Читать книгу Der neue Dr. Laurin 28 – Arztroman - Viola Maybach - Страница 3
Оглавлениеa»Nico? Hier ist Amelie«, sagte eine helle Mädchenstimme. »Amelie Brinkhorst, aus Hannover.«
Nicolas Möhring brauchte einen Moment, bis er die Anruferin zuordnen konnte. »Amelie!«, rief er. »Das glaube ich ja jetzt nicht! Mit deinem Vater habe ich vor zwei Wochen noch telefoniert, da hat er mir erzählt, dass du anfängst, dich auf dem Arbeitsmarkt umzusehen.«
»So ist es auch, und stell dir vor, ich habe schon eine Stelle!« Sie nannte den Namen einer großen Hilfsorganisation. »Ich werde für drei Monate in München sein, danach wechsele ich in eine andere Stadt, in einen anderen Bereich, damit ich den Aufbau der Organisation verstehe. Du kannst dir wahrscheinlich denken, warum ich anrufe.«
Das konnte Nicolas in der Tat, er erinnerte sich sofort an das Versprechen, das er ihr und ihren Eltern einmal gegeben hatte, vor etlichen Jahren. »Wenn du jemals nach München kommen solltest, kannst du bei mir wohnen.«
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Er hatte sein Versprechen ernst gemeint, war er doch in früheren Jahren für die sieben Jahre jüngere Amelie so etwas wie ihr Beschützer gewesen. Und ihr Vertrauter. Sie hatten sich ja nicht sehr oft gesehen, Amelie und ihre Eltern lebten in Hannover, Nicolas in München. Aber einige Treffen im Jahr hatte es immer gegeben, und sie waren jedes Mal schön gewesen, mit langen, tiefsinnigen Gesprächen.
Ihr letztes Treffen lag jetzt freilich schon sechs Jahre zurück: Damals war Amelie sechzehn gewesen, pummelig, mit unreiner Haut und zutiefst unglücklich. Nicolas dagegen, mit seinen dreiundzwanzig Jahren, hatte gerade angefangen, die Welt zu entdecken und – zumindest für sich – zu erobern. Ihm stand dieses Treffen noch lebhaft vor Augen: Amelie, die sich weinend in seine Arme geworfen hatte und davon gesprochen hatte, wie schrecklich sie das Leben fand.
Nicolas war nach dieser letzten Begegnung weit herumgekommen, er hatte in sein Architekturstudium immer wieder Auslandssemester eingebaut, weil er die ganze Welt hatte sehen wollen. Das war zwar nicht vollständig geglückt, aber den größten Reisehunger hatte er in jenen Jahren stillen können, und er war froh darüber. Ihm war immer klar gewesen, dass sich in späteren Jahren viel weniger Gelegenheiten bieten würden, sich solche Freiheiten zu nehmen. Jetzt wohnte und arbeitete er überwiegend in München für ein großes Architekturbüro, und er nutzte nach wie vor jeden Urlaub für eine große Reise. Aber heute war er höchstens ein paar Wochen unterwegs, nicht, wie damals, mehrere Monate.
Den Kontakt zu Amelies Eltern hatte er all die Jahre aufrechterhalten, sie waren gelegentlich in München gewesen, hatten auch viel von Amelie erzählt, aber er hatte ›die Kleine‹ seitdem nie wiedergesehen. Wenn stimmte, was ihre Eltern von ihr erzählten, hatte sie sich gut herausgemacht. Sie war von Anfang an eine sehr gute Schülerin gewesen, hatte ein ausgezeichnetes Abitur gemacht, eine Zeitlang in London studiert, und jetzt wollte sie also im Beruf durchstarten.
Ihre Mutter hatte ihm ein paarmal Fotos von der ganzen Familie geschickt, doch die waren wenig aussagekräftig gewesen. Er fragte sich also, wie Amelie heute aussehen mochte. Wahrscheinlich war sie noch immer pummelig, aber er hoffte für sie, dass sich wenigstens ihre Hautprobleme gegeben hatten. Außerdem war sie ziemlich kurzsichtig, sie hatte eine Brille mit starken Gläsern tragen müssen, was sie zu ihrem größten Kummer auch nicht attraktiver gemacht hatte. Mit ihm hatte sie über ihre Minderwertigkeitskomplexe ganz offen reden können – sie hatten sich damals auch viel geschrieben, fiel ihm jetzt wieder ein.
