Читать книгу Der kleine Fürst 254 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 3
ОглавлениеStephanie stand ganz dicht an die Wand gedrückt. Noch konnte sie es nicht glauben, noch fürchtete sie eine weitere Sinnestäuschung. Davon hatte es, seit sie hier eingesperrt war, schon genug gegeben: böse Träume, düstere Fantasiegestalten, die sie gequält hatten. Vielleicht war das jetzt wieder ein Traum – wenn auch einer, der ihr Hoffnung vorgaukelte?
Sie hatte Christians Stimme gehört, auf der anderen Seite der Wand, ganz deutlich hatte sie sie gehört.
»Ja, ich bin hier«, sagte sie, es kam so leise heraus, dass sie es selbst kaum hörte.
Sie probierte es lauter, aber natürlich kam keine Antwort von der anderen Seite, sie hatte auch nicht damit gerechnet.
Sie wusste selbst nicht, warum sie trotzdem noch einmal alle Kraft zusammennahm und rief: »Ich bin hier, Chris!«
Zwei Sekunden Stille, dann klopfte es an die Wand. »Steffi, Steffi, sie haben mich auch entführt!«
Sie vergaß ihre Schwäche, sie vergaß die Verzweiflung, sie vergaß, dass sie gerade eben noch geweint und geschrien hatte, denn das hier war keine Sinnestäuschung, es war wirklich und wahrhaftig Christians Stimme! »Oh, Chris!«, rief sie. »Sprich mit mir, damit ich sicher sein kann, dass das nicht wieder nur ein Traum ist.«
»Es ist kein Traum. Ich dachte das zuerst auch, als ich dich schreien hörte. Du hast mich geweckt, zum Glück, weil ich schreckliche Träume hatte.«
»Die hatte ich auch, die ganze Zeit, es war schwer, richtig wach zu werden. Aber wieso bist du hier? Ich war doch ganz allein …«
Er erzählte ihr, dass er auf sie gewartet hatte, um mit ihr zu reden und beschrieb ihr die Szene, die er beobachtet hatte, kurz bevor er selbst von den vier Entführern überwältigt worden war.
»Ja, ja, ich erinnere mich, dass sie mir etwas aufs Gesicht gedrückt haben. Danach wurde alles dunkel.«
»Du warst bewusstlos, als ich aufgetaucht bin. Als ich dich so sah, bin ich beinahe verrückt geworden und habe überhaupt nicht begriffen, was sich da abspielte. Ich bin einfach losgerannt, um dir zu helfen, das war bestimmt dumm, aber ich konnte nicht denken. Sonst wäre ich vielleicht vorsichtiger gewesen. Jedenfalls haben sie mich auch betäubt und als ich wieder aufgewacht bin, war ich hier.«
»Ich habe dich nicht gehört, ich dachte, ich sei ganz allein.« Vor Erleichterung fing Stephanie wieder an zu weinen.
»Du bist nicht allein. Haben sie dir etwas getan? Dich geschlagen oder verletzt?«
»Nein, nein, nichts. Sie haben mich nur betäubt.«
»Das muss ein Narkosemittel gewesen sein, hast du auch Kopfschmerzen?«
»Jetzt nicht mehr so. Ach, Chris, ich … ich bin so froh, dass du hier bist.«
»Das bin ich auch. Hast du Wasser? Und etwas zu essen?«
»Ja, Wasser ist da, ich hatte Durst, als ich aufgewacht bin. Und einen Müsliriegel habe ich.«
»Genau wie ich.«
Stephanies Tränen versiegten. Sie war nicht allein. Im Augenblick war das wichtiger als alles andere.
»Weißt du, wo wir hier sind?«, fragte Christian.
