Читать книгу Der kleine Fürst Classic 38 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 3
Оглавление»Ich frage mich, wie du das aushältst«, sagte Baron Friedrich von Kant zu seinem jüngeren Freund Prinz Claus von Saalen.
Die beiden Männer hatten sich, wie so häufig, im Vorfeld einer Pferdeauktion getroffen, denn Pferde züchteten sie beide. Friedrich tat es auf Schloss Sternberg, dessen Pferde mittlerweile weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt waren; Claus hatte sein Gestüt auf einem abseits gelegenen Landsitz. Er war ein großer Blonder mit jungenhaftem Lächeln und freundlichen blauen Augen.
»Du meinst die Schlagzeilen?«, fragte er jetzt, während sie langsam an den Boxen mit den edlen Pferden, die am nächsten Tag versteigert werden sollten, vorübergingen. Hier und da blieben sie stehen, um eins der Tiere genauer zu begutachten. Sie wussten beide, was sie wollten.
»Natürlich meine ich die Schlagzeilen, was denn sonst?« Friedrich sah ihn kopfschüttelnd von der Seite an. »Es muss doch furchtbar sein, immer wieder über sich selbst zu lesen, dass man ein Idiot ist.«
»Ich habe mich daran gewöhnt«, erklärte Claus gelassen.
»Wie kann man sich an so etwas gewöhnen? Warum gehst du nicht gegen die Zeitungen vor, die immer wieder über dich schreiben, dass du nicht bis drei zählen kannst? Das ist üble Nachrede, dagegen kann man etwas tun.«
Claus lächelte heiter. »Es hat Vorteile, Fritz.«
»Das musst du mir erklären«, bat der Baron.
»Alle Leute denken, dass sie wissen, was für ein Mensch ich bin«, erwiderte der Prinz, während sie ihren Weg, den sie vor der Box eines sehr temperamentvollen Araberhengstes unterbrochen hatten, fortsetzten. »Ich habe also wenig mit neugierigem und zudringlichem Verhalten von Fremden zu tun, weil sie denken, dass es bei mir nichts zu entdecken gibt. Werde ich aber Menschen vorgestellt, die ich bis dahin nicht kannte, sind sie
meistens positiv überrascht, wenn sie merken, dass ich nicht ganz so bin, wie ich in den Medien immer dargestellt werde.«
»Nicht ganz so?!«, rief Baron Friedrich. »Das Bild, das sich die Öffentlichkeit von dir macht, hat überhaupt nichts mit dem Mann zu tun, den ich kenne.«
»Danke, Fritz, es ist sehr nett von dir, das zu sagen.«
»Es ist nicht nett, sondern die Wahrheit. Mich kränkt es, dass jemand, den ich als meinen Freund betrachte, für beschränkt gehalten wird.«
»Und liebenswürdig«, lächelte Claus. »Beschränkt, aber liebenswürdig, das schreiben sie meistens dazu. Neulich habe ich gelesen: ›Prinz Claus, der liebenswerte Trottel‹ – das war mal etwas Neues. Trottel hatte ich bis dahin noch nicht gelesen.«
»Es stört dich tatsächlich nicht«, stellte Friedrich entgeistert fest.
»Nein, wie schon gesagt: Es hat Vorteile, und die weiß ich zu schätzen.«
»Lass uns einen Kaffee trinken, ja? Ich brauche eine Pause.«
Claus nickte bereitwillig, und gleich darauf saßen sie einander in einem Café am Rande des Auktionsgeländes gegenüber. Der Baron nahm die Unterhaltung wieder auf. »Du hast einmal erzählt, dass du dir den Ruf des liebenswerten Trottels auf der Schule erworben hast.«
Claus nickte. »Ich habe das Gymnasium ja schon vor dem Abitur verlassen, weil mir das stundenlange Stillsitzen unglaublich schwer gefallen ist und ich schon damals wusste, dass ich Pferde züchten wollte. Und darüber brachte man mir in der Schule nichts bei. Wir hatten, muss ich sagen, ein paar ziemlich verbohrte Lehrer, ich hoffe, dass es heute an den Schulen anders zugeht. Nur mein Englischlehrer damals hatte Verständnis für mich. Er war noch sehr jung, sozusagen frisch von der Universität. Er wusste, wie es in mir aussah. ›Gehen Sie von der Schule ab, bringen Sie sich bei, was Sie wissen müssen, Claus – und dann züchten Sie Pferde, Sie schaffen das schon‹, hat er zu mir gesagt. Ich habe seinen Rat beherzigt. Er ist der einzige Lehrer, bei dem ich es bedauere, ihn aus den Augen verloren zu haben. Dr. Horst hieß er, Dirk Horst. Er müsste heute ungefähr dein Alter haben, Fritz, so um die Vierzig.«
»Und Freunde von damals?«, fragte Friedrich.
