Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 12 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 9
ОглавлениеVerena Königshofer hob trotzig das Kinn. Die alte Verena, das alte Leben lag hinter ihr. Jawohl! So konnte es ja nicht weitergehen!
Erst letzte Woche hatte sie in einer Bäckerei gestanden und eine Entschuldigung gestammelt, weil ihr die unkonzentrierte Verkäuferin an der Theke nur zwei statt der bestellten drei Brötchen gegeben hatte. Dabei hatte sie, Verena laut und deutlich gesprochen! Als sie den Irrtum der Angestellten bemerkte, wiederholte sie ihre Bestellung: »Ich wollte drei Stück, entschuldigen Sie bitte.« Worauf die Verkäuferin noch ein Brötchen dazu legte und huldvoll nickte. Als läge die Schuld – natürlich! – bei Verena!
»So eine war ich bis jetzt«, dachte die junge Frau. »Lange genug. Ab jetzt ist alles anders!«
Alles anders, das war zumindest äußerlich so. Wie zur Bestätigung fuhr sie mit der Hand durch ihre neuerdings stoppelkurze Frisur. Vorgestern war ihr das Haar noch in schweren Wellen über den Rücken gefallen. Es war so schön gewesen, ein Ausdruck von Wärme und Freundlichkeit, was auch genau Verenas Wesen untermalte. Wie viele Komplimente sie für ihre Haare bekommen hatte! Ja, sie hatte heimlich ein bisschen geweint, als die Locken auf dem Boden des Friseursalons gelandet waren, aber nicht nur wegen der verlorenen Schönheit. Sie hatte überhaupt viel geweint in diesen letzten Tagen. Aber auch damit war jetzt Schluss. Und erstaunlicherweise sah die neue Frisur sogar gut aus. Die kurzen aschblonden Fransen fielen fröhlich in die Stirn und betonten Verenas hellblaue Augen, in denen sich an diesem Morgen die Wiener Frühlingssonne spiegelte.
Laut rumpelte der Koffer über das Kopfsteinpflaster, als sich Verena ihren Weg vom Taxi zu der alten Backsteinvilla suchte. Sie sah sich um. Eigentlich der perfekte Ort für einen Neubeginn!
Klar, versprach ihre neue Aufgabe als Gesellschafterin einer alten Dame nicht gerade einen Karrieresprung. Ihre eigenen Eltern waren ihr ein Beispiel dafür, was es hieß, Hausangestellte zu sein. In der Villa des Fernsehproduzenten Grünbach arbeitete Verenas Mutter als Haushälterin und Mädchen für alles. Verenas Vater war der Hausmeister, der um vier Uhr früh aus dem Bett geläutet wurde, um ein Fenster zu schließen oder die Heizung einzuschalten. Schon als kleines Mädchen hatte sich Verena geschworen, etwas Besseres aus ihrem Leben zu machen. Nun, das war, bevor sie sich in den Sohn der Grünbachs verliebt hatte und mit ihm zusammenzog. Dass sie im Verlauf der Beziehung mit Bernd nur eine andere Art der Dienstbotin geworden war, bemerkte sie erst kürzlich. Hätte Bernd sie nicht betrogen, würde sie wahrscheinlich heute noch in Hamburg wohnen, im Poolhaus der Familie Grünbach.
Ob sie nun nicht erst recht in die Fußstapfen ihrer Eltern trat? Gesellschafterin – wie altmodisch sich das schon anhörte, das klang ja wie aus einem englischen Roman des 18. Jahrhunderts! Doch es sollte ja nur vorübergehend sein, denn eigentlich war sie nach Wien gekommen, um endlich ihren Traum zu leben und Malerin zu werden!
Die Straße in Sievering war von hohen, blühenden Kastanienbäumen gesäumt. Wie zur Begrüßung wehte ein sanftes Lüftchen eine der zartrosa Blüten gegen Verenas Wange. Als wollte die Stadt ihr zuflüstern: Willkommen in Wien! Willkommen in einem neuen Leben.
»Na dann los, ich bin bereit«, murmelte Verena und drückte auf die Messingklingel an der verschnörkelten Gartentür. Hinter dem schmiedeeisernen Zaun lag ein kleiner Garten mit blühenden Fliederbüschen und wild wachsenden Tulpen. Ein paar Knorrige Obstbäume standen inmitten eines Teppichs von Gänseblümchen. Das Haus lag etwas versetzt im hinteren Teil des Gartens, schwere Efeuranken wucherten an den roten Steinen empor. Verenas Blick wanderte zum Dach hinauf. Ein schwungvoller Giebel legte sich über moderne Fensterscheiben. Augenscheinlich waren sie frisch geputzt. Die dunkelgrünen Läden vor den Fenstern der unteren Stockwerke sahen jedoch so aus, als könnten sie einen frischen Anstrich gebrauchen. Alles zusammen sah es hier ein bisschen verwunschen aus, fand Verena, und sie hoffte bloß, dass im Inneren des Hauses nicht eine Hexe auf sie wartete.
Die Stimme aus der Sprechanlage allerdings klang ziemlich menschlich, und als Verena auf einer Steinsäule neben dem Hauseingang in das Auge einer Überwachungskamera blickte, erkannte die junge Frau, dass das moderne Leben hier nur hinter einer altmodischen Fassade verborgen lag.
Der Lautsprecher gab ein knatterndes Geräusch von sich, die Tür, von einem Surren gebeutelt, sprang auf. Einen Augenblick lang spürte Verena einen stechenden Zweifel an ihrer Entscheidung. Ob es richtig gewesen war, alles aufzugeben, ihr Zuhause zu verlassen?
Ja. Es war Zeit, höchste Zeit ein eigenes Leben zu beginnen! Bernd war Vergangenheit. Eine schmerzliche, unglückliche und im Rückblick manchmal auch wunderschöne Vergangenheit. Das hier war das Jetzt. Ihre neue Freiheit wartete auf sie!
*
Lilo Benedikt ließ den Spitzenvorhang zurückgleiten. So sah sie also aus, die Kleine aus Hamburg! Die Enkeltochter ihrer besten Freundin. Das arme betrogene Mädel.
Na, sie würde schon dafür sorgen, dass die kleine Grübchen, die an den Wangen der Kleinen nur schwach zu erahnen waren, wieder zum Vorschein kämen! Lilo lächelte entschlossen und warf einen kurzen Kontrollblick in das Spiegelbild der Fensterscheibe. Ihre weißen Löckchen kringelten sich perfekt und harmonierten mit den langen Perlengehängen an ihren Ohren. Mochte ihr Gesicht inzwischen auch faltig geworden sein – die strahlenden Augen blitzten noch immer wie bei einem jungen Mädchen.
»Guten Tag, Frau Benedikt!« Verena streckte der alten Dame die Hand entgegen, die auch gleich mit festem Griff gepackt wurde.
»Jetzt komm einmal herein, Mädl! Und nix da mit Gnä’ Frau oder solchen Spompanadeln. Ich bin die Lilo. Und sag bitte Du zu mir. Sonst komm’ ich mir ja noch älter vor, als ich eh schon bin! Außerdem bin ich die beste Freundin deiner Oma. Wie geht es ihr denn, meiner lieben Grete?«
»Ach, danke der Nachfrage. Sie leidet halt sehr an der Arthritis. Aber im Kopf ist sie fit wie eh und je!«
»Na, das ist doch die Hauptsache. Dass es ständig irgendwo zwickt, ist in unserem Alter ganz normal. Ich sag immer: wer nicht alt werden will, muss jung sterben. So, und jetzt willst wahrscheinlich erst einmal deine Sachen auspacken und dich unter die Dusche stellen. Dein Zimmer ist oben, aber sei mir nicht bös, wenn ich dich nicht rauf begleite. Meine Haxen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.«
Die alte Dame zeigte mit einem bunt beringten Finger zur Treppe. »Und wenn du nachher fertig bist mit dem Eingewöhnen, dann freu ich mich auf deine Gesellschaft. Wenn du Hilfe brauchst, meine Perle Anna ist in der Küche.«
»Danke«, murmelte Verena, und sie konnte nicht verhindern, dass bei so viel Herzenswärme Tränen in ihre Augen stiegen.
»Na, na, na!«, sagte die Ältere und tätschelte ihr den Rücken. »Mach dich nur erst einmal frisch. Ich warte hier unten. Und keine Angst: ich renn dir nicht weg!« Und dann lachte sie schallend, wobei ihre Stimme in ein Krächzen überging.
Wie ein freundlicher Papagei, dachte Verena und musste im Stillen lachen. Ja, der Vergleich passte gut zu der Gestalt in dem smaragdgrünen fließenden Kleid, mit den hochgesteckten weißen Haarlöckchen und den knallrot lackierten Fingernägeln.
Atemberaubend! Ja, anders konnte man es nicht ausdrücken. Große Fenster gaben den Blick auf die Hügellandschaft und die kleinen Berge des Wienerwaldes frei – auf der einen Seite. Auf der anderen Seite lag Wien mit seinen vielen Kirchtürmen und Kuppeln wie ein glitzerndes Meer in Braun- und Rottönen. Dazwischen leuchtete das Grün der Frühlingsbäume in den unzähligen Parks und Grünflächen.
Das Mansardenzimmer war nicht besonders groß, aber wunderbar hell. Es war die perfekte Wohnung für eine junge Malerin. Und genau das wollte Verena ja auch werden, nachdem sie ihren Traum so viele Jahre vor sich hergeschoben hatte. Nein, falsch: Sie hatte ihn Bernds Wünschen untergeordnet. Seiner Idee, eine eigene Firma zu gründen und natürlich hatte sie seine Freundin, hinter ihm gestanden und ihm den Rücken freigehalten.
Für Bernd, als Sohn eines Fernsehproduzenten, war es eine abgemachte Sache, ebenfalls in das Medien-Business einzusteigen. Er gründete ein kleines Magazin für Promi-Klatschgeschichten. Verena, die ihn ihr Leben lang kannte – und die Hälfte dieser Zeit in ihn verliebt gewesen war – unterstützte ihn, wo sie nur konnte. Sie war die gute Fee im Hintergrund, immer zur Stelle, wo sie gebraucht wurde. Auch seine Familie erkannte ihr Potential, und so wurde aus der Kunststudentin eine weitere Hilfskraft im Haushalt der Grünbachs. Verena Königshofer bekam eine Anstellung als Privatsekretärin und ein kleines Gehalt. Sie war gut zu gebrauchen gewesen, vor allem, als es Ärger mit Bernds drogensüchtigem Bruder gab. Wer war nachts losgezogen und hatte den Jungen schließlich am Hafen aufgestöbert? Wer hatte Bernds kapriziöse Mutter nach ihrem Skiunfall bedient und gepflegt, sechs Wochen lang – und dafür den ganzen Jahresurlaub geopfert? Wer hatte nie ein Dankeswort für all das bekommen? Wer hatte die ganze Buchhaltung der Firma bewältigt, während sich der coole Chef mit seinen Geschäftsfreunden in Bars vergnügte? Wer hatte sein Kunststudium geschmissen und Bernds ewigen Beteuerungen: »Nächstes Jahr heiraten wir, und dann kriegst du dein Baby!«, geglaubt, Jahr für Jahr? Wer hatte schließlich aus dem Radio erfahren, dass Bernd sich mit Elke verlobt hatte, der Moderatorin des angesagtesten Popsenders der Stadt?
Was für eine dumme Nuss war sie gewesen! Idiotin! Am liebsten hätte Verena sich selbst ins Gesicht geschlagen.
Sie seufzte und warf einen Blick in den Spiegel. »Aber ich stehe immer noch da«, sagte sie und straffte ihre Schultern. »Und ich werde endlich tun, was ich selbst will. Ich werde malen und meine Freiheit genießen.«
Dann machte sie sich daran, ihren Koffer auszupacken.
*
Die Mittagssonne malte helle Flecken auf die weiße Bürowand im zweiten Stock des Palais Bäumler. Automatisch hielt Carl Graf von Bäumler nach einem Angestellten Ausschau, den er beauftragen konnte, die Jalousien herunter zu lassen. Da aber außer ihm nur sein Sohn Markus anwesend war, erhob sich der hünenhafte Mann schließlich selbst aus seinem ledernen Schreibtischsessel. Bevor er die Sonne verbannte, warf er noch einen flüchtigen Blick auf die Stadt zu seinen Füßen. So modern und auch wieder so altmodisch, dachte er. Als Oberhaupt der Kaiserlich-Königlichen Hoftischlerei Bäumler vertrat Graf Bäumler immer noch die traditionelle Seite und war damit auch lange Zeit erfolgreich gewesen. Nun aber kämpfte die Firma schon seit einigen Monaten um lukrative Aufträge. Die gewöhnlichen Leute kauften ihre Wohnungseinrichtungen lieber in schicken Möbelhäusern und schraubten die Kästen dann selbst zusammen. Er seufzte, fuhr sich mit der Hand durch das silbergraue Haar mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt. Schließlich ließ er die Jalousien selbst herunter.
»Wir haben ein Problem«, wandte er sich nun an seinen Sohn. »Einerseits heißt es, modern zu sein und am Puls der Zeit zu bleiben, andererseits müssen wir uns auf unsere alten Werte stützen. Und dafür benötige ich deine Hilfe. Ich will, dass du so bald wie möglich die kleine Rütter heiratest: Gute alte Familie, viel Geld. Und ihr beiden mögt euch ja auch.«
»Eigentlich Paps«, antwortete Graf Markus und straffte seine Schultern, »möchte ich was ganz Anderes. Nichts gegen Sonja Rütter! Aber gleich heiraten … Soll ich dir sagen, was ich wirklich will? Ich möchte in der Werkstatt arbeiten, schließlich bin ich doch auch ausgebildeter Tischlermeister! Die Arbeit mit dem Holz erfüllt mich. Ich möchte dir gern einmal meine Entwürfe zeigen.«
Graf Carl schüttelte unwirsch den Kopf und ließ seinen behäbigen Körper zurück in den Stuhl fallen. Was hatte er nur falsch gemacht mit diesem Jungen? Da stand sein dreißigjähriger Sohn mit leuchtenden braunen Augen und seiner wirren Bubenfrisur und redete von Holz. Markus, der seinen Doktortitel in Wirtschaftswissenschaft mit Auszeichnung erlangt hatte, wollte lieber Bettpfosten schnitzen! Im Grunde seines Herzens konnte der alte Graf das sogar nachempfinden, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für väterliche Nachsicht. Jetzt musste er seinem Sohn deutlich machen, dass der Fortbestand der K & K-Hoftischlerei Bäumler einzig davon abhing, dass der Junge mit einer guten Ehe für frisches Blut und vor allem für frisches Kapital sorgte.
»Du weißt, dass ich mich nicht auf deine Schwester Gabriela verlassen kann. Als Marketingchefin ist sie unschlagbar, aber sie ist nicht wirklich loyal. Sie würde, fürchte ich, dasselbe auch für jede andere Firma tun, die sie gut bezahlt. Es liegt an dir, Markus. Du bist der Erbe der Firma und der Erbe unseres Titels. Tischlern kannst du hobbymäßig, wenn du einmal alt bist.«
»Ich habe dir doch von dem Emir aus Fudschaira erzählt, der sich für meine Arbeiten interessiert. Das könnte ein Riesen-Auftrag werden, Paps! Da geht es um einen ganzen Palast!«, beharrte der junge Mann auf seinem Argument.
Wie er ihn anblickte! Wie damals, als er um das Rennrad gebettelt hatte. Wie lang war’s her? Aber nein, er durfte nicht sentimental werden, wo so viel auf dem Spiel stand. Es ging um die Firma, die schon seit mehr als dreihundert Jahren in Familienbesitz war. Die Firma war wichtiger als der treuherzige Blick dieses Jungen.
»Hirngespinste!«, sagte Carl Graf von Bäumler deshalb brüsk und erhob sich ächzend. Er blickte auf seine Uhr und das hieß soviel wie: Raus hier!