»Keine Ahnung.«
»Vielleicht können wir etwas sehen, wenn es draußen hell wird.«
»Sie haben mir eine Taschenlampe hiergelassen, aber gesehen habe ich trotzdem nichts. Hast du auch diese komischen schmalen Fenster auf halber Höhe in deinem Raum?«
»Ja, und ich glaube, ich weiß, wozu sie gut sind.«
»Wozu?«
»Sie haben uns in Büros eingesperrt, die in eine Fabrikhalle gebaut worden sind. Ich habe so etwas schon einmal gesehen. In den Büros haben die Aufseher gesessen. Die Fenster sind so angebracht, dass man im Sitzen, also von einem Schreibtisch aus, nach draußen in die Halle sehen kann.«
»Eine Fabrikhalle«, wiederholte Stephanie gedehnt. »Ja, das kann sein. Wenn ich mit der Taschenlampe nach draußen leuchte, sehe ich nur undeutliche Schatten.«
»Sobald hier etwas Licht hereinfällt, untersuche ich unser Gefängnis etwas genauer. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, uns zu befreien.«
»Die Tür ist jedenfalls ziemlich stabil, ich habe schon dagegen getreten, sie hat sich nicht gerührt. Ich habe Angst, Chris. Sie sind nicht hier, aber sie werden wiederkommen. Ich habe Angst, dass sie uns dann etwas tun.«
»Sie wollen Geld erpressen, wie alle Entführer. Und das Geld kriegen sie nur, wenn sie beweisen können, dass wir noch leben.«
»Ich verstehe nicht, wieso sie ausgerechnet mich entführen. Meine Eltern sind nicht so reich.«
»Aber ich bin es«, erwiderte Christian schlicht. »Und natürlich war ihnen klar, dass ich jede Summe bezahlen würde, um dich frei zu bekommen. Und jetzt haben sie ja aus Versehen sogar uns beide erwischt.«
»Vielleicht war es kein Versehen.«
»Es muss eins gewesen sein. Niemand außer meiner Familie wusste, dass ich nach deiner Klavierstunde mit dir reden wollte.« Christian stockte kurz. »Ich wollte mit dir über unseren Streit reden, Steffi. Ich wollte dich um Verzeihung bitten.«
Sie lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand. »Bitte, nicht jetzt«, sagte sie schwach. »Das kann warten, oder?«
»Ja, natürlich. Wir müssen uns zuerst um unsere Befreiung kümmern.«
»Unsere Befreiung«, wiederholte sie. »Glaubst du, die Polizei sucht uns schon?«
»Mit Sicherheit«, antwortete Christian. »Und Anna und Konrad zerbrechen sich auch schon die Köpfe, was mit uns passiert ist. Wenn es Spuren zu unseren Entführern gibt, dann finden sie sie, zusammen mit dem Kriminalrat und seinem Team.«
»Spuren zu unseren Entführern? Ich kann mir ja selbst nicht einmal vorstellen, wer sie sein könnten. Ich bin sicher, dass ich sie nie zuvor gesehen hatte. Allerdings kamen sie mir irgendwie wie Schauspieler vor.«
»Sie waren verkleidet, und ich glaube, die Frauen haben Perücken getragen.«
»Richtig!«, rief Stephanie. »Das habe ich auch sofort gedacht, und sie hatten diese seltsamen grünen Augen, von denen ich dann ständig geträumt habe.«
»Wie alt kamen sie dir vor?«, fragte Christian.
Die Frage überraschte Stephanie, darüber hatte sie bis jetzt noch nicht nachgedacht. »Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich zögernd. »Nicht sehr alt, glaube ich.«
»Und ich glaube, sie waren sogar ziemlich jung. Vielleicht nicht einmal viel älter als wir.«
»Was? Aber Jugendliche entführen doch niemanden!«
»Ich bin nicht sicher, aber ich habe ja gesehen, wie sie sich bewegt haben. Und sie haben auch gesprochen, bevor ich bewusstlos geworden bin. Außerdem war die Eine sehr klein.«
»Es gibt doch auch kleine Frauen«, sagte Stephanie.
»Ja, natürlich, aber ich glaube trotzdem, dass sie sehr jung waren. Mein Gefühl sagt mir das.«
Je länger Stephanie über Christians Worte nachdachte, desto wahrscheinlicher fand sie seine Theorie. »Ich habe ein Stück vom Bauch der einen Frau gesehen«, sagte sie. »Nicht von der Kleinen, von der anderen. Es stimmt, was du sagst. Der war ganz glatt und fest. Er war … jung. Aber was bedeutet das denn, Chris? Wieso sollten uns vier Jugendliche entführen.«
»Wenn ich das wüsste!« Christians Stimme klang müde.
Auch Stephanie merkte, dass ihr der Kopf wieder schwer wurde. Irgendwo pochte noch ein kleiner Schmerz, und sie fühlte sich so erschöpft wie nach einem langen, anstrengenden Marsch. »Sollen wir noch etwas schlafen? Ich glaube, jetzt kann ich sogar Ruhe finden, wo ich weiß, dass du gleich nebenan bist.«
»Ja, lass uns noch ein bisschen schlafen. Und wenn wir wieder aufwachen, denken wir über unsere Befreiung nach.«
Stephanie trank noch einen Schluck Wasser, bevor sie sich wieder auf ihrer Luftmatratze ausstreckte. Die Dämonen ließen sie tatsächlich in Ruhe, sie schlief ein und träumte nichts.
*
Im Schloss herrschte in dieser Nacht der Ausnahmezustand.
Bis in die frühen Morgenstunden waren die Schlossbewohner wach geblieben, auch weil die Kriminalpolizei noch gekommen war, um Erkundigungen über die näheren Umstände des Verschwindens von Stephanie und Christian einzuziehen. Und natürlich hatten sie mehrmals mit Stephanies Eltern telefoniert, einmal auch mit ihrer Großmutter Emilia und deren Freundin Hanne Maurer. Sie einte die Angst um die beiden verschwundenen Jugendlichen.
Später hatten zuerst Anna und Konrad den Kampf gegen den Schlaf verloren und sich in ihre Zimmer zurückgezogen.
Der Baron war in seinem Sessel eingeschlafen, schreckte aber immer wieder für kurze Zeit in die Höhe, um dann erneut einzunicken, sobald er hörte, dass es keine Neuigkeiten gab. Baronin Sofia jedoch war weiterhin schlaflos durch die Salons gewandert, hatte sich in die Bibliothek gesetzt, war wieder zurückgewandert. Schlafen konnte sie nicht.
