Читать книгу Der kleine Fürst Classic 39 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 3

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Langsam schlenderte der junge Graf Moritz von Anschau quer durch den Saal auf die junge Frau zu, die hoch aufgerichtet an einem der Fenster stand – freilich mit dem Rücken zur wunderschönen Aussicht, die sich von dort bot, denn Schloss Anschau, wo sie sich befanden, war von einem prächtigen Park umgeben.

Das Schloss, in dem die Familie des jungen Grafen seit Generationen lebte, würde vom kommenden Wochenende an interessierten Besuchern offenstehen: Die Grafen Anschau zeigten zum ersten Mal ihre bedeutende Kunstsammlung. An diesem Nachmittag freilich waren nur engere Freunde der Familie zugegen, sodass man Ruhe und Muße hatte, die einzelnen Kunstwerke auf sich wirken zu lassen.

»Du machst ein Gesicht, als quälte dich das alles hier sehr, Steffie«, sagte Moritz. Die Angesprochene war Prinzessin Stephanie von Zehlendorf, aber da sie sich seit Kinderzeiten kannten, nannte er sie noch immer so wie damals. Er lächelte bei seinen Worten, denn er wartete auf Widerspruch. Bisher hatte er von allen Gästen gehört, wie begeistert sie von der Kunstausstellung waren, wie sehr sie den Aufenthalt im Schloss seiner Eltern genossen. Undenkbar, dass ausgerechnet Stephanie, die Kunstbegeisterte, eine Ausnahme bildete.

Ihre Antwort überraschte und schockierte ihn daher. »So ist es, Mo, es quält mich. Ich wünschte, ich wäre zu Hause geblieben.«

»Wieso denn?«, fragte er. »Die meisten Bilder, die wir zeigen, hast auch du noch nie gesehen, obwohl du oft hier warst. Wir hatten sie auf dem Dachboden eingelagert …«

Sie unterbrach ihn. »Es geht doch nicht um die Bilder, Mo. Die sind großartig, ich habe mir einige davon angesehen, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren.«

Er sah sie ratlos an. »Worum geht es dann?«, fragte er.

»Sie wollen mich verkuppeln«, antwortete sie nach kurzem Zögern mit gedämpfter Stimme. »Wusstest du das?«

»Nein!«, antwortete Moritz verblüfft. »Und ich kann mir das auch nicht vorstellen. Wer denn? Und warum?«

Ihre Augen richteten sich forschend auf ihn, als wollte sie auf diese Weise herausfinden, ob er die Wahrheit sagte oder ihr etwas vormachte. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau mit feinen Zügen und eben diesen großen Augen von intensivem Blau, die das Erste waren, was jedem, der sie sah, sofort auffiel. Ihr Blick war so intensiv, dass Moritz sich schon manchmal gefragt hatte, ob sie vielleicht direkt in andere Menschen hineinsehen konnte. »Du weißt wirklich nichts davon?«, fragte sie.

»Ich höre das jetzt zum ersten Mal!«, beteuerte er. »Also: Wer will dich mit wem verkuppeln?«

Sie ließ den Blick durch den Saal schweifen. Auf der anderen Seite standen einige Besucher vor einem großformatigen Schlachtengemälde. Sie waren jedoch außer ihnen die einzigen Personen im Saal, und sie wirkten so versunken in die Betrachtung des Bildes, dass Stephanie die Frage ihres Freundes endlich beantwortete. Ihre Stimme klang spröde, als sie sagte: »Meine Eltern wünschen, dass ich Fürst Ludwig von Greifenstein heirate.« Sie ließ diese Worte einige Sekunden lang wirken, bevor sie hinzusetzte: »Und wehe, du behältst das nicht für dich, Mo!«

Er ging auf ihre letzte Bemerkung nicht ein, so sehr faszinierte und schockierte ihn die Neuigkeit. »Das glaube ich nicht!«, erklärte er schließlich.

»Er ist ein Sonderling, das weiß doch jeder. Ein reicher Sonderling ohne Freunde, der vollkommen zurückgezogen in seinem düsteren Schloss haust. Du würdest unglücklich mit ihm, das können deine Eltern unmöglich wollen. Und er hat bisher auch nicht den Eindruck gemacht, als sei er versessen darauf, sich zu verheiraten. Also: Warum?«

»Wegen seines Geldes, Mo«, flüs­terte Stephanie, der jetzt unwillkürlich Tränen in die Augen traten. »Wir sind ja schon lange nicht mehr wohlhabend, aber mittlerweile ist unsere finanzielle Situation so bedrohlich, dass meine Eltern keinen anderen Ausweg sehen. Ich will mich aber nicht verkaufen lassen!«

»Das sind ja auch mittelalterliche Methoden. Wollen wir heiraten? Dann wärst du auch gerettet! Ehrlich, wenn du möchtest, halte ich sofort um deine Hand an. In ein paar Jahren lassen wir uns wieder scheiden, du bekommst eine großzügige Abfindung, und alle sind zufrieden.«

Sie lächelte unter Tränen. »Du bist unmöglich«, sagte sie. Ihr liebevoller Ton strafte die Worte Lügen. »Und du solltest nicht so leichtsinnig mit deinen Angeboten sein, sonst nehme ich dich beim Wort.«

»Das kannst du ruhig«, erklärte er eifrig.

