Читать книгу Der kleine Fürst 250 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 3

Оглавление

Saskia saß wie auf Kohlen. Es hätte ein so schöner Abend sein können, wäre Marco nicht dabei gewesen!

Bernd war zum ersten Mal bei ihnen zu Hause, er hatte ihr Blumen mitgebracht, und jetzt unterhielt er sich gerade angeregt mit Frieda. Die beiden hatten sich auf Anhieb verstanden.

Das Essen war gut, zu den Frikadellen, die Frieda sich gewünscht hatte, gab es Kartoffelpüree und Salat. Alle außer Marco langten herzhaft zu. Ihr Ältester jedoch stocherte in seinem Essen herum und machte dieses Gesicht, das sie mittlerweile nur zu gut kannte. Sie trauerte dem aufgeweckten Jungen nach, der er früher gewesen war, auch wenn sie es schon damals nicht immer leicht mit ihm gehabt hatte. Es kam ihr manchmal so vor, als sei es erst gestern gewesen, dass er seine Hand in ihre geschoben hatte, wenn sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, aber das stimmte natürlich nicht. Es war Jahre her.

Er sah nicht auf, er beteiligte sich nicht am Gespräch, und seine Körperhaltung war voller Abwehr gegen den Gast und signalisierte ihm, dass er nicht erwünscht war. Er verhielt sich genau so, wie Saskia es befürchtet hatte. Das war ihr nicht nur peinlich Bernd gegenüber, es bereitete ihr auch gehörigen Stress, den sie nicht gebrauchen konnte. Jahrelang war sie nach der Scheidung allein geblieben. Ihre Gefühle für Bernd hatte sie sich auch deshalb nur zögernd eingestanden, weil sie sich erst wieder an den Gedanken gewöhnen musste, verliebt zu sein. Der Hauptgrund für ihr Zögern aber war gewesen, dass sie die Schwierigkeiten mit Marco vorausgesehen hatte.

Und heute Abend nun wurde jede Befürchtung, die sie vorher gehegt hatte, wahr. Nein, eigentlich war es sogar noch schlimmer als in ihrer Fantasie.

»Und du, Marco?«, fragte Bernd, sich dem Jungen freundlich zuwendend. »Was willst du nach der Schule machen?«

Ein eisiger Blick traf ihn. »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte Marco. »Und Sie müssen auch nicht versuchen, freundlich zu mir zu sein. Frieda wickeln Sie damit ein, mich nicht.«

Friedas Augen wurden groß über diese beispiellose Unhöflichkeit, während Saskia entsetzt rief: »Marco, was fällt dir ein, so mit unserem Gast zu reden?«

Sie wollte noch hinzufügen, er solle sich sofort für seine Unverschämtheit entschuldigen, doch Bernd kam ihr zuvor. An ihm schien Marcos Benehmen einfach abzuperlen, er wirkte nicht einmal ärgerlich. »Ich bin ein freundlicher Mensch, deshalb rede ich so, ich muss mich dafür nicht besonders anstrengen. Aber es macht mir nichts aus, wenn du nicht mit mir reden willst. Dann lassen wir es eben.« Er zwinkerte Frieda zu. »Ich habe ja genug andere Unterhaltung hier.«

Frieda, die dem kurzen Wortwechsel gespannt gefolgt war, warf ihrem Bruder einen anklagenden Blick zu und wiederholte den Vorwurf, den sie ihm in letzter Zeit schon öfter gemacht hatte. »Du bist neuerdings richtig blöd. Früher warst du viel netter, und wir hatten viel mehr Spaß. Jetzt hast du dauernd schlechte Laune, und zu allen Leuten bist du unfreundlich, so wie jetzt zu Bernd.«

Marcos Reaktion fiel aus wie von Saskia erwartet, und sie ließ nicht lange auf sich warten. Er stand schon, bevor Frieda ihre Rede beendet hatte. »Ich kann ja gehen!«, sagte er wütend. »Dann könnt ihr hier heile Familie spielen. Dabei störe ich ja doch bloß.« Er sah niemanden an bei diesen Worten, sondern drehte sich einfach um und verließ den Raum.

Saskia hatte sich schon halb erhoben, um ihm nachzulaufen und ihn zurückzurufen, doch sie ließ sich wieder auf den Stuhl zurücksinken. »Ach, was soll’s«, sagte sie entmutigt. »Es nützt ja doch nichts.«

»Lass ihn doch, Mama.« Friedas Blick glitt über die Frikadellen. »Dann bleibt für uns mehr von den Klopsen übrig.«

»Ich schließe mich Friedas Meinung an: lass ihn«, sagte Bernd. »Er ist in einer schwierigen Phase, das hast du doch selbst schon gesagt, aber das gibt sich auch wieder.«

Saskia hätte einiges zu dieser optimistischen Sichtweise sagen können, doch sie ließ es, weil sie nicht in Friedas Beisein über Marco reden wollte. Die Kleine hatte jetzt schon mehr mitbekommen, als Saskia lieb war.

»Kann ich noch einen Klops kriegen?«, fragte Frieda.

»Du wirst platzen«, vermutete Saskia.