»Du willst bei mir wohnen, nehme ich an.«
»Wenn das geht? Ich weiß, du hast dein Versprechen damals wahrscheinlich nicht ernst gemeint, man sagt solche Sachen ja manchmal einfach so dahin … Erinnerst du dich überhaupt daran?«
»Natürlich erinnere ich mich, und es ist auch wirklich kein Problem, Amelie, ich habe eine Wohnung, die für mich allein eigentlich zu groß ist – aber … na ja, vielleicht bleibe ich ja nicht für immer allein hier.«
»Du hast natürlich eine Freundin.«
»Wieso natürlich?«
Ein helles Lachen klang durch die Leitung. »Na, hör mal, damals haben mich alle beneidet, wenn du mal hier warst und mich von der Schule abgeholt hast. Die Hälfte meiner Klassenkameradinnen war in dich verliebt. Und du hattest, wenn ich mich richtig erinnere, schon damals immer eine Freundin. Allerdings jedes Mal, wenn wir uns getroffen haben, eine andere.« Amelie lachte wieder
Es klang so unbeschwert, dass Nicolas mit ihr lachte. »Daran habe ich keine so klaren Erinnerungen«, gestand er. »Ich weiß, dass ich es schrecklich schwierig fand, mit Mädchen umzugehen. Wenn ich eine hübsch fand, war ich in sie verliebt, aber wenn sie dann meine Freundin war, konnte ich nichts mit ihr anfangen. Wir hatten keine gemeinsamen Interessen, keine Gesprächsthemen, nicht einmal bei der Musik konnten wir uns einigen. So ist es mir, meiner Erinnerung nach, nicht nur einmal gegangen. Ich habe jedenfalls keinen Spaß daran gehabt, immer neue Mädchen zu erobern, ich war nur auf der Suche nach einer, mit der ich auch mal reden konnte.« Er machte eine kurze Pause. »Mit dir konnte ich immer reden, obwohl du so viel jünger bist als ich.«
»Ohne dich hätte ich bestimmte Jahre meiner Teenagerzeit nicht überstanden«, erwiderte Amelie, mit einem Mal ganz ernst. »Und als du dann weg warst, weil du zuerst in den USA studiert hast und dann in Mexiko und außerdem ständig auf Reisen warst, bin ich erst einmal in ein tiefes Loch gefallen. Aber irgendwann ist mir klar geworden, dass ich mir selbst helfen musste, wenn ich nicht untergehen wollte. Und ich konnte mir selbst helfen. Das war die erste wichtige Lektion, die ich gelernt habe.«
»Mir war immer klar, dass du auch allein zurechtkommen würdest. Ich kam mir natürlich schon ein bisschen treulos vor, aber ich habe so viel erlebt … Ich glaube, ein paarmal habe ich dir noch geschrieben, oder? Dann hat mich mein aufregendes Wanderleben komplett in Beschlag genommen.«
»Ja, du hast noch ein paarmal geschrieben, aber ich habe ziemlich schnell begriffen, dass du jetzt erst einmal dein eigenes Leben leben musst. Aber du hast mir am Anfang schrecklich gefehlt.«
»Das tut mir leid, Amelie.«
»Muss es nicht, letzten Endes hat es mir ja geholfen, dass niemand mehr da war, bei dem ich mich ausheulen konnte und der immer die richtigen Worte gefunden hat.«
»Deine Eltern?«
»Sie sind toll, aber das, was mich damals bedrückt hat, hätte ich mit ihnen nicht besprechen können. Du weißt doch, wie Eltern sind. Wenn ich gesagt habe: ›Ich bin zu dick‹, hat meine Mutter gesagt: ›Ach, das wächst sich aus, es ist nur Babyspeck. Außerdem bist du so hübsch, da macht das gar nichts.‹ Sie und auch mein Vater konnten nicht sehen, dass es für mich ums Ganze ging, um Glück oder Unglück. Sie dachten, weil ich im Teenageralter war, dass das ein Kummer ist, der zwangsläufig vergeht. Das stimmt ja auch, aber so ein Kummer kann genauso schmerzhaft und bedrohlich sein wie späteres Unglück.«
»So schlimm war das bei dir?«
»Eine Zeitlang schon, ja. Aber zum Glück wurde es irgendwann besser. Und jetzt bin ich ein ziemlich lebenslustiger Mensch geworden.«
»Es freut mich sehr, das zu hören, Amelie. Wann genau kommst du denn in München an?«
Sie sagte ihm das Datum, gab ihm ihre Handynummer und versprach, sich noch einmal zu melden, bevor sie in München eintreffen würde.
Nicolas hatte schon die Frage auf der Zunge, ob sie das ganze Vierteljahr bei ihm wohnen wollte, aber er schluckte sie hinunter. Das konnte er immer noch klären, wenn sie angekommen war. Aber erst, als sie sich voneinander verabschiedet hatten, kam ihm der Gedanke, dass seine Freundin von der neuen Mitbewohnerin vielleicht nicht begeistert sein würde. Drei Monate waren natürlich eine lange Zeit. Seine Wohnung war geräumig, man konnte sich gut aus dem Weg gehen, aber wenn Michaela das Wochenende bei ihm verbrachte, konnte die Anwesenheit einer weiteren Person natürlich durchaus störend sein …
Außerdem neigte sie zur Eifersucht, wie er wusste, obwohl sie das niemals zugegeben hätte. Zum Glück bestand jedoch in dieser Hinsicht keinerlei Gefahr, das würde er ihr sofort klarmachen. Vielleicht war Amelie nicht mehr dick, und ihre Haut hatte sich gebessert, aber eine Schönheit war sicherlich nicht aus ihr geworden. Sein Herz zog sich zusammen vor Zuneigung, als er sich daran erinnerte, wie unglücklich sie bei jedem Blick in den Spiegel gewesen war.