»Hör auf, Mo!« Ihre Stimme klang jetzt entschieden. »Es geht nicht um eine großzügige Abfindung, es geht um sehr viel mehr Geld, als du dir im Augenblick wahrscheinlich vorstellen kannst. Mein Vater schläft kaum noch, weil ihm die Sorgen über den Kopf wachsen, er droht alles zu verlieren, was ihm geblieben ist.«

»Ich konnte ja nicht wissen, dass es so schlimm ist. Aber wieso ausgerechnet den düsteren Ludwig von Greifenstein? Sie müssen doch auch an dich denken!«

»Das habe ich sie auch gefragt, sie haben behauptet, er sei ein sympathischer Mann, für seinen Ruf könne er nichts. Außerdem scheint er der Einzige zu sein, der genug Geld hat – und er ist offenbar nicht abgeneigt. Wäre ich bloß nicht mit hierhergefahren.«

»Wieso denn?«, fragte Moritz verwirrt. »Was hat unsere Einladung mit dem Fürsten zu tun?«

Ihre Augen wurden rund vor Erstaunen. »Weißt du denn nicht, dass er hier ist?«

»Wie bitte?« Unwillkürlich hatte Moritz die Stimme erhoben. Die Leute, die noch immer vor dem Schlachtengemälde standen, drehten sich erstaunt um, verloren aber sofort das Interesse, als sie das junge Paar am Fenster sahen. Ein Streit unter Verliebten, dachten sie vermutlich.

»Wie bitte?«, wiederholte Moritz leiser. »Ich wusste nicht, dass er eine Einladung bekommen hat, Steffie. Davon haben mir meine Eltern nichts erzählt, ehrlich nicht. Aber wieso ist er denn gekommen? Er lehnt doch sonst jede Einladung ab, soviel ich weiß.«

»Meinetwegen«, antwortete Stephanie. »Er ist meinetwegen gekommen.« Sie machte eine Pause, dann setzte sie mit bitterer Stimme hinzu: »Zur Begutachtung der Ware, wenn du so willst.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte Moritz. »Also schön, deine Eltern brauchen Geld, da kann ich ja noch nachvollziehen, dass sie auf die Idee kommen, eine reiche Heirat würde ihre Probleme lösen. Aber warum sollte sich der Fürst darauf einlassen? Der interessiert sich überhaupt nicht für andere Menschen, jedenfalls nach allem, was ich über ihn weiß. Ich kenne ihn nicht gut, aber …«

»Er braucht Nachkommen von einer standesgemäßen Frau, glaube ich. Meine Mutter hat eine Andeutung in der Richtung gemacht. Sind das nicht wundervolle Aussichten? Um mich geht es bei der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht. Ich soll Geld einbringen und Kinder kriegen – dann sind alle zufrieden, nur ich werde der unglücklichste Mensch auf der Welt sein.«

»Heirate mich!«, wiederholte Moritz. »Wir leben weiter als Freunde, aber …«

»Hör auf, Mo«, wehrte Stephanie erneut ab. »Ich habe es dir doch schon gesagt: Das kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Hast du den Fürsten denn schon gesehen? Ich meine, habt ihr euch miteinander unterhalten?«

»So würde ich das nicht nennen. Wir wurden einander vorgestellt, da wir uns ja bis dahin nicht kannten – und dann hat er mich mit Blicken taxiert. Ich hätte ihn am liebsten geohrfeigt, das kannst du mir glauben. Unter einem Vorwand habe ich ihn dann stehen lassen. Ich glaube, vorher habe ich auch noch etwas ziemlich Unfreundliches gesagt. Du weißt ja, manchmal geht mein Temperament mit mir durch.«

»Ihr kanntet euch also überhaupt nicht?«

»Ich habe ihn vorher schon einmal gesehen, anlässlich einer Beerdigung, zu der er ausnahmsweise erschienen ist, aber die hat er bald wieder verlassen. Vorgestellt worden sind wir uns erst heute.«

»Und wann haben dir deine Eltern gesagt, was sie … was sie sich wünschen?«

»Unmittelbar vorher. Hätte ich es schon vor unserer Abfahrt nach hier gewusst, wäre ich garantiert zu Hause geblieben, das haben sie wahrscheinlich geahnt.« Stephanie drehte sich um und sah nun endlich aus dem Fenster, freilich ohne den Schlosspark, der sich unter ihr erstreckte, wahrzunehmen. »Ich liebe meine Eltern, Mo«, sagte sie leise. »Ich habe ihnen so viel zu verdanken, und ich weiß, was es sie kostet, mir einen solchen Vorschlag zu machen. Sie sind verzweifelt, meinem Vater geht es gesundheitlich nicht gut. Es ist nicht seine Schuld, dass wir in diese Lage geraten sind. Du weißt ja, sein jüngerer Bruder war schon immer ziemlich leichtsinnig, mein Onkel Bernd. Der hat uns das eingebrockt. Aber …«