Noch hatte er hier das Sagen. Wer wusste, ob Markus es jemals schaffen würde, ihn zu überflügeln? Carl kraulte nachdenklich seinen buschigen Patriarchenbart. Nun, Markus ist wohlgeraten, dachte er. Der Junge kam eben eher nach der Mutter, die mit Anfang fünfzig immer noch schlank und sehnig war. Carl kniff die Augen zusammen. Er musste hart bleiben, Vertraulichkeiten würden alles nur verkomplizieren. Er öffnete die Tür und schob Markus hinaus.
»Du solltest wieder mal zum Friseur gehen!«, rief er ihm unwirsch nach und wandte sich seinem Terminkalender zu.
*
Es regnete. Verena klemmte ihre Mappe fester unter den Arm, während sie mit der anderen Hand ihren Regenmantel vor der Brust zusammenhielt. Nun gut, als Hamburgerin war sie noch ganz andere Wetterkapriolen gewöhnt, sie würde sich von ein paar Regentropfen schon nicht unterkriegen lassen.
Das war nun die fünfte Galerie, der sie Fotos ihrer Bilder zeigen wollte, und trotzdem hatte sie zwischendurch weder Bus noch Straßenbahn benutzen müssen. Wie nett in dieser schönen Stadt alles beisammen liegt, dachte Verena und schritt durch das Michaelertor Richtung Kohlmarkt. Kaum verließ sie das schützende Gewölbe, als der Regen auch schon wieder auf sie herunter prasselte. Sie überquerte die Straße, wich einem vorbeifahrenden Fiaker aus und lenkte ihre Schritte in die Herrengasse. Nach er Vorsprache in dieser Galerie wollte sie wieder zurück nach Sievering fahren. Ihr Magen knurrte ohnehin schon gewaltig.
Trotz der Skulpturen in der Auslage wäre Verena beinahe an dem kleinen Schauraum vorbei gegangen. Mit einem leisen Quietschen schob sie die schmale Tür auf, das Bimmeln einer Glocke kündigte ihren Besuch an.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ein älterer Herr mit gestutztem Vollbart hob den Kopf und sah sie so missmutig an, dass Verena am liebsten kehrt gemacht hätte. Mit unsicherer Stimme brachte sie ihr Anliegen vor und ärgerte sich dabei selbst über den missglückten Auftritt. Sie war doch keine Bittstellerin!
Achtlos blätterte der Galerist indessen ihre Mappe durch. Bis auf ein Grunzen von Zeit zu Zeit kam nichts über seine Lippen.
»Schön«, sagte er nach einer Weile. »Ich werde nachdenken. Falls ich Interesse an Ihren Arbeiten habe, dann rufe ich Sie an. Darf ich Sie um Ihre Karte bitten?«
Mit leicht zitternden Händen wies ihn Verena auf ihre hübsche Visitenkarte hin, die vorne an der Bewerbungsmappe steckte.
»Gut, gut«, sagte der Alte und wandte sich wieder einem Katalog zu. »Ich wünsche einen schönen Tag.«
»Danke«, stammelte Verena und schon stand sie wieder draußen im Regen.
Nun aber war es für heute genug. Lilo wartete sicher schon mit dem Mittagessen, und Anna hatte ihr ein typisch wienerisches Menü versprochen.
Anna und Herr Franz waren die beiden anderen Mitbewohner im Hause Lilo Benedikt. Anna kümmerte sich um den Haushalt und zauberte wunderbare Menüs – leider etwas kalorienhaltig wie die ganze Wiener Küche. Wenn ich weiterhin so gemästet werde, muss ich mir für den Sommer einen neuen Badeanzug kaufen, war Verenas Sorge schon nach wenigen Tagen gewesen. Aber es war ja erst Mai, vielleicht würde sich Annas Begeisterung, mit der sie den deutschen Gast bekochte, bald einmal legen. Oder sie, Verena, würde sich eben beim Essen zurück halten müssen. Wenn es nur nicht so gut schmecken würde! Anna selbst war eine rundliche Mittvierzigerin mit rot gefärbten Haaren. Rot war anscheinend ihre Lieblingsfarbe, immer trug sie mindestens ein Kleidungsstück in dieser Farbe, auf jeden Fall aber knallrote Converse-Schuhe, mit denen sie von früh bis spät durch das Haus lief. Verena hatte sich mit ihr von Anfang an gut verstanden.
Eine Sympathie, die sich beim zweiten Mitbewohner der Villa Benedikt ebenfalls von selbst einstellte: Herr Franz war ein alter, leicht übergewichtiger Mops. Gleich am ersten Tag ihrer Ankunft war er nicht mehr von Verenas Seite gewichen und ließ sich unentwegt das cognacfarbene Fell kraulen.
Sie alle warteten auch heute sicher schon auf sie. Verena lächelte. Noch keine Woche war seit ihrer Ankunft vergangen, und sie fühlte sich schon völlig zu Hause.
*
»Meinen Schatz.« So bezeichnete Lilo Benedikt jene Truhen voller Fotos, Textbücher, Zeitungsausschnitte und Programmhefte, die sie in der kleinen Kammer neben dem Salon hortete. Die alte Schauspielerin führte ihren jungen Gast durch das leicht angestaubte Zimmer, das ihre ganze Vergangenheit barg. Ob als Julia, Desdemona oder später als Mutter Courage, Lilo Benedikt war weit über die österreichischen Grenzen für ihr kompromissloses Schauspiel gelobt worden. Die Preise und Auszeichnungen schmückten den ganzen Raum. Allein, Lilo Benedikt betrat dieses Zimmer so gut wie nie. Das sollte sich nun aber mit Verenas Hilfe ändern.
»Manchmal ist Zeit für Chaos, dann wieder ist Zeit, aufzuräumen«, verkündete Lilo jetzt und goss sich aus der schnörkeligen Porzellankanne eine weitere Tasse Kaffee ein. »Und es wäre nett, Verena, wenn du mir dabei helfen könntest.«
Sie ließ ihre Augen durch den Salon schweifen. Der Raum war voller Antiquitäten und mit Einzelstücken aus dunklem Holz möbliert. Zwischen den Fensterflügeln, die sich in den verwilderten Garten öffneten, stand ein mit Intarsien geschmückter Schreibtisch, in der Ecke ein verziertes Tischchen und neben einer Ottomane mit dunkelrotem Rosenmuster erhob sich eine Lampe in Form einer nackten Frauengestalt hoch in den Raum. An Novembertagen war es hier wahrscheinlich düster, aber inzwischen hatte eine warme Nachmittagssonne den Regen abgelöst und brachte die Blattgoldverzierungen der Decke zum Glitzern.
Lilo sah das Ganze weniger romantisch.
»Hier sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Aber das ist meine Schuld, ich sage Anna immer, sie braucht in diesem Raum nicht zu putzen. Jetzt haben wir den Salat!« Bevor sie selbst anfangen konnte herumzuwischen, schnappte Verena nach dem Staubtuch. »Lass nur, ich mach’ das schon!«
Und dann kniete sie sich vor die erste Kommode und öffnete eine der geschnitzten Laden. Mindestens so wertvoll wie deren Inhalt schienen die Möbel selbst zu sein. Verena konnte sich gar nicht satt sehen! Lilo erklärte ihr die Namen und Herkunft der einzelnen Stücke. »Dies ist eine Chiffoniére von Bäumler aus dem frühen 19. Jahrhundert. Sie passt sehr gut zu dem Nähtisch in meinem Schlafzimmer, auch von Bäumler, das ist der ehemalige kaiserliche Hoftischler. Du erkennst seine Arbeiten an dem eingelegten B an der Unterseite.«
Verena drehte einen Stuhl um und betrachtete den verschnörkelten Buchstaben aus Silber.
Derweil plauderte Lilo weiter: »Ich habe mich immer schon für Antiquitäten interessiert und denke, das war keine schlechte Investition. Na ja, und jetzt bin ich selber eine Antiquität und habe nicht genug Platz für meine schönen Möbel.« Sie lachte. »Vielleicht magst du dir das eine oder andere Stück mit in die Mansarde hinauf nehmen?«
Ehrfürchtig nickte Verena.
»Das wäre großartig. Ich muss nur aufpassen, die wertvollen Möbel nicht mit Farbe zu bekleckern.«
»So wild malst du also?«, lachte Lilo.
»Manchmal. Das hängt ganz von meiner Stimmung ab. Zur Zeit male ich eher Aquarelle in Pastelle«, erklärte Verena mit leiser Stimme.
»Ich verstehe. Das ist der Vorteil von euch Malern. Als Schauspielerin musste ich mich den Gefühlen meiner Figuren unterordnen, und das war nicht immer einfach. Vor allem, wenn ich Liebeskummer hatte. Zum Glück haben die meisten klassischen Frauengestalten ein tragisches Schicksal. Da kann man sich dann so richtig gehen lassen, wenn man den Ehemann gerade mit seiner Kollegin im Bett erwischt hat!« Sogar nach so vielen Jahren musste Lilo in der Erinnerung an diesen traurigen Augenblick seufzen. »Du siehst«, sagte sie schließlich, »Zeit heilt nicht alle Wunden. Manches trägst du immer mit dir herum. Aber wenn du daraus lernst, dann hat auch das Schlimme im Leben seinen Zweck erfüllt. Wenn du nicht daraus lernst, ist Kummer doppelt unnötig.«
Ja, da war was dran. »Haben … hast du dich danach noch einmal verliebt?«, fragte Verena, die vor Ehrfurcht beinahe wieder in das förmliche Sie gefallen wäre.
»Ach Gott, Schätzchen, oft und öfter. So richtig weh tut es ja nur das eine Mal, nicht wahr. Aber das alles ist schon so lange her, dass ich es kaum glauben kann. Und jetzt gehe ich fast nicht mehr aus dem Haus, da kann ich wohl auch keinen Mann mehr finden. Denkst du, ich sollte es mit einem Inserat versuchen? Oder mit dem Internet?«
Erstaunt hob Verena den Kopf, aber das erwartete Lachen der alten Frau blieb aus. So war das eben kein Scherz gewesen? Hieß das, dass die Sehnsucht nach Liebe ein Leben lang vorhielt? Und war das nun tröstlich oder erschreckend?
Sie griff nach Lilos Hand und streichelte die knorrigen Finger. »So jung wie du bist, sollte es kein Problem sein, den Richtigen zu finden.« Und meinte das völlig ernst. Denn die Frau, die da auf einem seidenen Kissen kniete und mit beiden Armen in einer alten Truhe voller Briefe wühlte, war nur äußerlich alt. Innen drin war sie das romantische Mädchen geblieben.
Am interessantesten war für Verena der große Flügelschrank in der Ecke. Hier hingen dutzende Kleidersäcke mit Lilos alten Abendkleidern. Der Geruch der Mottenkugeln mischte sich mit Lilos Lavendelparfum. Beinahe wäre es Verena übel geworden, nach dem mehr als üppigen Mittagessen, das sie gerade verspeist hatte: Rindsuppe mit Schinkenschöberl, Tafelspitz mit Spinat, Erdäpfelschmarren und Apfelkren sowie Tropfenknödel mit Zwetschkenröster. Trotzdem wollte sie hier nicht weg, zu spannend war es, die alten Kleider aus ihren grauen Plastikhüllen zu schälen und vor sich auszubreiten. Lilo wusste zu jedem Kleid eine romantische Geschichte zu erzählen:
»Dies hier habe ich bei Attila Hörbigers Geburtstagsfest getragen, es war eine Gartenparty in Grinzing … Oh, sieh nur, das Kleid mit dem Perlenkragen bekam ich von einem Modehaus für ein Galadiner geschenkt! – Und wie gefällt dir dieses Stück?« Lilo griff zu einem unscheinbaren Fetzchen, dem Verena bis dahin keine Beachtung geschenkt hatte. Silbergrau mit blauen Punkten fiel der Seidenstoff weich durch ihre Finger.
»Zieh es an«, sagte Lilo drängend. »Los, mach schon. Es sollte dir passen, ich hatte damals die gleiche Figur. Das Kleid wirkt nur, wenn man es trägt. Und das auch nicht bei jeder Frau. Es ist von Dior, ich habe es in Paris gekauft und zuerst gar nicht wahrgenommen. Gina Lollobrigida, der berühmte italienische Filmstar, war auch in der Boutique, und sie hat gleich erkannt, was für ein Juwel dieses Kleid ist. Nur dass es ihr nicht gepasst hat, ha! Das Kleid braucht eine blonde Frau. Sie hat es mir in die Hand gedrückt und gemeint, ich soll es probieren. Und das hat sie dann bereut, weil ich ihr auf dem Ball die Show gestohlen habe!« Krächzend und hustend lachte Lilo so sehr, dass ihr die Tränen über die furchigen Wangen rannen.
Verena hatte nur halb zugehört. Nach dem vielen Essen und in dem stickigen Raum wäre ihr ein Marathonlauf lieber gewesen, als ein muffiges Kleid anzuziehen, das ihr wahrscheinlich nicht passen würde und das sie noch unscheinbarer machen würde, als sie sich ohnehin schon fühlte.
Während Lilo drängend auf sie einredete, schlüpfte sie aus ihren Jeans und in das silberne Kleid. Und dann …
»Ich fasse es nicht«, stammelte sie und suchte im Spiegel Lilos Blick.
»Ja, so ist dieses Kleid«, sagte Lilo mit belegter Stimme. »Wie ein Zauber.«
Zwei Frauen schauten aus der Goldumrahmung des alten milchigen Spiegels heraus: eine alte Frau mit weißen Ringellöckchen – und eine Prinzessin. Unfrisiert, Staubschlieren im Gesicht, ungeschminkt und blass. Aber wunderschön. Weich fiel der seidige Silberstoff über Verenas Körper und machte ihn verheißungsvoll. Der fließende tiefe Ausschnitt zeigte gerade so viel von ihren Brüsten, dass diese zu näherem Schauen verlockten, über der Hüfte betonte der Stoff die perfekte Kurve, während die Taille schmal unter den blauen Punkten leuchtete. Verena war wunderschön, und dieses Gefühl saugte sie auf wie ein Löschblatt die feuchte Tinte. Zu lange hatte sie das schon entbehrt.
Nachdenklich schälte sie sich wieder aus dem Kleid und hängte es in den Kasten zurück. Auch Lilo war mit einem Mal schweigsam. Nur ihr Blick, mit dem sie ihre junge Gesellschafterin bedachte, war beredt.
*
Eigentlich hätte er den verlockenden Frühsommertag viel lieber für einen gemütlichen Spaziergang genutzt, denn auf seinen eigenen Sohlen fühlte er sich nun mal viel sicherer als auf dem Rücken eines Pferdes. Aber Graf Markus hatte den Mädchen schon vor drei Wochen einen gemeinsamen Ausritt versprochen. Nun war es also so weit, und seine Schwester Gabriela hatte ihn und ihre Freundin Sonja in den Porsche gezerrt und in den Prater verschleppt. In den Stallungen hinter dem Lusthaus hatten die Familien Bäumler und Rütter schon immer ihre Pferde einquartiert. Natürlich konnte Markus gut reiten, für den Sohn des Grafen Bäumler hatte es, was das Erlernen gewisser Sportarten betraf, gar keine Ausflucht gegeben. Reiten, Ski fahren, Tennis, Segeln und Golf zählten neben einer fundierten Ausbildung auf dem Tanzparkett zu jenen Qualifikationen, zu denen Adel immer noch verpflichtete. Als sportlicher Junge und braver Sohn beherrschte Graf Markus außerdem Judo und konnte passabel fechten. Von allen sportlichen Tätigkeiten war ihm das Reiten aber jene, die ihm am wenigsten behagte, und sein Pferd, der gutmütige Warmblutwallach Ghandi, schien das durchaus zu spüren. Zum Glück galt bei diesem Tier der Grundsatz ›Nomen est Omen‹: Ghandi verzieh seinem Herrn großzügig die meisten Reitfehler.