Aber Frieda verputzte auch diese Frikadelle noch mit größtem Vergnügen und ohne Anzeichen eines überfüllten Magens. Auch Bernd griff noch einmal zu, und allmählich beruhigte sich Saskia wieder. Sie hatte noch einen Obstsalat gemacht, von dem, auch ohne Marcos Mitwirkung, nichts übrig blieb.

Später, als Frieda ins Bett gegangen und Saskia mit Bernd allein war, kamen ihr doch noch die Tränen. »Was soll ich nur mit ihm machen?«, flüsterte sie. »Es wird nicht besser, Bernd, es wird immer schlimmer, jedenfalls ist das mein Eindruck.«

»Nach allem, was ich über Jugendliche in der Pubertät weiß, müssen Eltern das einfach durchstehen. Es scheint in vielen Familien eine Leidenszeit für alle Beteiligten zu sein. Ich war auch grässlich, als ich in dem Alter war.«

»Echt? Das kann ich mir gar nicht vorstellen.«

»Es ist aber die Wahrheit«, versicherte Bernd. »Ich habe nur noch schwarze Klamotten getragen, die Wände meines Zimmers schwarz gestrichen und nicht mehr mit meinen Eltern geredet.«

»Und dann?«

Bernd zuckte mit den Schultern. »Es war dann irgendwann einfach vorbei. Mir ging das viele Schwarz auf die Nerven, ich habe die Gespräche mit meinen Eltern vermisst, und ich fand mich plötzlich selbst … na ja, irgendwie kindisch. Ich glaube, das hing auch damit zusammen, dass ich damals zwei ältere Freunde hatten, die mir eines Tages gesagt haben, ich solle mit dem Quatsch aufhören und mich wie ein Erwachsener benehmen.«

»Wenn ich so etwas zu Marco sagen würde, würde ich alles nur noch schlimmer machen.«

»Ja, es kommt schon darauf an, wer so etwas sagt. Die eigenen Eltern dürfen es auf keinen Fall sein.« Bernd strich Saskia liebevoll über die Haare. »Nimm es nicht so schwer. Es ist nur eine Phase.«

»Und wenn nicht?«, fragte sie unglücklich. »Manche Menschen werden nie erwachsen, das hört man immer wieder. Wenn Marco nun dazu gehört?«

»Er hat andere Probleme, schätze ich. Dass er nicht erwachsen wird, halte ich für unwahrscheinlich.«

»Welche anderen Probleme meinst du?«

»Er will offenbar nicht, dass du einen Freund hast. Und du hast mir doch erzählt, dass er unzufrieden ist, weil er findet, er kann sich nicht genug leisten.«

»Das stimmt. Er vergleicht sich ständig mit anderen, denen es besser geht als uns. Manchmal denke ich, er verachtet mich, weil ich als Friseurin so wenig verdiene.«

»Lass dir nichts einreden, du machst das ganz toll mit deinen beiden Kindern – auch wenn das eine zurzeit nicht zufrieden ist. Frieda jedenfalls ist ein Schatz.«

Saskia lächelte unwillkürlich. »Ja, wenn ich Frieda nicht hätte, wäre ich todunglücklich. Aber sie hat ihre Musik, weißt du? Das ist für sie das Wichtigste. Sie übt jeden Tag mehrere Stunden in der Schule, und nie wird ihr das zu viel. So lange sie ein Klavier in der Nähe hat, auf dem sie spielen kann, ist sie glücklich. Ich glaube, darauf ist Marco auch eifersüchtig, weil er so etwas, an dem er sich festhalten kann, nicht hat.«

»Aber er hat doch Freunde, oder?«

»Ja, einen Jungen und zwei Mädchen, mit denen er dauernd zusammen ist. Sie kennen sich alle schon, seit sie klein waren. Der Junge, Daniel, ist ein ganz Stiller, den kann ich nicht richtig einschätzen, die Mädchen sind eigentlich sehr nett. Besonders Lola, die ist pfiffig. Alina finde ich ein bisschen oberflächlich, sie ist sehr mit ihrem Aussehen beschäftigt, aber im Grunde auch lieb. Früher habe ich die drei besser gekannt.«

»Bringt Marco sie nie mit nach Hause?«

»Nein, früher mal, da waren sie sogar oft hier, aber das macht er schon lange nicht mehr. Es ist, als wollte er mich aus seinem Leben außerhalb dieser Wohnung ausschließen.«

Bernd küsste sie zärtlich, dann sagte er: »Ich gehe jetzt. Und ich hoffe, das mit Marco und dir renkt sich bald wieder ein.«

Sie war ihm dankbar für sein Feingefühl. Sie hatte insgeheim schon überlegt, wie sie ihm klar machen sollte, dass ihr in dieser Situation nicht nach weitergehenden Zärtlichkeiten zumute war, aber nun erwies sich, dass das nicht nötig war.