Ihm jedoch war ihr Aussehen damals ganz unwichtig vorgekommen, daran erinnerte er sich jetzt mit einigem Erstaunen. Tatsächlich waren sie ein Herz und eine Seele gewesen, dem Altersunterschied zum Trotz, und einzig das hatte er wichtig gefunden. Wie seltsam, dachte er, dabei war ich doch sonst durchaus empfänglich für Äußerlichkeiten. Aber nicht bei Amelie, da haben sie keine Rolle gespielt.
Aus heiterem Himmel kam ihm eine andere Erinnerung in den Sinn. Einmal, als er mit seinen Eltern wieder einmal bei den Brinkhorsts in Hannover gewesen war, hatte seine Mutter auf der Heimfahrt gesagt: »Amelie ist wirklich ein armes Ding, mit diesem Aussehen.« Er hatte so wütend auf diesen Satz reagiert, dass seine Mutter ganz erschrocken, sein Vater deutlich befremdet gewesen war. Aber niemals mehr hatte einer von beiden eine Bemerkung über Amelies Aussehen gemacht. Auch später nicht, fiel ihm jetzt auf. Er hätte ja nachfragen können, aber er hatte es nicht getan. Und diese seltsamen Fotos, die Amelies Eltern ihm geschickt hatten: Auf denen konnte man wirklich überhaupt nichts erkennen. Sie zeigten drei kleine lachende Personen am Fuße eines riesigen Felsmassivs …
Er legte sich aufs Sofa, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Seltsam, was sein Gedächtnis auf einmal zutage förderte! Er hatte lange nicht so intensiv an Amelie gedacht, aber jetzt, mit einem Mal, kam vieles wieder hoch. Sie hatten ein paar sehr intensive Situationen miteinander erlebt: Auch er selbst war einmal zutiefst unglücklich gewesen, als Amelie und ihre Eltern zu ihnen nach München gekommen waren. Seine erste Freundin hatte sich in seinen besten Freund verliebt … Wie alt war Amelie damals gewesen? Acht vielleicht. Aber er hatte ihr von seinem Kummer erzählt, und sie hatte ihn umarmt und ihn getröstet. Schon damals war sie pummelig gewesen, aber sie hatte noch keine Hautprobleme gehabt. Sie hatte ihn umarmt und ihm gesagt, sie würde immer seine Freundin bleiben, und diese Worte waren tröstlich gewesen.
Er hörte die Wohnungstür. »Nico?«
»Ich liege auf dem Sofa!«
Seine Freundin Michaela Curtius erschien an der Tür. Wie immer sah sie hinreißend aus in einem kurzen Rock mit knappem Top und Flip-Flops an den Füßen. Sie trug ihre glatten schwarzen Haare kinnlang, mit einem Pony, der bis zu den Augenbrauen reichte. Sie verzichtete meist auf Make-up, nur die großen blauen Augen betonte sie. »Wieso liegst du da?«, fragte sie.
»Komm her. Ich hatte gerade einen Anruf, von dem ich dir erzählen muss.«
Sie legte sich neben ihn aufs Sofa, was dazu führte, dass er erst einmal nicht zum Reden kam. Irgendwann aber rückte sie ein Stück von ihm ab und fragte: »Was war das für ein Anruf?«
Er hatte Amelie gelegentlich in Gesprächen erwähnt, war aber nicht näher auf die besondere Beziehung eingegangen, die er früher zu ihr gehabt hatte. Das tat er auch jetzt nicht, es schien ihm nicht nötig zu sein. Deshalb sagte er nur: »Mein Gästezimmer wird eine Zeitlang belegt sein. Amelie Brinkhorst, die Tochter meiner Freunde aus Hannover, tritt ihre erste Arbeitsstelle an. Sie wird zunächst drei Monate in München sein, und ich habe vor Jahren einmal versprochen, dass sie bei mir wohnen kann, sollte sie jemals herkommen. Ehrlich gesagt, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich das Versprechen einlösen muss, aber nun ist es so weit.«
»Und wie lange soll das sein?«, fragte Michaela.
»Wenn sie die ganze Zeit hierbleibt, drei Monate. Aber vielleicht will sie ja nach zwei Wochen unbedingt zu einer Freundin ziehen. Ich weiß es nicht, ich frage sie, wenn sie hier ist.«
»Drei Monate ist zu lang«, sagte Michaela. »Dir ist doch klar, dass wir uns dann in deiner Wohnung nicht mehr frei bewegen können?« Michaela bewohnte – noch – ein Ein-Zimmer-Appartement, was ihr jedoch, seit sie mit Nicolas zusammen war, nicht mehr so viel ausmachte. Tagsüber arbeitete sie in einem Grafikbüro und war also ohnehin nicht zu Hause, und die Wochenenden verbrachte sie bei Nicolas. Sie hatte schon einige Male das Thema ›Zusammenziehen‹ angeschnitten, doch Nicolas war nicht darauf eingegangen. Er gab es vor sich selbst noch nicht zu, aber die Vorstellung, ständig mit Michaela zusammen zu sein, behagte ihm nicht. Er hatte sie gern, aber er genoss es auch sehr, wenn sie nach dem Wochenende wieder in ihr Appartement zurückkehrte.