»Kein einziger! Ich habe diese Jahre, muss ich gestehen, weitgehend verdrängt, weil ich mich nicht besonders gern daran erinnere.« Nachdenklich rührte Claus in seiner Kaffeetasse. »Merkwürdig, was mir jetzt alles wieder einfällt, da wir davon reden. Es gab einen Jungen in meiner Klasse, der es ganz besonders auf mich abgesehen hatte, Freddy hieß er. Du kannst dir nicht vorstellen, wie der mich schikaniert hat.«
»Heute würde man das ›mobben‹ nennen«, murmelte der Baron.
»Er hat wirklich nichts ausgelassen, ich glaube, vor allem, weil es ein Feld gab, auf dem ich ihm weit überlegen war.«
»Sport?«, fragte Friedrich.
»Ja, genau. Ich war der beste Sportler der Schule, während Freddy in keiner Sportart glänzte. Unglücklicherweise hatte er aber einen sportbegeisterten Vater, dem er gern imponieren wollte. Das klappte leider nicht. Sein Vater war im Übrigen ein netter Mann, der keine Ahnung davon hatte, wie sehr sich sein Sohn bemühte, mir das Leben schwerzumachen.«
»Lag es vielleicht auch an diesem Freddy, dass du vorzeitig von der Schule gegangen bist?«
»Ich weiß es nicht mehr, Fritz«, antwortete Claus nach einer Weile zögernd. »Es hat mir die Entscheidung sicherlich erleichtert, aber ich würde sagen, ich habe einfach instinktiv gewusst, dass die Schule nicht mehr der richtige Ort für mich war – und dieses Gefühl hat mich ja nicht betrogen.«
Er lächelte versonnen. »Dabei wäre es sicherlich einfacher für mich gewesen, wenn ich mir danach nicht alles selbst hätte beibringen müssen. Bei den Sprachen ging es ja noch, die lernt man, wenn man nur oft genug im Ausland ist und sich da irgendwie verständigen muss, aber meine Kenntnisse von Betriebswirtschaft waren doch sehr kläglich. Weißt du, das habe ich natürlich erst später begriffen: Dass ich zwar alles über Pferde wusste, dass aber noch mehr dazu gehört, wenn man ein erfolgreicher Züchter werden will. Man muss auch Leute führen und rechnen können und vor allem in Zeiten, wenn es mal nicht so gut läuft, die Übersicht behalten. Ich habe harte Lehrjahre hinter mir.«
»Du hast es aber, allen Schwierigkeiten zum Trotz, geschafft. Deshalb verstehe ich nicht, dass die Zeitschriften immer noch dieses Bild von dir verbreiten – die Journalisten müssen doch auch wissen, was du leistest.«
»Vielleicht wissen sie es, aber dann müssten sie sich ja etwas Neues einfallen lassen, Fritz. So können sie immer wieder die gleiche alte Geschichte schreiben – das ist weniger anstrengend, und die Leute scheinen es ja zu lieben und immer wieder lesen zu wollen. So sind alle zufrieden.«
»Ich bin es nicht!«, stellte der Baron energisch fest. »Mir wäre es lieber, wenn über einen meiner Freunde respektvoll berichtet würde – und der Wahrheit entsprechend.«
»Danke, es freut mich, dass du das sagst, aber ich versichere dir noch einmal: Für mich stellt das kein Problem dar.«
Der Baron wechselte das Thema. »Was gibt es Neues von dir und deinen Pferden?«
»Nichts eigentlich. Die einzige größere Veränderung in meinem Leben ist die, dass ich nicht mehr allein lebe.«
»Claus! Und das erzählst du erst jetzt?«
Claus nickte. »Ich glaube, du hast mich missverstanden, Fritz. Ich habe mich nicht verliebt, verlobt oder verheiratet, sondern meine Cousine Angela Camberg ist zu mir gezogen.«
»Von der hast du noch nie gesprochen«, wunderte sich der Baron.
»Weil wir keinen Kontakt zueinander hatten. Ihre Mutter hat nach ihrer Heirat mit Angelas Vater alle Beziehungen zur Familie abgebrochen – sie war vorher wohl sehr unter Druck gesetzt worden, keinen Bürgerlichen zu heiraten. Jedenfalls rief Angela mich eines Tages an, wir kamen ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass sie eine hochqualifizierte Hauswirtschafterin ist. Sie ist ja ein paar Jahre älter als ich, dreiunddreißig ist sie jetzt, und sie ist mir in den paar Monaten, seit sie bei mir ist, bereits unentbehrlich geworden. Sie ist bei mir eher Managerin als reine Hauswirtschafterin, und außerdem ist sie ein unglaublich sympathischer Mensch. Wir sind schnell Freunde geworden, ich weiß gar nicht, wie ich jemals ohne sie zurechtgekommen bin.«
»Es freut mich, das zu hören. Noch mehr hätte es mich freilich gefreut, wenn du mir deine baldige Verlobung angekündigt hättest, Claus.«
»Ach, das hat Zeit«, erwiderte Claus. »Ich bin ja immer so beschäftigt, Fritz – wie soll ich da Zeit für eine Frau finden?«
Der Baron lachte. »Das kann ich dir nicht sagen, aber irgendwann solltest du sie finden, wenn du nicht als Junggeselle enden willst. Ach, bevor ich es vergesse: Sofia lässt dir ausrichten, dass wir dich in einer Woche auf Sternberg erwarten.«
»Gibt es etwas zu feiern?«, fragte Claus.