»Danke für das schöne Essen. Und für den schönen Abend.« Als er sah, dass sie ihm widersprechen wollte, setzte er mit Nachdruck hinzu: »Es WAR ein schöner Abend, Saskia. Ich freue mich, dass ich deine Tochter kennenlernen durfte, mit ihr habe ich mich gern unterhalten. Und ich bin immer froh, wenn ich mit dir zusammen sein kann. Das machen mir auch ein paar unfreundliche Bemerkungen deines Sohnes nicht kaputt, glaub mir.«

Zum Abschied küssten sie sich noch einmal. Als Bernd gegangen war, kehrte Saskia nachdenklich in die stille Wohnung zurück. Bei einem Blick in Friedas Zimmer sah sie, dass ihre Tochter fast quer im Bett lag, auf dem Bauch, die Decke war halb heruntergefallen. Sie deckte Frieda wieder zu, gab ihr einen Kuss auf die Wange. Frieda murmelte etwas und rollte sich zusammen.

In Marcos Zimmer ging Saskia nicht. Sie fragte sich nur, ob er schlief oder wach im Bett lag und wütend an die Decke starrte. Wie gern hätte sie jetzt noch mit ihm geredet, ihn gefragt, wie er Bernd fand und ob er sich vorstellen konnte …

Sie seufzte. Das würde warten müssen, denn Marco konnte sich im Augenblick offenbar überhaupt nichts vorstellen.

*

»Ich habe etwas gesehen, das vielleicht ein Geschenk für Frau Maurer zum Geburtstag sein könnte«, sagte Stephanie zu Christian. »Es ist eine Brosche, die sehr gut zu ihr passen würde, weil sie so ungewöhnlich aussieht. Sie liegt bei dem Juwelier am Marktplatz im Fenster.«

»Das ist der teuerste Juwelier von ganz Sternberg, so viel Geld kriegen wir nie im Leben zusammen, Steffi!«

»Wir doch nicht! Aber meine Omi sucht schon die ganze Zeit nach etwas, worüber sich Frau Maurer freuen würde, und ich könnte mir vorstellen, dass die Brosche das Richtige wäre. Aber ich möchte sie dir zuerst zeigen, bevor ich ihr diesen Vorschlag mache. Wenn du sagst, das ist keine gute Idee, lasse ich es lieber.«

»So wenig vertraust du deinem Geschmack?« Der kleine Fürst konnte es nicht lassen, seine Freundin ein wenig aufzuziehen.

Sie knuffte ihn in die Seite. »Anna findet die Brosche auch toll, aber wir haben sowieso einen ähnlichen Geschmack. Außerdem bist du ein Junge, du hast einen anderen Blick, darauf kommt es mir an.«

»Gut«, sagte er, »ich bin dabei. Und was schenken wir Frau Maurer? Auf jeden Fall gibt es bei uns ein schönes Essen für sie, das haben Tante Sofia und Onkel Fritz schon beschlossen, aber wir sollten ihr von uns aus vielleicht auch noch etwas schenken, meinst du nicht?«

Stephanie lächelte vergnügt. »Anna und ich haben da so eine Idee«, sagte sie.

»Was denn?«

»Ein Fotobuch mit den schönsten Kleidern, die sie jemals entworfen und genäht hat. Wie findest du das.«

Christian blieb stehen. »Das ist toll!«, rief er. »Da wäre ich niemals drauf gekommen.«

»Aber wir! Wir haben so ein bisschen hin und her überlegt, und dann hat Anna gesagt: ›Das Geschenk müsste etwas mit ihren tollen Kleidern zu tun haben‹ – und ich habe gesagt: ›Wir könnten die schönsten fotografieren‹ – und das war’s eigentlich schon. Aber Konny und du, ihr müsst uns dabei helfen.«

Christian war sofort Feuer und Flamme. »Wir brauchen aber sehr gute Fotos, und ich finde, die Kleider solltet ihr vorführen, Anna, Charly und du. Frau Maurer hat für euch drei doch diese tollen Ballkleider gemacht.«

Charlotte von Graal, genannt Charly, war Konrads Freundin.

Stephanies Augen glänzten. »Darauf sind wir noch gar nicht gekommen, die Idee ist echt gut, Chris. Und deine Tante und meine Omi – die haben ja auch alle schon Kleider von Frau Maurer getragen. Dann wird das Buch noch viel schöner! Wie gut, dass wir darüber gesprochen haben.«

»Ja, ab und zu haben sogar Jungen gute Ideen für Geburtstagsgeschenke.«

Sie blieb stehen und schlang ihm beide Arme um den Hals. Da sie sich im Schlosspark befanden, war die Gefahr, von Fotografen ›erwischt‹ zu werden, gering, und so ließen sie sich Zeit bei ihrem zärtlichen Kuss.

Beobachtet wurde er allerdings durchaus: von Eberhard Hagedorn, der in einem der Salons nach dem Rechten gesehen und dabei einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte. Aber da er die Diskretion in Person war, wandte er sich mit einem Lächeln ab und wieder seinen Aufgaben zu.