Wie ihr erging es Eberhard Hagedorn. Er brachte Sofia Tee und Kleinigkeiten zum Essen, obwohl sie ein ums andere Mal versicherte, sie brauche nichts, er solle sich doch bitte ins Bett legen und schlafen.
»Ich kann nicht, Frau Baronin«, erwiderte er, und da sie das verstand, akzeptierte sie es schließlich.
Marie-Luise Falkner war irgendwann doch nach Hause gefahren, auch Jannik hatte sich in seine Wohnung auf dem Schlossgelände zurückgezogen, obwohl er seinen Ausbilder eigentlich nicht hatte allein lassen wollen. Erst als Eberhard Hagedorn ihm praktisch den dienstlichen Befehl gegeben hatte, noch ein paar Stunden zu schlafen, war er bereit gewesen, das Schloss zu verlassen.
Als die Dunkelheit der Nacht begann, sich aufzulösen, war es gegen vier Uhr. Zu diesem Zeitpunkt hatte Eberhard Hagedorn dem Drängen von Baronin Sofia endlich nachgegeben und sich zu ihr gesetzt. Sie sprachen leise, um den Baron nicht zu wecken, der gerade wieder eingeschlafen war.
»Glauben Sie, dass die beiden entführt wurden, Herr Hagedorn?«
»Ja«, antwortete er ohne zu zögern. »Was sonst sollte passiert sein? Frau Bauer und Herr Stöver sagten, ein Unfall könne mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. Und die Tatsache, dass Stephanie ihre Klavierstunde hatte, also einen regelmäßigen Termin, spricht auch dafür. Wenn die Entführer ihre Gewohnheiten studiert haben, wussten sie, wo sie sie finden würden.«
»Und dann ist Chris aufgetaucht …«, murmelte Sofia niedergeschlagen.
»Das kann ein Unglück sein, aber auch ein Glück, Frau Baronin.«
»Ein Glück?«, fragte sie ungläubig. »Wie kann die Entführung eines Menschen ein Glück sein?«
»Sie sind zusammen«, antwortete er. »Sie können einander stützen. Sie finden vielleicht gemeinsam eine Möglichkeit, sich zu befreien. Zu zweit ist alles leichter.«
Sie dachte darüber nach. »Möglich ist es«, gab sie schließlich zu. »Es kann aber auch ein Unglück sein, weil die Entführer nicht auf zwei Opfer vorbereitet waren und jetzt überfordert sind. Sie müssen improvisieren.«
»Ja, auch das ist möglich.«
»Aber wieso rufen sie nicht an?«, fragte Sofia. »Das ist es, was ich überhaupt nicht begreife.«
»Vielleicht, weil sie sich erst auf die neue Situation einstellen und überlegen müssen, wie sich das auf ihre Forderungen auswirkt. Außerdem nehme ich an, dass ihnen klar geworden ist, wie vorsichtig sie sein müssen. Den kleinen Fürsten zu entführen ist schon eine ziemlich große Sache. Das erregt viel mehr Aufsehen, als hätten sie allein Stephanie entführt.«
Sofia lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich bin todmüde, aber ich kann trotzdem nicht schlafen«, sagte sie leise.
»Ich könnte Ihnen heiße Milch mit Honig machen – ein altes Hausmittel, Frau Baronin.«
Sie wollte schon ablehnen, überlegte es sich jedoch anders. »Gut«, sagte sie. »Ich trinke ein Glas, wenn Sie auch eins trinken. Dann finden wir beide vielleicht wenigstens noch zwei Stunden Schlaf.«
Er nickte lächelnd und machte sich auf den Weg zur Küche. Als er zurückkehrte, schlief die Baronin. Er stellte das Glas Milch neben ihr auf den Tisch, so konnte sie es trinken, falls sie noch einmal aufwachte. Anschließend zog er sich in seine Wohnung zurück. Er würde nicht schlafen, das wusste er bereits. Die Erinnerungen an seine eigene Entführung quälten ihn, und er wurde das Bild von Stephanie und Christian nicht los, wie sie an einem unbekannten Ort festgehalten wurden, verängstigt und verzweifelt.
Er war alt und lebenserfahren, und für ihn war die Zeit in der Gewalt der Entführer kaum zu ertragen gewesen. Wie musste es dann erst für Jugendliche – halbe Kinder – sein? Oder ertrugen sie eine solche Erfahrung besser, weil sie die Hoffnung nicht so schnell aufgaben und körperlich widerstandsfähiger waren?
Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er sich nichts mehr wünschte als ein schnelles und glückliches Ende dieser unseligen Geschichte.