»Wo bleibst du, Markus?«, rief Gabriela ungeduldig. Sie hatte ihren Wallach Luzifer, einen stattlichen Rappen, vom Stallburschen Rudi aufzäumen lassen und saß bereits fix und fertig im Sattel.
»Nicht so schnell, Schwesterherz, ich will Ghandi erst mit mir vertraut machen!« Markus striegelte dem Wallach liebevoll die Mähne, dann steckte er ihm ein Leckerli zu. »Nun denn«, murmelte er gottergeben und legte den Sattel auf. Ghandi schaute ihn ruhig an und hielt während des Aufzäumens ganz still.
Auch Sonja saß inzwischen auf ihrer Schimmelstute Penelope. Sie war eine begeisterte Reiterin, die schon als Kind ›mit dem Kopf im Heu geschlafen hatte‹, wie ihre Mutter es missbilligend ausdrückte. Zehn Jahre waren seitdem vergangen, und die Zweiundzwanzigjährige verbrachte immer noch jede freie Minute im Stall. Natürlich war die Anzahl dieser Minuten inzwischen geschrumpft, allzu oft war Sonja, die Schauspiel studierte, zwischen ihren beiden Leidenschaften, dem Theater und der Liebe zu Pferden, hin- und hergerissen.
So, wie sie auf der silbergrauen Stute saß, schien sie eine Einheit mit dem Tier zu bilden. Markus betrachtete die junge Frau ausführlich und musste blinzeln, obwohl die Sonne ja in seinem Rücken stand. Ja, Sonja war eine Schönheit und seine beste Freundin seit Kindertagen. Sie war auch – was für künftigen häuslichen Frieden nicht ganz unwichtig war – die beste Freundin seiner Schwester. Warum diese beiden so unterschiedlichen Frauen voneinander angezogen waren, konnte er allerdings nicht begreifen. Die eine dynamisch, dunkel und zielgerichtet, die andere blond und etwas weltfremd. Es war ein Glück für Sonja, dass ihre Eltern über ein beträchtliches Vermögen verfügten, andernfalls hätte sie sich vielleicht nie dazu durchgerungen, sich an der Schauspielschule zu bewerben. Und nie hätte sie erfahren, dass sie tatsächlich begabt war. Sonjas Eltern besaßen ein lukratives Unternehmen, das Messingbeschläge erzeugte und seine Produkte weit über die Landesgrenzen hinaus lieferte. Es war nicht weiter verwunderlich, dass die Rüttgers zu den reichsten Familien Österreichs zählten. Hier Möbel, da Beschläge – welch eine vielversprechende Kombination würde sich aus einer Ehe mit Sonja ergeben! Nicht nur der alte Graf Bäumler hatte diese Vision, auch sein Sohn erkannte das Potential, das eine derartige Verbindung ermöglichte. Dennoch war ihm der Gedanke, Sonja zu heiraten, nicht geheuer. War er ein heilloser Romantiker, dass er von der wahren Liebe träumte?
»Nun mach schon, du Faulpelz!«, drängte Gabriela, dann lächelte sie ihrer Freundin zu. »Meine liebste Sonja – oder soll ich dich schon Schwester nennen?« Sie lächelte verschmitzt. »Wollen wir voraus reiten?«
Sonja wurde rot bis über beide Ohren, dann deutete sie mit dem Kinn auf Markus, der sich soeben in den Sattel geschwungen hatte. »Dein Bruder ist ja auch schon fertig«, sagte sie.
»Yippieee!«, schrie Gabriela voller Lebenslust und galoppierte los.
*
»Jetzt ziehen Sie nicht so an der Leine, Herr Franz!« Inzwischen hatte sich Verena an die skurrile Sitte im Hause Benedikt gewöhnt, den kleinen übergewichtigen Hund per Sie anzusprechen. Sie konnte es sich schon gar nicht mehr anders vorstellen. Herr Franz hatte zuweilen Star-Allüren – ehe er wieder einen seiner Schmuse-Anfälle bekam. Dann schlabberte er alles ab, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte.
Für gewöhnlich drehte er jeden Vormittag mit Anna eine Runde durch Sievering, aber Verena hatte beschlossen, dass das nicht reichte. Deshalb wollte sie die gute Anna von nun an wenigstens einmal pro Woche entlasten und den überflüssigen Kilos des Hundes den Garaus machen. Ihr selbst würde die Bewegung auch nicht schaden – so gut, wie sie neuerdings gefüttert wurde.
Sie brauchte ohnehin viel Zeit zum Nachdenken. So viel war seit ihrer Flucht aus Hamburg noch ungeklärt. Im Augenblick sah sie weder zurück noch nach vorn, sie versuchte einfach im Jetzt zu leben, und das war oft anstrengend genug. Noch immer weinte sie sich manches Mal in den Schlaf.
Von Bernd hatte Verena nichts gehört, seit er sie damals mit den Worten ›Ich brauche Freiheit‹ verlassen hatte. Von seiner Familie, die sonst nie müde geworden war, Verenas Hilfe einzufordern, kam kein Wort. Funkstille auch, was den gemeinsamen Freundeskreis betraf. Klar, dass die alle Bernd, dem Promisohn, die Treue hielten. Verena musste sich allerdings eingestehen, dass sie auch selber dafür verantwortlich war, denn sie hatte all die eigenen Freunde vernachlässigt und schließlich aus den Augen verloren. Alles, was neu dazu gekommen war, hatte sich über die Familie Grünbach und Bernds Firma ergeben. So, und das hatte sie nun davon. Allein marschierte sie über die Prater Hauptallee, ihr einziger Begleiter ein kurzatmiger, glubschäugiger Mops. Selber schuld, Verena! Und im Übrigen ist hier nicht der Moment für Selbstmitleid, schallt sie sich still. Sieh dich nur um: blühende Bäume, zwitschernde Vögel, Sonnenschein! Im Rucksack eine Box mit frischen Erdbeeren, die Anna morgens vom Naschmarkt mitgebracht hatte. Und keine Leute außer ein paar wenigen Glücklichen, die sich ebenfalls den Vormittag frei genommen hatte, um Luft zu schnappen! Gerade wurde sie von einem Jogger überholt, der, die Ohren mit seinem i-Pod verstöpselt, vorbei schnaufte. Herr Franz versuchte ein paar Meter lang mitzuhalten, dann gab er es auf und hob lieber sein Bein an einem der Kastanienbäume. Verena zog ihn weiter und ohne nach links oder rechtes zu schauen, querte sie die asphaltierte Bahn in Richtung eines kleinen Wäldchens.
Genau in diesem Augenblick dröhnte die Erde, und eine Reitergruppe galoppierte wie eine wilde Horde an ihr vorüber. Verena konnte gerade noch zur Seite springen, dabei glitt ihr die Hundeleine aus der Hand. Die Pferde sprengten so knapp an der jungen Frau vorbei, dass die aufspritzenden Lehmklumpen um ihre Ohren flogen. Sie sah drei elegante Reitoutfits, einen schwarzen Zopf unter der einen, zwei blonde Zöpfe unter einer anderen Reitkappe und das Ringelschwänzchen des davonjagenden Herrn Franz. Die Leine schleifte er hinterher! Mit einem kurzen asthmatischen Schnaufer verschwand der Hund in dem Wäldchen. Vor Entsetzen schrie Verena laut auf:
»Herr Franz!«, rief sie verzweifelt. Neben ihr ertönte ein glockenhelles Lachen. Die Reiterin mit dem schwarzen Zopf schien sich über das Unheil, das sie angerichtet hatte, sehr zu amüsieren.
»Herr Franz!«, rief Verena ein weiteres Mal. »Herr Franz, bitte kommen Sie zurück!«
Jetzt kriegte sich die schöne Reiterin gar nicht mehr ein vor Lachen. Sie krümmte sich förmlich auf ihrem Pferd. Die anderen beiden sahen mit einer Mischung aus Belustigung und Erstaunen auf Verena herunter. Es handelte sich um ein großes blondes Mädchen und einen jungen Mann, dessen braune Locken wirr unter dem Helm hervorstanden. Verena schaute sich hilflos um. Nicht auszudenken, wenn sie Herrn Franz nicht wiederfand! Was würde Lilo sagen? Sie hatte ihr den Hund als kostbarsten Schatz anvertraut, nun verlor sie ihn gleich bei ihrer ersten großen Tour. Und der arme Kerl selbst? Er war doch gar nicht in der Lage sich in der freien Natur zurecht zu finden, verwöhnt wie er war!
»Herr Franz! Herr Franz!!!« Schon spürte Verena, wie Tränen in ihr aufstiegen. Auch das noch!
»Schreiben Sie ihm doch einen Brief, Ihrem Herrn Franz!«, ätzte die schwarzhaarige Reiterin von ihrem Rappen herunter. Ihre Stimme klang nun gar nicht mehr glockenhell, sondern schrill und unangenehm. Verena warf ihr einen wütenden Blick zu.
»Sie haben uns fast über den Haufen geritten!«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Oh, nun haben Sie sich nicht so. Ist ja nix passiert«, antwortete das Mädel. »Außerdem haben Sie beim Queren der Straße nicht aufgepasst. Kommt, reiten wir weiter!«
Die anderen Reiter wendeten ihre Pferde und setzten sich langsam in Trab. Dann aber zögerte der junge Mann und brachte seinen braunen Wallach erneut zum Stehen. Er murmelte seinen Begleiterinnen etwas zu und sprang ab. Die dunkelhaarige Frau antwortete spöttisch und lachte abermals auf. Wie der besonders nervige Klingelton eines Handys, dachte Verena und rannte an der Gruppe vorbei in das Wäldchen.
»Herr Franz!«, rief sie weiter, zunehmend verzweifelt. Doch der Kleine war nirgends zu sehen.
Hinter ihr knackte das Gehölz. »Na endlich, Herr Franz!«, rief Verena erleichtert. »Was haben uns diese Idioten erschreckt!« Sie wandte sich um, stolperte, und fand sich plötzlich in den Armen des jungen Mannes wieder. Als hätte sie sich nicht schon lächerlich genug gemacht! Brüsk riss sie sich los und starrte den Kerl zornig an.
»Sorry«, sagte der Mann mit belegter Stimme, die vor unterdrücktem Lachen vibrierte. »Aber Sie verwechseln mich. Ich heiße Markus Bäumler, nicht Franz, und das ›Herr‹ können Sie auch weglassen.« Und dann prustete er auch schon los.
»Trottel!«, zischte Verena. »Wenn ich den Hund nicht mehr finde, können Sie was erleben!«
»Na dann lassen Sie uns lieber mal suchen«, sagte er nun und warf sich ohne Vorwarnung ins Gebüsch. »Herr Franz!«, rief nun auch er, und so tönte es bald zweistimmig aus dem Wald.
Der Hund saß auf dem Sonnenflecken einer Lichtung und kratzte sich mit dem Hinterbein hinter dem rechten Ohr. Keinen Millimeter war er ihnen entgegen gegangen, dafür war sein Plätzchen offensichtlich viel zu gemütlich. »Herr Franz!«, rief Verena befreit und fasste rasch nach der Leine. Dann richtete sie sich langsam auf und wandte sich ihrem Begleiter zu.
»Danke für die Hilfe. Ich bin übrigens Verena. Verena Königshofer.« Sie lächelte verlegen. »Ich fürchte, ich war vorhin ein wenig unfreundlich …«
Er lächelte zurück und deutete eine kleine Verbeugung an. »Es tut mir wirklich leid, dass wir Sie erschreckt haben. Sie waren zu Recht wütend«, sagte er jetzt. Seine Stimme war tief und wohlklingend. Seine haselnussbraunen Augen hatten kleine goldene Sprenkel. Verena konnte gar nicht wegschauen.
Markus von Bäumler hielt ihrem Blick stand.
»Danke, dass Sie mir geholfen haben, den Hund zu suchen«, sagte Sie und lächelte scheu.
»Ist doch klar«, gab Markus zurück. »Ich wollte Sie nicht allein lassen, Sie haben so verzweifelt ausgesehen, und ich kam mir so schäbig vor.«
»Weil Sie zu schnell geritten sind?«
»Weil ich Sie ausgelacht habe. Verzeihen Sie bitte. Aber es …«
Und er gluckste schon wieder.
» … es hat wohl ziemlich dämlich ausgesehen?«, vollendete Verena seinen Satz.
Er nickte heftig und schnappte nach Luft. »Allerdings«, gestand er und platzte auch schon wieder heraus. Aber diesmal konnte Verena mitlachen. Die Erleichterung über den wiedergefundenen Hund machte sie so unbeschwert, dass sie erst einmal Atem holen musste, bis sie sich wieder beruhigte.
»Kommen Sie, setzen wir uns doch ein bisserl«, schlug Markus vor. Ganz automatisch, ohne auf den Weg zu achten, waren sie nun eine Weile dahinmarschiert, die Leine mit dem nun ganz braven Herrn Franz hielt Verena fest in der Hand. Auf einer von Regen und Schnee verwitterten und etwas wackeligen Parkbank nahmen sie Platz. Vor ihnen lag eine große Wiesenfläche, gleich daneben glitzerten die Sonnenstrahlen in einem Teich auf dem einige Ruderboote dahindümpelten, auf der anderen Seite führte eine Straße in die Zivilisation. Von Zeit zu Zeit donnerte ein Autobus vorüber, sonst war es still, bis auf das Zwitschern der Vögel und ihre eigenen Stimmen.
Verena packte die Erdbeeren aus und bot Markus davon an. Er griff herzhaft zu. Seine Finger waren lang und schlank. Gepflegte Büroarbeitshände. Ihre Finger hingegen waren vom Malen rau, unter den kurzgefeilten Fingernägeln zeigten sich Spuren der Acrylfarben, mit denen sie neuerdings experimentierte.
Als sich ihre Fingerspitzen für einen Moment unbeabsichtigt streiften, zuckten beide jäh zurück. Sie lachten. Markus griff nach ihrer Hand und betrachtete sie. »Sie sind – du bist«, wagte er sich dann vor, »du bist Malerin?«
»Oh, ich trage meine Visitenkarte wohl unter den Fingernägeln?«, gab Verena unbeschwert zurück.
»Na ja, es lässt sich nicht verbergen.« Immer noch hielt er ihre Hand fest. Und ließ sie auch nicht los, als Verena ihm von ihrer Ankunft vor zwei Wochen erzählte, von ihrer Rolle als Gesellschafterin bei Lilo Benedikt und von ihrem Wunschtraum, als Malerin Erfolg zu haben.
»Mein Patenonkel hat eine Galerie. Wenn dir das etwas hilft, dann rede ich mal mit ihm«, schlug Markus vor.
»O nein, bitte nicht. Ich klappere sowieso die Galerien ab. Ich will keine Protektion. Ich will es von selber schaffen, weißt du.«
Markus nickte verständnisvoll. »Onkel Theo würde deine Bilder allerdings nur ausstellen, wenn er auch davon überzeugt wäre, das kannst du mir glauben«, warf er ein, aber Verena schüttelte vehement den Kopf.
»Ich schaffe es auch so. Ich hoffe nur, ich bleibe nicht mein Leben lang Gesellschafterin. Lilo ist zwar wunderbar, aber ich will endlich selbst etwas auf die Beine stellen«, sagte sie schließlich. »Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann sind das diese verwöhnten jungen Leute, die nur vom Namen ihrer Eltern leben. Ich glaube«, sagte sie schließlich ungewöhnlich heftig, »solche Menschen sind mir die verhasstesten von allen.«
Markus schwieg betreten. Erschrocken sagte Verena deshalb: »Oh, ich hoffe, dass ich dich jetzt nicht beleidigt habe. Bist du etwa auch so ein reicher Angeber?«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Markus heiser.