Sie brach ab und nahm ihren Gedanken erst nach einer Weile wieder auf. »Jedenfalls fühle ich mich verpflichtet, ihnen zu helfen – aber DAS …« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich einfach nicht, und das habe ich ihnen auch schon gesagt.«

Moritz hörte Schritte und drehte sich um. Er zog scharf die Luft ein, denn der Mann, der sich ihnen näherte, war ausgerechnet derjenige, um den sich ihr Gespräch drehte: Fürst Ludwig von Greifenstein. Moritz hatte ihn lange nicht gesehen, aber anders als Stephanie kannte er ihn durchaus. Der Fürst war ein Mann von beeindruckendem Äußeren, das hatte Moritz schon immer gefunden: Sehr groß war er, mit dunklen Haaren und fast schwarzen Augen. Die Züge scharf geschnitten, mit einer klassisch geraden Nase und einem großen Mund, der offenbar lange nicht mehr gelächelt hatte. Sein Gesicht war verschlossen, man hätte unmöglich sagen können, was er gerade dachte. Zwischen Mund und Nase, sah Moritz, hatten sich zwei Falten eingegraben – und schimmerten an den Schläfen nicht sogar bereits die ersten grauen Haare durch? Dabei war Fürst Ludwig erst Anfang Dreißig …

Stephanie hatte sich umgedreht, da Moritz stumm geblieben war nach ihren letzten Ausführungen, und auch sie zog jetzt hörbar die Luft ein.

»Ich möchte mich von Ihnen verabschieden«, sagte Ludwig von Greifenstein ohne jedes Lächeln. »Eine wirklich bemerkenswerte Ausstellung, Moritz.«

»Freut mich, dass sie Ihnen gefallen hat.« Moritz vermied die direkte Anrede. Ludwig war nur wenig älter als er selbst, doch wäre es ihm nicht in den Sinn gekommen, ihn als Gleichaltrigen anzusehen und zu behandeln. Der junge Fürst hielt jeden auf Distanz.

»Prinzessin, es ist schön, dass wir einander kennengelernt haben.« Mit diesen Worten wandte sich Ludwig an Stephanie. »Auf Wiedersehen, Ihre Eltern haben mir einen baldigen Besuch zugesagt, ich hoffe, dass ich dann auch Sie bei mir begrüßen darf.«

Auch jetzt lächelte er nicht, doch Moritz glaubte festzustellen, dass seine Stimme anders klang als zuvor, wärmer – aber vermutlich bildete er sich das nur ein.

Stephanies Gesicht wirkte wie eingefroren, und so klang auch ihre Stimme. »Ich glaube kaum, dass ich in den nächsten Wochen Zeit für Besuche haben werde. Leben Sie wohl.«

Das war hart an der Grenze zur Unhöflichkeit – nein, eigentlich war es unhöflich, dachte Moritz, doch der junge Fürst ließ sich nicht anmerken, wie er Stephanies Reaktion auffasste. Er deutete eine Verbeugung an, drehte sich um und verließ mit gemessenen Schritten den Saal.

»Jetzt weiß er zumindest Bescheid«, murmelte Moritz.

»Hoffentlich!«, lautete Stephanies Erwiderung. Sie hatte sich erneut umgedreht und blickte starr in den Schlossgarten hinunter.

*

Einen Tag nach dem Besuch von Schloss Anschau saß Fürst Ansgar von Zehlendorf mit grauem Gesicht am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen.

Seine Frau, Fürstin Beatrix, kam herein und stellte ein Glas mit einer milchigen Flüssigkeit auf die Schreibtischplatte. »Trink das, Ans­gar«, bat sie. »Du siehst so elend aus.«

»Wie soll ich auch sonst aussehen?«, murmelte er. »Du hast doch selbst gesehen, wie Steffie auf den Fürsten reagiert hat. Ein Wunder, dass sie ihm nicht direkt ins Gesicht gesprungen ist. Und ich verstehe sie ja, sie muss denken, dass uns unsere Geschäfte wichtiger sind als das Glück unserer Tochter. Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass sie mit Ludwig glücklich werden könnte …« Er brach ab, ergriff das Glas und stürzte seinen Inhalt in einem Zug hinunter.

Beatrix nahm auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz. »Sie ist zornig, das stimmt, aber du kennst sie, sie hat ein aufbrausendes Temperament. Vielleicht, wenn wir noch einmal in aller Ruhe mit ihr reden …«

Ihr Mann unterbrach sie. »Zwecklos, glaub mir. Sie hasst den Fürsten. Das hat sie nicht nur gesagt, man hat es ihr auch angemerkt.«

»Sie kann ihn nicht hassen«, widersprach Beatrix, »weil sie ihn gar nicht kennt. Sie glaubt vielleicht, dass sie ihn hasst, weil sie unsere Überlegungen kennt und ihr diese Überlegungen nicht gefallen. Aber was Ludwig für ein Mensch ist, davon hat sie keine Ahnung.«