*
Bernd Erichsen befreite sich sanft aus Saskias Armen. Ihr Arbeitstag begann deutlich später als seiner. Er war morgens immer einer der Ersten in der Autowerkstatt. Frühaufsteher war er schon immer gewesen, er liebte die ersten beiden Stunden, wenn er praktisch allein war und in Ruhe arbeiten konnte. Morgens um sechs gab es noch Kunden, keine Kollegen, keine drängelnden Telefone, keine Sekretärin, die ständig mit neuen Anfragen kam. Es gab nur ihn und die Autos. Wenn seine Kollegen und der Chef eintrudelten, hatte Bernd in der Regel schon einen Großteil dessen erledigt, was sie am vergangenen Tag nicht mehr geschafft hatten.
Zuerst war er schief angesehen worden, weil er immer so früh kam, aber die anderen hatten sich daran gewöhnt, auch der Chef, der zunächst von gleitender Arbeitszeit nichts hatte wissen wollen. Mittlerweile wussten es alle zu schätzen, wie viel Bernd in den frühen Morgenstunden wegschaffte.
Er stand also wie immer um fünf auf. Saskia murmelte etwas im Schlaf, wachte aber nicht auf. Er ging leise ins Bad, duschte, zog sich an.
Danach ging er in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Den brauchte er, um in die Gänge zu kommen. Er nahm auch immer Kaffee in einer Thermoskanne mit, sowie zwei Brote, für sein Frühstück, das er gegen acht einnahm.
Zu seinem Erstaunen saß Marco am Küchentisch. »Wieso bist du denn so früh auf?«, fragte er.
Das Verhältnis zu Saskias Sohn war noch immer nicht entspannt, obwohl der Junge nicht länger gegen ihn hetzte und wütete, wie er es zu Beginn ihrer Beziehung getan hatte. Zwar duldete er es jetzt, dass der Freund seiner Mutter gelegentlich bei ihnen übernachtete, aber er begegnete Bernd nach wie vor viel zurückhaltender als seine jüngere Schwester Frieda. Für die Zehnjährige war Bernd längst ein fester Bestandteil der Familie geworden. Sie hoffte – und sagte das auch – dass Saskia und Bernd heirateten, damit sie endlich wieder einen Papa hatte.
»Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Marco.
»Willst du auch einen Kaffee?«
Der Junge nickte.
Bernd stellte also die Kaffeemaschine an und begann, sich die Brote zu machen, die er mitnehmen wollte. »Ich war auch mehrmals wach«, sagte er. »Da war irgendwie Unruhe in der Stadt, ich habe mehrmals eine Polizeisirene gehört.«
»Ja, ich auch«, sagte Marco.
Bernd warf ihm einen prüfenden Blick zu. Der Junge kam ihm verändert vor. Er hatte sicherlich nicht nur wegen der Polizeisirenen schlecht geschlafen. »Ist in der Schule alles okay?«, fragte er, um einen beiläufigen Ton bemüht. Wenn Marco das Gefühl hatte, dass er ausgefragt wurde, reagierte er sofort ausgesprochen pampig.
»Ja, ganz gut eigentlich.« Marco starrte weiterhin vor sich auf den Tisch.
Bernd überlegte, ob er es wagen konnte, noch weitere Fragen zu stellen, entschied sich dann aber dagegen. Er wusste ja, wie schnell bei Marco die Laune wechselte, und er legte am frühen Morgen keinen Wert auf eine Auseinandersetzung. Er hatte an diesem Tag besonders viel zu tun, da brauchte er einen klaren Kopf.
Er stellte einen Becher Kaffee vor Marco hin, schenkte sich selbst ebenfalls ein, füllte den Rest des Kaffees in seine Thermoskanne und setzte sich dem Jungen gegenüber. Den ersten Kaffee des Tages trank er immer in Ruhe, das war wichtig für einen guten Start.
Da er wusste, dass Marco sich für Autos interessierte, sagte er: »Wir haben gestern einen Oldtimer in die Werkstatt geliefert bekommen, an dem arbeiten wir bestimmt mehrere Wochen lang.
Der Besitzer ist ein Liebhaber, der hat gleich mehrere davon. Ein Cadillac von 1958.«
Tatsächlich flackerte Interesse in Marcos Augen auf. »Echt? Und was ist kaputt?«
»Einiges«, seufzte Bernd. »Es wird wohl mehr oder weniger an mir hängen bleiben, die anderen interessieren sich eher für neue als für alte Autos. Die wissen zum Teil gar nicht mehr, was sie da machen müssten.«
»Ich finde Oldtimer cool«, sagte Marco, »es nervt nur, dass man damit nicht schnell fahren kann.«
Bernd lachte. »Ja, so denken die meisten, das kenne ich schon.« Er leerte seinen Becher und stand auf. »Ich muss los.«
»Wieso eigentlich so früh?«
»Weil ich um diese Zeit ungestört arbeiten kann. Später gibt es dauernd Unterbrechungen, aber morgens um sechs stört mich keiner. Für mich ist das die beste Zeit des Tages.«
»Komisch, dass jemand freiwillig so früh aufsteht«, murmelte Marco.
»Mir macht es nichts aus, für mich ist der frühe Morgen die schönste Tageszeit.«
Bernd verließ das Haus mit dem guten Gefühl, zum ersten Mal so etwas Ähnliches wie ein Gespräch mit Marco geführt zu haben. Immerhin, das war ein Fortschritt.