»Nun, als ihr so dahergaloppiert seid, habt ihr ausgesehen, wie ein arrogantes Jetset-Grüppchen.«
»Keine Angst.« Markus lachte ein wenig zu laut. »Ich bin nur ein gewöhnlicher Tischler.«
»Ein Tischler? Das ist doch phantastisch!«, rief Verena begeistert. Dann sah sie auf seine Hand, die, mit ihren Fingern verschlungen, auf dem warmen, von der Sonne gewärmten Holz der Parkbank ruhte. »Schwielen hast du aber keine«, sagte sie keck, und dann wurde sie rot. Normalerweise war sie viel zurückhaltender.
Markus hob seine Hand und schaute Verena durch das Gitter der gespreizten Finger in die Augen. »Ich bin wohl ein Glückspilz! Was hast du morgen vor?«, fragte er plötzlich. »Soll ich dir ein typisches Wiener Kaffeehaus zeigen?«
»Das wäre nett!« Sie kramten beide ihre Handys hervor, um die Nummern auszutauschen und die Einzelheiten zu fixieren. In diesem Augenblick ließ sie lautes Motorengedröhn zusammenfahren. Auch Herr Franz, der zu ihren Füßen vor sich hin gedöst hatte, hüpfte in die Höhe und kläffte erschrocken. Mit quietschenden Reifen kam genau neben ihnen ein schwarzer Porsche zum Halten. Lautlos glitt das Fenster auf der Fahrerseite hinunter, und das lachende Gesicht der dunkelhaarigen Reiterin tauchte auf. Ohne Helm war sie noch viel schöner, stellte Verena verärgert fest.
»He, Markus, steigst du ein, oder willst du hier Wurzeln schlagen? Wir haben noch ein Business-Meeting!«, rief die Frau ohne Verena eines Blickes zu würdigen.
»Ich – ich«, stammelte er, dann wandte er sich an Verena. »Tatsache ist«, sagte er bedauernd, »dass ich jetzt leider wirklich los muss.« Rasch tippte er Verenas Telefonnummer in sein Handy, dann beugte er sich zu Herrn Franz hinunter und streichelte ihm kurz übers Fell. »Dass das nicht wieder vorkommt, Sie Ausreißer!«, sagte er und sprang in den Wagen, der mit quietschenden Reifen davonfuhr.
*
Cool zu sein, würde bedeuten, nicht alle zehn Minuten auf das Handy zu sehen. Aber leider, leider … Verena war alles andere als cool. Im Gegenteil. Sie hatte das Handy extra aufgeladen und nahm es sogar mit aufs Klo. Lilo schaute eine Weile lang zu, dann fragte sie rundheraus, was denn eigentlich los war. Also erzählte Verena ihre Geschichte. Natürlich in leicht abgewandelter Version, die Flucht von Herrn Franz und die anschließende Suche sparte sie sicherheitshalber aus. Sie erzählte nur, dass sie einen netten jungen Mann kennen gelernt und ihm ihre Telefonnummer gegeben hätte.
»Und jetzt benehme ich mich wie eine Zwölfjährige«, klagte sie der alten Freundin ihr Leid. »Es ist einfach alles schon viel zu lange her …«
»Papperlapapp«, gab Lilo zurück. »Was sollte denn da ich sagen, falls es bei mir noch einmal klappt?«
Ja, darauf hatte Verena auch keine Antwort. Schweigend legte sie eine Schicht Extrawurst auf ihr Schwarzbrot – eine Kombination, nach der sie in den letzten Tagen beinahe süchtig geworden war.
Heute war der erste richtig laue Vorsommer-Abend, und die beiden Frauen nahmen ihr schlichtes Abendessen auf der Terrasse hinter dem Haus ein. Hier war es ruhig und beschaulich, und als Vorboten des nahen Sommers waren bereits die ersten Grillen zu hören. Morgen werde ich mich ein wenig um den Garten kümmern, beschloss Verena im Stillen. Sonst habe ich ja nichts zu tun. Tatsächlich hatte sie in den letzten Tagen ihre Staffelei vernachlässigt. Lilo hatte sie darauf angesprochen und dann zu Geduld geraten. »Die meiste Geduld muss man immer sich selbst gegenüber aufbringen«, war ihr weiser Kommentar zu Verenas ›Schaffenskrise‹. So hatte sich Verena viel Zeit für Lilos ›Schatzkammer‹ genommen, sie hatte auch viel Zeit in der Küche verbracht und sich von Anna in die Geheimnisse der Wiener Kochkunst einweihen lassen.
Inzwischen war ein feiner Abendwind aufgekommen, und Verena fröstelte.
»Hast du Lust auf einen Fernsehabend?«, fragte Lilo nun. »Es kommt ein alter Agatha Christie-Film.«
Verena schüttelte den Kopf. »Ein andermal. Ich bin total müde.« Sie stand auf und nahm ihre Strickweste, die sie in der warmen Abendluft abgelegt hatte. »Ich geh dann mal!«
Kurz nur zeigte Lilo, dass sie enttäuscht war, dann lächelte sie auch schon wieder. »Ist gut, Schatzerl, schlaf dich aus.«
Während sie die Treppe in ihr Mansardenzimmer hinaufkletterte, überkam Verena das schlechte Gewissen. Ob sie nicht doch lieber umkehren und der alten Dame Gesellschaft leisten sollte? Sie war doch so allein! Aber die Müdigkeit war mehr gewesen als eine Ausrede. Tatsächlich hatte sie dieser Tage die Suche nach Herrn Franz und alle damit verbundenen Aufregungen wirklich ziemlich erschöpft, das merkte Verena jetzt. Sogar die paar Stufen strengten sie an. Verena gähnte und holte ihren Kosmetikmantel. Nur noch Zähneputzen, schlafen und diesen unsäglichen Tag vergessen!
Im Traum jagte Verena dann einer Pferdeversion von Herrn Franz hinterdrein. Immer wenn sie ihn schon beinahe gepackt hatte, wandte der Mops seinen Kopf und lachte. Es klang wie ein nerviges Handy, das nicht aufhören wollte zu läuten.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Verenas Bewusstsein so weit aus dem Traum herausgearbeitet hatte, dass sie merkte, dass es tatsächlich ihr Handy war, was da nervtötend und ununterbrochen läutete. Sie tastete auf den Nachttisch herum und drückte den Knopf.
»Hallo?«, murmelte sie schlaftrunken.
»Hier ist Markus. Störe ich dich beim Malen?«
»Nein – äh – passt schon. Wie war deine Besprechung?«
»Ganz okay. Ich wäre aber lieber im Prater geblieben. Es war so nett.«
»Ja, der Frühling macht sich heuer gut!«
»Ich spreche vor allem von dir. Ich wäre gern bei dir geblieben«, sagte er leise.
»Oh. Ja. unser kleines Picknick war schön …«
»Was machst du gerade?«
»Nichts Besonderes.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, hakte er nach.»Ach. Ich weiß nicht«, wich Verena aus.
»Doch! Sag. Bitte.«
»Echt? Okay: ich habe geschlafen«, gestand sie.
»Was? Um neun Uhr abends? Zwingt dich die alte Schachtel, mit ihr den Tag zu beschließen?«
»Nein. Und Lilo ist keine alte Schachtel«, wies Verena ihn zurecht.
»Tschuldigung. Ich dachte nur, ich kann dich vielleicht noch zu einem Spaziergang überreden.«
»Oh, ich fürchte, das pack’ ich heute nicht mehr. Ich bin wirklich hundemüde. Sonst wäre ich ja nicht im Bett.«
»Was hast du denn an?«, fragte Markus mit einem Schnurren in der Stimme.
»Was willst du hören?« Verena hielt kurz den Atem an, dann kicherte sie.
»Nichts«, sagte Markus gespielt schüchtern.
»Warum fragst du dann?«, wollte sie wissen.
»Hmm … Ich will hören, dass du sagst, du hast nichts an«, klärte er sie auf.
»Ohhh.« Verena zögerte. »Nun gut: nichts. Ich habe nichts an. « Obwohl sie ganz allein in ihrem Bett lag in ihrem einsamen Mansardenzimmer, spürte sie, wie in ihre Wangen Farbe stieg.
»Ehrlich?«, fragte Markus.
»Nein. Ich trage eine alte verbeulte Jogginghose und ein übergroßes T-Shirt.« Verena lachte vergnügt.
»Dann lassen wir das. Ich stell mir lieber die andere Version vor, die nicht ehrliche. – Soll ich dir was sagen?«, meinten er übergangslos.
»Ja, Markus?«
»Ich vermisse dich.«
Verena klappte ihr Handy zu und lauschte dem eigenen Herzschlag. Nichts anderes war zu hören, die Nacht hatte sich nun wirklich wie eine sanfte Decke über die Stadt gelegt.
Müde und erschöpft, ja das war sie immer noch, dennoch wusste sie, dass sie so bald nicht würde einschlafen können. Eine seltsame Unruhe hatte sie ergriffen.
Fast wie in Trance stand Verena auf und stellte sich zu ihrer Staffelei. Nur zarte Aquarelle hatte sie seit ihrer Trennung von Bernd malen können. Wie Nachtfalter hingen ihre Bilder an den Wänden ihres Zimmers und gaben im Mondlicht nur schemenhaft ihre Farben preis. Genau wie sie selbst, die ihre Gefühle immer hinter der Maske der Vernunft verborgen hatte.
Das war gestern, wusste Verena in diesem Moment. Heute will ich etwas Anderes!
Sie griff nach den Tuben mit der Ölfarbe und spannte eine Leinwand auf die größte Holzplatte, die sie finden konnte. Und dann begann sie zu malen.
*
Über die Wiener und ihren Kaffeehauskult hatte sich Verena immer lustig gemacht, als sie noch in Hamburg gewohnt hatte. Inzwischen hatte sie die Bedeutungen dieser Institution für die Wiener verstehen gelernt. Kaffeehaus, das hieß Atmosphäre, Lebensstil und Wesensart. Das Kaffeehaus der Wiener war alt und verraucht, ein bisschen muffig und verschnörkelt. Der Kellner war arrogant, aber gleichzeitig bediente er beflissen seine Gäste. Das Ganze war ein einziger Widerspruch, und man musste wohl erst in das Leben dieser Stadt eintauchen, um sie zu verstehen.
Das Café Hawelka in der Dorotheergasse hatte eine lange Tradition vorzuweisen, bekannt war es vor allem als früherer Aufenthaltsort vieler bedeutender Schriftsteller.
Markus wartete an einem kleinen Fenstertisch auf Verena.
Gerade eben noch war sie nervös gewesen, doch jetzt, da sie ihn sah, schlug ihr Herz wieder ruhig. Konnte das denn möglich sein? Einen Fremden zu treffen, und zu wissen: Das ist er? Hier gehöre ich hin? Mit Bernd hatte sie das nie so erlebt, aber gut, mit dem hatte sie schließlich schon als kleines Kind im Sandkasten gespielt …
Markus erhob sich und lächelte ihr zu. »Servus Verena«, sagte er.
Er küsste sie auf die Wange, und sie atmete den Duft seines Rasierwassers, fühlte das zarte Kratzen der Bartstoppeln auf ihrer Haut. Am liebsten wäre sie in dieser Position erstarrt.
Sie bestellten Melange und Apfelstrudel obwohl es hier eine Spezialität gab, die man unbedingt probiert haben musste, wie Markus erklärte: Buchteln mit Vanillesauce. Aber die Beschreibung dieser Mehlspeise überzeugte Verena, dieses Abenteuer auf ein andermal zu verschieben, denn heute Mittag war sie von Anna mit Kaiserschmarren abgefüllt worden.
»Es klingt toll, wirklich, aber ich koste das beim nächsten Mal. Ich fürchte, ich werde in dieser Stadt noch zur Kugel gemästet!«
Markus ignorierte ihren letzten Einwand. »Das nächste Mal? Abgemacht, so kann ich wenigstens sicher sein, dass wir einander wiedersehen!« Der junge Mann strahlte mit der Nachmittagssonne um die Wette.
»Und? Hast du letztens noch gut geschlafen?«, fragte Markus nach einer Weile und legte seine Hand neben die von Verena.
»Na ja, nicht gleich.« Verena spürte eine drängende Wärme von seinen Fingerspitzen ausstrahlen. Noch berührten sie einander nicht. Und dennoch fühlte es sich an, als würden die Enden ihrer Finger versengt.
»Ich habe noch ein Bild gemalt«, gestand sie nun, »und etwas völlig Neues gemacht. Einen großen Schinken in Öl.«
»Gleich nach unserem Gespräch?«, fragte er interessiert, und dann fragte er das Naheliegende: »Kann das vielleicht etwas mit uns beiden zu tun haben?«
Verena hob den Kopf und sah ihm offen in die Augen. »Ja, ich glaube schon, dass das mit uns zu tun hat, Markus.«
Die goldenen Sprenkel in seinen braunen Augen glänzten wie Sterne. Seine Hand bewegte sich leicht, und mit der Kuppe seines Daumens streifte er nun Verenas Hand. Sie fühlte ein Prickeln bis in die Schulter hinaufsteigen. Nun umschloss er mit festem Griff ihre Finger. Langsam näherte sich sein Gesicht dem ihren. Der Bogen seiner vollen Lippen öffnete sich leicht. Auch Verena neigte ihren Kopf …
»Wen haben wir denn da?« Diese schrille Stimme hatte Verena nicht vergessen, und so wusste sie sofort, wer an ihren Tisch getreten war. Es war die schöne Reiterin von neulich. Ihre schwarzen Haare trug sie nun offen, und die schweren Locken fielen weich über den Kragen ihres grauen Chanel-Jäckchens.
»Gabriela«, sagte Markus mühsam beherrscht. »Was machst du denn hier?«
»Ach, Darling, ich wollte dich nur an den Geburtstag von Sonjas Mutter erinnern. Dass du hier bist, war nicht schwer zu erraten«, lachte die Angesprochene. »Du bringst deine Eroberungen doch immer ins ›Hawaleka‹. Dran wird sich auch nie etwas ändern! Das weiß übrigens auch die Sonja, weshalb du dir vielleicht ein neues Stammlokal für deine Techtelmechtel suchen solltest!« Sie zwinkerte anzüglich.
Verena spürte, wie ihre Wangen vor Verlegenheit glühten. Dabei hatte sie doch nichts Unrechtes getan! Sie zog ihre Hand von der Tischplatte und lehnte sich so weit wie möglich zurück.
»Ähem, darf ich vorstellen?«, sagte Markus nun. »Verena, das ist meine Schwester Gabriela.«
Die dunkle Schönheit verzichtete auf ein Händeschütteln und warf Verena stattdessen ein lässiges Winken zu. »Keine Angst, ich will euch nicht weiter stören. Bin schon weg!« Laut schlug die Kaffeehaustür hinter ihr zu.
»Darf’s noch was sein, die Herrschaften?«, wandte sich nun der Ober an die beiden jungen Leute, die auf einmal sehr schweigsam beisammen saßen.
»Nein danke. Ich möchte gern zahlen«, murmelte Markus.
Ohne Verena noch einmal in die Augen zu schauen, holte er eine schicke Ledergeldbörse heraus und legte einen zehn Euro-Schein auf den Tisch. »Stimmt schon, danke.«
Die besondere Stimmung zwischen ihnen war dahin. Verlegen standen sie einander gegenüber und wussten nicht, wie sie wieder an den Anfang kommen sollten. Dabei war das alles, was sie wollten.
»Darf ich dich nach Hause begleiten?«, fragte Markus schließlich.
Verena zuckte hilflos mit den Schultern.
»Ich würde mir gern dein neues Bild ansehen. Und natürlich auch die alten …«, stammelte er.
»Wenn du magst«, sagte sie nach einigem Zögern.
Beide trotteten nebeneinander her durch die abendlichen Straßen, bogen in den Kohlmarkt ein und schauten in die Auslagen der exklusiven Designergeschäfte: Louis Vuitton, Gucci, Cartier, Tiffany. Viele Touristen waren unterwegs und genossen diesen Höhepunkt ihrer Reise.