»Nein, aber sie hätte dich gern wiedergesehen, die Kinder übrigens auch – und da es uns am kommenden Wochenende wunderbar passt, hat sie vorgeschlagen, dich zu fragen, ob du zufällig Zeit hast.«
»Habe ich, Fritz, ich komme sehr gern.«
Sie zahlten und verließen das Café, um ihren Rundgang über das Auktionsgelände fortzusetzen.
*
Angela Camberg beobachtete den Mann, der sich dem Gutshaus näherte, aufmerksam. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, und sie hätte schwören können, dass er kein Pferdekäufer war. Warum sie davon überzeugt war, hätte sie nicht sagen können, vielleicht lag es an seiner Haltung. Er sah sich unsicher um, als fragte er sich, ob er hier richtig war.
Das fragte sie sich auch, jedenfalls war sie auf der Hut. Ihr Cousin Claus war ein beliebtes Opfer von Journalisten, immer wieder gefielen sie sich darin, seine angebliche Dummheit zu beschreiben. Es machte sie wahnsinnig, diese Artikel zu lesen, doch er blieb vollkommen gelassen. Zu Beginn hatte sie es nicht glauben wollen, doch es war ihm tatsächlich gleichgültig, was fremde Menschen über ihn dachten. »So lange meine Freunde wissen, wer ich bin, reicht das doch«, hatte er erst neulich zu ihr gesagt.
Der Mann trat jetzt auf die Haustür zu. Sie beschloss, noch einmal mit Claus über verschärfte Sicherheitsvorkehrungen zu reden, doch er hielt sie schlicht für überflüssig. »Die Pferde sind gesichert, Angie, wir haben nachts eine Alarmanlage – soll ich tatsächlich eine große Mauer mit einem elektronisch bewachten Tor ums Grundstück ziehen lassen? Ich liebe den weiten Blick, Mauern haben mich schon immer gestört.«
Er hatte ja Recht – einerseits. Andererseits konnte aber auch jeder, dem es gerade in den Sinn kam, einfach auf das Gelände des Gutshofs marschieren, so wie dieser Mann da draußen.
Die Glocke schlug an. Sie eilte in die Eingangshalle und hinderte Claus’ Butler John Thompson daran, die Tür zu öffnen. »Ich übernehme das, John«, sagte sie freundlich.
Er zog sich zurück, und sie öffnete die Tür. Die Augen, in die sie blickte, waren sehr dunkel, ihr Blick war forschend. Der Fremde hatte ein gut geschnittenes Gesicht, war mittelgroß und sportlich gekleidet. »Ja, bitte?«, fragte sie deutlich reserviert.
»Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen«, erwiderte er. Die Stimme klang kultiviert, er artikulierte sehr klar. Er lächelte jetzt und wirkte mit einem Mal viel jünger. »Stimmt es, dass hier Prinz Claus von Saalen lebt?«
Beinahe hätte sie sein Lächeln erwidert, aber gerade noch rechtzeitig erinnerte sie sich daran, dass nicht jeder, der sympathisch wirkte, es auch tatsächlich war. »Wer will das wissen?«, fragte sie in frostigem Ton.
Das Lächeln verschwand vom Gesicht des Besuchers. »Mein Name ist Dirk Horst. Ich kenne Prinz Claus von früher, noch aus seiner Schulzeit.«
Angela wusste nur eins: An seine Schulzeit wurde Claus außerordentlich ungern erinnert. Doch das brauchte dieser Mann nicht zu wissen, sie konnte ja nicht einmal sicher sein, dass er die Wahrheit sagte. »Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen«, erklärte sie. »Wenn Sie mich jetzt bitte wieder entschuldigen würden?« Mit diesen Worten schloss sie die Tür wieder.
Gleich darauf sah sie den Mann langsam, mit gesenktem Kopf, den Hof wieder verlassen. Er hatte nett ausgesehen, unter anderen Umständen hätte sie sich sicherlich gern mit ihm unterhalten, aber nachdem sie gerade an diesem Morgen wieder einen Artikel über Claus gelesen hatte, der von Herablassung und Häme nur so strotzte, war ihre Bereitschaft, sich auf Gespräche mit zwar sympathisch wirkenden, aber unbekannten Männern einzulassen, gleich null.
Mit einem Seufzer wandte sich Angela wieder ihrer Arbeit zu, sie konnte es jedoch nicht verhindern, dass der Mann mit den dunklen Augen ihr noch länger im Kopf herumspukte.
*
»Willst du Frederik etwa heiraten?«, fragte Alexandra von Cranitz ihre ältere Schwester Soraya.
»Wieso etwa?«, fragte diese zurück.