*

»Am liebsten würde ich meinen Geburtstag überhaupt nicht feiern, Emilia«, seufzte Hanne Maurer. »Es ist kein Freudentag mehr für mich, wenn ich wieder ein Jahr älter geworden bin. Mir ist nicht zum Feiern zumute.«

Emilia von Hohenbrunn lächelte fein. »Ich habe vorhin mit Baronin von Kant gesprochen. Sie möchten gern ein Essen für dich ausrichten.«

Hanne sah entsetzt aus. »Du weißt, wie gern ich im Schloss bin, und ich liebe das Essen dort, aber eine Festgesellschaft zu meinem Geburtstag ertrage ich nicht.«

»Keine Festgesellschaft«, erklärte Emilia energisch. »Die Schlossbewohner und wir, fertig. Deine Kinder …«

»Die können sowieso nicht«, erklärte Hanne. »Das haben mir beide schon mitgeteilt. Du weißt ja, sie sind immer überlastet, und in diesem speziellen Fall bin ich sogar froh darüber. Sie haben sich schon seit Jahren zu meinen Geburtstagen nicht mehr blicken lassen.«

»Na also, dann ist das doch schon mal geklärt. Nur ein schönes Essen, keine aufgeblasene Feier.«

»Du bringst mich echt in Versuchung«, murmelte Hanne.

»Eigentlich sollte es eine Überraschung sein, deshalb hat Frau von Kant auch mit mir gesprochen und nicht mit dir, aber ich habe ihr gesagt, dass das nicht funktionieren wird, weil ich dich abends gar nicht aus dem Haus kriege, wenn ich dir nicht erkläre, wo es hingehen soll.«

»Aber Steffi und die anderen jungen Leute sollten schon dabei sein, finde ich«, sagte Hanne nachdenklich. »Annas Freund und Konrads Freundin, meine ich. Die sind so reizend, und es wäre doch für die Jugend zu langweilig, wenn nur wir beide kämen.«

Emilia strahlte. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest. Also kann ich Baronin von Kant sagen, dass du einverstanden bist mit dem Essen.«

Hanne seufzte tief, aber sie tat es lächelnd. »Wer könnte einem Essen auf Schloss Sternberg widerstehen? Also, ich kann es jedenfalls nicht.«

*

»Was hat er denn jetzt schon wieder?«, fragte Alina leise.

Daniel antwortete ebenso leise. »Seine Mutter hat ihren neuen Freund mit nach Hause gebracht, es muss ätzend gewesen sein.«

Alina verdrehte die Augen. »Er findet alles ätzend im Moment. Ihm kann doch niemand mehr etwas recht machen.«

Sie waren ein Stück hinter Lola und Marco zurückgeblieben. Im Park gab es ein Freiluftkonzert, das wollten sie sich anhören. Das Wetter war so schön, dass vor allem die beiden Mädchen gesagt hatten, sie wollten in keine Kneipe gehen, sondern lieber draußen bleiben.

Daniel schwieg auf Alinas Bemerkung hin. Er wusste ja häufig nicht, was er sagen sollte. Er hielt dann lieber den Mund, das war sicherer, man konnte nicht viel falsch machen, wenn man schwieg. In letzter Zeit ging er allerdings öfter aus sich heraus. Das hatte auch damit zu tun, dass Marco angefangen hatte, mit ihm zu reden. Ihm tat das gut, deshalb wollte er nichts gegen Marco sagen. Es störte ihn auch nicht sonderlich, dass Marco jetzt oft so schlechte Laune hatte. Er fand schlechte Laune nicht schlimm. Die war ihm immer noch lieber als die absolute Gleichgültigkeit seines Vaters. Der hatte nicht einmal schlechte Laune, er war im Prinzip eigentlich gar nicht anwesend, selbst wenn er mit seinem Sohn am Tisch saß. Da fand Daniel es schon besser, wenn jemand wütend oder traurig oder eben einfach schlecht gelaunt war, da wusste man wenigstens, woran man war.

Lola und Marco waren stehen geblieben. »Hier ist ein guter Platz, oder?«, fragte Lola.

Alina und Daniel nickten, Marco war natürlich nicht einverstanden. »Wenn das hier richtig voll wird, siehst du jedenfalls nichts mehr, Lola.«

Lola war schon immer die Kleinste von ihnen gewesen. Sie hoffte inbrünstig darauf, bald zu wachsen, bisher jedoch vergeblich. Sie grinste Marco an. »Dann lässt du mich auf deinen Schultern sitzen, damit ich den besten Blick von allen habe. Aber hier ist ein Baum, wir haben Schatten, und die Bühne ist nicht weit weg. Ich finde, wir bleiben hier.«

»Von mir aus«, brummte Marco, »ich mache mir aus der Musik sowieso nichts.«

»Jetzt hör schon auf, hier wieder schlechte Laune zu verbreiten«, fuhr Lola ihn ungeduldig an, und wie üblich ließ er sich ausgerechnet von ihr diesen Ton gefallen. Die anderen beiden wunderten sich immer wieder.

Er verzog nur das Gesicht und streckte sich auf dem Rasen aus, wie es um sie herum schon viele andere gemacht hatten. Noch lagen alle, aber erfahrungsgemäß änderte sich das, wenn eine Band dem Publikum ordentlich einheizte, so dass die Leute anfingen zu tanzen.

Auch Lola legte sich hin, Alina und Daniel blieben sitzen und ließen ihre Blicke wandern, um festzustellen, ob Bekannte oder Freunde im Park waren. Alina sprang gleich wieder auf und begrüßte ein paar Mädchen aus ihrer Klasse, Daniel rührte sich nicht. Er kannte einige Leute, aber er hatte nicht das Bedürfnis, sich mit ihnen zu unterhalten.