In der Auslage der Hofkonditorei Demel war eine Torte in Form eines Märchenpalastes ausgestellt. Bis zum kleinsten Türmchen waren alle Verzierungen aus Zuckerguss. Von einer Balustrade winkte eine kleine Zuckerprinzessin, und unten im Palastgarten saß ein Zuckerpfau und schlug ein Zuckerrad.
»Ist das nicht entzückend?«, rief Verena, und mit einem Mal waren Verlegenheit und Enttäuschung wieder fort.
Zart legte Markus seinen Arm um ihre Schulter. »Ja, der Demel ist für seine Kunstwerke berühmt!«, sagte er. »Außerdem gibt es hier eine phantastische Sachertorte.«
»Ich dachte, die gibt’s nur im Hotel Sacher?«, wunderte sich Verena.
»Na ja, das ist so eine Sache.« Und dann erzählte Markus vom Sachertortenstreit, der nur in einer Stadt wie Wien entflammen konnte: »Es gibt zwei verschiedene Sachertorten. Hinter jeder steht ein lang gehütetes Geheimrezept. Die eine Torte wird in der Hofkonditorei Demel gebacken, die andere im Hotel Sacher. Beide schmecken übrigens hervorragend. Der Unterschied liegt in einer Schicht Marillenmarmelade. Die Torte von Sacher – laut Gerichtsbescheid heißt sie jetzt Original-Sachertorte – ist in der Mitte durchgeschnitten und mit Marillenmarmelade wieder zusammen gefügt. Die Sachertorte vom Demel besteht nur aus Schokoladenmasse, ohne Marmeladenschicht.«
»Und welche ist jetzt besser?«, wollte Verena wissen.
»Das musst du selbst herausfinden«, lachte Markus. »Für Experten ist das fast so etwas wie ein Religionskrieg!«
»Glückliche Wiener. Sich über eine Torte zu streiten!«
»Na ja, es gibt hier auch noch ganz andere Konflikte. Und ehrlich gesagt, ist der Sachertortenkrieg den Wienern auch vollkommen wurscht, die meisten wissen gar nichts davon«, gestand Markus.
»Das ist also nur eine Auseinandersetzung, um den Absatz anzukurbeln?«, hakte Verena nach.
»Nicht nur ein Schmäh. Den Streit gab es ja wirklich. Mit allem Drum und Dran und gerichtlicher Verfügung. Aber wen kratzt das schon? Wien verkauft den Touristen halt gern seine kaiserliche Seite.«
»So wie die Hoflieferanten?«, warf Verena ein.
»Was meinst du?«
»Na ja. Der Hofkonditor. Der Hofschneider. Und Lilo sammelt Möbel von diesem Bäumler, dem Hoftischler. Stell dir das nur mal vor! Du bist ja auch Tischler!«, lachte sie. »Wäre das nicht absurd für einen jungen Mann, sich als kaiserlich-königlicher Hoflieferant zu bezeichnen?«
»Da hast du wohl recht«, sagte Markus verlegen und nestelte an einer Haarsträhne, die sich im Bügel seiner eleganten Sonnenbrille verfangen hatte.
»Das sind sicherlich lauter alte Knacker, die sich hinter ihrem Lakaienstatus verstecken, nicht wahr?«, sinnierte Verena respektlos weiter.
»Vielleicht.« Markus räusperte sich.
Das Gespräch zwischen ihnen verstummte wieder, doch es fiel nicht weiter auf, da sie ihr Ziel bald erreicht hatten.
»So, da wären wir«, sagte Verena und öffnete die schmiedeeiserne Gartentür. Ihr war nicht entgangen, dass sich der weiße Spitzenvorhang im Salon bewegt hatte. Sie seufzte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, in Untermiete zu wohnen? Wenigstens war Lilo so taktvoll, nicht gleich ins Vorzimmer zu stürmen und sich vorstellen zu lassen. Unter der Salontür drang das Brüllen des Fernsehapparats hindurch, was die romantische Stimmung allerdings auch einschränkte. Ein goldener Lichtstrahl fiel flackernd auf die Treppe.
Leise, obwohl das bei dem plärrenden Fernseher gar nicht nötig gewesen wäre, schlichen die beiden die Treppe hoch.
In ihrem Zimmer angekommen, kickte Verena schnell einen herumliegenden BH unters Bett, dann drehte sie das Licht auf. In der hellen Beleuchtung des Wandspots sah ihr Gemälde noch farbenprächtiger aus als tagsüber im Sonnenschein. Ja, sie war selbst beeindruckt und mächtig stolz. Es war das Beste, was sie je gemalt hatte.
Markus schaute schweigend. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin überwältigt«, brachte er schließlich heiser heraus.
Verena strahlte vor Stolz. Eine Welle von Zärtlichkeit für diesen Mann überflutete sie plötzlich. Wie von selbst neigte sie ihr Gesicht zu ihm und öffnete die Lippen. Wie selbstverständlich legte er seinen weichen Mund auf ihren.
Lange hielten sie sich umfangen, keiner von beiden wagte es, sich zu bewegen. Mit den Händen wühlte er in ihren blonden Haaren und konnte nicht genug bekommen, jeden Millimeter ihres Gesichts zu schmecken. So war dies also der Moment …
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Markus verwirrt.
»Keine Ahnung.« Verena hatte nichts gehört. »In diesem alten Haus knarrt es die ganze Zeit.« Doch auch sie hörte jetzt ein Kratzen an der Tür, gefolgt von einem schnaufenden Winseln.
»Herr Franz!«, rief Verena und öffnete die Tür. Da hatte sich der faule Kerl gar die Treppe hinaufgequält, nur um seinen alten Freund zu begrüßen! – Was er jetzt auch ausführlich tat.
In diesem Augenblick fiel Verenas Blick auf das Handy, das Markus auf dem Fensterbrett abgelegt hatte. Das Ding blinkte und vibrierte. Als der junge Mann den Anruf entgegen nahm, sah Verena sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Ich muss sofort ins Krankenhaus. Mein Vater hatte einen Herzanfall«, sagte er aufgeregt und eilte auch schon die Stiege hinunter.
*
So ruhig der Sommerabend im restlichen Wien verlief, so hektisch war es hier. Das Allgemeine Krankenhaus, von den Einheimischen kurz AKH genannt, kannte keinen Feierabend. Pausenlos öffnete sich das automatische Tor, Besucher eilten ein und aus. Auch Kranke, unterwegs zu einer der Notfallambulanzen, nutzten den Haupteingang.
Der Portier schaute nur kurz aus seinem Kreuzworträtsel hoch, als der junge Mann nach dem Stockwerk fragte, in dem sein Vater gerade behandelt wurde. »Sechs L«, war die gleichmütige Antwort.
Gerlinde, Gräfin von Bäumler kam offensichtlich gerade aus dem Fitnesscenter, und keiner, der Markus’ Mutter schon einmal perfekt gestylt auf einem Empfang oder Ball getroffen hatte, hätte sie heute wieder erkannt. Blass und mit ungeföhnten, strähnigen, nur rasch zurück gebundenen Haar saß die Gräfin völlig verloren auf einem Plastikstuhl im Wartebereich.
»Mama! Was ist passiert?«
»Markus! Bin ich froh, dass du da bist!« Die Gräfin fiel ihm erleichtert um den Hals und begann zu schluchzen. So viel konnte Markus aber bald herausfinden: Es war kein richtiger Infarkt, nur eine Rhythmusstörung gewesen, dem Vater ging es den Umständen entsprechend gut.
»Sie können jetzt zu ihm ins Zimmer«, sagte die Stationsschwester, die mit leisen Schritten zu ihnen getreten war, und sie folgten ihr in den hellen Raum.
Wie seltsam klein dieser wuchtige Mann auf einmal aussah! Lag es an dem Monitor über seinem Bett oder an dem weißen Nachthemd, dass er aussah wie ein alter Mann? Rasch schüttelte Markus diesen Gedanken von sich. Nein, sein Vater war noch nicht alt, er war stattlich, in den besten Jahren und ein Patriarch. So einer gab nicht so schnell auf.
Das war es auch, was der Patient seiner Frau gerade zu erklären versuchte: »Nur eine Unpässlichkeit, Gerli, mach dir bitte keine Sorgen. Alles okay mit mir. Morgen darf ich wahrscheinlich wieder nach Hause. Allerdings«, und nun bedachte er seinen Sohn mit dem üblichen, dienstlichen Blick, »allerdings werden sie mir nicht erlauben zur Möbelmesse zu fliegen. Das musst du übernehmen, Markus. Fahr doch bitte gleich ins Büro und hol dir die Unterlagen aus meinem Schreibtisch. Meine Sekretärin hat den Flug bereits auf deinen Namen umgebucht.«
Die Möbelmesse in Mailand! Erst letzte Woche hatte Markus den Vater gebeten, ihm diesen Job zu überlassen, denn er wollte auch hinsichtlich seiner eigenen Geschäftsideen neue Kontakte knüpfen. Markus wusste, dass Scheich Hamad einen Abgesandten dorthin schicken würde. Aber: »Nichts da!«, hatte der Vater bisher immer gesagt. »Du musst dort zur Verfügung stehen, wo du von der Firma gebraucht wirst, Junge!«
Jetzt hatte sich die Einstellung des Vaters also geändert – oder eigentlich auch wieder nicht. Wieder verfügte er über Markus, ohne ihn erst einmal um seine Meinung zu fragen. Es war Zeit – höchste Zeit, um mit dem alten Herrn einmal ein Wörtchen über ihre festgefahrenen Machtstrukturen zu sprechen. Aber nicht jetzt, das war Graf Markus klar. Jetzt würde er eben wieder einmal artig tun, was von ihm verlangt wurde. Auch wenn ihn der Gedanke, Verena eine Woche lang nicht sehen zu können, schmerzte.
»Warum musst du zu einer Möbelmesse? Ich dachte du bist einfacher Tischler? Ich versteh’ das nicht«, murmelte Verena, als Markus sie zehn Minuten später anrief.
»Ich erkläre dir alles, wenn ich wieder da bin, Verena. Aber bitte nicht übers Telefon. Ich werde dich aus Mailand jeden Abend anrufen, okay? Tagsüber wird es wahrscheinlich schwierig, weil dort so ein Wirbel ist. Bitte vergiss nicht, Verena: du bedeutest mir sehr viel…«
Du mir auch, dachte Verena verwirrt, klappte ihr Handy zusammen und schob es in die hintere Tasche ihrer Jeans. Dann malte sie weiter. Ein zorniges, trauriges Bild in einem verhaltenen Violetton, der von knallgelben Störlinien durchkreuzt wurde. Abends dann warf sie ihre Hose müde, erschöpft und gedankenlos zur Schmutzwäsche …
*
»Nicht schlecht«, murmelte Theo Swoboda zum wiederholten Mal. »Nicht schlecht.« Dieses Urteil galt den Bildern der jungen Frau, die letztens während des Unwetters seinen Galerieboden vollgetropft hatte. Gerade hatte er erfahren, dass das aufstrebende Maltalent Philip Kofler die nächsten sechs Monate in einer Entzugsklinik verbringen würde und die für Anfang Juli geplante Ausstellung deshalb ins Wasser fiel.
»Dummer Bub!«, nuschelte Swoboda verärgert in seinen Bart. »Glaubt er etwa, die Chancen kommen vom Himmel geflogen?«
Nun gut, des einen Leid, des anderen Freud. Hoffentlich war das deutsche Mädel klüger und griff zu, wenn sich die Gelegenheit bot. Er suchte nach seinem Telefon. Ach, wie er diese kleinen Dinger hasste, die man immer irgendwo hin legte und nicht mehr wieder fand. Dann musste man sich von jemand anderem das Handy ausborgen und sich selber anrufen, um das eigene Telefon wiederfinden. Wo waren die Zeiten, als diese Dinger noch in eine Männerhand passten und an der Wand hingen? Er seufzte.
Mühsam tippte er die Nummer ab, die auf dem kleinen Kärtchen auf der Vorderseite der Mappe stand. Aber die Kleine hob nicht ab. Ja, wozu waren diese Dinger denn gut, wenn nicht dafür, jeden jederzeit erreichen zu können? So funktionierte das doch heutzutage, oder etwa nicht? Kaum saß man in der Straßenbahn, da düdelte es doch schon von allen Seiten los. Was die Dinger nicht gerade sympathischer machte, dachte Theo. Ständig plärrten ohne Vorwarnung irgendwelche kreischende Popsänger los und pflanzten einem Ohrwürmer ein, die man dann tagelang nicht mehr los wurde.
Doch so oft er es auch versuchte, die Kleine hob nicht ab. Theo schaute noch einmal in ihre Mappe. Wären die Bilder weniger gut gewesen, hätte er gedacht: Pech gehabt. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Doch leider: die Bilder gefielen ihm bei der zweiten Durchsicht gleich noch besser. Theo Swoboda grunzte beleidigt.
*
Verena hob einfach nicht ab. Es war nicht zu fassen! Wütend warf Graf Markus sein Handy auf die silbergraue Überdecke des Hotelbetts und sich selbst dann gleich hinterher. Im Fallen streifte er die Schuhe ab, dann blieb er erst mal eine Weile mit ausgebreiteten Armen liegen. War das ein anstrengender Tag gewesen! Kaum war er in der Ausstellungshalle angekommen, hatten ihn auch schon die Geschäftspartner belagert. Ein Meeting war dem anderen gefolgt, unterbrochen nur vom hektischen Läuten seines Telefons, das ihn zwang, mit denen zu reden, die nicht persönlich anwesend waren. Wenn das wenigstens bedeuten würde, dass die Kasse klingelt!, dachte Markus frustriert. Aber die Seite, von der er sich am meisten erhoffte, schwieg vorerst. Der Abgesandte des Emirats Fudschaira wurde erst in den nächsten Tagen erwartet. In Gedanken spulte Markus zum x-ten Mal ab, was er dem hochrangigen Vertreter des Emirs alles zeigen wollte. Seine Arbeiten würden für sich sprechen und den Mann überzeugen, den Großauftrag für die Innengestaltung des Palastes an die Firma neu Bäumler zu vergeben. Zeit benötigte er allerdings auch, um seinen Vater dafür zu gewinnen, ihm die Leitung der Abteilung für Handwerk und Design zu übertragen. Zeit war jedoch leider jenes Element, das seine zarte Beziehung zu Verena Königshofer empfindlich störte. Warum nur ging sie nicht an ihr Telefon? Hatte sie ihn gar schon vergessen? War er nur eine Ablenkung und Inspiration für sie, die junge Künstlerin, gewesen und wurde nun, nachdem er seine Rolle erfolgreich gespielt hatte, abserviert? Nein. Warum er davon überzeugt war, dass das, was ihnen da passierte, mehr war als ein Flirt, konnte er nicht sagen. Er wusste es einfach.
Graf Markus ließ seinen Blick durch das triste Interieur des Hotelzimmers schweifen. Warum waren diese Zimmer immer gleich? Solange man nicht in einer Luxussuite residierte – und dafür hatte der Juniorchef der Firma Bäumler momentan leider kein Geld –, musste man mit der ewig gleichen lieblosen Einrichtung vorlieb nehmen. Hier ein nichtssagendes Bild unter rahmenlosem Glas, da ein geschmackloser Klotz von einem Kleiderschrank. Helle, unfreiwillig ergraute Tapeten. Ob er die Bekanntschaft mit dem Emir nicht auch gleich nützen sollte, Kontakte mit den Hoteliers von Fudschaira und Abu Dhabi zu knüpfen? Nun, dafür musste er den guten Mann erst von der Qualität seiner Arbeiten überzeugen. Und bis dahin hieß das, in einem tristen Hotel neben dem Flughafen zu wohnen.