*
Lola bemühte sich, leise zu sein, um ihre Schwester nicht zu wecken. Karina hatte ja frei, sie wollte ausschlafen, und Lola war viel zu früh aufgestanden. Sie musste noch einmal nach Hause, um ihre Schulsachen zu holen – und dann musste sie zu Daniel, wo sie sich treffen wollten, um über ihr weiteres Vorgehen zu beraten. Daniels Vater verließ das Haus immer sehr früh, deshalb würden sie bei Daniel ungestört sein.
Sie hatte nur wenig geschlafen in der vergangenen Nacht. Und wenn sie eingeschlafen war, war es ein unruhiger, von wirren Träumen zerrissener Schlaf gewesen. Sie fühlte sich jedenfalls wie gerädert. Und immer wieder hatte sie auch Polizeisirenen gehört, die dem galten, was sie und ihre Freunde getan hatten. Jetzt, im Angesicht des heraufziehenden Tages kam es ihr unwahrscheinlich vor, dass sie tatsächlich den kleinen Fürsten und seine Freundin entführt und eingesperrt hatten. Das war doch Wahnsinn! Aber sie hatten es getan.
Sie verzichtete aufs Duschen, denn das Bad lag neben Karinas Schlafzimmer, sie wäre davon sicherlich wach geworden. Sie zog sich nur schnell an, faltete das Bettzeug ordentlich zusammen und legte es ans Fußende des Sofas, auf dem sie geschlafen hatte. Dann verließ sie auf Zehenspitzen die Wohnung, nachdem sie Karina noch ein paar Dankesworte auf einen Zettel gekritzelt und diesen auf den Küchentisch gelegt hatte.
Draußen war es noch kühl, die Luft roch frisch. Sie sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, aber nirgends war ein Polizeiauto zu sehen. Immer wieder war sie in der Nacht aufgeschreckt, weil sie sich eingebildet hatte, es hätte an Karinas Tür geklingelt, dort stünde die Polizei und begehrte Einlass, um sie, Lola, festzunehmen.
Sie erreichte das Haus, in dem ihre Eltern wohnten, ohne dass jemand sie anhielt und von ihr verlangte, sich auszuweisen. Als sie die Wohnung betrat, stellte sie fest, dass ihr Vater Vincent schon auf den Beinen war. Einen Moment lang überfiel sie die lähmende Angst, er könne wieder angefangen haben zu trinken, aber er grinste sie nur freundlich an und sagte: »Früh auf den Beinen!«
»Du auch, Papa.«
»Ich habe einiges gutzumachen bei der Arbeit«, sagte er.
Vincent Kullmann ging seit neuestem regelmäßig zu Treffen der Anonymen Alkoholiker, und die schienen ihm tatsächlich zu helfen. Jedenfalls hatte er, seit Lolas Ausraster, als sie ihren Eltern angedroht hatte, auszuziehen und sie ihrem Schicksal zu überlassen, sollten sie nicht beide ihr Leben ändern, keinen Alkohol mehr angerührt.
Und Lolas Mutter Brigitte hatte ihren Depressionen den Kampf angesagt und das Bett, ihren Rückzugsort, verlassen, um sich wieder dem Leben zu stellen.
Sie arbeitete als Putzfrau in Privathaushalten, und offenbar machte sie es gut, denn sie wurde weiterempfohlen.
»Hauptsache, du bleibst trocken«, sagte Lola. »Das Leben ist einfach schöner so, für uns alle.«
»Ich weiß«, erwiderte ihr Vater. »Was war eigentlich los? Wieso hast du bei Karina übernachtet? Wir haben uns Sorgen gemacht gestern Abend, als du ewig nicht gekommen bist.«
Auch das war neu: dass ihre Eltern sich Sorgen um sie machten. Früher war es eher andersherum gewesen, da hatte Lola sich beständig um ihre Eltern gesorgt, vor allem, seit Karina ausgezogen war.
»Ich wollte mal wieder in Ruhe mit ihr reden, aber dann ist sie erst ziemlich spät gekommen. Und sie hat mir gesagt, dass überall Kontrollen auf den Straßen sind. Sie hätte mich nach Hause bringen müssen, damit ich keinen Ärger kriege, und das wollte ich nicht.«
Lola fand, dass diese Erklärung ziemlich überzeugend klang. Sie hatte sie sich sorgfältig zurechtgelegt.
Vincent nickte denn auch und brummte etwas Unverständliches. Gleich darauf erschien Lolas Mutter. »Du bist aber früh«, staunte Brigitte Kullmann. »Es ist ja noch nicht einmal sechs.«
»Ich weiß, ich habe nicht so gut geschlafen bei Karina. Und wieso seid ihr so früh auf?«
»Wenn ich nichts trinke, schlafe ich nicht gut«, erklärte Vincent leicht verlegen. »Jedenfalls werde ich früh wach, da kann ich dann ja auch aufstehen. So bin ich früher bei der Arbeit, das kommt gut an.«
Lola konnte es sich vorstellen. Vincents Kollegen hatten ihn und seine Alkoholsucht lange gedeckt, weil er beliebt war und gut in seinem Job, so lange er nüchtern war. Aber in letzter Zeit hatten die anderen Phasen überwogen. Er hatte tatsächlich einiges gut zu machen.