Wenig später gab es eine Ansage, dass die Band, die eigentlich hätte auftreten sollen, leider verhindert war, so dass eine andere Band kurzfristig hatte einspringen müssen. Das sorgte für Unruhe im Publikum, aber die meisten Leute blieben, weil sie erst einmal abwarten wollten, was die Ersatzband zu bieten hatte.

Auch die vier Freunde warteten ab, waren sich aber nach den ersten beiden Stücken einig, dass sie den Park verlassen wollten, und das taten sie auch.

»So eine Pleite!«, schimpfte Lola. »Ich hatte mich echt auf das Konzert gefreut, und dann suchen sie so eine Gurken-Band als Ersatz aus! Und was machen wir jetzt?«

»Wir gehen auf dem Marktplatz ein Eis essen«, schlug Alina vor. »Wenn wir uns auf den Brunnenrand setzen, ist das nicht so teuer, und da kann man schön Leute gucken.«

Marco verzog natürlich angewidert das Gesicht, sagte aber nichts und da die beiden anderen einverstanden waren, galt Alinas Vorschlag damit als angenommen.

Aber aus dem Eis wurde dann erst einmal nichts, denn als sie den Marktplatz erreichten, blieb Marco wie angewurzelt stehen, den Blick starr auf zwei Personen gerichtet, die vor dem teuersten Juweliergeschäft des gesamten Umlandes standen.

»Was ist denn?«, fragte Lola, bevor sie seinem Blick folgte. Sie kniff leicht die Augen zusammen. Es dauerte einige Sekunden, bis sie erkannte, wer dort stand. »Ach, der kleine Fürst und seine Freundin«, sagte sie, eher erfreut.

»Wo?« Alina wurde ganz aufgeregt. Seit sie die beiden bei der Verleihung des Musikpreises aus der Nähe erlebt hatte, war sie immer wieder darauf zurückgekommen, wie ›süß‹ sie den kleinen Fürsten fand und wie toll er geredet hatte. Außerdem behauptete sie steif und fest, er habe ihr einmal sogar zugelächelt.

»Da drüben, vor dem Juweliergeschäft.« Lola kicherte. »Um sich schon Ringe anzusehen, sind sie eigentlich noch zu jung, oder? Aber offenbar will er ihr trotzdem schon was schenken, sie scheint sich ja etwas ausgesucht zu haben.«

Tatsächlich zeigte Stephanie auf eine bestimmte Stelle in der Auslage.

»Sie sieht wieder toll aus«, sagte Alina schwärmerisch. »Einmal im Leben möchte ich auch so ein Kleid tragen. Sie sieht aus wie eine Filmschauspielerin. Sollen wir hingehen und ›hallo‹ sagen?«

Lola tippte sich an die Stirn. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die sich an uns erinnern? Was willst du denn sagen? ›Hallo, wir haben uns bei der Preisverleihung neulich kurz gesehen. Wir sind mit dem Bruder von Frieda Eckert befreundet, ach, das hier ist er übrigens‹? So in der Art? Wahrscheinlich wissen sie nicht einmal mehr, wer Frieda ist. Die machen so etwas ständig, da merken sie sich doch keine Namen oder Gesichter, schon gar nicht von Leuten, die nur zufällig dabei waren.«

»Ich gehe«, sagte Marco. »Ihr könnt gerne bleiben und die beiden weiter anhimmeln, aber mich kotzt das an.« Er drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Marktplatz.

Daniel folgte ihm sofort, die Mädchen zögerten zuerst, schlossen sich dann aber ebenfalls an.

»Jetzt renn doch nicht so!«, rief Lola. »Marco! Bleib stehen. Was ist denn jetzt schon wieder los?«

Er blieb stehen und funkelte sie an. »Das fragst du mich im Ernst? Ich fasse es nicht. Ich dachte immer, du hättest Grips im Hirn!«

»Drück dich etwas deutlicher aus!«

»Die stehen da und gucken sich Sachen an, die so teuer sind, dass wir garantiert einen ganzen Monat davon leben könnten, vielleicht sogar noch länger«, stieß Marco hasserfüllt hervor. »Sie sind toll angezogen und können sich gut benehmen, und das reicht, dass die ganze Welt sie sympathisch findet. Ihr beide findet sie sogar ›süß‹ und beneidet sie auch noch. Echt, ihr seid so bescheuert manchmal! Die kommen mit goldenen Löffeln im Mund zur Welt, und das Einzige, was euch dazu einfällt ist, dass ihr gern sein würdet wie sie.«

»Nun komm mal wieder runter, ja? Sie haben uns nichts getan, und zu Frieda waren sie sehr freundlich.«

»Und das allein rechtfertigt, dass sie sich alles leisten können, was sie sich wünschen, während wir jeden Cent umdrehen müssen, bevor wir ihn ausgeben? Sie müssen nur nett und freundlich sein, und alles ist in Ordnung? Ihr habt sie doch nicht alle!«

