war seine Bewährungsprobe gewesen, die er glänzend bestanden hatte. Noch keine Sekunde lang hatte Leon es bereut, Timo danach umgehend eingestellt zu haben.

Nach dem Kaffee eilte Leon in sein Büro, wo ihm seine Sekretärin Moni Hillenberg den Terminplan für die Sprechstunde vorlegte. Gleich den ersten Namen auf dem Plan kannte er nicht.

»Amelie Düringer«, las er, »Rettungssanitäterin.«

»Frau Düringer ist eine neue Patientin, sie ist erst vor kurzem nach München gezogen. Sie sitzt bereits im Wartezimmer, Chef.«

Leon nickte, nahm den Plan und begab sich in sein Sprechzimmer, das direkt neben dem Büro lag. Von dort aus bat er seine erste Patientin herein.

Eher unauffällig, dachte er, aber hübsch. Still, abwartend, ein bisschen schüchtern. Auf Rettungssanitäterin hätte er eher nicht getippt bei ihrem Anblick. Buchhändlerin, dachte er, hätte besser zu ihr gepasst.

Sie kam zur Vorsorge, erklärte sie ihm. Er stellte ihr noch ein paar Fragen, machte sich Notizen und untersuchte sie dann. Als er sich den Abstrich ansah, runzelte er die Stirn.

»Sie haben eine kleine Entzündung in der Scheide, Frau Düringer«, sagte er. »Bakterien, nichts Schlimmes, aber ich würde das gern noch einmal von einem Zytologen untersuchen lassen. Es kann sein, dass wir gar nichts unternehmen müssen, oft verschwinden solche Entzündungen von selbst wieder.«

»Kann das auch was Schlimmes sein?«, fragte sie beunruhigt.

»Das ist sehr unwahrscheinlich.« Noch einmal blickte Leon durch sein Mikroskop. »Nein, ich glaube nicht. Aber ich vergewissere mich lieber, dass die Kollegen das auch so sehen wie ich. Rufen Sie in ein paar Tagen noch einmal an, dann haben wir die Ergebnisse vorliegen. Vielleicht müssen Sie dann ein Medikament einnehmen.«

Sie nickte, aber er sah, dass sie noch immer beunruhigt war, und so redete er noch ein paar Minuten mit ihr, bis er merkte, dass sich ihre Anspannung löste.

Als sie gegangen war, bat er Moni Hillenberg, den Abstrich ins Labor zu schicken und es dringend zu machen. Er wollte die zarte Frau Düringer so schnell wie möglich von ihrer Angst befreien.

Schon zwei Stunden später war es so weit. Er rief seine Patientin persönlich an, um ihr zu sagen, dass die Laborergebnisse nichts Beunruhigendes ergeben hatten – und er konnte direkt hören, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel.

*

Antonia Laurin und ihre Kollegin Maxi Böhler genehmigten sich mit ihrer Praxisorganisatorin Carolin Suder den ersten Kaffee des Tages, als die Tür geöffnet wurde und ein Mädchen hereinkam, das ebenso gut dreizehn wie siebzehn Jahre hätte sein können.

Ein Mann begleitete sie. »Ich bin Taxifahrer«, erklärte er, »in der Schule hatte niemand Zeit, die Kleine hierher zu begleiten. Sie ist im Turnunterricht vom Barren gestürzt und hat sich wahrscheinlich den Arm gebrochen. Wenn Sie mir bitte bestätigen würden, dass ich sie ordnungsgemäß hier abgeliefert habe?«

»Ich bin doch kein Paket!« sagte das Mädchen empört. »Wie das klingt: abgeliefert! Und klein bin ich auch nicht! Ich hätte auch allein zum Arzt gehen können. Und überhaupt: Das hier ist eine Kinderarztpraxis, aber ich bin schon dreizehn!«

Während Carolin dem Taxifahrer die gewünschte Bestätigung ausstellte, hatten sich Antonia und Maxi kurz darüber verständigt, wer das Mädchen behandeln sollte. Da Maxis nächste Patientin bereits im Wartezimmer saß, übernahm Antonia den Fall.

»Dann komm bitte zu mir ins Sprechzimmer«, sagte sie freundlich. »Ich bin Dr. Laurin. Und wie heißt du?«

»Mara.« Das Mädchen war noch immer unwillig. »Mara Strasser.«

»Alles Gute für dich«, sagte der Taxifahrer, der sich zum Gehen wandte. »Und entschuldige, dass ich ‚Kleine‘ zu dir gesagt habe, kommt nicht wieder vor.«

Mara rang sich zu einer Erwiderung durch. »Danke, dass Sie mich gefahren haben«, sagte sie.