»Es könnte zu Einschränkungen führen«, gab Nicolas zu. »Aber selbst drei Monate sind ja keine Ewigkeit, Michi.«
Sie richtete sich auf, stützte sich auf einem Ellenbogen ab und sah ihn an. »Kein Sex mehr im Wohnzimmer«, sagte sie, »oder unter der Dusche, Sex im Schlafzimmer nur noch bei geschlossenen Türen, nur noch angezogen durch die Wohnung laufen … Ganz abgesehen davon, dass sie vielleicht unangenehme Angewohnheiten hat. Wie alt ist sie?«
»Zweiundzwanzig.«
»Mhm, deine Stromrechnung wird in die Höhe schießen, weil sie sich jeden Abend stundenlang Filme herunterlädt, sie wird nachts…«
Er legte ihr eine Hand auf den Mund, um sie am Weiterreden zu hindern. »Hör auf«, bat er. »Sie war ein sehr, sehr nettes und ziemlich unglückliches Mädchen damals. Ich habe ihr ein Versprechen gegeben, dieses Versprechen werde ich auf jeden Fall halten. Wir hatten in den letzten Jahren wenig miteinander zu tun, gesehen habe ich sie das letzte Mal, als sie sechzehn war. Wenn sie sich nicht von Grund auf geändert hat, wird sie eine angenehme Mitbewohnerin sein, die wir wahrscheinlich kaum bemerken. Also mal den Teufel nicht an die Wand.«
»Na, schön«, sagte Michaela, rutschte wieder nach unten und begann Nicolas' Hemd aufzuknöpfen. Das war ein Friedensangebot, das er nur zu gern annahm.
*
»Hier muss es sein«, sagte Anton Kriener zu seinem Freund Finn Wehling. »Das ist die Adresse, die Amelie mir gegeben hat.«
»Nobel, nobel«, bemerkte Finn.
»Er ist Architekt, die suchen sich natürlich immer die besten Wohnungen aus. Die haben ja auch Beziehungen, die sie ausnutzen können.«
Anton war ein schmaler Dunkelhaariger mit ausdrucksvollen dunklen Augen, die ihn immer ein wenig melancholisch wirken ließen, was seine Wirkung auf Frauen stark erhöhte. Finn dagegen war eher der Typ ›großer Junge‹: blond, blauäugig, mit offenem Lächeln und widerspenstigen Haaren. Sie waren schon seit der Grundschule miteinander befreundet. Beide waren einundzwanzig Jahre alt und fest entschlossen, sich die Freude am Leben weder durch zu viel Arbeit noch durch andere Unannehmlichkeiten nehmen zu lassen.
Bei ihrem Gespräch standen sie vor einem stattlichen Gründerzeithaus, das offenbar frisch renoviert war. Es war zweifellos das schönste Haus der ganzen Straße.
»Lass uns nachsehen, ob wir seinen Namen finden«, schlug Finn vor, und so überquerten die beiden jungen Männer die Straße.
»Ja, da ist er: Nicolas Möhring«, sagte Anton zufrieden.
»Wie alt ist der eigentlich?«
»Ach, so um die dreißig, er war schon erwachsen, als Amelie ihn das letzte Mal gesehen hat, er war so eine Art junger Onkel für sie. Oder großer Bruder. Ich lerne ihn ja auf jeden Fall kennen.«
Sie entfernten sich langsam von dem Haus, es war reine Neugier gewesen, die sie hergetrieben hatte.
»Weiß er denn, dass Amelie eigentlich nur wegen dir nach München kommt?«, erkundigte sich Finn.
Anton schüttelte den Kopf. »Wozu auch, das geht ihn ja nichts an. Wichtig war nur, dass sie bei ihm wohnen kann, bei mir geht das ja nicht, weil ich noch bei meinen Eltern wohne. Aber diese Lösung ist doch super. Sie kann umsonst in einem tollen Haus wohnen, und wir können uns immer treffen, wenn der Typ arbeitet. Besser geht’s nicht.«
»Ich denke, Amelie arbeitet auch?«
»Sie fängt ja erst an, so eng werden die das schon nicht sehen. Außerdem kann man ja auch mal krank werden.«
Finn grinste. Sie wussten, wie man sich das Leben angenehm machte. Sie hatten nach der Schule beide mit einem Jurastudium begonnen, weil man mit einem Jura-Examen später die besten Aussichten hatte, viel Geld zu verdienen. Das war ihr vorrangiges Ziel: Sie wollten reich werden, so schnell wie möglich, denn beide stammten aus kleinen Verhältnissen, die sie möglichst bald hinter sich lassen wollten. Aber wirklich hart arbeiten wollten sie für dieses Ziel nicht unbedingt, und so hatte sich bereits erwiesen, dass sie das Studium falsch eingeschätzt hatten: Es war deutlich mühsamer als gedacht.