Er war so zornig, dass selbst Lola nicht wagte, ihm zu widersprechen. »Also gut, es ist nicht gerecht«, sagte sie. »Aber die beiden haben sich ja auch nicht aussuchen können, in welche Familien sie geboren wurden, genau so wenig wie wir.«

»Das hast du neulich schon mal gesagt.«

»Deshalb ist es ja nicht falsch.«

»Es ist aber auch kein Argument«, knurrte Marco. »Oder macht das irgendwas besser?«

»Jetzt hör erst einmal auf, uns anzumachen«, verlangte Alina. »Es stimmt, dass es ungerecht ist, dass sie alles haben und wir nichts oder fast nichts. Aber Lola hat Recht: Sie können nichts dafür. Und sie sind nett.«

Marco lachte höhnisch. »Ihr lasst euch ja wirklich leicht Sand in die Augen streuen. Sie sind ein bisschen freundlich zu euch, und schon verzeiht ihr ihnen alles.«

»Was denn?«, fragte Alina. »Ich wusste gar nicht, dass ich ihnen was zu verzeihen habe.«

»Das, was sie haben, nehmen sie anderen weg, ist dir das nicht klar? Wie sind denn die Fürstenhäuser an ihren Reichtum gekommen? Indem sie früher die armen Bauern ausgebeutet haben.«

»Oh, hör auf, Marco«, sagte Lola. »Das ist lange vorbei, und das kannst du wohl kaum dem kleinen Fürsten und seiner Freundin vorwerfen.«

»Ihr begreift es einfach nicht«, sagte Marco. »Ihr Reichtum gehört ihnen eigentlich überhaupt nicht, aber sie haben sich natürlich daran gewöhnt und denken gar nicht daran, ihn wieder herauszurücken.«

»An wen denn auch?«, fragte Lola. »An die armen Bauern von damals? Mach dich nicht lächerlich. Oder willst du eine Revolution anzetteln?«

»Ein Denkzettel würde vielleicht schon genügen«, murmelte Marco. »Es geht ja nur darum, solchen Leuten auch mal klarzumachen, dass es nicht allen so gut geht wie ihnen und dass sie dafür mitverantwortlich sind.«

»Meinst du nicht, dass sie das wissen?«, fragte Daniel, der sich bisher aus der Debatte herausgehalten hatte. »Die Eltern des kleinen Fürsten haben immer viel gespendet und Stiftungen gegründet und so. Die haben echt viel von ihrem Reichtum abgegeben.«

»Ja, aber immer nur so viel, dass sie selbst trotzdem reich geblieben sind«, sagte Marco.

Alina, die es gern harmonisch hatte, wiederholte, was sie bereits gesagt hatte: »Es stimmt, dass es ungerecht ist, dass sie reich sind, ohne etwas dafür tun zu müssen. Aber wir werden daran nichts ändern können, Marco.«

Zu ihrer, Lolas und Daniels Erleichterung legte Marco offenbar keinen Wert auf eine Fortsetzung ihrer Debatte, denn er brummte daraufhin nur etwas Unverständliches vor sich hin. Sie suchten sich eine Eisdiele weitab vom Marktplatz und setzten sich dann auf eine sonnenbeschienene Mauer. Keiner von ihnen kam noch einmal auf die Ungerechtigkeit der Welt zu sprechen, auch Marco nicht.

*

»Sie ist außergewöhnlich«, sagte Christian, als Stephanie ihm die Brosche gezeigt hatte. »Und wunderschön. Vor allem passt sie haargenau zu Frau Maurer, weil man ihr nicht ansieht, wie kostbar sie ist. Sie hat diese … diese zurückhaltende Eleganz, die ich an den Kleidern, die sie entwirft, immer so toll finde. Aber sie ist echt wahnsinnig teuer, Steffi. Noch teurer, als ich dachte.«

»Meine Oma hat Geld genug.«

»Ja, das weiß ich, aber ich frage mich, ob ein so teures Geschenk Frau Maurer gefiele. Du kennst sie doch. Sie ist immer so bescheiden, und noch heute erwähnt sie oft, dass sie es manchmal immer noch nicht fassen kann, wie luxuriös sie jetzt wohnt. Wenn man sein Leben lang arm war, wirkt das wahrscheinlich für immer nach.«

»Das sagt sie ja auch selbst, aber zugleich sagt sie, wie sehr sie es genießt, dass sie es jetzt so schön hat.«

Stephanie wandte nachdenklich den Blick von der kostbaren Brosche ab. »Ich zeige sie Omi, die kann besser beurteilen, ob es das richtige Geschenk wäre oder nicht. Die beiden sind ja richtig gute Freundinnen geworden, sie reden viel miteinander, auch darüber, dass sie aus so verschiedenen Welten kommen.«

»Ich finde es toll, dass sie das Experiment gewagt haben. Frau Maurer ist über achtzig, deine Oma knapp darunter – und dann gründen sie noch eine solche Wohngemeinschaft. Dazu gehört viel Mut.«

»Mut haben sie beide.« Stephanie griff nach Christians Hand. »Essen wir ein Eis? Danke jedenfalls, dass du dir die Brosche mit mir angesehen hast.«

»Ich bin gespannt, was deine Oma dazu sagt.«

»Sie wird sie sicher auch toll finden. Aber vielleicht hast du Recht: Frau Maurer fände so etwas Teures ganz unangemessen für sich selbst. Sie ist ja immer so bescheiden.«

Sie schlenderten über den Marktplatz und kauften sich zwei Waffeln mit Schokoladeneis, und sie waren froh darüber, dass ihnen zwar hier und da zugelächelt wurde, dass aber niemand Anstalten machte, sie anzusprechen. Und ausnahmsweise war auch weit und breit kein Fotograf in Sicht.