»Und ich fange heute in einer neuen Familie an«, erklärte Brigitte. »Da bin ich vorher immer ein bisschen aufgeregt. Ich habe immer noch Angst, dass ich etwas beschädige und mich die Leute dann gleich wieder rauswerfen.«
»Ach, Mama«, sagte Lola.
Brigitte verschwand in der Küche, um Frühstück zu machen. Lola hätte ihr gern gesagt, dass sie keinen Hunger hatte, aber sie bezwang sich. Die Devise lautete: Nicht auffallen. Marco hatte ihnen das eingeschärft, und er hatte zweifellos Recht.
Außerdem hatte sie noch jede Menge Zeit, bevor sie sich auf den Weg zu Daniel machen musste.
*
Alina wachte davon auf, dass ihre Mutter ins Bad ging. Die kleine Wohnung war wirklich sehr hellhörig, hier konnte man schlecht ein Geheimnis hüten.
Bei diesem Gedanken setzte für einen Moment ihr Herzschlag aus. Sie schloss die Augen wieder. Ihr Geheimnis! Wie hatte sie überhaupt schlafen können, angesichts ihres schrecklichen Geheimnisses?
Sie hatten den kleinen Fürsten und seine Freundin entführt, Lola, Daniel, Marco und sie. Gestern, am späten Nachmittag. Sie hatten die beiden entführt und dann in der alten Fabrik eingesperrt, die Daniel auf seinen Erkundungsfahrten gefunden hatte. Ein idealer Ort, um dort jemanden gefangen zu halten, der nicht entdeckt werden sollte. Jetzt, um diese Zeit etwa, hatten sich Marco und Daniel auf den Weg machen wollen, um die beiden wieder zu befreien, aber das war unmöglich, weil es überall in der Stadt von Polizei nur so wimmelte, Lola und Daniel hatten es ihr gestern Abend noch erzählt.
Und das hieß: Sie hatten nicht nur ein Geheimnis, sondern vor allem ein Problem. Denn sie konnten die beiden ja nicht ewig da draußen festhalten, sie mussten sie befreien. Schließlich hatte es eigentlich gar keine Entführung sein sollen, sondern eher eine Art Denkzettel für Menschen, die sich um nichts Sorgen machen mussten, weil ihnen von Geburt an schon alles in den Schoß gelegt worden war.
Sie versuchte, ganz ruhig zu atmen. Ihre Mutter durfte auf keinen Fall misstrauisch werden. Am vergangenen Abend, als sie nach Hause gekommen war, hatte sie sich krank gestellt, was nicht allzu schwierig gewesen war, denn ihr war tatsächlich übel gewesen, übel vor Angst. Aber heute musste sie das Haus verlassen, sie konnte sich hier nicht verstecken. Also musste sie ihre Mutter davon überzeugen, dass es ihr wieder gut ging. Sie würde sagen, sie hätte etwas Falsches gegessen. Ja, das war gut, das konnte schließlich jedem mal passieren.
Die Dusche wurde abgestellt, ihre Mutter war fertig. Alina blieb mit geschlossenen Augen liegen, versuchte weiterhin, ihren Atem zu beruhigen, ihre Panik in den Griff zu bekommen. Wie gern hätte sie sich jemandem anvertraut, aber wie sollte das gehen? Wem sollte sie sagen, was sie getan hatten? Sie konnte sich die Reaktion Erwachsener auf eine solche Eröffnung leicht vorstellen, darauf verzichtete sie lieber. Wenn man sie freilich schnappte, erfuhren es sowieso alle, und sie landeten darüber hinaus auch noch im Gefängnis, daran zweifelte sie nicht. Nun kamen ihr doch die Tränen, dabei durfte sie jetzt nicht weinen, denn jeden Moment konnte ihre Mutter die Tür öffnen, um nach ihr zu sehen.
Als das fünf Minuten später tatsächlich geschah, waren Alinas Augen wieder trocken.
»Geht’s dir besser?«, fragte Mareike Hachmeister besorgt. »Ich war heute Nacht einige Male bei dir, du hast sehr unruhig geschlafen.«
»Es geht mir viel besser, Mama«, antwortete Alina. »Bestimmt habe ich nur was Falsches gegessen.« Sie richtete sich auf, schwang die Beine aus dem Bett.
»Willst du zur Schule gehen? Ich dachte, du bleibst vielleicht besser einen Tag zu Hause, bis du wieder richtig fit bist.«
»Aber das bin ich, wirklich. Du musst dir keine Sorgen mehr um mich machen.« Alina stand auf. »Alles in Ordnung, Mama, ganz bestimmt.