»Weil ich ihn nicht leiden kann«, erklärte Alexandra mit der Offenheit ihrer siebzehn Jahre. »Er ist ein eingebildeter Lackaffe, der sich immer über andere lustig macht, das finde ich nicht nett. Und deshalb verstehe ich überhaupt nicht, wieso du mit ihm zusammen bist.«
»Zusammen, zusammen«, murmelte Soraya, während sie sich die dichten braunen Haare geschickt aufsteckte. Sie wollte an diesem Abend auf einen Ball gehen, geschminkt hatte sie sich bereits. »Was heißt das schon?«
»Ihr geht zusammen aus«, stellte Alexandra fest. »Ihr trefft euch regelmäßig, und er ruft dich jeden Tag an. Ich glaube schon, dass man in diesem Fall sagen kann: Ihr seid zusammen, Frederik und du.«
Soraya drehte sich um, die großen braunen Augen nachdenklich auf Alexandra gerichtet. »Ich heirate ihn bestimmt nicht, falls dich das beruhigt«, sagte sie. »Er amüsiert mich, ich muss oft lachen, wenn er mir eine von seinen Geschichten erzählt – aber mir ist auch schon aufgefallen, dass er manchmal ziemlich gnadenlos über andere Leute herzieht, und das gefällt mir nicht.«
»Da bin ich aber froh! So einen Schwager wünsche ich mir echt nicht«, stellte Alexandra fest. »Aber wenn du ihn sowieso nicht heiraten willst, trenn dich gleich von ihm – sonst macht er sich am Ende noch Hoffnungen, und das gibt bloß Ärger, Soraya. Du findest bestimmt ganz schnell einen viel netteren Freund, mit dem ich mich auch mal unterhalten könnte. Mit Frederik mag ich echt nicht reden.«
Soraya gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Danke, Alex, dass du dir so viele Sorgen um uns machst, aber ich glaube, die sind unnötig. Er denkt so wenig ans Heiraten wie ich, da besteht also überhaupt keine Gefahr.«
»Wenn du dich da mal nicht irrst«, murmelte Alexandra. Im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie blond und blauäugig, wie ihre Mutter. Soraya dagegen ähnelte dem Vater. »Er guckt dich immer so an, wenn du es nicht merkst.«
»Wie guckt er denn?«
»Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll. Jedenfalls so, als wollte er dich fragen, sei aber noch nicht ganz sicher, ob er es gleich tun oder besser noch warten soll.«
Soraya streifte ihr Ballkleid über, einen Traum in dunklem Grün. Die Worte ihrer Schwester beunruhigten sie, doch das wollte sie sich nicht anmerken lassen. »Ich glaube, du übertreibst, Alex. Machst du mir das Kleid bitte mal zu?«
Alexandra half ihr, beharrte aber auf ihrer Meinung. »Du wirst schon sehen!«, sagte sie. »Dann kannst du an mich denken. Vielleicht fragt er dich ja schon heute Abend.«
»Ach was!« Soraya schlüpfte in die Schuhe, überprüfte ihre Erscheinung ein letztes Mal im Spiegel – und dann klingelte Frederik von Dahlheim bereits.
»Trotzdem viel Spaß heute Abend«, sagte Alexandra.
Sie bekam einen weiteren Kuss auf die Nase, dann eilte Soraya davon.
*
Als Baron Friedrich von Kant am Samstagabend nach Sternberg zurückkehrte, wurde sein Blick von einer schmalen Gestalt angezogen, die er am Ende des Schlossparks auf dem dort gelegenen Hügel ausmachen konnte. Statt zuerst seine Frau zu begrüßen, durchquerte er mit langen Schritten den Park, erklomm den Hügel und stellte sich neben seinen Neffen Christian von Sternberg, der vor einer großen steinernen Gruft stand. Neben ihm lag Togo, sein junger Boxer, der zwar den Kopf hob und zur Begrüßung mit dem Schwanz wedelte, als der Baron sich näherte, sich sonst jedoch nicht rührte.
Friedrich legte seinem Neffen einen Arm um die Schultern, als er sich neben ihn stellte. Auf dem Hügel war der Familienfriedhof untergebracht, hier hatten Christians Eltern mehrere Monate zuvor ihre letzte Ruhe gefunden, nachdem sie bei einem schweren Hubschrauberunglück ums Leben gekommen waren. Seitdem gehörte der Fünfzehnjährige, der mit dem Tag seiner Volljährigkeit der nächste Fürst von Sternberg sein würde, zur Familie von Kant: Seine Mutter, Fürstin Elisabeth von Sternberg, und Friedrichs Frau Sofia waren Schwestern gewesen.