Wieder griff der junge Graf zu seinem Telefon. Wieder verhallte das Läuten am anderen Ende der Leitung unbeantwortet. Markus seufzte, dann tippte er eine andere Nummer ein und sprach auf die Mailbox: »Hallo Gabi! Du musst was für mich tun! Dringend. Es geht um Leben und Tod. Es ist nämlich so, dass ich mich verliebt habe, Schwesterherz. Mich hat es total erwischt. Ich bin völlig hin und weg … Verena …« Er räusperte sich, strich sich mit der Hand eine verirrte Haarlocke aus der Stirn und fuhr dann fort:
»Nun, jedenfalls hocke ich hier in Mailand fest und kann sie nicht erreichen. Ich fürchte, Verena ist aus irgendeinem Grund sauer auf mich. Vielleicht, weil ich so spontan abreisen musste, oder weil sie erfahren hat, wer ich bin – sie hat mich für einen einfachen Tischler gehalten, aber das ist eine andere Geschichte, ich erklär’s dir beizeiten. Mit den sogenannten reichen Leuten hat sie furchtbar schlechte Erfahrungen gemacht, und ich war zu feige und hab’ den Irrtum nicht aufgeklärt. Ich hoffe nur, dass sie nicht von meinem Titel erfahren hat, ein Graf, das wäre voll das Letzte, das ihr gefallen würde. Bitte, bitte liebes Schwesterlein, ruf sie morgen tagsüber an und sag ihr, dass ich sie liebe. Bitte! Ich schick dir eine SMS mit ihrer Nummer. Bitte. Du darfst …« Es knackte. Die Mailbox war voll.
*
»Sieh mal, Verena, was ich gefunden habe!« Mit einem breiten Lächeln hielt die Haushälterin Anna Verenas pinkfarbenes Handy empor. »Beinahe hätte ich dein Telefon mitgewaschen, stell dir vor!«
Erleichtert griff Verena nach ihrem Handy. »Das habe ich schon gesucht!« Sogleich studierte sie die Anzeige auf dem Display: Dreizehn Anrufe in Abwesenheit, die meisten davon waren von Markus, stellte sie fest. Dann gab es da noch eine andere, unbekannte Nummer. Gerade als sie diesen Anrufer zurückrufen wollte, läutete ihr Telefon.
»Hallo Verena!« – Wo hatte sie diese Stimme bloß schon einmal gehört? Aber sie musste nicht lange nachdenken. So bekannt war ihr die schrille Stimme der Anruferin, dass ihr gleich ein kalter Schauder über den Rücken kroch.
»Wir müssen miteinander reden!«, sagte Gabriela von Bäumler in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Verena wunderte sich. Was hätte ihr Markus’ Schwester wohl zu sagen?
»Es ist dringend!«, beharrte Gabriela. »Hast du Zeit?«
»Wann – jetzt?«, stammelte Verena überrumpelt.
»Na klar. In einer Stunde. Kärntner Straße, Sky-Bar?«
Eigentlich verspürte Verena überhaupt keine Lust auf ein Treffen mit dieser arroganten Frau. Aber leider fiel ihr auf die Schnelle keine Ausrede ein. »Ich … ich…«, stammelte sie verlegen.
»Okay, dann also abgemacht.« Gabriela lachte kurz auf. Es klang wie eine Vollbremsung mit anschließendem Blechschaden.
Missmutig schlüpfte Verena wieder in ihre Schuhe, schnappte die Leine von Herrn Franz und machte sich in Begleitung des Mopses auf den Weg in die Innenstadt.
Komtess Gabriela saß bereits an einem Tischchen neben der Bar. Gelegentlich umschloss sie mit dunkelrot geschminkten Lippen einen schwarzen Strohhalm und zog eine giftgrüne Flüssigkeit aus einem hohen Glas, das mit einem rosa Papierschirmchen und einer Maraschinokirsche verziert war. Verena betrachtete die perfekt gestylte junge Frau mit ihren langen schwarzen Haaren und bedauerte es in diesem Moment sehr, sich nicht doch noch umgezogen zu haben. Auf einmal kam sie sich in ihren Lieblingsjeans, dem weißen T-Shirt und den flachen Leinenschuhen schäbig vor. Gabriela hingegen trug ein leichtes Sommerfähnchen, das sehr tief ausgeschnitten war. Wie unbeabsichtigt rutschte der Spaghettiträger immer wieder über die Schulter und gab die Aussicht auf einen schwarzen BH-Träger frei.
Der Barmann polierte schon seit einer Ewigkeit dasselbe Glas, die Augen wie hypnotisiert auf Gabrielas Ausschnitt gerichtet. An Verena verschwendete der Mann keinen zweiten Blick. Neben dieser Frau fühlte sich Verena wie ein hässliches Entlein. Nervös zupfte sie eine Haarsträhne zurecht.
Gabriela streckte ihr die Hand entgegen, die sich genauso anfühlte, wie Verena es erwartet hatte: spitz, knochig und kalt. Herrn Franz maß sie mit einem verächtlichen Blick, was dieser mit einem Schnaufen zur Kenntnis nahm. Er war viel zu gutmütig, um menschliche Feindseligkeit zu durchschauen. Eine Welle der Zuneigung für diesen tapferen Kerl durchflutete Verena. Sie kraulte ihm den dicken Hals.
»Was gibt es zu besprechen?«, leitete sie dann das Gespräch ein. Sie hatte keine Lust auf Smalltalk.
»Okay, Schätzchen, dann bringen wir es also gleich hinter uns«, sagte Gabriela schneidend. »Wie du denken kannst, geht es um meinen Bruder. Ich fürchte fast, er hat es verabsäumt, dich aufzuklären, wer wir sind. Stimmt’s?«
Verena schluckte. Sie hatte einen Kloß im Hals, der sie daran hinderte zu antworten.
»Wir sind die von Bäumlers. Sagt dir das was? Klingelt’s?« Wieder lachte Gabriela schrill. Sie lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, warf dem Barkeeper einen herausfordernden Blick zu und zupfte an ihrem Träger. »Gut. Das war das erste. Jeder in Wien kann dir erzählen, was unser Name bedeutet. Wir sind eine der führenden Familien dieser Stadt. Unser Familienunternehmen ist mehr als 300 Jahre alt. Wir haben unsere Möbel seinerzeit schon an die Kaiserfamilie geliefert, wir sind die Creme de la Creme. Ach ja …« Sie machte eine dramatische Pause und fuhr dann fort: »Mein Bruder ist übrigens Graf von Bäumler, wusstest du das?«
Verena fühlte sich wie in einem schlechten Film. Nur, dass sie als Zuschauerin in einem Film um einen Kommentar nicht verlegen gewesen wäre. Jetzt aber saß sie da wie ein Schulmädchen und fühlte sich elend. Warum hatte Markus ihr das nicht erzählt?
Ungerührt fuhr die Komtess fort: »Nichts gegen dich persönlich. Du bist ein hübsches Mädchen. Aber Markus ist schon seit drei Jahren mit Sonja Rütter verlobt. Unsere Familien passen nicht nur geschäftlich perfekt zusammen, sondern wir sind auch alle sehr lange miteinander befreundet. Wir sind in denselben Kreisen aufgewachsen, und dieselben Schulen gegangen. Markus und Sonja sind schon lange ein Paar. Allerdings haben sie vereinbart, dass er sich bis zur Hochzeit noch ein bisserl austoben darf, wenn du verstehst, was ich meine? Das mit dir ist beileibe nicht das erste Techtelmechtel von Markus. Nun wollen wir die Hochzeit aber noch in diesem Herbst über die Bühne bringen, und die kleine Rütter heult sich gerade die Augen aus dem Kopf. Das arme Ding leidet immer so unter den Weibergeschichten von Markus. Deshalb ist es Zeit, dass du einen Abgang machst, klaro?«
Verena hatte inzwischen verstanden, dass Gabrielas Fragen nur rhetorisch gemeint waren. Eine Antwort wurde gar nicht erst erwartet. Es wäre ihr aber auch keine eingefallen. Verzweifelt umklammerte sie das Glas Mineralwasser, das sie bestellt hatte. Getrunken hatte sie noch keinen Schluck, obwohl ihr Hals völlig ausgetrocknet war.
»Nun, mein Schatz, das sind also die Tatsachen. Wir haben leider nicht genug Geld, um Schnorrer durchzufüttern. Wir haben aber auch gar keine Lust, unpassende Beziehungen zu fördern, das wirst du wohl wohl verstehen?«
Gabriela warf Verena einen prüfenden Blick aus ihren stahlgrauen Augen zu. Es war so, als wollte sie sich vergewissern, dass ihr Gegenüber den Schlag aushalten könnte. Dann zuckte sie gelangweilt mit den Achseln.
»Nun, es ist, wie es ist. Du hast eben leider nicht unsere Kragenweite. Nimm es bitte nicht persönlich. Falls du Interesse hast, Näheres über unsere Familie zu erfahren, dann lies doch einfach eines der vielen Hefte, die hier herumliegen. In irgendeinem davon steht immer etwas über uns geschrieben.« Einen Moment lang schien sie zu zögern, dann straffte sie ihre Schultern, strich mit der Hand ihr Kleid über der Hüfte glatt und stand auf. Sie holte einen Fünfzig-Euroschein aus der Prada-Tasche und warf ihn lässig auf den Tisch. »Das dürfte wohl reichen!« Gabriela schenkte dem Barkeeper einen letzten Blick und ein verführerisches Lächeln, dann stöckelte sie davon.
*
Die Nachmittagssonne malte dunkle Schattenrisse auf die grünen Wiesenflächen des Stadtparks. Kleine Kinder tollten auf dem Spielplatz und quietschten vor Vergnügen. Im nahen Teich quakten ein paar Enten, die sich mit einer Gruppe von Tauben um das Futter stritten. Zwei junge Mädchen führten einen adretten Pudel an der Leine und plauderten angeregt über die Sommergarderobe, die sie demnächst anschaffen wollten. Eine Gruppe von Studenten lungerte auf dem Rasen herum und diskutierte angeregt über Politik. Gleich neben dem goldenen Denkmal des Walzerkönigs Johann Strauß saß Verena auf einer Bank, zu ihren Füßen kauerte der kleine Mops und machte ein ratloses Gesicht.
Verena starrte in das Hochglanzmagazin, das sie völlig gedankenlos eingesteckt hatte, nachdem Komtess Gabriela bei ihrem Abgang einen Packen Klatschzeitschriften auf den Tisch geworfen hatte. Immer noch ganz verwirrt von dem, was dieser Nachmittag gebracht hatte, blätterte Verena die Zeitschrift durch. Da fesselte eine Überschrift in dicken Lettern ihre Aufmerksamkeit. Sie begann den Artikel zu lesen und spürte, wie ihr Atem schneller ging:
Was ist aus ihnen geworden?
In unserer Serie ›Berühmte Schauspieler‹ erzählen wir Ihnen heute von einem ganz besonders hell strahlenden Stern am Wiener Theaterhimmel: Lilo Benedikt. Lesen Sie über ein Leben zwischen Himmel und Hölle auf Seite 24.‹
Aufgeregt blätterte Verena zur angegebenen Seite, in deren Zentrum eine alte, körnige Fotografie stand. Eine lachende junge Frau stieg aus einer Limousine, der Rock ihres schillernden Abendkleides war hoch geschlitzt und öffnete sich bis weit übers Knie, ein Nerzcape, das über ihrem Arm hing, schleifte lässig über den Boden. Die Absätze der perlenbestickten Pumps maßen mindestens zwölf Zentimeter. Blonde Löckchen sprangen frech unter einer kleinen Kappe hervor und umtanzten das Gesicht. Sie lachte herzhaft, offensichtlich hatte ihr Begleiter, ein neben dem Wagen stehender Schönling, der ihr die Hand entgegenstreckte, gerade etwas Charmantes gesagt.
›Lilo Benedikt auf dem Weg zum Opernball, hier noch in Begleitung ihres Kollegen und Verlobten Carl Wilhelm‹, stand unter dem Bild zu lesen.
›Nach einem Eklat in ihrer Loge verließ Frau Benedikt den Ball später alleine und ohne Schuhe. Die Theaterwelt fragt sich noch heute, nach über fünfzig Jahren, was damals vorgefallen ist. Sowohl Wilhelm als auch Benedikt, die kurz zuvor mit dem goldenen Verdienstkreuz einer der höchsten Orden der Stadt erhalten hatte, schwiegen beharrlich über den Vorfall. Gerüchteweise wurde die Diva am gleichen Abend an einem Würstelstand gesichtet, wo sie eine Flasche Bier trank und dann in ein Taxi sprang. Da sie kein Geld mit sich trug, bezahlte sie das Bier mit einer Perlenkette und den Taxifahrer mit ihrer Nerzstola. Angeblich erlitt Benedikt noch in derselben Nacht eine Fehlgeburt.
Später versuchte sich Benedikt neben dem Theater auch in verschiedenen Filmrollen, zuletzt sah man die Grande Dame als Mordverdächtige in einer ›Tatort‹-Folge. Dann wurde es still um den einstigen Star. War sie eine der erfolgreichsten Künstlerinnen des vorigen Jahrhunderts, so hatte sie privat weniger Glück. Nachdem ihre Beziehung zu Wilhelm zerbrochen war, scheiterte auch ihre Ehe mit dem um viele Jahre älteren Industriellen Peter Weitenberger. Wie man aus vertraulichen Kreisen hört, hatte er sie wiederholt betrogen. Trotzdem kümmerte sie sich nach seinem Schlaganfall rührend um ihren Ex-Mann, der nach einigen wirtschaftlichen Fehlentscheidungen finanziell ruiniert war. Benedikt nahm ihn in ihrem Haus auf und pflegte ihn bis zu seinem Tod zwei Jahre später. Angeblich soll sie einer befreundeten Kollegin folgende Worte gesagt haben: »Peter ist alles, was ich habe, denn ich habe nun einmal keine Kinder. Mein Mann war nach einer Kriegsverletzung unfruchtbar.«
Heute lebt Lilo Benedikt zurückgezogen und einsam am Rande von Wien.‹
»Nein, nicht einsam!«, protestierte Verena leise. »Sie hat Anna und nun auch mich. Und sie hat mit meiner Oma eine wunderbare Freundin in Hamburg!« Beim Gedanken an ihre Großmutter stiegen Verena die Tränen in die Augen. Wie sehr sehnte sie sich nach dem Trost der lieben alten Frau! Ob sie ihre Koffer packen und wieder nach Hause fahren sollte? Von wegen Neubeginn! Vom Regen in die Traufe war sie gekommen! Zuerst Bernd, dann Markus. Was die Mutter des einen, war die Schwester des anderen … Verena seufzte. Und nun noch Lilos Geschichte, die sich gut in das Muster fügte!
Waren es nicht immer die Männer, die das Unheil brachten? Nein, sie hatte erst einmal genug von dieser Spezies. Sie würde jetzt einmal an sich selbst denken, und sonst nur noch an Lilo, Anna und Herrn Franz. Und sie würde malen. Dafür war der Kummer wenigstens gut – er machte kreativ.
Zornig sprang Verena auf und schleuderte das Klatschmagazin in den nächsten Mülleimer. Obwohl immer noch die Sonne schien, die Kinder lachten und die Menschen um sie herum vergnügt waren, hatte der Tag für Verena seinen Glanz verloren. War sie denn immer auf der Verliererseite?
Erst als sie die verwunderten Blicke der Passanten bemerkte, wurde ihr klar, dass sie weinte. Ziellos ging sie durch die Stadt, allein mit ihren verwirrten Gedanken, mit ihrem Zorn, und ihrem Schmerz. Herrn Franz trappelte mit, so artig, als ahnte er den Kummer seiner Freundin. Verena querte die Ringstraße und bewegte sich in Richtung Schwedenplatz, wo sich einer der besten Eissalons der Stadt befand. Doch Verena hatte heute keinen Appetit auf Eis, sie nahm nicht einmal die vielen fröhlichen Menschen um sich herum wahr. Schließlich stand sie auf der Salztorbrücke und schaute lange in das trübe Wasser des Donaukanals hinunter.