Jedenfalls keiner, den sie bemerkt hätten.

*

»Was ist los?«, fragte Maren Röhnelt, nachdem sie Saskia eine Weile beobachtet hatte. Sie waren allein im Salon, der letzte Kunde war gerade gegangen, den nächsten erwarteten sie erst in einer halben Stunde. »Ist das junge Liebesglück schon getrübt?«

Saskia presste die Lippen aufeinander. Sie hatte Maren bis jetzt noch nichts von Marcos Auftritt bei Bernds erstem Besuch bei ihr zu Hause erzählt. Das tat sie jetzt, während Maren und sie ihren Mittagsimbiss einnahmen, den sie sich beide von zu Hause mitbrachten. Der Kaffee, den sie anschließend trinken wollten, lief bereits durch die Maschine.

»Er hat sich Bernd gegenüber unmöglich genommen«, schloss Saskia ihre Schilderung. »Ich habe mich richtig für ihn geschämt. Und auch dafür, dass ich nicht mit ihm fertig werde. Ich komme mir immer mehr vor wie eine schlechte Mutter, weil ich es nicht schaffe, meinen Kindern Benehmen beizubringen.«

»Das stimmt ja nicht, Frieda ist supergut gelungen«, widersprach Maren. »Und so wie du Bernds Reaktion schilderst, kann ich nur sagen: Er hat doch total cool reagiert! Also, ich kennen viele Männer, die ausgerastet wären.«

»Ja, er war toll, aber seit dem Abend redet Marco praktisch überhaupt nicht mehr mit mir. Er knallt nur noch mit den Türen, kommt und geht, wann er will und ist auch ziemlich unfreundlich zu Frieda. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll. Es ist schon so weit, dass ich Magenschmerzen kriege, wenn ich unsere Wohnung betrete. Ich erkenne ihn nicht wieder, Maren.«

»Hast du mal mit seinen Lehrern gesprochen?«

»Ja, aber das ist schon eine Weile her. Als feststand, dass er die Klasse wiederholen musste, war ich in der Schule.« Saskia zuckte mit den Schultern. »Die kamen mir auch ziemlich hilflos vor. Er interessiert sich nicht für den Unterricht, sagen sie, und deshalb tut er nichts für die Schule. Dabei ist er klug genug, er hätte studieren können, wenn er sich mehr angestrengt hätte, aber er will einfach nicht. Und ich kann ihm das Interesse für den Unterricht ja nicht einimpfen. Dabei glaube ich, dass er, zumindest zum Teil, wirklich gute Lehrer hat, aber die erreichen ihn so wenig wie ich.«

»Und wenn du ihm sagst, er soll ausziehen?«

»Spinnst du? Er ist nicht volljährig, ich bin für ihn verantwortlich.«

»Ja, noch bis zu seinem nächsten Geburtstag. Das ist nicht einmal mehr ein Jahr, dann kann er sowieso machen, was er will.«

»Ich darf gar nicht daran denken, ehrlich nicht. Du glaubst nicht, was ich für eine Angst habe, dass er auf die schiefe Bahn gerät!«

»Übertreib mal nicht. Bis jetzt klingt das alles ziemlich genau so wie das, was ich von anderen Müttern mit Kindern in dem Alter höre.«

Diese letzte Bemerkung tröstete Saskia ein wenig. Sie genoss ihre Tasse Kaffee und als der nächste Kunde kam, schaffte sie es sogar, mit ihm ein wenig herumzualbern.

Maren sah es mit Freude.

*

»Na, Kleine«, sagte Lolas ältere Schwester Karina, »wie sieht’s aus?«

»Nicht so toll«, antwortete Lola niedergeschlagen. »Ich bin immer froh, wenn ich weggehen kann.«

»So schlimm?«

Lola nickte, ganz plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich weiß nicht, ob ich das noch aushalte, bis ich mit der Schule fertig bin, Karina. Papa trinkt jetzt schon seit Wochen wieder, und mir kommt es so vor, als wäre es dieses Mal schlimmer als sonst.« Sie wischte sich über die Augen. »Mama hat ihren Job verloren, weil sie ständig krank ist. Der Chef hat ihr gesagt, er kann nicht dauernd Ersatz für sie suchen, sie ist ihm zu unzuverlässig. Seitdem liegt sie die meiste Zeit im Bett. Sie steht nur auf, um etwas zu essen zu machen, bevor er nach Hause kommt, damit Papa nicht auch deswegen noch ausrastet.«