»Und was nützt uns das?«, murmelte Fürst Ansgar. »Nichts, Bea. Wir sind ruiniert, und damit hat auch Steffie von der Zukunft nichts Gutes zu erwarten. Verarmte Prinzessinnen gibt es genug, um die reißt sich niemand, denn meis­tens sind sie nicht nur verarmt, sondern auch noch verschuldet – und genauso wird es bei Steffie ja auch sein.« Schwer stützte er den Kopf in beide Hände. »Wie konnte es nur so weit kommen, Bea? Wie konnte Bernd uns derart ins Unglück stürzen? Niemals hätte ich das für möglich gehalten.«

Er unterbrach sich, sein Blick schweifte in weite Ferne, bevor er hinzusetzte: »Und jetzt ist er weg. Hat sich seiner Verantwortung entzogen und ist abgetaucht. Wenn mir das jemand vorhergesagt hätte, damals, als ich ihn zum Teilhaber unseres Unternehmens gemacht habe …«

»Quäl dich nicht mehr damit, es ist geschehen und kann nicht mehr rückgängig gemacht werden. Du hast deinem Bruder vertraut, Ans­gar, das kannst du dir doch nicht für immer vorwerfen.«

»Ich werfe es mir aber vor, schließlich war es eine falsche Entscheidung, und damit habe ich den Ruin unserer Familie besiegelt.«

Beatrix stand auf. »Ich glaube noch nicht, dass wir alle Hoffnung aufgeben müssen«, sagte sie. »Auf jeden Fall werde ich noch einmal mit Steffie reden. Sie kennt Ludwig ja nicht wie wir …«

»Wir haben es falsch angefangen«, murmelte Ansgar. »Wir hätten zuerst mit ihr reden sollen und nicht mit ihm.«

»Und vielleicht darauf hoffen, dass sie sich in ihn verliebt?«, fragte Beatrix. »Und wenn das nicht passiert wäre, was dann? Oder wenn er nicht gewollt hätte? Du musstest dich zuerst an ihn wenden, anders war es doch gar nicht möglich.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin davon ausgegangen, dass wir mit unserer Tochter in dieser schwierigen Situation ein offenes Wort reden können, Ansgar. Sie ist kein Kind mehr, sie weiß, was auf dem Spiel steht.«

»Aber jetzt denkt sie, wir wollten sie verkaufen, und etwas Wahres ist ja dran, Bea, oder?«

Seine Frau presste die Lippen zusammen und weigerte sich, ihm zuzustimmen. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Zimmer.

*

»Wir haben eine E-Mail aus Paris bekommen«, verkündete Baronin Sofia von Kant beim Frühstück auf Schloss Sternberg. »Ich habe sie ausgedruckt, um sie euch vorzulesen.«

»Von wem denn?«, wollte ihre Tochter, die dreizehnjährige Anna, wissen.

»Von Lucie von Rethmann«, erklärte die Baronin.

»Kenn ich nicht«, murmelte Anna.

Ihr zwei Jahre älterer Cousin Prinz Christian von Sternberg zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Ist sie nicht die Cousine von Ludwig von Greifenstein?«, fragte er.

Sofia lächelte ihm zu und nickte. »So ist es, Chris. Es wundert mich aber nicht, dass du dich nicht an sie erinnern kannst, Anna. Du warst höchstens sieben oder acht, als sie zum letzten Mal hier war. Also, hier ist, was sie schreibt: Liebe Sofia, stell Dir vor, ich bin schon seit zwei Wochen in Europa, hier in

Paris, wo einige Verwandte wohnen. Meine Reise wird mich in

den nächsten Tagen auch nach Deutschland führen. Mir scheint, Ludwig muss ein bisschen aufgeheitert werden und da er sich weigert, mich auf meiner Insel im Indischen Ozean zu besuchen, muss ich mich also auf den Weg zu ihm machen. Natürlich möchte ich Euch gern wiedersehen. Deine Kinder werden sich nicht einmal an mich erinnern können, so lange liegt mein letzter Besuch auf Sternberg schon zurück. Lass uns telefonieren, wenn ich bei Ludwig bin, ja? Liebe Grüße, Lucie.

Die Baronin legte das Blatt beiseite und griff nach einem Brötchen. »Ich hoffe, wir sehen uns tatsächlich. Und ich finde es gut, dass sie mal nach Ludwig sieht. Er muss endlich raus aus seinem Versteck! Er ist viel zu jung, um sich in diesem dunklen Kasten für den Rest seines Lebens zu vergraben. Schloss Greifenstein ist wirklich kein Ort, an dem ich leben möchte – jedenfalls nicht in seinem jetzigen Zustand.«

Baron Friedrich, Sofias Mann, stimmte ihr zu. »Er hätte es längst modernisieren lassen sollen, man kann da einiges machen. So düster, wie es ist, muss es nicht bleiben.«

Konrad, Annas sechzehnjähriger Bruder, mischte sich ein. »Wieso waren wir eigentlich noch nie dort? Ludwig kommt ja ab und zu her, selten genug, aber immerhin. Wir dagegen sind noch nie bei ihm gewesen.«

»Er empfängt überhaupt keinen Besuch, das weiß doch jeder«, erklärte Anna altklug. »Er ist am liebsten allein. Warum eigentlich, Mama?«