Finn hatte zwar die ersten Klausuren mit Ach und Krach bestanden, Anton jedoch, der es nicht für nötig gehalten hatte, sich auch nur vorzubereiten, war überall durchgefallen, weshalb er überlegte, umzusatteln. Es musste, fand er, auch einfachere Möglichkeiten geben, später zu Geld zu kommen. Finn war nicht abgeneigt, Anton zu folgen, damit sie weiterhin zusammen studieren konnten. Freilich wussten ihre Eltern noch nichts von diesen Plänen.
»Und wenn er sich an sie ranmacht, der Architekt?«, fragte Finn.
»Er hat eine Freundin, und er ist zu alt für Amelie.«
»Sieben Jahre sind nicht so schrecklich viel«, gab Finn zu bedenken.
Anton grinste. »Ich bin ja auch noch da. Glaubst du, ich lasse mir von einem Dreißigjährigen die Freundin ausspannen?«
Er hatte Amelie beim Wandern kennengelernt, sie hatten sich sofort in einander verliebt. Freilich hatte Anton ihr über seine Studienerfolge nicht ganz die Wahrheit gesagt, aber er fand das auch nicht nötig. Er hatte einfach das falsche Studienfach gewählt und musste sich nun neu orientieren, das war alles.
Nur das bevorstehende Gespräch mit seinen Eltern über die Verlängerung seiner Studienzeit lastete auf seiner Seele.
Sie würden wieder von ihm verlangen, dass er einen Job annahm, und dazu verspürte er nicht die geringste Lust. Wenn er ehrlich war: Ihm gefiel sein derzeitiges Leben sehr gut, und die Aussicht, demnächst mit Amelie leidenschaftliche Stunden in einer tollen großen Wohnung zu verbringen, hob seine Laune noch weiter.
Genau so stellte er sich auch sein weiteres Leben vor.
*
Simon Daume umarmte seine beiden Schwestern Lili und Lisa ein letztes Mal. Sie standen unmittelbar vor der Passkontrolle. Die beiden Mädchen würden ihre großen Ferien in den USA verbringen, bei der Familie von Elisabeth Becker, einer Cousine ihrer verstorbenen Mutter, mit der diese in Kinder- und Jugendzeiten eng verbunden gewesen war.
Oscar, Elisabeths Sohn, war vor Wochen eigens von San Francisco nach München geflogen, um die Verwandten seiner Mutter ausfindig zu machen. Elisabeths Cousine, also Lilis, Lisas und Simons Mutter, hatte er nicht mehr finden können, wohl aber ihre Kinder. Und da Lisa nach seiner Mutter benannt worden war und ihrer eigenen Mutter sehr ähnlich sah, nahm er an, dass der Besuch der Mädchen für seine Mutter eine große Freude sein würde. Elisabeth Becker hatte einen Schlaganfall erlitten und konnte nicht mehr gut sprechen, aber wann immer er ihr von seinem Aufenthalt in München und von den Kindern ihrer geliebten Cousine erzählte, leuchteten ihre Augen auf, und er wusste, dass sie sich danach sehnte, sie ebenfalls kennenzulernen.
Simon hatte seine Schwestern nicht begleiten wollen. Er war zwar wieder wohlauf nach der schweren Kopfverletzung, die ihm zwei Einbrecher zugefügt hatten, aber einen so langen Flug wollte er sich noch nicht zumuten, zudem freute er sich durchaus auf ein paar Wochen ohne seine Schwestern. Er liebte sie mehr als alles andere, aber er war seit seinem neunzehnten Lebensjahr für sie verantwortlich – damals waren ihre beiden Eltern in kurzem Abstand gestorben. Er hatte dafür kämpfen müssen, dass man ihn nicht von seinen Lili und Lisa trennte, und er hatte diesen Kampf gewonnen.
Aber natürlich war er mit vielem überfordert gewesen, obwohl sie von der Stadt unterstützt worden waren. Dennoch: Die Verantwortung lastete auf ihm. Umso mehr kam es ihm, als er den beiden Mädchen jetzt nachwinkte, vor, als stünde auch ihm selbst ein Urlaub bevor, nicht nur seinen Schwestern.
Er würde weiterhin bei Laurins arbeiten – er führte dort den Haushalt, kochte, putzte, kaufte ein, kümmerte sich, wenn er Zeit hatte, auch um den Garten. Aber ihn erfüllten diese Tätigkeiten mit Freude, er erledigte sie mit leichter Hand, denn alles, was bei Laurins zu tun war, tat er gern. Am liebsten kochte er. Sobald seine Schwestern auf eigenen Füßen stehen konnten, würde er sich zum Koch ausbilden lassen und später einmal sein eigenes Restaurant haben.
Lili und Lisa waren nicht mehr zu sehen, trotzdem verrenkte er sich noch ein paar Minuten lang den Hals, doch er konnte sie nirgends mehr entdecken. Langsam drehte er sich um und schlenderte zum Ausgang. Er hatte frei heute, es war Wochenende. Außerdem war es warm, die Sonne schien.