»Ich war länger nicht hier«, sagte der Baron mit halblauter Stimme. »Es ist, trotz allem, ein schöner Ort, Chris.«
Der Junge nickte. »Meinen Eltern gefällt es auch, hier zu liegen«, sagte er leise. »Lass uns gehen, Onkel Fritz, ich habe ihnen schon alles erzählt, was passiert ist.«
Togo war bereits aufgesprungen und lief den Hügel wieder hinunter, Christian und sein Onkel folgten ihm. Während sie durch den Park auf das Schloss zugingen, fragte Christian: »Wie war es auf der Auktion? Hast du Pferde gekauft?«
»Ja, eine Stute«, antwortete der Baron. »Der Hengst, den ich eigentlich haben wollte, hat mir bei näherem Hinsehen doch nicht gefallen. Ich fand ihn zu nervös.«
»Hast du Claus getroffen? Und ihn eingeladen?«
»Ja, er kommt. Wir haben uns lange unterhalten.«
»Es ist wieder ein ziemlich gemeiner Artikel über ihn erschienen.«
»Ich weiß«, seufzte der Baron. »Darüber haben wir auch gesprochen. Aber du wirst es nicht glauben: Es kümmert ihn nicht. Ihm ist nur wichtig, dass die Leute, an denen ihm etwas liegt, wissen, wer er wirklich ist.«
»Das ist ja auch die Hauptsache, Onkel Fritz!«, fand Christian.
Sie betraten das Schloss, und damit war ihr Gespräch erst einmal beendet, denn jetzt wurde der Baron von seiner Frau Sofia und seiner Tochter Anna begrüßt, die ihn mit Fragen bombardierten. Später kam noch Annas Bruder Konrad dazu, und Friedrich erzählte bereitwillig all die komischen und weniger komischen Geschichten, die sich am Rande einer Pferdeauktion gewöhnlich abspielten.
*
»Wie hieß der Mann denn, Angela?«, fragte Claus, als er nach seiner Rückkehr mit seiner Cousine das Abendessen einnahm. Sie hatte ihm von dem Besuch des Fremden erzählt.
Sie sah ihn an, wollte antworten und musste dann feststellen, dass sie den Namen nicht mehr wusste. »Er hat ihn gesagt, es war ein kurzer Name, das weiß ich noch, aber ich habe, ehrlich gesagt, nicht richtig darauf geachtet, weil ich in Gedanken damit beschäftigt war, mich zu fragen, was er eigentlich wollte. Ich hatte ihn ja im Verdacht, dass er nur unter einem Vorwand geklingelt hat, Claus. Jedenfalls behauptete er, dass er dich noch von der Schulzeit her kennt.«
»Dann ist es gut, dass du dir seinen Namen nicht gemerkt hast«, bemerkte Claus trocken. »Mir liegt wahrhaftig nichts daran, alte Erinnerungen aus dieser Zeit wieder aufzufrischen.«
»Du bist mir also nicht böse, dass ich den Namen nicht mehr weiß?«, fragte sie erleichtert. »Ich bin ja sonst nicht so zerstreut, aber der Mann hat mich irgendwie durcheinandergebracht.«
»Natürlich bin ich dir nicht böse. Wenn ihm so viel daran liegt, mit mir zu sprechen, wird er wiederkommen. Außerdem hätte er anrufen können.«
»Er war offenbar nicht sicher, ob du wirklich hier wohnst. Das wissen ja nicht viele Leute«, erwiderte Angela.
»Ich schlage vor, wir vergessen den Mann«, meinte Claus. »Nächste Woche werde ich auf Sternberg sein, übers Wochenende. Friedrich von Kant hat mich eingeladen – ich hoffe, das macht dir nichts aus?«
»Aber nein!«, versicherte sie lächelnd, »oder hast du etwa Angst, ich könnte mich langweilen?«
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie, während er ihr einen liebevollen Blick zuwarf. Sie war, im Gegensatz zu ihm, dunkelhaarig, hatte jedoch, wie er, blaue Augen. Wenn sie nebeneinander hergingen, ging sie ihm gerade bis zur Schulter: eine hübsche, zierliche junge Frau, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Er beglückwünschte sich jeden Tag, dass er ihr ohne lange zu zögern einen Job angeboten hatte. »Ich weiß, dass du dich niemals langweilst«, erklärte er. »Du arbeitest zu viel, Angie, ab und zu muss man auch mal eine Pause machen.«
»Ich liebe meine Arbeit«, erklärte sie, »deshalb mache ich keine Pause.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Jeden Tag freue ich mich, hier sein zu können.«
»Ja, wir beide haben uns offenbar gesucht und gefunden«, sagte er nachdenklich. »Wenn ich bedenke, wie viele Jahre wir überhaupt keinen Kontakt zueinander hatten – das ist doch schrecklich, wenn sich Familien so entzweien, nur weil jemand sich angeblich den falschen Partner gesucht hat.«
»Dabei sind meine Eltern sehr glücklich miteinander«, stellte Angela fest.