»Oh, das ist mein Job.« Er nickte noch einmal in die Runde, dann verschwand er.

»Erzähl mir mal, wie das passiert ist«, bat Antonia, nachdem sie Maras Arm vorsichtig untersucht hatte. Sie sah, dass das Mädchen starke Schmerzen hatte, denn Mara unterdrückte nur mit Mühe einen Aufschrei.

»Wir sollten so ‘ne blöde Übung am Barren machen, also, nur die, die gut sind am Barren, die meisten wissen überhaupt nicht, wie das geht.«

»Du aber schon.«

Mara nickte. »Ich bin in jedem Fach gut«, sagte sie. Es klang ganz ruhig und selbstbewusst, nicht angeberisch. »Aber im Sportunterricht muss ich mich ziemlich anstrengen, weil mir das nicht so liegt. Ich bin mehr so der Bücher- und Computertyp, Bewegung ist eigentlich nicht mein Ding. Aber ich will ja auch nicht fett werden oder krank, deshalb mache ich das trotzdem.«

Antonia fand das Mädchen erstaunlich. Mara klang viel älter als sie war, nichts an ihr wirkte kindlich. Dabei schminkte sie sich nicht wie viele andere ihres Alters es bereits taten, und sie trug auch keine Kleidung, die sie erwachsener aussehen ließ. Aber allein die Art, wie sie sprach …

»Und was ist dann passiert am Barren?«

»Genau weiß ich das auch nicht. Ich wollte aus einem Handstand mit einem Sprung abgehen, aber ich bin irgendwie hängengeblieben und ganz blöd aufgekommen. Ich wusste sofort, dass ich mir was gebrochen habe.« Mara unterbrach sich. »Wie lange wird das hier dauern? Ich will so schnell wie möglich zurück in die Schule.«

»Immer langsam«, erwiderte Antonia ruhig. »Der Arm muss geröntgt werden, es könnte ja sein, dass ein Knochen gesplittert ist oder so. Erst wenn wir wissen, wie der Bruch aussieht, können wir entscheiden, wie wir ihn behandeln müssen.«

»Behandeln? Ich dachte, da kommt ein Gips drum, und fertig. Zum Glück ist es der rechte Arm, ich bin Linkshänderin, also kann ich fast alles machen.«

»Richte dich bitte darauf ein, dass dein Schultag für heute beendet ist«, sagte Antonia ruhig. »Und entspann dich mal, Mara. Wenn du so weitermachst, hast du mit siebzehn dein erstes Magengeschwür.«

Große, fragende runde Augen richteten sich auf sie. »Wieso das denn?«

»Es ist toll, dass du leistungsbewusst und zielstrebig bist, das gefällt mir. Aber ab und zu muss man sich auch einfach mal treiben lassen, sonst kommen wichtige Dinge zu kurz. Auch der Geist braucht Erholungspausen, genau wie der Körper. Vielleicht hast du dich zu sehr unter Druck gesetzt und deshalb eine falsche Bewegung am Barren gemacht. Nimm diesen Unfall als Hinweis darauf, dass du insgesamt vielleicht ein bisschen weniger Gas geben solltest. Du hast gesagt, du bist der Bücher- und Computertyp. Welche Bücher liest du denn?«

»Zuerst die, die ich für die Schule brauche, natürlich. Und dann … alles, was ich kriegen kann. Am liebsten lese ich naturwissenschaftliche Bücher. Chemie und Physik sind meine Lieblingsfächer, die studiere ich später auch mal, und dann gehe ich in die Forschung.«

»Du liest also keine Romane, Geschichten, Gedichte?«

»Das ist doch sentimentaler Quatsch, dafür habe ich keine Zeit, daraus lernt man nichts. Ich habe alles von Goethe gelesen, aber ich kann damit nicht viel anfangen. Mit Shakespeare auch nicht. Das hat nichts mit der Welt von heute zu tun.«

»Du irrst dich, aber darüber reden wir später weiter, jetzt röntgen wir zuerst mal deinen Arm.«

Mara sah verwirrt aus. Sie hatte sich offenbar den Besuch bei einer Kinderärztin vollkommen anders vorgestellt.

*

»Ich muss los«, sagte Jonas.

»Ich auch«, grinste Martin.