Er fuhr mit der Bahn in die Innenstadt, wo er langsam durch die Straßen ging. Aufmerksam betrachtete er die Auslagen der Geschäfte, las die Speisekarten, die die Restaurants ausgehängt hatten, merkte sich alles, was ihm in irgendeiner Weise bedeutsam vorkam. Noch konnte er es nicht fassen, dass er das ganze Wochenende über keine Verpflichtungen haben würde.
»Hey, Simon!«, rief jemand.
Er drehte sich um und sah Kevin Laurin auf sich zukommen. Bei ihm war seine Freundin Emma Hallhuber, die niedliche rothaarige Fußballerin mit den grünen Augen, die Simon schon kennengelernt hatte – und eine große Blonde mit üppigen Kurven, die sie durch ihre Kleidung noch betonte. Das musste Lou sein, Emmas Freundin, von der bei Laurins schon öfter die Rede gewesen war. Simon sah sie heute zum ersten Mal, und er konnte nur feststellen, dass alles, was er über sie gehört hatte, stimmte. Jeder Mann, der vorüberging, drehte sich nach ihr um, was Lou aber gar nicht zu bemerken schien.
»Hallo, Emma, hallo, Kevin.« Er lächelte Lou an. »Ich bin Simon.«
»Lou«, sagte sie und lächelte auch. Sie war schüchtern, erkannte er erstaunt.
»Hast du deine Schwestern zum Flughafen gebracht?«, fragte Kevin.
»Ja, ich hoffe, alles geht gut. Sie waren beide ein bisschen aufgeregt, Lili vor allem, weil sie sich für Lisa verantwortlich fühlt, jedenfalls während des Fluges und bei der Einreise. Aber die Flugbegleiter wissen Bescheid und werden sich um die beiden kümmern.«
»Lili schafft das«, sagte Kevin.
»Ja, das denke ich auch. Und was habt ihr jetzt vor?«
»Kino«, sagte Kevin. »Danach Pizza.«
Er grinste Simon an. »Die kann sich natürlich nicht mit deiner messen, aber ab und zu müssen wir ja auch mal wieder normal essen, sonst verlieren wir die Maßstäbe.«
»Komm doch mit ins Kino«, schlug Emma vor. »Oder hast du andere Pläne?«
»Ja, habe ich«, log Simon. »Ein anderes Mal vielleicht.«
Er hatte den Eindruck, dass Lou ein wenig enttäuscht aussah, und das schmeichelte ihm. Dann musste er über sich selbst den Kopf schütteln. Er war fast zehn Jahre älter als dieses Mädchen – aber wenn man sie sah, konnte man leicht vergessen, dass sie erst dreizehn war. Er vermutete, dass ihr Aussehen ihr oft wie eine Bürde vorkam. »Ich wünsche euch viel Spaß!«
»Dir auch. Hoffentlich langweilst du dich nicht so allein«, sagte Kevin.
»Ich glaube, die Gefahr besteht nicht.«
Sie verabschiedeten sich voneinander. Simon schlenderte weiter, aber er merkte bald, dass er genug gesehen hatte.
Er wollte nach Hause.
*
Lisa atmete auf, als das Flugzeug über den Wolken war. Vor dem Start hatte sie Angst gehabt, obwohl Lili die ganze Zeit ihre Hand gehalten hatte. Jetzt ging es besser.
»Alles gut?«, fragte Lili.
Lisa nickte. Sie war ein wenig blass um die Nase. Dies war ihr erster Flug, und der dauerte dann gleich so lang! Aber sie hatten sich gut ausgestattet mit Rätseln, Spielen, Musik und Hörbüchern. Außerdem konnten sie fernsehen, allerdings gefiel ihnen das angebotene Programm nicht. Aber sie würden sich schon nicht langweilen.
»Entspann dich!«, sagte Lili. »Jetzt gibt es erst einmal was zu trinken.«
Sie wählten beide Cola, dann spielten sie Karten, bis Lili erklärte, sie wolle jetzt etwas Musik hören.
Lisa war es recht. Sie dachte über das nach, was sie in San Francisco erwarten mochte. Oscar kannten sie ja schon, und sie freuten sich sehr darauf, ihn wiederzusehen. Aber wie würde das Zusammentreffen mit seiner Mutter sein? Sie erinnerte sich daran, dass ihre Mutter oft und gern von Oscars Mutter erzählt hatte, und natürlich kannte sie die Fotos von früher, die die beiden Cousinen als Kinder und als junge Mädchen zeigten. Es stimmte: Sie sah ihrer Mutter ähnlich, und sie fragte sich, ob Oscars Mutter diese Ähnlichkeit sehen würde.
Ein bisschen fürchtete sie sich vor dieser Begegnung. Oscars Mutter hatte einen Schlaganfall gehabt, sie konnte nicht mehr gut sprechen. Vielleicht konnte sie auch nicht mehr gut denken, das war durchaus möglich… Wie aber sollte sie, Lisa, sich verhalten, wenn Oscars Mutter sie mit ihrer Mutter verwechselte? Sie hatte nicht gewagt, Lili oder Simon von ihrer Angst zu erzählen, die ja vielleicht völlig unbegründet war. Aber nun überlegte sie, ob sie sich Lili nicht doch anvertrauen sollte, bevor sie die USA erreichten.