»Im Gegensatz zu einigen anderen Ehen in unserer Familie«, erwiderte Claus. »Aber es kann ja sein, dass es eine Versöhnung gibt, jetzt, da wir beide wieder Kontakt zueinander haben.«
»Glaubst du daran? Ich nicht. Die Positionen sind verhärtet, das bricht man nicht mehr so leicht auf«, meinte Angela. »Aber das muss uns ja nicht kümmern, nicht wahr? Erzähl mir von der Auktion. Du hast also Friedrich von Kant getroffen?«
»Ich habe ihm erzählt, dass ich nicht mehr allein wohne – er hat gedacht, ich hätte mich verliebt.« Claus schmunzelte, als er sich daran erinnerte, dann wurde er wieder ernst. »Fritz und Sofia kümmern sich seit dem Unfalltod des Fürstenpaares von Sternberg um Christian, Sofias Neffen. Ich bewundere die beiden sehr dafür.«
»Hast du mir nicht mal erzählt, dass er ›der kleine Fürst‹ genannt wird?«
»So ist es. Ich bin gespannt, ob ihm der Name auch dann noch bleibt, wenn er volljährig ist.«
»Ist er denn klein?«
»Chris? Nein, überhaupt nicht. Aber früher, wenn er neben seinem Vater herlief, waren sie eben ›der große und der kleine Fürst‹, so ist das gekommen. Er hört den Namen gern, er ist liebevoll gemeint. Eines Tages wirst du die Sternberger auch kennenlernen, Angie.«
Sie wehrte ab. »Das hat Zeit, du weißt, ich fühle mich in diesen adeligen Kreisen nicht unbedingt wohl – das hat mit unserer Familiengeschichte zu tun. Ich weiß nicht, ob es mir eines Tages gelingen wird, das abzulegen.«
»Aber mit mir fühlst du dich wohl?«, neckte er sie.
Sie lachte. »Wen hast du noch getroffen? Erzähl weiter!«
Das tat er, und sie hörte ihm zu. Da er ein guter Erzähler war, musste sie mehrmals herzhaft lachen – doch obwohl sie sich auf seinen Bericht konzentrierte, konnte sie nicht verhindern, dass ihr zwischendurch immer wieder der Fremde in den Sinn kam, der nach Claus gefragt hatte.
Seine Augen waren faszinierend gewesen – und sie hatte nicht einmal auf seinen Namen geachtet!
*
Soraya war erhitzt vom Tanzen. Nicht nur mit Frederik hatte sie getanzt, auch von vielen anderen Männern war sie aufgefordert worden, und da sie gerne tanzte, genoss sie den Abend in vollen Zügen. Es schien ihr freilich, als ob sich Frederik erheblich weniger amüsierte als sie, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.
Sie suchte eins der Bäder auf, um sich ein wenig frisch zu machen. Aufmerksam betrachtete sie sich im Spiegel. Das Make-up war noch in Ordnung, die rosigen Wangen standen ihr gut. Nur den Lippenstift musste sie nachziehen und ein paar Locken feststecken, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. Als sie in den Saal zurückkehrte, kam Frederik direkt auf sie zu. »Da bist du ja«, sagte er. Sein Blick war bewundernd. »Ich habe eben gehört, wie jemand über dich gesagt hat, dass du die ungekrönte Ballkönigin bist – ich kann mich dieser Meinung nur anschließen.«
»Lass das nicht die Gastgeber hören, Freddy«, raunte sie ihm zu.
»Tanzt du jetzt auch mal wieder mit mir?«, fragte er.
»Mit dem größten Vergnügen.«
Das war ein wenig übertrieben, denn Frederik war ein mäßiger Tänzer, aber das konnte sie ihm unmöglich sagen, ohne ihn zu verletzen. Und warum sollte sie das tun? Immerhin trat er ihr nicht ständig auf die Füße, wie der unglückliche Baron Ammon, ihr vorheriger Tänzer, es getan hatte.
Frederik zog sie näher zu sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: »Mich haben schon mehrere Leute gefragt, wann wir uns endlich verloben.«
Sie erstarrte innerlich. Ihre kleine Schwester hatte also doch Recht gehabt! Jetzt musste sie reagieren – zurückhaltend, aber so, dass er nicht gekränkt war. Um Himmels willen, was sollte sie sagen? »Wir haben alle Zeit der Welt«, erwiderte sie endlich, scheinbar unbeschwert, und Frederik lachte zu ihrer größten Erleichterung.
»Genau das habe ich auch gesagt.«
Danach sprachen sie nicht mehr, aber Soraya wurde klar, dass sie ihr Gespräch mit Frederik nicht länger aufschieben durfte. Sie wollte ihn nicht heiraten, und das bedeutete dann wohl tatsächlich, dass sie sich besser auch nicht mehr mit ihm traf, um ihm keine falschen Hoffnungen zu machen.
Ein Gespräch, auf das sie sich wahrhaftig nicht freute.
*
»Das heißt, du bist jetzt so klug wie zuvor?«, fragte Martin Buder, der an diesem Samstagabend mit seinem Freund und Kollegen Dr. Dirk Horst in einem sehr guten
Restaurant zu Abend gegessen hatte. Sie unterrichteten am selben Gymnasium und waren Freunde seit dem Tag, an dem Martin in das Kollegium aufgenommen worden war. Das war an diesem Abend genau fünf Jahre her.