»Zu sagen, ich wäre nicht neidisch auf dich, wäre eine glatte Lüge. Zwei Wochen Urlaub …«

»Hab ich mir verdient, Alter. Ich war auch neidisch, als du im Sommer nach Portugal geflogen bist.«

»Das ist doch schon ewig her!«

»Na und? Neidisch war ich trotzdem. Grüß die anderen von mir, und denkt ab und zu mal an mich.«

»Du schreibst mir ja und schickst mal ein paar Fotos,«

Sie umarmten sich, dann verließ Jonas die Wohnung. Sie hatten über eine Stunde gemeinsam gefrühstückt, es war sehr gemütlich gewesen.

Martin räumte den Tisch ab, bevor er in sein Zimmer ging. Die Sachen für den Urlaub hatte er zum Glück schon in den letzten Tagen in seinen Rucksack gepackt. Er stopfte noch die Zahnbürste und den Rasierapparat dazu, sah sich noch einmal um, ob er auch nichts vergessen hatte, und zog dann fröhlich pfeifend die Wohnungstür hinter sich zu.

Er würde eine Weile brauchen, um aus München herauszukommen, aber er war ja nicht in Eile, er musste heute kein Ziel mehr erreichen. Wenn ihn die Lust verließ, würde er sich ein billiges Zimmer irgendwo auf dem Land suchen und seine Fahrt erst am nächsten Tag fortsetzen. Zwei Wochen Urlaub!

Er setzte sich ans Steuer seines ziemlich alten Kleinwagens, der ihn treu und brav seit Jahren begleitete und immer ans Ziel gebracht hatte. Wie erwartet kam er innerhalb der Stadt nur langsam voran, aber er hatte sich ohnehin bereits entschieden, die Autobahn zu meiden. Er würde zunächst über Landstraßen fahren, das war landschaftlich interessanter, und so lange es noch hell war, guckte er sich auch vom Auto aus gern die Gegend an.

Er legte eine CD ein, drehte die Lautstärke auf und fuhr an der Auffahrt zur Autobahn vorbei. Schon bald wurde der Verkehr dünner, er kam gut voran.

Und heute Abend würde er sich in einem Landgasthof eine deftige Mahlzeit gönnen!

*

Jasmin hatte sich Zeit gelassen, bevor sie losgefahren war. Das hing, gestand sie sich irgendwann ein, damit zusammen, dass sie immer noch hoffte, Severin werde plötzlich wieder nach Hause kommen.

»Natürlich fahre ich mit dir zu deiner Oma, das hatte ich dir doch versprochen …« So oder so ähnlich stellte sie sich das vor, bis sie sich schließlich klar machte, dass er gar nicht daran dachte, zurückzukommen. Schließlich hatte er sich die größte Mühe gegeben, sich um diese Fahrt zu drücken, und das war ihm ja auch gelungen. Und wenn er für einen Kollegen eingesprungen war, konnte er auch nicht einfach wieder gehen.

Also schnappte sie sich ihre Reisetasche und warf noch einen Blick durch die Wohnung, bevor sie diese verließ. Sollte sie Severin noch eine Nachricht schreiben? Nein, entschied sie, auf keinen Fall. Es wäre an ihm gewesen, sich bei ihr zu melden, aber er markierte jetzt natürlich den starken Mann. Sie merkte, wie sie schon wieder zornig wurde. Manchmal fragte sie sich, ob Severin wirklich der Richtige für sie war. Es gab einiges an ihm, das sie störte. Sie hatte sogar den Eindruck, dass es mit der Zeit immer mehr Dinge wurden, die ihr unangenehm auffielen.

Schluss jetzt, befahl sie sich selbst, denn sie hatte nicht vor, sich die Fahrt zu ihrer Oma durch solche Gedanken verderben zu lassen. Sie liebte ihre Oma, und die liebte sie, denn Jasmin war ihr einziges Enkelkind. Und da ihr Vater gesundheitlich sehr angeschlagen war, so dass ihre Mutter viel mit ihm zu Ärzten fahren musste, blieb ihren Eltern zu wenig Zeit, um die Oma in ihrem Bergdorf regelmäßig zu besuchen. Aber ihre Oma wiederholte oft, dass sie sehr gut zurechtkam, sie hatte liebe Nachbarn, die sich im Notfall um sie kümmerten, und überhaupt: Auf dem Dorf war der Zusammenhalt der Menschen viel größer als in der Stadt.