Mareike wirkte erleichtert. »Ich denke ja immer gleich, es ist meine Schuld, weil dir unsere Scheidung auf den Magen schlägt.«
»Das hast du gestern schon gesagt, aber es stimmt nicht. Ich dusche jetzt erst einmal.«
»Und dann frühstücken wir«, sagte Mareike. »Oder hast du noch keinen Appetit?«
»Doch«, log Alina und schlüpfte ins Bad.
Sie ließ sich Zeit unter der Dusche, genoss das Gefühl, dass das warme Wasser alles fortspülte, was ihr zu schaffen machte. Wenn ich einen Zauberstab wie Harry Potter hätte, dachte sie, würde ich die Entführung ungeschehen machen.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie war dafür gewesen, Stephanie von Hohenbrunn zu entführen. Der hübsche Blonde mit den grünen Augen hatte mit Stephanie geflirtet, statt mit ihr, und sie war deshalb eifersüchtig gewesen und hatte Stephanie Schlechtes gewünscht. Das war kein netter Zug, sie schämte sich aufrichtig deswegen. Leider war es für solche Gefühle jetzt zu spät.
Als sie aus dem Bad kam, war der Frühstückstisch fertig gedeckt. Ihr blieb noch eine halbe Stunde, bis sie sich auf den Weg zu Daniel machen musste. Obwohl sie das Gefühl hatte, keinen Bissen hinunterzubringen, griff sie nach einem Toast und bestrich ihn mit Butter und Marmelade. Als sie hineinbiss, stellte sie fest, dass sie tatsächlich Hunger hatte.
Ihre Mutter beobachtete sie lächelnd und stellte fest: »Jetzt glaube ich dir, dass es dir wieder gut geht.«
Alina lächelte auch, während ihre Schuldgefühle immer größer wurden. Sie hatte, gemeinsam mit ihren Freunden, nicht nur etwas Schreckliches getan, sie belog und täuschte darüber hinaus ihre Mutter, die es auch ohne das gerade schwer genug hatte.
Wie sollte sie das nur jemals wieder gut machen?
*
»Du kommst mir nervös vor«, sagte Frederik Monheim, während er seinen Kaffee trank. »Und überhaupt: Wieso bist du denn schon wach? Normalerweise wecke ich dich, bevor ich gehe – heute bist du noch vor mir aufgestanden, obwohl du gestern Abend, als ich kam, noch wach warst. Ist etwas Besonderes los? Macht dir etwas zu schaffen?«
»Nein, wirklich nicht«, erwiderte Daniel. »Ich konnte nur einfach nicht schlafen. Das habe ich manchmal.«
»Vielleicht wegen der vielen Polizeisirenen«, sagte Frederik nachdenklich. »Das ging ja noch eine ganze Zeitlang weiter, als wir schon längst im Bett lagen. Komische Geschichte. Ich habe schon im Internet nachgesehen, auch im Fernsehen, aber es gibt keine Erklärung für diesen nächtlichen Polizeieinsatz. Alle hüllen sich auffällig in Schweigen. Da muss ein ganz großes Ding gedreht worden sein.«
»Was meinst du denn damit?«, fragte Daniel.
»Ein Anschlag vielleicht.«
»Aber bei einem Anschlag werden doch die Medien immer sofort informiert! Bei einem Überfall auch. Da wird die Bevölkerung gewarnt und um Hinweise gebeten.«
»Stimmt«, gab Frederik zu. »Ich weiß es auch nicht, Daniel, aber vielleicht haben meine Kollegen mehr Informationen.«
»Oder unsere Lehrer«, sagte Daniel.
Frederik leerte seine Tasse. »Ich bin spät dran«, stellte er fest, aber es klang nicht, als wäre er deshalb beunruhigt. »Ich glaube, Lorene verändert mein Leben. Irgendwann höre ich wahrscheinlich auf, im Büro morgens immer der Erste zu sein.«
»Musst du ja auch nicht«, sagte Daniel. »Du bist schließlich lange genug morgens der Erste gewesen.«
»Das hat Lorene neulich auch gesagt.« Frederik war schon an der Tür, hielt dort aber noch einmal inne: »Du magst sie doch, oder?«
»Ja, ich mag sie.«
Frederik lächelte. »Das ist schön«, sagte er. »Bis heute Abend, Junge.«
»Bis heute Abend, Papa.«
Leise vor sich hin pfeifend machte sich Frederik auf den Weg, ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, wie sehr Daniel dadurch unter Stress geraten war, dass sein Vater das Haus zum ersten Mal seit Jahren einige Minuten später als sonst verlassen hatte.
*
Miriam Bauer und Arndt Stöver hatten vier Stunden geschlafen. Um sechs Uhr saßen sie schon wieder an ihren Schreibtischen und fanden Neuigkeiten von der Spurensicherung vor. Nach einem Telefongespräch sagte Arndt: »Die sind schon vor Ort, lass uns sofort hinfahren.«
Eine Viertelstunde später erreichten sie die Sackgasse, durch die Stephanie von Hohenbrunn normalerweise von der Klavierstunde aus nach Hause ging. Sie fanden mehrere Kollegen von der Spurensicherung bei der Arbeit.
»Hier hat ein Wagen gestanden«, sagte Kevin Lederer, der das Team leitete.