»So ist es«, seufzte Dirk. »Sie hat mir nicht einmal verraten, ob Prinz Claus tatsächlich da lebt.«
»Gab es denn sonst niemanden, den du fragen konntest?«, wunderte sich Martin. »Und irgendwo muss doch auch ein Name gestanden haben.«
»Das ist nicht so wie bei uns«, lächelte Dirk, »wo der Name am Klingelschild und am Briefkasten steht. Da war nirgends ein Name zu lesen, und ich habe mich einfach nicht getraut, jemanden anzusprechen, weil mich diese Frau mit ihren Blicken ohnehin schon durchbohrt hat. Die hat wahrscheinlich gedacht, dass ich ein Journalist auf der Suche nach einer weiteren Story über den einfältigen Prinzen bin.«
»Du hättest ihr sagen können, dass du mal sein Englischlehrer warst.«
»Ja, hätte, wäre, könnte«, murmelte Dirk. »Irgendwie habe ich dann kein Wort mehr herausgebracht, weil sie mich so angefunkelt hat. Eine sehr hübsche Frau übrigens.«
»Seine Frau vielleicht«, meinte Martin.
»Glaube ich nicht, dann wäre sie nicht selbst zur Tür gekommen. In solchen Kreisen hat man dafür Angestellte, Martin. Na ja, wenn sie ihm meinen Namen nennt, weiß er ja, dass ich da gewesen bin – und wenn er Interesse daran hat, mit mir in Kontakt zu treten, dann wird er das tun. Ich wohne schließlich immer noch am selben Ort.«
»Wie lange ist es her, dass er die Schule verlassen hat?«
»Zwölf Jahre. Damals war er siebzehn, jetzt muss er also neunundzwanzig sein. Oder dreißig, in dem Dreh.«
»Eine seltsame Geschichte ist das«, murmelte Martin. »Ich lese ja gelegentlich, was über ihn geschrieben wird. Wenn du mir nicht erzählt hättest, dass du immer große Stücke auf ihn gehalten hast – also ich hätte das geglaubt, was man in den Zeitschriften zu lesen bekommt.«
»Jeder glaubt das.«
»Warum lässt er sich das wohl gefallen? Er könnte dagegen angehen.«
»Ich schätze, es ist ihm gleichgültig«, meinte Dirk.
Martin starrte ihn an.
»Das kann nicht dein Ernst sein. Eine so herabsetzende Darstellung in der Öffentlichkeit kann niemanden gleichgültig lassen.«
»Claus schon. Er hatte, was das betrifft, schon auf der Schule ein ziemlich dickes Fell. Weißt du, Martin, er gehört zu den seltenen Menschen, die in sich ruhen. Er wusste, was er wollte – und er wusste auch, was er konnte. Wahrscheinlich hatte er nie einen Zweifel daran, dass er seine Ziele erreichen würde. Es scheint geklappt zu haben. Wenn meine Recherchen stimmen, züchtet er sehr erfolgreich Pferde – erfolgreich und mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit.«
»Wenn ich dich von ihm erzählen höre, bedauere ich, dass ich damals noch nicht an der Schule war.«
»Wer weiß, ob du ihn nicht eines Tages noch kennenlernen wirst«, murmelte Dirk. »Verflixt, diese Frau geht mir nicht aus dem Kopf. Ich wüsste zu gern, ob sie tatsächlich eine Angestellte von Claus
ist …«
Martin schmunzelte in sich hinein. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass Dirk, sollte er von seinem ehemaligen Schüler nichts hören, bald den nächsten Versuch machen würde, ihn zu treffen. Und bei der Gelegenheit würde er dann sicherlich auch ganz beiläufig Erkundigungen über die junge Frau einziehen, die ihn so fasziniert hatte.
»Was gibt es zu grinsen?«, erkundigte sich Dirk.
»Ich grinse nicht, ich lächele«, erklärte Martin und behauptete dann: »Grundlos.«
Dirk lächelte ebenfalls, aber er war mit seinen Gedanken sichtlich weit weg. Es würde interessant sein, dachte Martin, den weiteren Verlauf seiner Suche nach Prinz Claus zu verfolgen.
*
»Das ist doch eine Frechheit!«, schimpfte die dreizehnjährige Anna von Kant und warf ihrem Cousin Christian eine Zeitschrift aufs Bett. »Lies das mal, Chris, was die sich wieder über Claus zusammenfantasiert haben! Das ist jetzt schon der zweite Artikel innerhalb kurzer Zeit, in dem sie ihn niedermachen.«
Er griff nach der Zeitschrift und überflog die Zeilen, die sie meinte. »Alles Unsinn«, stellte er dann fest.