Als sie einen Blick zur Seite warf, sah sie, dass Lilis Augen geschlossen waren. Vielleicht schlief sie, vielleicht genoss sie auch nur die Musik aus ihren Kopfhörern. Auf jeden Fall schien dies der falsche Zeitpunkt zu sein, um ihrer älteren Schwester anzuvertrauen, welche Ängste sie plagten.
*
Leon Laurin war an diesem Samstag in die Kayser-Klinik gefahren, da seine Patientin Martina Blomberg überraschend eingeliefert worden war.
Die junge Frau erwartete Drillinge, nachdem sie und ihr Mann jahrelang vergeblich versucht hatten, eine Familie zu gründen. Beide waren überglücklich gewesen, als sie von der Schwangerschaft erfahren hatten, und auch die Nachricht, dass sie drei Kinder bekommen würden, hatte sie nicht erschrecken können, im Gegenteil.
Dennoch hatte Leon ihnen natürlich sagen müssen, dass die Chance, drei Kinder gesund zur Welt zu bringen, relativ gering war. Doch bislang gediehen die Drillinge gut, und die Hoffnung wuchs, dass es so bleiben würde.
Doch nun hatte Frau Blomberg Schmerzen bekommen, und eine leichte Blutung hatte für erhebliche Aufregung gesorgt, auch bei Leon. Doch es hatte sich gezeigt, dass es keinen Grund zur Panik gab, die Schmerzen hatten sich gelegt, die Blutung war zum Stillstand gekommen, den Drillingen ging es weiterhin gut.
»Sie sollten ein paar Tage zur Beobachtung hierbleiben, Frau Blomberg«, sagte Leon. »Wir wollen ja nichts riskieren.«
»Aber meine Frau muss jetzt nicht den Rest der Schwangerschaft im Bett verbringen, Herr Dr. Laurin, oder?«, fragte Jonas Blomberg, der bei seiner Frau saß und ihr die Hand hielt.
»Davon gehe ich nicht aus, aber im ungünstigsten Fall könnte es auf eine längere Bettlägerigkeit hinauslaufen«, erwiderte Leon.
»Bloß nicht«, stöhnte seine Patientin. »Mir geht das ja jetzt schon auf die Nerven, dass ich liegen muss.«
»Ich verstehe das, aber Sie sollten sich vor Augen halten, was der Lohn der Mühe sein könnte. Drei gesunde Kinder!«
»Ich weiß!«, stieß sie hervor. »Sie glauben gar nicht, wie oft ich mir das sage, Herr Dr. Laurin. Aber ich bin einfach so ein unruhiger Geist …«
»Das kann ich bestätigen«, erklärte Jonas Blomberg mit einem Lächeln. »Meine Frau kann nicht gut stillsitzen. Und liegen auch nicht.«
»Dann lenken Sie sich ab, Frau Blomberg«, sagte Leon. »Stricken Sie, malen Sie, sehen Sie fern, lesen Sie, hören Sie Musik – aber denken Sie bloß nicht die ganze Zeit daran, dass Sie im Bett liegen.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Stricken ist eine gute Idee«, sagte sie. »Das habe ich früher ganz gern gemacht.«
»Obwohl man dabei in der Regel stillsitzen muss?«
Sie lachte. »Dabei waren wenigstens die Finger in Bewegung.« Sie wurde wieder ernst. »Ist wirklich alles in Ordnung mit unseren Kindern?«
»Im Augenblick ja. Und die kritischen ersten Monate haben Sie ja schon hinter sich. Wir müssen jetzt einfach besonders gut auf Sie achten.«
»Wir sind sehr froh, dass Sie gleich hergekommen sind, Herr Dr. Laurin«, sagte Jonas Blomberg.
»Superfroh!«, bestätigte seine Frau. »Mir geht es auch schon wieder viel besser.«
»Das höre ich natürlich gern.«
Als Leon sich wenig später verabschiedete, folgte ihm Jonas Blomberg auf den Stationsflur. »Wenn meine Frau längere Zeit im Bett bleiben muss, sehe ich schwarz«, sagte er düster. »Sie wird durchdrehen, das hält sie nicht aus.«
»Noch ist es ja nicht so weit, Herr Blomberg. Es hat wenig Sinn, sich verrückt zu machen, bevor es einen Anlass dafür gibt.«
»Die Blutung war aber doch ein Anlass, oder?«
»Die Blutung war ein Grund, genau hinzusehen, ob es Probleme gibt, aber danach sieht es nicht aus. Ein paar Tage Bettruhe, dann darf Ihre Frau wieder nach Hause, aber sie sollte sich von jetzt an noch mehr vorsehen: nicht schwer heben, regelmäßige Pausen, in denen sie die Beine hochlegt, keinerlei Überanstrengung.«
»Sie weiß das, aber manchmal geht es mit ihr durch, dann fühlt sie sich kräftig genug, um Bäume auszureißen und vergisst, dass sie das nicht darf.«
»Ich werde sie, bevor wir sie wieder entlassen, noch einmal eindringlich daran erinnern.«
»Danke, Herr Doktor!« Sichtlich erleichtert kehrte Jonas Blomberg zu seiner Frau zurück.