Er sah wie ein Boxer aus mit seiner leicht schiefen Nase und dem kompakten Körper, an dem vor allem die kräftigen Arme und der breite Oberkörper auffielen. Er trug die dichten braunen Haare kurz, seinen flinken blauen Augen schien nichts zu entgehen. »Hier, sehen Sie? Da kann man die Reifenprofile ziemlich deutlich erkennen.«
»Aber hier stehen doch vermutlich öfter Wagen, oder nicht?«
Kevin Lederer deutete auf zwei Verkehrsschilder.
»Absolutes Halteverbot«, sagte er trocken, »und zufällig weiß ich, dass hier häufig kontrolliert wird. Am Ende der Sackgasse ist nämlich eine Feuerwehrausfahrt, daher das Halteverbot. Ansonsten ist das hier ein ziemlich totes Eck, die Sackgasse wird wenig genutzt, außer eben von der Feuerwehr. Oder ab und zu von Fußgängern, die aus der Parallelstraße kommen, über diesen schmalen Weg da vorn, und die dann die Sackgasse als Abkürzung benutzen, wie Stephanie von Hohenbrunn. Aber das dürfte nicht allzu häufig vorkommen.«
»Können Sie etwas über den Wagen sagen?«
»Noch nicht, aber wir sind dran. Wir haben auch noch einen Tropfen Öl gefunden und dann das hier.« Er hielt einen Plastikbeutel hoch, in dem sich gut sichtbar ein langes, pechschwarzes Haar befand.
»Stephanie von Hohenbrunn hat rotbraune Haare«, stellte Miriam fest. »Prinz Christians sind dunkel, aber nicht so dunkel und auch nicht so lang. Also könnte das ein Haar ihres Entführers sein?«
»Wenn er nicht gerade einen Pferdeschwanz trägt, eher ihrer Entführerin«, erwiderte Kevin.
»Wie bitte?«, riefen Miriam und Arndt wie aus einem Mund.
»Sieht nach Frauenhaar aus, oder nicht? Wenn Sie es noch genauer wissen wollen: nach südeuropäischem, sehr kräftigem Frauenhaar.«
»Wieso nicht asiatisch?«
»Es ist nicht glatt, sondern leicht gewellt.«
»Sonst noch etwas?«
»Jede Menge«, erklärte Kevin Lederer mit breitem Grinsen. »Fußabdrücke zum Beispiel.« Das Grinsen verschwand. »Die sind allerdings verwirrend, sie stammen nämlich von mehreren Leuten, die Anzahl wissen wir noch nicht sicher, aber wenn Sie mich fragen: Es sind zu viele.«
»Was soll das heißen?«, fragte Miriam verwirrt.
»Es könnten fünf oder sechs verschiedene Spuren sein«, antwortete Kevin Lederer. »Meiner Meinung nach können die nicht alle mit der Entführung zu tun haben. Sie müssen von anderen Fußgängern stammen.«
»Können Sie sagen, ob die von Stephanie dabei sind? Oder die von Prinz Christian?«
»Noch nicht sicher, dazu müssten wir wissen, was für Schuhe sie getragen haben. Aber dazu komme ich gleich noch.«
»Wir fragen in den Familien nach, ob jemand das vielleicht weiß«, erklärte Miriam.
»Ja, bitte, tun Sie das, das würde uns weiterhelfen. Eine der Spuren unterscheidet sich übrigens deutlich von den anderen, hier, sehen Sie mal. An dieser Stelle sind mehrere Abdrücke von Schuhsohlen übereinander, als hätten Leute hier gestanden oder wären hier hin- und hergelaufen. Da wir hier auch die Reifenspuren gefunden haben, liegt der Schluss nahe, dass die Entführer neben dem Wagen auf ihr Opfer gewartet haben. Es sind auf jeden Fall mehrere gewesen, nicht nur einer.«
Arndt und Miriam nickten. »Klingt logisch.«
»Aber hier, sehen Sie? Mehrere Abdrücke, die ziemlich verwischt sind, als wäre jemand gerannt. Zuerst haben wir gedacht, die Abdrücke müssten von Stephanie von Hohenbrunn sein, die weggelaufen ist, als sie gemerkt hat, dass ihr Gefahr droht, aber das stimmt nicht: Die Schuhspitzen zeigen in die Richtung, in der die anderen gestanden haben müssen.«
Kevin Lederer machte eine kurze Pause. »Es könnten die Abdrücke von Prinz Christian sein, der seiner Freundin zu Hilfe eilen wollte. Sie haben ja gesagt, dass er sich hier mit ihr treffen wollte. Es könnte sich also so abgespielt haben: Sie wird von den Entführern, vielleicht einer Frau und einem Mann, überwältigt – und er kommt dazu, als sie gerade dabei sind, sie ins Auto zu schieben. Er denkt nicht nach, rennt los, um ihr zu helfen und wird ebenfalls überwältigt.«
»So hatten wir es auch konstruiert, ohne die Spurenlage zu kennen. Die stützt nun also unsere Theorie«, sagte Miriam.