»Ja, eben! Wieso dürfen die das? Wieso dürfen sie schreiben ›der für sein schlichtes Gemüt bekannte Prinz‹ und lauter so Zeug?«
»Wenn er klagen würde, bekäme er vielleicht Recht, aber du weißt doch, dass er das nicht macht. Ihm ist es egal, was sie schreiben.«
»Das kann ihm nicht egal sein! Wenn er am Wochenende kommt, werde ich mit ihm darüber reden. Ich finde, er muss sich endlich wehren.«
»Finde ich nicht«, entgegnete Christian. »Das ist seine Entscheidung, Anna.«
Sie waren nicht oft unterschiedlicher Meinung, und so versuchte sie noch eine Weile, freilich erfolglos, ihn zu überzeugen, bis sie das Thema schließlich fallen ließ. Sie tippte auf eine weitere Nachricht. »Hast du das auch gelesen?«
»Nein, was denn?«
»Hier steht, dass sich Soraya von Cranitz vielleicht bald verlobt.«
»Mit wem denn?«, fragte der kleine Fürst. Soraya kannten sie gut, die schöne junge Frau gehörte zu den regelmäßigen Besucherinnen auf Sternberg.
»Frederik von Dahlheim«, las Anna vor. »Den kennen wir nicht, aber ich habe gehört, dass er ein ziemlicher Kotzbrocken sein soll.« Anna streute gern Kraftausdrücke in ihre Rede ein, wenn ihre Eltern nicht in der Nähe waren.
»Was du immer alles weißt, Anna!«, wunderte sich Christian. »Ich habe von dem Mann noch nie etwas gehört.«
»Du interessierst dich ja auch nicht für Gesellschaftsklatsch«, erwiderte Anna. »Wenn das stimmt, was man sich über ihn erzählt,
passt er jedenfalls überhaupt nicht zu Soraya.«
»Wahrscheinlich stimmt es nicht«, erwiderte Christian gelassen. »Das, was sie über Claus schreiben, stimmt schließlich auch nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass Soraya sich einen Mann aussuchen würde, der nicht nett ist.«
Anna fielen keine Gegenargumente mehr ein, und so nahm sie die Zeitschrift wieder an sich, murmelte: »Mit dir kann man heute einfach nicht reden«, und ließ ihren Cousin allein.
*
»Wieso hast du eingewilligt, seine Großmutter zu besuchen?«, rief Alexandra. »Du hast doch selbst gesagt, du musst Frederik endlich sagen, dass du ihn nicht heiraten willst – und da fährst du mit ihm zu seiner Großmutter?«
Soraya hatte sich selbst schon gefragt, ob das eine gute Idee gewesen war, doch das wollte sie ihrer Schwester gegenüber nicht zugeben, und so erklärte sie: »Ich mache es, damit ich in Ruhe mit ihm reden kann. Es ist eine Autofahrt von zwei Stunden, in der Zeit kann ich ihm sagen, was ich denke und fühle. Du weißt, wie das sonst immer ist. Wir haben ständig etwas vor, weil Frederik ein Mensch ist, der die Öffentlichkeit liebt. Dass wir uns mal in aller Ruhe zusammensetzen und ein Gespräch führen, kommt so gut wie nie vor.«
Doch Alexandra ließ dieses Argument nicht gelten. »Wenn du ihm sagen würdest, dass du ihm etwas Wichtiges zu sagen hast, würde er sich natürlich mit dir zusammensetzen, Soraya – also bitte, erzähl mir keine Märchen. Wieso besuchst du mit ihm seine Großmutter?«
Soraya betrachtete angelegentlich ihre Fußspitzen. »Weil ich feige bin«, murmelte sie endlich. »Ich habe schon mehrfach versucht, ihm die Trennung vorzuschlagen, aber irgendwie kriege ich die Worte nicht über die Lippen. Ich kann keinen Grund anführen, verstehst du? Wir haben uns nicht gestritten oder so, es ist alles wie immer. Das macht es mir schwer.«
»Er hat dir immerhin gesagt, dass die Leute ihn schon fragen, wann ihr euch verlobt«, erinnerte Alexandra sie. Soraya hatte ihr von Frederiks Bemerkung erzählt.
»Ja, aber das war eher nebenbei, wir haben das Thema nicht vertieft. Wenn ich jetzt aus heiterem Himmel sage, dass ich mich nicht mehr mit ihm treffen will …« Sorayas Stimme war immer leiser geworden. »Wie gesagt, es gibt keinen Anlass, das ist mein Problem.«
»Du liebst ihn nicht«, stellte Alexandra trocken fest. »Wenn das nicht Anlass genug ist …«
Nicht zum ersten Mal dachte Soraya, dass ihre kleine Schwester in diesen Dingen über bemerkenswert viel Lebensweisheit verfügte. »Nein«, gab sie zu, »von Liebe kann wirklich keine Rede sein. Ich finde ihn manchmal amüsant, wenn er seine bösartigen Bemerkungen macht, und ich langweile mich selten mit ihm, weil er ein guter Unterhalter ist, auch in Gesellschaft, aber wenn wir allein sind, finde ich es oft schwierig, mit ihm zusammen zu sein. Wenn ich versuche, herauszufinden, was für ein Mensch er eigentlich ist …«
Sie brach ab und dachte nach. »Es gelingt mir nicht«, stellte sie endlich fest. »Ich kenne nur seine Oberfläche, was sich darunter verbirgt, kann ich dir nicht sagen.«
»Vermutlich verbirgt sich nichts darunter«, bemerkte Alexandra.