Während Leon noch überlegte, ob er sofort nach Hause zurückkehren oder vielleicht kurz die Kolleginnen und Kollegen in der Notaufnahme begrüßen sollte, rief jemand: »Was machst du denn hier? Hast du nicht frei?«
Es war Eckart Sternberg, der mit fragendem Gesicht näherkam. Leon erklärte ihm, warum er in der Klinik war.
»Dann lass uns einen Kaffee zusammen trinken, wenn du schon einmal hier bist!«, schlug Eckart vor.
Leon willigte ein, und so machte er sich erst eine halbe Stunde später wieder auf den Heimweg.
*
»Wieso machen wir das eigentlich nicht öfter?«, fragte Antonia Laurin ihre Freundin Britta Stadler, mit der sie sich an diesem Samstagnachmittag getroffen hatte, um ein wenig durch die Stadt zu laufen, sich über alles auszutauschen, was sie beide bewegte, und schließlich in einem gemütlichen Café einzukehren. Sie hatten draußen Platz genommen, wo sie nun seit einer Stunde über Gott und die Welt sprachen und sich wieder einmal darüber freuten, dass sie in so vielen Dingen einer Meinung waren.
Antonias jüngste Tochter Kyra war mit Brittas Sohn Peter eng befreundet, die beiden gingen in dieselbe Klasse und waren unzertrennlich. Es war eine Freundschaft, die beiden Kindern guttat und über die ihre Mütter sehr glücklich waren. Kyra war ein empfindsames Mädchen mit einem großen Herzen, das schnell überfloss vor Mitleid, während Peter ein überaus kluger Junge war, seinen elf Jahren weit voraus. Nicht nur das hatte ihn zu Beginn in seiner neuen Klasse zum Außenseiter gemacht, sondern auch seine starke Kurzsichtigkeit, denn deshalb musste er eine Brille mit dicken Gläsern tragen und bewegte sich manchmal ein wenig unbeholfen. Für eine Operation war er noch zu jung.
Kyra und Peter jedenfalls hatten sich schnell gefunden, und sie waren einander Halt und Stütze. Kyras unbedingte Bewunderung für Peters Klugheit schien auf andere in der Klasse abzufärben und wenn ihr wieder einmal das Herz brach vor Mitleid mit einer leidenden Kreatur, dann wusste Peter in der Regel zu sagen, wie Hilfe in dem betreffenden Fall auszusehen hatte – und daran beteiligte er sich dann auch.
Jedenfalls waren beide durch ihre Freundschaft stabiler und selbstbewusster geworden, zur Freude ihrer Mütter. Britta, die Peter allein aufzog, war besonders glücklich über die Entwicklung, die ihr Sohn durchlaufen hatte, seit sie mit ihm nach München gezogen war. Er ging mehr aus sich heraus, zog sich nicht mehr so häufig in sein Schneckenhaus zurück, und er war gern bei Laurins, wo ihm der Umgang mit Kyras Geschwistern auch beibrachte, dass man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen durfte, denn bei Laurins wurde gelegentlich durchaus heftig gestritten.
»Und dann«, hatte er neulich zuhause berichtet, »ist es plötzlich vorbei. Gerade eben schreien sie sich noch an, und dann lachen sie schon wieder. Das finde ich toll, aber ich kann das irgendwie nicht.«
»Ich schätze«, hatte Britta erwidert, »das kann man lernen. Tut mir leid, dass du keine Geschwister hast, die dir das beibringen könnten.«
»Ich finde es eigentlich ganz schön, dass wir allein sein dürfen, du und ich, Mama. Und ich kann das ja jetzt bei Laurins lernen. Ich bin erst elf, da ist man noch lernfähig.«
Antonia lachte, als Britta ihr dieses Gespräch wiedergab. »Das ist typisch für Peter«, sagte sie. »Er ist einfach ein goldiger Kerl, alle bei uns lieben ihn, weil er so klug ist, sich aber nie aufspielt. Und dann hat er außerdem noch so einen trockenen Humor. Da ist er wie unser Kevin, der kann auch mit todernster Miene sehr komische Sachen sagen.«
»Ein Glück, dass du mich engagiert hast, damit ich dir deine Praxis baue«, sagte Britta. »Sonst hätten wir uns ja nie im Leben kennengelernt.«
»Da kommt jemand, der dich offenbar kennt«, erwiderte Antonia. »Ein bemerkenswert attraktiver junger Mann.«
Britta wandte den Kopf, gleich darauf blieb ein schlanker dunkelblonder junger Mann vor ihr stehen. »Ich war nicht ganz sicher, ob du es bist«, sagte er. »Hallo, Britta!«