»Was die Wiener immer mit ihrer schönen blauen Donau haben«, dachte Verena zynisch. Sie hatte diesen Fluss noch nie blau gesehen. Heute passte die Farbe des Kanals zu ihrer Stimmung. Im grauen Wasser spiegelten sich die Sonnenstrahlen und ein sanfter Wind kräuselte seine Oberfläche.
»Pff«, machte Verena frustriert. Als ihr Handy läutete, zog sie es aus der Tasche, und dann ließ sie es einfach fallen. Es dauerte eine kurze Weile, dann war ein leises Platschen zu hören, als das Gerät und mit ihm ihre Träume versanken. Am liebsten wäre sie gleich nachgesprungen.
Später wusste sie nicht, wie sie nach Hause gekommen war. Ihr Zuhause, das war nun wenigstens klar, jener Ort, wo sie sein durfte, wie sie war und ihren Kummer fließen lassen, das war die Backsteinvilla in Sievering.
Sie erinnerte sich vage an einen Taxifahrer, an Annas erschrecktes Gesicht, die dem Mann einen Geldschein durchs Autofenster reichte. Sie erinnerte sich an Lilos sanfte Finger, die über ihre Wange strichen und an die Zunge von Herrn Franz, der ihren nackten Fußknöchel leckte.
Ein weiches Bett, eine Tablette, schlafen.
*
Graf Markus bestellte einen weiteren Espresso. Wahrscheinlich würde er heute Nacht nicht schlafen können, aber was soll’s, dachte er. Hauptsache, ich bin bei der Besprechung mit Hassan Tahoumi gut in Form. Er sah auf seine Armbanduhr. In einer halben Stunde würde er sich mit dem Abgesandten des Scheichs treffen. Heute Abend schon würde er wissen, ob er weiterhin nur der Sohn eines berühmten Vaters oder sein eigener Chef sein würde. Natürlich hatte er nicht vor, das Unternehmen aufzugeben. Er wollte seinem Vater nicht in den Rücken fallen. Aber mit einem starken Geldgeber im Rücken würde er den Sprung vom Befehlsempfänger zum Entscheidungsträger vollziehen. Wie gerne hätte er seine Gedanken jetzt mit Verena geteilt! Doch sie war und blieb für ihn unerreichbar. Wieder klickte Markus die Kurzwahltaste seines Handys an. Wieder hörte er die unpersönliche Computerstimme sagen: »Kein Anschluss unter dieser Nummer.« Es war einfach unbegreiflich! Anfangs hatte das Telefon ja noch geläutet, aber kurz nach seinem Gespräch mit Gabriela war die Verbindung dann endgültig tot gewesen. So weit war Mailand aber nun wirklich nicht von Wien entfernt!
Die hübsche italienische Kellnerin stellte ihm den Espresso auf den Tisch und lächelte keck. Früher einmal war Graf Markus immer für einen Flirt zu haben gewesen, und bei dieser hübschen, molligen Frau hätte er sofort zugegriffen. Doch seit er Verena kannte, war alles anders. Was er nicht mit ihr zusammen erleben oder teilen konnte, bedeutete ihm nichts.
Graf Markus griff in die Seitentasche seines Sakkos und zog eine kleine, mit weinrotem Samt bezogene Schatulle heraus. Als er sie aufspringen ließ, kam ein glitzernder Saphir zum Vorschein und spiegelte die Lichtreflexe der Sonne. Nachdenklich betrachtete Markus den edlen Ring und dachte wehmütig an die schönen Frühlingstage, die Verena nun in Wien wohl gerade erleben durfte. Hier in Italien war der Sommer ja schon voll eingekehrt, über die Mittagszeit war es manchmal drückend heiß.
Ob Verena wohl gerade in einem von der Frühlingssonne beschienenen Gärten saß? Sie würde ihre süße Jeansjacke tragen, die so gut zu ihren kurzen blonden Haaren passte. Markus mochte die Art, wie sie sich kleidete. Er hatte die junge Frau noch nicht oft getroffen, aber jedes Mal hatte sie legere Jeans und ein lässiges T-Shirt getragen. Flache Schuhe. Das war es, was ihm an ihr besonders gut gefiel. Dass sie es nicht nötig hatte, sich zu verstellen.
Markus rückte seinen Stuhl ein Stück weiter in den Schatten. Natürlich wusste er, dass es viel zu früh war, Verena einen Ring zu schenken. Aber als er diesen Saphir in der Auslage des Juweliergeschäfts gesehen hatte, hatte er gespürt, dass dieser für ihn und Verena geschaffen war. Das Blau hatte dieselben Farben wie Verenas Augen. Der Reif war zart, schlicht und schön. Edel und kein bisschen protzig. Wie Verena. Markus seufzte.
Im spiegelnden Display seines Handy kontrollierte Graf Markus rasch seine Frisur. Er wusste, dass die Araber großen Wert auf das äußere Erscheinungsbild legten und hatte extra eine Krawatte umgebunden, um den Abgesandten des Scheichs zu beeindrucken. Nun kam er sich wie verkleidet vor. Auf dem Stuhl neben ihm lag die Mappe mit seinen Entwürfen. Wenn er daran dachte, wie oft er damals mit seinem Vater gestritten hatte, der ihn zu einer handwerklichen Ausbildung gezwungen hatte! »Ich werde später doch nur im Büro sitzen, Paps, wozu muss ich wissen, wie man Holz bearbeitet?« Aber Carl Graf von Bäumler war hart geblieben und hatte sich schließlich durchgesetzt. »Als Chef des Unternehmens musst du jeden Bereich von der Pike auf kennen und beherrschen.« Bereute der Vater es heute am Ende, dass sein Sohn nicht nur graduierter Betriebswirtschaftler und ›Schreibtischtäter‹, sondern auch ausgebildeter Tischlermeister war, der im Umgang mit Holz seine Berufung entdeckt hatte? Es war das Wichtigste in seinem Leben geworden. – Oder doch nicht?
Graf Markus warf einen letzten Blick auf den Ring in der Schatulle, klappte diese wieder zu und steckte sie in seine Sakkotasche. Wie viel ihm der Auftrag des Scheichs auch bedeutete: das Wichtigste, das wartete zuhause in Wien.
Und ja, so gerade und aufrecht wie Verena wollte er von nun an auch sein. Entschlossen wuschelte Graf Markus mit den Fingern durch seine eben erst sorgfältig gekämmten Haare. Er war Handwerker, nicht Bürohengst, und er würde sich auch für einen Scheich aus Fudschaira nicht verstellen!
Die Kellnerin kam vorbei, sie lächelte verheißungsvoll. Nun wäre es der Moment gewesen – vor ein paar Wochen wäre er sicher so gewesen –, und Markus hätte sie gefragt, wann sie heute Abend Dienstschluss hätte. Heute aber lächelte er nur freundlich und legte ein großzügiges Trinkgeld auf den Tisch. Dann stand er auf. Vor seinem großen Gespräch wollte er sich noch ein wenig die Beine vertreten.
Es waren schon viele Touristen in der Mailänder Innenstadt unterwegs. Mit seinen dunklen Haaren sah Markus aber nicht aus wie einer von ihnen, sondern wie ein einheimischer Geschäftsmann, nach dem sich die Frauen umschauten. Flirtstimmung lag in der Luft. Wie gern hatte er sich früher an diesem Reigen beteiligt! Liebe, das war für ihn ein Spiel gewesen, im Gegensatz zur Ehe, die er als Vereinbarung betrachtet hatte. So hatte er sich seine Zukunft vorgestellt: Ein nettes Mädchen heiraten – und er hatte dabei durchaus an Sonja Rütter gedacht –, und dann einfach ein behagliches Leben führen. Ein, zwei Kinder, ein Hund, ein Haus im Grünen. Keine großen Erwartungen.
Immer wieder wanderte Graf Markus’ Hand zu der kleinen Schatulle in seiner rechten Sakkotasche. Die linke Hand aber hielt das Handy umklammert und tippte immer wieder dieselbe Kurzwahl. Schließlich blieb Markus in einer kleinen, angenehm beschatteten Passage stehen und wählte kurzentschlossen eine andere Nummer.
»Hallo, Bruderherz! Was macht Mailand?«
»Gabriela! Hast du mit Verena gesprochen? Ich kann sie nämlich noch immer nicht erreichen.«
Seine Schwester am anderen Ende der Leitung schien zu zögern. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme heiser und fremd.
»Ja, ich habe mich mit Verena unterhalten.«
»Und? Was hat sie gesagt? Lass dir doch bitte nicht alles aus der Nase ziehen. Merkst du nicht, wie wichtig das für mich ist?« Markus war ungeduldig.
»Das weiß ich doch, Markus. Ich weiß nur nicht, wie ich es dir sagen soll.« Komtess Gabrielas Stimme klang ungewöhnlich leise. So kannte er seine Schwester doch gar nicht!
»Gabriela, ich bin kein kleines Kind! Sag mir bitte was los ist!«
»Sie liebt dich nicht, Markus. Es tut mir so leid. Es war wohl nur ein netter Flirt für sie, und als ich ihr gesagt habe, dass du Juniorchef bist und Graf, wurde sie ganz schön sauer. Warum hast du ihr das denn nicht gleich gesagt? Sie hat dich einen gemeinen Lügner genannt, einen reichen Schnösel.«
»Es hat sich einfach nicht ergeben. Und ich hatte auch Angst, sie zu vergraulen. Sie hat in Deutschland schlechte Erfahrungen mit einem reichen Kerl gemacht und war so glücklich, als ich sagte, ich sei bloß Tischler.«
»Meine Güte, Markus! Du bist aber kein Tischler. Du bist Graf Markus von Bäumler und wirst demnächst der Eigentümer eines der traditionsreichsten Österreichischen Vorzeigeunternehmen sein. Du darfst nicht immer so tiefstapeln. Vor allen nicht, um irgend so ein Mädel zu beeindrucken, das dankbar sein sollte, dass du sie überhaupt wahrnimmst!«
»Nein, Gabriela, das darfst du nicht sagen. Ich bin es, der dankbar sein muss, wenn Verena mich haben will. Sie ist so wunderbar!«
Gabriela unterbrach ihn mit einem schrillen Lachen. »Na sieh mal an! Dich hat’s ja ganz schön erwischt! Aber lass dir keine grauen Haare wachsen, Bruderherz, das geht vorbei. Eine Frau, die sich für einen Grafen zu gut ist – und dich wegen deines Bankkontos, deines Berufs oder deines Namens zurückwies –, die ist deiner nicht wert. Steigere dich bloß nicht hinein. Du kennst sie ja gar nicht. – Sonja lässt dich übrigens grüßen. Sie vermisst dich.«
Ein langes Schweigen folgte dieser Nachricht. Dann riss sich Markus zusammen und flüsterte ins Telefon: »Aber – das kann doch nicht sein! Nur wegen meiner Herkunft? Wegen meines Titels?«
»Tja, so sind die Leute. Uns aber sagt man nach, arrogant zu sein«, sagte Gabriela verärgert. »Du solltest das Mädel schleunigst vergessen.«
»Das kann nicht sein«, flüsterte Markus. Dann legte er auf.
Erst jetzt bemerkte er, dass er die Schatulle in seiner Hand umklammert hielt. Das Scharnier drückte scharf in seine Daumenkuppe. Am liebsten hätte er den Ring dem nächsten Menschen der ihm begegnete, in die Hand gedrückt und Gabrielas Rat befolgt. Alles vergessen …
Aber nein, er würde den Ring behalten! Er würde es schaffen. So einfach gab er nicht auf. Zuerst wollte er den Vater überzeugen, dann die Geliebte. Und als Erstes stand der Abgesandte von Scheich Hamad auf seiner Liste.
Gerade noch geknickt und gebrochen, fühlte sich Graf Markus plötzlich stark wie nie zuvor. Erst jetzt wurde ihm klar, dass in ihm ein Kämpfer steckte.
*
Das Taxi bewegte sich wie eine Schnecke. Da hätte er ja gleich zu Fuß gehen können, dachte Theo Swoboda verärgert. Überhaupt – wie kam er dazu, dem Mädel nachzurennen? Da waren diese jungen Leute alle verkabelt und mehrfach mit Telefonen ausgestattet, und dann konnte man sie nicht erreichen. Wenn ihm die Bilder dieser Kleinen bloß nicht zu gut gefallen hätten! Da sie nicht an ihr Telefon ging, hatte er sich kurzentschlossen in ein Taxi gesetzt und fuhr zu der angegebenen Adresse. Ausgerechnet in Sievering wohnte die Kleine! Warum nicht gleich am Kahlenberg oben? Jetzt hatte er extra die Galerie zugesperrt, wahrscheinlich würde genau heute jemand eines seiner großen Bilder kaufen wollen. Das hatte er nun davon, weil er immer noch an die Kunst glaubte! Nein, er war wirklich kein guter Geschäftsmann. Zornig schlug sich Theo Swoboda aufs Knie. Und traf genau die Stelle, die er sich letzten Winter beim Eislaufen verletzt hatte. Als er kurz aufheulte, drehte sich der Taxifahrer neugierig zu ihm um.
»Alles in Ordnung, der Herr?«
»Ja, ja. Geht schon. Fahren Sie nur weiter. Ich will heute noch ankommen«, grummelte der Alte. Aber sie waren ja schon da. Da er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er gar so unfreundlich gewesen war, zeigte sich Theo Swoboda beim Zahlen besonders großzügig. So ging es ihm immer. Zuerst grantelte er, dann machte er es wieder gut.
Mühsam kletterte er aus dem Taxi und suchte die angegebene Hausnummer. Es war ein verwilderter Garten, eine dunkelrote Backsteinvilla, die von Efeu überwachsen war. Schön ist es hier, dachte der Alte. Dann fiel sein Blick auf das Türschild.
Benedikt, stand in geschwungenen Lettern da.
»Benedikt …«, murmelte Theo Swoboda. »Das wäre doch zu schön, wenn …«
Er erinnerte sich, als ob es gestern gewesen wäre. Wie ein verliebter Teenager hatte er im Theater gesessen, immer in derselben Loge, immer mit einer roten Rose, die er dann vor der Garderobe abgab. Er hatte Lilo Benedikt sein ganzes Leben lang bewundert und ihre traurige Privatgeschichte in der Klatschpresse verfolgt. Eines war ihm immer klar gewesen: Er hätte die Frau glücklich gemacht. Nicht so wie dieser Weitenberger, dieser Industrielle, der sie immer nur betrogen hatte. Er hätte sie auf Händen getragen. Das Pech war nur, dass er sie nie persönlich kennen gelernt hatte.
Und nun? Aber in Wien war Benedikt kein so seltener Name. Nein, er wollte sich nicht in Tagträumen verlieren. Dazu war er nun bei weitem zu alt. Er war hier, um ein Geschäft zu machen. Er suchte die kleine Malerin, um ihr eine Ausstellung anzubieten. Mehr nicht. Den Namen Benedikt strich er gleich wieder aus seinem Gedächtnis.
Theo Swoboda läutete, und sogleich ertönte der Summer des Türöffners. Die Tür sprang auf, und Theo betrat den knirschenden Kiesweg. Eine nette Dame, etwa Mitte Vierzig, mit knallroten Schuhen und roten Haarsträhnen, lächelte ihn fragend an. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Ich suche Verena Königshofer. Bin ich hier richtig?«
»Aber ja doch! Verena!« Die Frau drehte sich zur Stiege und rief abermals nach oben: »Verena!« Dann wandte sie sich zu dem Gast und sagte: »Ein Momenterl bitte.«
»Wer ist denn da?« Eine weitere Frauenstimme erklang nun durch geschlossene Flügeltür.
»Ein Besucher für Verena.«
»Bitte ihn doch solange in den Salon herein, Anna, damit er nicht im Vorraum warten muss!«
Die Tür öffnete sich und zeigte das liebste Gesicht, das es jemals für Theo Swoboda gegeben hatte. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Lilo Benedikt!«, stotterte er verdutzt.