»Frag ihn selbst«, antwortete Sofia, »wenn du es wissen willst.«

»Ich traue mich nicht«, erklärte Anna zum Erstaunen ihrer Eltern, denn ängstlich war ihre Tochter wahrhaftig nicht. »Er ist immer sehr nett zu uns, aber ich habe ihn schon mal erlebt, als er zornig geworden ist. Da hat ihn ein Fotograf belästigt – ehrlich, in der Haut des Fotografen hätte ich nicht stecken wollen. Ludwig hat zum Fürchten ausgesehen, um ein Haar wäre er auf den Mann losgegangen – zumindest hat er so ausgesehen.«

»Er wünscht nun einmal nicht, dass in den Medien über ihn berichtet wird«, stellte Sofia fest, »und diesen Wunsch sollte man dann auch respektieren. Es gibt genügend andere mehr oder weniger prominente Menschen, die sich über ihr Bild in der Zeitung freuen.«

»Ruf Lucie an und lad sie ein«, schlug der Baron vor. »Am besten zusammen mit Ludwig. Vielleicht kann sie ihn ja überreden, uns auch mal wieder mit einem Besuch zu erfreuen. Er hat sich lange nicht mehr sehen lassen.«

Sofia versprach, das zu tun, dann wandte sich das Gespräch anderen Themen zu.

*

»Durchlaucht?« Samuel Johnson, Butler auf Schloss Greifenstein und einer der wenigen Menschen, die der junge Fürst in seiner Nähe duldete, wartete, bis Ludwig aufsah, bevor er fortfuhr: »Die gnädige Frau ist eingetroffen. Sie hatten ja gesagt, dass Sie sie selbst in Empfang nehmen wollen. Das Taxi hat soeben das Tor passiert.«

»Danke, Sam«, sagte Ludwig und erhob sich. »Dann wollen wir mal.«

Er verließ sein Arbeitszimmer und eilte die breite Treppe hinunter, um die breite Flügeltür zu öffnen, vor der genau in diesem Augenblick ein Taxi hielt. Ihm entstieg eine lebhafte junge Frau, die mit dem Ausruf: »Ludwig!« und ausgebreiteten Armen auf ihn zustürzte.

Er schloss seine Cousine Lucie von Rethmann in die Arme. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Vor allem Lucie, das Einzelkind, hatte sich nach Geschwis­tern gesehnt und sie in Ludwig und seiner Schwester gefunden. Er verdrängte den Gedanken schnell.

Lucie schob ihn von sich und betrachtete ihn aufmerksam. Dann nickte sie, als hätte sie gefunden, was sie gesucht hatte. »Es wurde Zeit, dass ich komme«, stellte sie fest.

Er ging auf diese Worte nicht ein, sondern erwiderte: »Du siehst gut aus, Lucie. Das Leben im Indischen Ozean bekommt dir.« Lucies helle Haut war sanft getönt, ihre hellbraunen Haare ringelten sich in kleinen Löckchen um ihren Kopf. Sie trug sie ziemlich kurz geschnitten, was ihr ein sehr mädchenhaftes Aussehen verlieh, ein Eindruck, der durch ihre zierliche Figur noch unterstützt wurde.

Sie lachte und hakte sich bei ihm unter, nachdem sie zuvor Samuel Johnson begrüßt hatte. Gleich darauf betraten sie das Schloss. »Natürlich bekommt mir das Leben dort gut«, erklärte Lucie. »Ich bin von Licht und Wärme umgeben, das vertreibt dunkle Gedanken.« Unwillkürlich erschauerte sie und ließ ihre Augen durch die Eingangshalle von Greifenstein wandern. »Hier dagegen …«, murmelte sie. »Ich vergesse immer wieder, wie düster und kalt dieses Gemäuer wirkt, Ludwig. Wie hältst du das nur aus?«

»Es ist das Schloss meiner Familie«, erklärte er steif. »Ich bin hier aufgewachsen, Lucie – ich kann mich nicht davon trennen.«

»Das musst du doch auch gar nicht!«, rief sie. »Aber lass mehr Luft und Licht herein, dazu brauchst du doch bloß ein paar von den zugemauerten Fensteröffnungen wieder aufzubrechen. Das war sowieso eine schwachsinnige Idee von einem deiner Vorfahren, ich möchte mal wissen, warum er das hat …«

Er unterbrach sie mit den Worten: »Vielleicht mache ich das ja irgendwann!«

Sie begriff, dass sie behutsamer vorgehen musste und nickte daher nur zustimmend. Er bat sie in den Salon, der am freundlichsten wirkte, doch Lucie empfand die Atmo­sphäre auch hier als bedrückend, was sie freilich für sich behielt. Ludwig, ihren gut aussehenden, immer fröhlichen Cousin gab es schon seit Jahren nicht mehr. Aber wie sollte sie ihm klarmachen, dass es niemandem half, wenn er sich hier vergrub?

»Lucie?« Ludwig sah sie fragend an.