Karina nahm Lola in die Arme und drückte sie an sich. »Es ist zu klein hier bei mir, aber willst du trotzdem kommen? Wenigstens für eine Weile? Irgendwie würden wir uns schon arrangieren können, schätze ich. Ich kann mir ja vorstellen, wie es zu Hause ist, schließlich habe ich das selbst lange genug mitgemacht.«

Lola überlegte, schüttelte aber schließlich den Kopf. »Ich möchte schon weg, aber wenn ich gehe, ist Mama völlig allein mit ihm, dann … dann stirbt sie, glaube ich. Ich merke immer, wie froh sie ist, wenn ich aus der Schule komme. Sie sagt ja nicht viel, aber ich merke es trotzdem, auch wenn sie dann noch im Bett liegen bleibt. Manchmal weint sie auch. Sie hat keine Kraft mehr und wenn sie mit Papa allein wäre, wäre das noch schlimmer für sie. Ich …«

Lola stockte, bevor sie nach einer Weile mit viel leiserer Stimme hinzusetzte: »Er schlägt sie weniger, wenn ich dabei bin. Das letzte Mal habe ich ihm mit der Polizei gedroht, da hat er es mit der Angst zu tun bekommen.«

Karina ließ sie los, sie war blass geworden. »So weit ist das mittlerweile?«

Lola senkte den Kopf, sie konnte ihre Schwester nicht ansehen. »Schon länger«, sagte sie. »Wenn Papa wieder nüchtern ist, tut es ihm jedes Mal wahnsinnig leid, aber du weißt ja, wie er ist, wenn er getrunken hat.«

Karina begann, in ihrem winzigen Wohnzimmer auf und ab zu laufen. »Ich rede noch einmal mit ihr. Sie muss ihn verlassen, sonst geht sie vor die Hunde.«

»Aber sie hat doch kein Geld! Sie müsste zum Sozialamt, das macht sie nicht, du kennst sie doch. Sie würde sich in Grund und Boden schämen. Und Papa …« Lola biss sich auf die Unterlippe. »Er ginge noch schneller vor die Hunde als Mama. Sie sorgt immerhin dafür, dass er morgens frühstückt und anständig angezogen aus dem Haus geht. Manchmal ist er morgens noch nicht wieder richtig nüchtern. Wenn sie nicht wäre, würden das schnell alle merken. Ich meine nicht nur seine Kollegen, auch die Chefs, und dann würde er seinen Job wirklich verlieren.«

»Den verliert er über kurz oder lang sowieso«, sagte Karina. »Das kann auf Dauer nicht gut gehen, das habe ich dir ja neulich schon gesagt.«

Lola nickte, sie weinte wieder. Diese Schwäche erlaubte sie sich nur bei Karina. Keiner ihrer Freunde hatte sie jemals weinen sehen.

Karina schloss sie erneut in die Arme, dieses Mal hielt sie sie länger fest. Am liebsten hätte sie selbst geweint, weil ihre Kräfte nicht ausreichten, um ihre Familie zu retten. Aber das hätten sie nur alle gemeinsam schaffen können. Sie allein konnte da überhaupt nichts ausrichten. Auch Lola und sie gemeinsam waren zu schwach, um die Mutter aus ihrer Erstarrung zu lösen und den Vater vom Alkohol wegzubringen, den er einmal als seinen ›besten Freund‹ bezeichnet hatte, der ihn nie im Stich ließ.

Alles geht kaputt, dachte sie trostlos. Alles.

Aber dann fiel ihr wieder die Preisverleihung ein, auf die sie Lola neulich begleitet hatte: Frieda Eckert, Marcos Schwester, war geehrt worden. Das war immerhin ein Lichtblick, zwar nicht für ihre Familie, aber doch für Menschen, die sie gut kannte. Frieda würde vielleicht eine große Karriere machen.

Ihr nächster Gedanke galt bereits dem jungen Mann, der den zweiten Preisträger begleitet und der sie im Laufe der Veranstaltung mehrmals angesehen und angelächelt hatte. Seitdem hoffte sie, ihm zufällig wieder zu begegnen, denn Sternberg war schließlich nicht besonders groß. Bis jetzt jedoch war es leider zu keiner weiteren Begegnung gekommen.

Sie gab sich einen Ruck. Auch was ihre Familie betraf, wollte sie die Hoffnung noch nicht aufgeben. Ihre Eltern waren ja nicht immer so gewesen wie heute. Vielleicht brauchten sie nur den richtigen Anstoß, um aufzuwachen und ihrem Leben wieder eine andere Richtung zu geben? Unmöglich war das nicht.

Aber als Lola sich verabschiedet hatte, merkte Karina erst, wie niedergeschlagen sie durch den Besuch ihrer Schwester geworden war. Die Bilder ihrer apathischen Mutter im Schlafzimmer und ihres betrunkenen Vaters im Wohnzimmer verfolgten sie bis in den Schlaf.

*

»Onkel Ben!«, sagte Alina erfreut, als sie ihrem Onkel die Tür öffnete. »Du hast dich ja lange nicht blicken lassen.«

»Stimmt, aber jetzt bin ich da, ich hatte Sehnsucht nach dir.«

Der kleine Fürst 250 – Adelsroman

Подняться наверх