Jasmin war gern bei ihr, jeder Besuch war wie eine Rückkehr in ihre Kindheit, denn früher hatte sie die Ferien oft bei Oma und Opa verbracht. Der Opa war vor einigen Jahren gestorben, aber ihre Oma war im Haus geblieben, und dort sah es noch so aus wie früher. Sobald Jasmin das Haus betrat, fühlte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Allein der Geruch, wenn sie die Haustür hinter sich schloss … Eine Mischung aus Kräutern, die ihre Oma im Garten zog und dann im Haus trocknete, und Orangen, die sie mit Nelken gespickt hatte. Selbst im Sommer, fand Jasmin, duftete das Haus irgendwie weihnachtlich. Für sie war es der schönste Duft der Welt.

Sie würde die Autobahn meiden, ohnehin fuhr sie lieber über Landstraßen. Schnell fahren konnte sie mit ihrem geliebten roten kleinen Auto ohnehin nicht, da war es doch besser, gleich die Landstraße zu nehmen, es war auch die schönere Strecke, auch wenn sie ein bisschen länger war. Aber irgendwann würde sie die Berge sehen können, und dann wusste sie, dass es nicht mehr lange dauerte, bis sie ihre Oma in die Arme schließen konnte.

Sie würde wieder viel essen müssen, denn ihre Oma war eine leidenschaftliche und sehr gute Köchin, die es liebte, ihre Enkelin nach Strich und Faden zu verwöhnen. Vielleicht, dachte Jasmin, könnte sie mit ihrer Oma auch über Severin reden und darüber, dass es einiges gab, was sie an ihm nicht mochte. Ihre Oma war eine gute Zuhörerin, und sie kannte sich mit Menschen aus.

Unwillkürlich ging Jasmin vom Gas, als ihr aufging, dass ihre Oma Severin gegenüber immer mit Zurückhaltung begegnete. Freundlich, das schon, das war sie von Natur aus, aber Jasmin wusste, wie es war, wenn ihre Oma jemanden richtig gernhatte.

Wieso war ihr das früher noch nie aufgefallen?

Sie beschleunigte wieder. Seltsam, auf welche Gedanken man kam, wenn man sein gewohntes Umfeld verließ und plötzlich einen freien Blick auf die umgebende Landschaft hatte!

*

Es war ein richtig blöder Schultag gewesen, dachte Philipp, als er sich in den Wagen setzte und auf den Weg zu Niko machte. Nikos Eltern waren vor einiger Zeit aufs Land gezogen, vorher waren Philipp und er unzertrennlich gewesen. Der Wegzug seines besten Freundes hatte bei Philipp tiefe Spuren hinterlassen, und er wusste, dass es bei Niko ähnlich war. Sie sahen sich seitdem nicht mehr oft, weil jedes Treffen jetzt mit einem erhöhten Organisationsaufwand verbunden war, aber beide hielten an ihrer Freundschaft fest. Philipp wusste, dass Niko sich noch immer fremd fühlte in seinem neuen Zuhause, und auch in der neuen Schule hatte er offenbar noch keine Freunde gefunden. Aber das würde sich mit der Zeit sicherlich ändern. Ein wenig fürchtete er sich davor, er wollte Niko nicht verlieren. Mit niemandem konnte er so gut reden, so offen, über jedes Thema, wie mit Niko.

Er brauchte ziemlich lange, bis er München hinter sich gelassen hatte. Als er endlich auf der Landstraße war, die ihn am Ende direkt in Nikos neuen Wohnort bringen würde, atmete er auf. Stadtverkehr fand er immer noch ziemlich anstrengend, weil man auf so viele Dinge gleichzeitig achten musste, Dagegen war das Fahren auf einer Landstraße direkt erholsam, jedenfalls, wenn man es nicht eilig hatte und dringend alle anderen überholen musste. Und eilig hatte er es zum Glück nicht. Natürlich war die Zeit mit Niko wichtig, aber auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es nicht an.

Er hörte Musik, fuhr nicht schneller als erlaubt und freute sich auf das Wiedersehen mit seinem Freund.

*

Mara Strassers Arm hatte operiert werden müssen, da es sich, wie die Röntgenaufnahme gezeigt hatte, nicht um einen glatten Bruch handelte, der nur gerichtet werden musste. Eckart Sternberg hatte diese Operation vorgenommen, sie dauerte nicht lang, es war ein eher kleiner Eingriff gewesen.

So sagte er es auch Maras Mutter Barbara, die sofort in die Klinik gekommen war, nachdem ihre Tochter sie angerufen hatte – noch vor dem Eingriff.

Der neue Dr. Laurin 20 – Arztroman

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