»Entschuldige, ich war in Gedanken«, erklärte sie. »Was wolltest du wissen?«

»Wie lange du bleiben kannst. Und ob du von hier aus noch andere Besuche machen willst.«

»Nach Sternberg möchte ich gern, aber sonst …« Sie schüttelte den Kopf. »Sonst habe ich nichts vor.«

»Sternberg«, sagte er nachdenklich. Er sah auf, als sein Butler mit dem Tee hereinkam. »Danke, Sam, wir bedienen uns schon selbst.«

»Haben Sie sonst noch Wünsche, Durchlaucht?«

»Im Augenblick nicht, vielen Dank. Oder hättest du gern noch etwas, Lucie?«

»Nein, alles ist schön so, wie es ist. Danke, Sam.«

»Sternberg«, wiederholte der junge Fürst, als sie wieder allein waren. »Wenn du hinfährst, begleite ich dich vielleicht.«

Lucie lächelte erfreut. »Das wollte ich dir vorschlagen, aber da ich deine Abneigung gegen Besuche kenne, war ich nicht sehr zuversichtlich, muss ich gestehen.« Sie rührte nachdenklich in ihrer Tasse. »Wie geht es Christian eigentlich, Ludwig? Ich konnte ja leider nicht zur Beerdigung seiner Eltern kommen. Er ist erst fünfzehn, meine Güte …«

»Ja, der kleine Fürst«, murmelte Ludwig.

»Ach, heißt er immer noch so? Er ist doch aber bestimmt gar nicht mehr klein, oder?«

»Der Name wird ihm bleiben, Lucie, bis er achtzehn ist und der nächste Fürst von Sternberg wird. Sofia erzählte mir, dass Chris den Namen gern hat, weil er liebevoll gemeint ist. Du fragst, wie es ihm geht. Ich hörte, dass der Junge reifer geworden ist, ernster natürlich auch, dass er aber, dank der Unterstützung durch die Familie seiner Tante, alles relativ gut verkraftet hat.«

Sofia von Kant war die Schwes­ter von Christians verstorbener Mutter gewesen – nach dem Unfalltod des Fürstenpaares hatten sie und ihr Mann ihren Neffen als drittes Kind in die Familie aufgenommen. Da die Kants schon seit vielen Jahren ebenfalls auf Sternberg lebten, hatte der Junge in seiner gewohnten Umgebung bleiben können.

»Sternberg ist einer der wenigen Orte, an denen ich mich wohlfühle«, fuhr Ludwig fort. »Da brauche ich mich nicht zu verstellen, ich kann so sein, wie ich bin.«

»Wieso – kannst du das woanders nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Heutzutage muss man ja immer gut gelaunt sein, sonst wird man sofort gefragt, was einem fehlt. Ich hasse das, Lucie.«

Sie begriff, dass sie noch vorsichtiger sein musste als angenommen. Sie hatten einander zwei lange Jahre nicht gesehen, und in diesen Jahren war sein Schmerz nicht kleiner, sondern größer geworden. Damit hatte sie nicht gerechnet. Er wirkte jetzt beinahe verbittert, wie ein deutlich älterer Mann. Niemand wäre bei seinem Anblick auf die Idee gekommen, dass er erst zweiunddreißig war. Er sah eher wie ein Mann von Anfang Vierzig aus. Ein sehr gut aussehender Mann von Anfang Vierzig.

Dennoch würde sie versuchen, ihn auf die Art und Weise anzusprechen, wie er lebte, seit … seit damals. Es konnte doch nicht angehen, dass er sich weiterhin hier vergrub und einfach zusah, wie sein Leben langsam verrann.

In ihre Gedanken hinein sagte er: »Es ist etwas Seltsames passiert, Lucie. Möglicherweise heirate ich bald.«

Vor Überraschung verschüttete sie ein wenig Tee. »Wie bitte? Du bist verliebt?« Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit dieser Nachricht. Wie ein verliebter Mann wirkte ihr Cousin wahrhaft nicht.

»Es ist nicht ganz so, wie du denkst«, erklärte er mit einem nur angedeuteten Lächeln. Immerhin fand sie zum ersten Mal seit ihrem Eintreffen einen Funken der alten Spottlust in seinen Augen.

»Wie ist es denn?«, fragte sie.

Er erzählte es ihr, und je länger er sprach, desto mehr zweifelte sie an seinem Verstand. Als er schwieg, sagte sie ihm das auch deutlich. »Ich hätte niemals gedacht, dass du dich auf eine solche Geschichte einlassen würdest!«, sagte sie heftig. »Hoffentlich weigert sich die junge Frau! Das ist doch ungeheuerlich, eine Heirat ist schließlich kein Geschäft.«

»Ich bin ja noch nicht fertig mit meinem Bericht«, erklärte Ludwig.

»Was kommt denn noch?«, fragte Lucie grollend.

»Nun ja, sie scheint über ein ähnlich überschäumendes Temperament zu verfügen wie du«, erklärte er. »Das war das Erste, was mir an ihr auffiel – von ihrer außergewöhnlichen Schönheit einmal abgesehen. Jedenfalls … ich habe mich tatsächlich zu ihr hingezogen gefühlt, als ich ihr das erste Mal begegnet bin. Da wusste ich noch gar nicht, in welcher verzweifelten Lage ihre Eltern sind. Das hat sich dann erst später ergeben, bei dem Gespräch, von dem ich dir eben erzählt habe.« Er sah Lucies Blick und kam hastig zum Schluss: »Für die Eltern wäre ich die Rettung aus einer vollkommen aussichtslosen Situation – aber du solltest mich eigentlich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich niemals aus einem solchen Grund heiraten würde. Warum sollte ich auch? Nun ja … also, wenn du es genau wissen willst, ich glaube, ich könnte mich durchaus in Stephanie verlieben. Und deshalb habe ich mich auf dieses Gespräch mit ihrem Vater überhaupt nur eingelassen.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben war Lucie sprachlos.

*

»Wohin willst du denn, Kind?«, fragte Fürstin Beatrix bestürzt.

»Ich fahre eine Weile weg, Mama«, erwiderte Stephanie mit blassem Gesicht. »Ich … ich muss nachdenken, das kann ich hier nicht. Ich weiß, dass ihr nur versucht, zu retten, was zu retten ist – aber du verstehst doch, wie ich mich dabei fühle, oder?« Sie fuhr fort, mit hastigen Bewegungen Kleidungsstücke in einen kleinen Koffer zu packen.

»Natürlich verstehe ich das«, antwortete die Fürstin. »Aber du kannst mir glauben, dass es uns nicht leichtgefallen ist, dir einen solchen Vorschlag zu machen.«

»Lass uns nicht mehr darüber reden, Mama«, bat Stephanie. »Ich fahre zu einer Freundin aufs Land, dort kennt mich niemand, und ich komme vielleicht zur Ruhe. Ich habe zwei Wochen Urlaub genommen.« Stephanie arbeitete als Archivarin in einer Landesbehörde – früher war diese Arbeit eher ihr Hobby gewesen, heute war sie froh, dass sie sie hatte. Das war zumindest eine sichere Einnahme in diesen unsicheren Zeiten.

»Papa ist unterwegs«, begann Beatrix aufs Neue, »wann willst du denn fahren?«

»Gleich«, erklärte Stephanie nach einem Blick auf die Uhr. Als sie das unglückliche Gesicht ihrer Mutter sah, setzte sie hinzu: »Es ist besser, wenn ich mich nicht von ihm verabschiede, Mama. Dann würden vielleicht doch noch böse Worte fallen. Ich habe Verständnis für eure Situation, aber dass ihr auf einen solchen Rettungsplan verfallen seid …« Sie schüttelte den Kopf, legte eine weitere Hose in den Koffer und schloss ihn.

»Es ist nicht unsere Schuld«, sagte Beatrix leise. »Das weißt du.«

»Natürlich weiß ich das, aber gibt euch das denn das Recht, praktisch von mir zu verlangen, dass ich mich ins Unglück stürze? Ich soll die Verfehlungen von Onkel Bernhard ausbaden, das ist es, was ihr von mir verlangt. Da brauchst du gar nicht drum herum zu reden.«

»Und wir?«, fragte Beatrix. »Glaubst du vielleicht, dass wir sie nicht ausbaden müssen? Das tun wir nämlich schon seit ziemlich langer Zeit, wenn du es genau wissen willst. Wir sind arm, um es einmal deutlich zu sagen – jedenfalls gemessen an unserem früheren Vermögen. Und jetzt droht uns der Untergang. So sieht es aus. Und diesen Untergang könntest du abwenden, wenn du nur bereit wärst, Fürst Ludwig wenigstens kennenzulernen, denn dann …«

»Bitte, Mama …«

Die Fürstin sah ein, dass sie durch weitere Worte alles nur schlimmer gemacht hätte, und so ließ sie ihre Tochter allein.

Als sie gegangen war, brach Stephanie in Tränen aus.

*

Moritz legte nachdenklich das Telefon beiseite. Er hatte versucht, Stephanie in ihrem Büro anzurufen und die Auskunft bekommen, die Prinzessin habe Urlaub genommen. Ob das mit den Plänen ihrer Eltern zusammenhing, sie mit Fürst Ludwig zu verheiraten? Möglich war das durchaus, er kannte Stephanie schließlich. Sie würde die Sache irgendwo, wo sie ungestört war, gründlich durchdenken und dann eine Entscheidung fällen. Er hätte seinen Kopf dafür verwettet, dass sie letztlich zustimmen würde. Wenn diese verflixte Heirat die Rettung für ihre Eltern bedeutete, dann würde sie einwilligen, auch wenn sie jetzt vielleicht noch glaubte, sie werde sich gegen den Willen des Fürstenpaares auflehnen.

Er überlegte, ob er sie übers Handy anrufen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sie würde sich melden, wenn sie mit ihm reden wollte, er tat gut daran, ihr ein wenig Zeit zu lassen. Zu dumm aber auch, dass er über das Vermögen seiner Eltern noch nicht verfügen konnte – sofort hätte er seiner besten Freundin geholfen, so weit das eben möglich war.

Er war ziellos in der Gegend herumgefahren, denn im Gegensatz zu Stephanie arbeitete Moritz nur gelegentlich. Er würde einmal die Geschäfte seines Vaters übernehmen, da dieser jedoch noch längst nicht daran dachte, sich zurückzuziehen, war für Moritz bisher wenig Platz in dem großen elterlichen Unternehmen. Ihn störte es nicht, er hatte noch nie Probleme mit Langeweile gehabt. Seine Interessen waren breit gestreut, am liebsten beschäftigte er sich mit Kunst, was seine Eltern mit einem lachenden und einem weinenden Auge sahen. Einerseits hatten sie ihre großartige Kunstsammlung nicht zuletzt Moritz’ ausgezeichneten Kenntnissen auf diesem Gebiet zu verdanken – andererseits brauchte er für seinen Eintritt ins Unternehmen ganz andere Fähigkeiten.

Er fand sich jedenfalls plötzlich in der Nähe von Schloss Greifenstein wieder und musste über sich selbst lachen, denn es war offensichtlich sein Unterbewusstsein gewesen, das ihn hierher geführt hatte. Er war höchstens zwei- oder dreimal in dieser Gegend gewesen, betreten hatte er das Schloss noch nie. Greifenstein lag ein wenig abseits, und er hatte bisher keinen Grund gehabt, sich das Schloss, von dem es hieß, dass es ein schauriger dunkler Kasten war, im Winter eiskalt, im Sommer ungemütlich feucht, näher anzusehen. Das freilich hatte sich nach dem Gespräch mit Stephanie geändert.

Das Auto ließ er auf einem Parkplatz unweit des Schlosses stehen. Er kannte den jungen Fürsten gut genug, um ihm einen Überraschungsbesuch abzustatten, aber er hatte nicht die Absicht, das zu tun. Ludwig von Greifensteins Gegenwart erfüllte ihn mit Unbehagen, warum sollte er sich dem aussetzen? Stattdessen sah er sich auf dem Gelände, von dem das Schloss umgeben war, neugierig um und stellte zu seiner Überraschung fest, wie schön die Umgebung war. Er hatte, ohne dass er genau hätte sagen können, warum, angenommen, ein hässliches Schloss in trostloser Landschaft vorzufinden.

Auch das Schloss selbst stellte eine Überraschung dar. Es wirkte in der Tat düster, das lag aber vor allem daran, dass es offenbar seit Langem nicht renoviert worden war. Nun erinnerte er sich auch wieder daran, dass vor etwa zweihundert Jahren ein Vorfahr Ludwigs zahlreiche Fensteröffnungen hatte zumauern lassen, als seine geliebte Gattin im Kindbett gestorben war. Er war dann, so hieß es zumindest, depressiv geworden und wenig später ebenfalls gestorben. Die Fensteröffnungen waren geschlossen geblieben.

Seltsam, dachte Moritz. Das wäre das Erste, was ich ändern würde. Ohne Licht geht man in so einem Gebäude doch ein.

Man konnte das Schloss auf einem Spazierweg bequem umrunden und hatte es an mehreren Stellen recht gut im Blick – allerdings weit entfernt. Ein riesiges Anwesen, ungebetenen Gästen nicht zugänglich.

Versonnen betrachtete er das finstere Gebäude. Sich auch nur vorzustellen, dass Steffie hier leben sollte, war absurd. Sie würde depressiv werden wie Fürst Ludwigs Vorfahr …

Er fuhr zusammen, als er Hufschläge hörte, und drehte sich um. Ein edler Araber kam in leichtem Galopp näher, geritten von einer schlanken Frau, die sehr aufrecht im Sattel saß. Der Hengst schnaubte, als er den Mann auf dem Weg stehen sah und wich seitlich aus.

»He, ganz ruhig, Alvaro«, sagte die Frau, die ihn ritt, mit weicher, melodiöser Stimme. Der Hengst gehorchte sofort, sie brachte ihn einige Meter vor Moritz zum

Stehen. »Guten Tag«, sagte sie freundlich. »Bewundern Sie das Schloss?«

Ihre Augen waren hellbraun, die Farbe war fast die gleiche wie die ihrer kurzen lockigen Haare. Ihre Haut hatte einen hübschen Bronzeton, als wäre sie gerade von einem Urlaub im Süden zurückgekehrt. In ihren Augen blitzte Spott auf bei ihrer Frage, und so nahm er an, dass sie eine ähnliche Meinung über Greifenstein hatte wie er selbst. »Ein grässlicher Kasten«, sagte er aus tiefster Überzeugung. »Dabei liegt das Schloss wunderschön – aber wenn ich dieses dunkle Mauerwerk sehe und die

geschlossenen Fensteröffnungen, dann frage ich mich, wie man freiwillig so leben kann.«

»Freiwillig?«, fragte sie. »Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann.«

»Was meinen Sie damit?«, erkundigte er sich erstaunt. »Fürst Ludwig verfügt sicherlich über die Mittel, dem Schloss einen hellen Putz zu verschaffen und die zugemauerten Fenster wieder zu öffnen, meinen Sie nicht?«

Der kleine Fürst Classic 39 – Adelsroman

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