»Ja, das bin ich. Sie erinnern sich an mich?«
»Wie könnte ich Sie jemals vergessen haben, gnädige Frau?« Der alte Herr beugte sich hinunter und küsste der ehemaligen Schauspielerin galant die Hand. Sie ließ es lächelnd geschehen.
Als Verena mit gewaschenen Händen und in sauberen Jeans, gefolgt vom schnaufenden Herrn Franz, in den Salon trat, bot sich ihr ein seltsames Bild: Hier saß Lilo, ihre liebe gute Lilo, und strahlte über das ganze Gesicht. Ihr gegenüber saß der alte Galerist, Verena erkannte ihn sofort wieder. Das war aber auch nicht schwer, denn er hatte wieder seinen weißen Seidenschal um den Hals geschlungen – bei diesen frühsommerlichen Temperaturen! – und sah aus wie ein älterer Doppelgänger von Vinzent van Gogh. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft. Natürlich ging es um die alten Zeiten.
Der Mops hoppelte in das Zimmer. »Das da ist der Herr Franz«, stellte Lilo vor.
Der Galerist beugte sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihm zwischen den Ohren. »Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Franz.«
Zaghaft klopfte Verena an den Türrahmen des Salons. »Guten Tag, Herr Swoboda.«
Lilo und Theo wandten ihr die Köpfe zu. Sofort verschwand das freundliche Lächeln aus dem Gesicht des alten Herrn, und er begann auch schon loszudonnern:
»Was denken Sie sich eigentlich dabei? Da geben Sie mir eine Telefonnummer, und dann kann ich Sie nicht erreichen. Sie haben Glück, dass ich so sein sturer alter Mann bin. Und dass ich ihre Bilder wirklich großartig finde. Ich möchte Ihnen nämlich eine Ausstellung anbieten.«
»Das tut mir leid«, murmelte Verena zerknirscht. Dann korrigierte sie sich: »Nicht, dass Sie mir eine Ausstellung anbieten, sondern dass ich mein Telefon weggeworfen habe.«
»Warum haben SIe es gleich weggeworfen?«, fragte Theo Swoboda. »Reicht abschalten nicht auch?«
»Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich wollte es einfach nicht mehr sehen«, sagte Verena ausweichend.
»Und da schmeißt man es gleich weg?«, wunderte sich der alte Galerist.
Lilo lachte. »Ja, so sind die jungen Leute. Immer überschwänglich. Egal, ob sie glücklich verliebt sind oder unglücklich. Nicht wahr, Verena?«
Statt einer Antwort bekam Verena einen knallroten Kopf. Der alte Mann verstand aber auch so. Unwirsch schüttelte er den Kopf. »So, so. Sie haben also Liebeskummer? Welcher Dolm hat denn das verbrochen?«
Verena musste über den seltsamen Ausdruck beinahe lachen. Trotzig deutete sie mit dem Kopf zu dem alten Schreibtisch der zwischen den Fensterflügeln stand. »Der Hoflieferant«, sagte sie und fuhr mit dem Finger über das versilberte B.
Theo Swoboda sagte gar nichts. Es fiel ihm schwer, sein Gespräch mit Lilo abzubrechen.
Aber schließlich war er gekommen, um Verenas Bilder anzusehen. Mühsam erhob er sich und hinkte hinter der jungen Frau die Treppe zur Mansarde hinauf. Dort sah er sich in dem kleinen Zimmer um und blätterte in den Aquarellen, dann stellte er die Bilder, eines nach dem anderen, auf die Staffelei ins Licht und stand dann regungslos davor.
»Nicht schlecht«, sagte er schließlich, und Verena hielt vor Aufregung den Atem an. Nicht schlecht – so viel wusste Verena nun schon von den Wienern, dass diese Verneinung des Negativen das höchste Lob war, das höchste Lob war, das man erwarten konnte. Entsprechend erfreut lächelte sie den Herrn offen an.
»Das Ölbild ist mit Abstand das beste Ihrer Bilder. Wenn Sie es schaffen, bis Juli noch ein paar von der Sorte zu malen, dann sind wir im Geschäft. Vernissage am 7. Juli?« Er streckte Verena seine offene Hand entgegen, und sie schlug überwältigt ein. Ihr Schnaufer der Erleichterung war unüberhörbar.
Der Galerist lachte. »Ist schon komisch, dass ich noch eine so bezaubernde junge Frau nervös machen kann.«
Da musste auch Verena lachen. »Darf ich Sie jetzt auf einen Kaffee in den Salon bitten? Frau Benedikt wartet sicherlich schon auf uns.«
»Sehen Sie, Kindchen, und jetzt bin ich es, der vor Aufregung ins Schwitzen kommt! Sie wissen aber schon, Mädchen, dass Sie sehr begabt sind?«
Verena lächelte scheu. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht. Aber ich will nichts anderes, als malen. Es ist mir das Wichtigste auf der Welt. Oder fast das Wichtigste.«
»Ja, ja. Die Liebe. Sie sollte immer an erster Stelle stehen, glauben Sie mir, mein Fräulein!«, sagte der alte Mann leise und sah auf einmal gar nicht mehr griesgrämig drein.
Eigentlich hatte er nur kurz vorbeischauen wollen. Doch bald saß Theo Swoboda wieder im Salon von Lilo Benedikt, trank Kaffee und strich dem dicken Mops über das Fell. Verena hockte auf der Ottomane und kam sich so überflüssig vor wie eine dieser ältlichen Gesellschaftsdamen, die vor hundert Jahren die jungen Leute überwachten, damit diese nicht übereinander herfielen.
»Kommen Sie, Herr Franz. Gassi!«, sagte sie schließlich, stand auf und klopfte mit der flachen Hand auffordernd gegen ihren Oberschenkel. Sowohl Lilo als auch der alte Galerist warfen ihr einen verzweifelt-hilfesuchenden Blick zu, als sie mit dem Mops nach draußen rauschte, aber sie hatte kein Mitleid.
*
»Wenn es noch stärker regnet, müssen wir die Pferde in den Stall bringen.« Komtess Gabriela warf einen prüfenden Blick zum Himmel hinauf, der heute mit schweren grauen Wolken bedeckt war.
»Ach, ein bisschen Wasser schadet nicht!« Sonja streckte entspannt ihre langen Beine in den teuren Reitstiefeln aus.
Die beiden jungen Frauen hatten auf einer hölzernen Bank neben der Koppel Platz genommen und beobachteten ihre Pferde, die fröhlich herumtollten.
»Sieh dir die beiden an!« Gabriela deutete zur Koppel hin. »Die können gar nicht genug kriegen!«
»Ja, Penelope ist sehr glücklich hier. Und ich wäre am liebsten jeden Tag mit ihr unterwegs.«
»Was hindert dich daran?«, fragte Gabriela.
»Ich weiß nicht. Vielleicht das Erwachsenwerden?« Gedankenverloren löste Sonja einen ihrer blonden Zöpfe, strich mit den Fingern durch die Wellen und flocht die Haare neu.
»Ach komm, Sonja! Jetzt tu doch nicht so! Vieles wird doch auch leichter, wenn man älter wird. Du kannst endlich machen, was du willst. Wenn du erst einmal mit Markus verheiratet bist, liegt dir die Welt zu Füßen.«
»Ach, ich weiß nicht recht. Eigentlich will ich noch gar nicht ans Heiraten denken. Ich fühle mich noch viel zu jung. Ich habe noch keinen Beruf!«
Die Komtess schüttelte unwirsch den Kopf. »Wenn du einen Beruf wolltest, dann hättest du dafür längst Gelegenheit gehabt. Du hast dich für die Schauspielschule entschieden, das ist nun mal kein Beruf. Aber du hast es auch nicht nötig! Du hast reiche Eltern und wirst ein wunderbares Leben führen. Wenn du Lust hast, kannst du in der Firma jeden Posten übernehmen. Du kannst machen, was du willst. Aber wie ich dich kenne, wirst du bald Kinder haben und eine wunderbare Mutter sein. Du wirst dich um die Schulen kümmern, Kinderfeste ausrichten, dich sozial engagieren. Um dieses Leben wird dich jede andere Frau beneiden.«
Sonja senkte den Kopf. »Ich weiß nicht, Gabriela! Früher einmal hab ich mir das so vorgestellt und mir nichts Anderes gewünscht. Aber heute bin ich mir nicht mehr sicher. Das kann doch nicht alles sein!«
»Kriegst du etwa kalte Füße?« Gabriela lachte kurz und schrill auf. Dann legte sie ihrer Freundin die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Sonja. Das ist doch ganz normal. Ich glaube, jede Frau kriegt es mit der Angst, wenn sie kurz vor der Hochzeit steht.«
»Was sagst du da?«, rief Sonja. »Du redest von der Hochzeit, als wäre es eine abgemachte Sache. Dabei hat Markus mich noch nicht einmal gefragt.«
»Das ist doch nur eine Formalität. Ihr seid doch schon so gut wie verlobt. Und gerade weil es so sicher ist, denkt er nicht daran. So sind die Männer eben.«
»Aber vielleicht genügt mir das nicht?«, fragte Sonja leise. »Vielleicht wünsche ich mir einen Mann, der wirklich in mich verliebt ist!«
»Ach geh! Verliebtheit! Das ist doch nur eine Sache der Chemie und der Hormone! Wirkliche Liebe ist etwas ganz Anderes. Ihr seid euch seit Kindheit vertraut. Du kennst seine Macken und er kennt die deinen. Das ist das Wichtigste in einer guten Ehe.«
Sonja zeichnete mit dem Absatz ihres Stiefels ein kleines Muster in die Erde. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, Gabriela. Ich fühle mich gedrängt.«
»Gedrängt? Gerade eben hast du dich noch beklagt, dass er dir noch keinen Antrag gemacht hat!« Gabrielas Stimme vibrierte vor Ungeduld.
»Es geht nicht um den Antrag. Es geht darum, dass ich mich zu jung fühle. Ich bin doch erst Zweiundzwanzig! Du sagtest, die Schauspielschule sei kein Beruf. Gerade jetzt aber hätte ich die Möglichkeit, daraus wirklich einen Beruf zu machen. Und das wäre für mich das Größte überhaupt.«
»Das Größte überhaupt war für dich zweiundzwanzig Jahre lang, dass du irgendwann einmal Markus heiratest und mit ihm eine Familie gründest. Und jetzt hat sich das geändert?«
Sonja zögerte. »Weißt du, Gabriela, ich habe ein Angebot bekommen. Ich glaube ich bin als Schauspielerin wirklich ganz gut. Das Kellertheater hat mir einen Vertrag angeboten. Das ist für mich ein erster Schritt. Markus zu heiraten, würde bedeuten, das alles aufzugeben. Und ich bin nicht sicher, ob ich das will.«
»Ach geh! Das ist doch nur so eine Spinnerei! Du weißt doch, wie unsicher diese Angebote sind. Das ist kein Beruf, das ist ein Hobby, dem du immer noch nachgehen kannst. Dafür schmeißt man doch nicht seine Zukunft weg! Vergiss nicht, dass du immer schon in Markus verliebt warst. Und du solltest auch an deine Mutter denken, die schon lange von einer Märchenhochzeit träumt.«
»Ach, die Mutti, die würde mich am liebsten mit einem Traumprinzen aus regierendem Haus verheiraten!«
»Na, daraus wird im Moment wohl nichts!«, lachte Gabriela. »Aber Markus ist immerhin Graf, vergiss das nicht!«
»Wenn ich nur wüsste, was ich will!«, rief Sonja verzweifelt.
»Das ist immer so, wenn man handelt. Man fragt sich nachher, ob es wirklich richtig war.« Plötzlich sah Komtess Gabriela ganz ernst drein. Nichts war mehr von der arroganten Selbstsicherheit der schönen Frau zu spüren. Einen Augenblick lang sah sie aus wie ein verschrecktes kleines Mädchen. Nervös nestelte sie am Kragen ihrer Reitjacke. »Ja, wenn man Entscheidungen trifft, so können es immer auch die falschen sein«, murmelte sie. Dann aber ging ein Ruck durch ihren Körper, sie saß wieder aufrecht, und ihre Augen glänzten aufs Neue.
»Aber weißt du, Sonja, manchmal kommt es nur darauf an, auf der Spur zu bleiben. Manchmal muss man den Weg einfach zu Ende gehen. Manchmal darf man nicht an sich denken, sondern man muss tun, was für alle am besten ist.«
*
Das Flugzeug zog noch eine Schleife über Wien, so, als wollte es Touristen wie Heimkehrern zeigen, wie schön diese Stadt war. Die Teichanlagen um das Schloss Schönbrunn glitzerten in der Abendsonne. Minuten später setzte es auf der Landebahn auf. Markus streckte sich und schnappte seinen Koffer. Die Anschnallzeichen erloschen. Endlich zuhause!
Müde war er, unrasiert und erschöpft. Aber er wollte nicht erst in seine Wohnung fahren, um sich frisch zu machen, nein, er wollte sofort die Aussprache mit Verena suchen.
Rasch winkte er ein Taxi herbei und ließ sich bis in den Stadtteil Sievering fahren.
Dort schaffte er es bis in den Vorraum der alten Villa. Dann aber wurde er von gleich zwei Drachen abgewimmelt. Der erste, die Haushälterin Anna, sagte, Verena sei nicht zuhause. Der andere, viel schlimmere Zerberus, folgte gleich darauf: Als wollte sie ihre Paraderolle der Lady Macbeth wiederholen, schritt Lilo Benedikt auf ihn zu: Mit erhobenem Kopf, eiskaltem Blick und weit ausgestreckter Hand wies sie den Eindringling zurück. »Halt! Sie haben hier nichts zu suchen, Herr Graf!«, donnerte ihre Stimme. »Sie haben schon genug angerichtet. Lassen Sie das arme Mädel in Ruhe.«
»Aber ich … ich möchte nur mit Verena reden. Ich will ihr nur erklären, dass …«
»Hier gibt es nichts zu erklären. Alles wurde schon gesagt. Gehen Sie bitte wieder.«
Von oben, aus dem Mansardenzimmer, war ein Poltern zu vernehmen. Markus hob hoffnungsvoll den Kopf. Er wollte Verena doch nur sehen!
»Sie hat eine Ausstellung angeboten bekommen und jede Menge zu tun. Lassen Sie sie also in Ruhe arbeiten. Verena ist hierher gekommen, um neu anzufangen, zerstören Sie ihr das nicht!« Lilo Benedikt appellierte nun an seine Anständigkeit. Auch diese Rolle stand der alten Dame hervorragend, und Schritt für Schritt drängte sie ihn zur Tür. Markus seufzte. So einfach würde er sich nicht geschlagen geben! Gerade an diesem Vormittag hatte er die endgültige Zusage des Scheichs von Fudschaira bekommen: Er, Markus Graf von Bäumler würde als Chefdesigner die komplette Innenausstattung des hochherrschaftlichen Palastes planen. Nein, er war kein Verlierer, und deshalb gab er sich auch nicht so leicht geschlagen. Er wollte alles. Und alles, das hieß auch die Frau, die er liebte. Aber was sollte er bloß sagen? Er hob seinen Kopf und sah zur Stiege hinauf. »Verena!«, rief er laut.
Nach seinem dritten Ruf öffnete sich oben die Tür. Die Treppe knackte, und die Geliebte kam tatsächlich herunter. Blass war sie, obwohl ihr Gesicht von Farben bunt gesprenkelt war. Verena sah wunderschön aus – am liebsten hätte er sie in seine Arme geschlossen.
»Verena …«, begann Markus. »Lass mich dir bitte erklären …«
»Hier gibt es nichts zu erklären, Markus. Es wurde alles gesagt, glaub mir. Deine Schwester hat das schon erledigt. Ich weiß nun endlich Bescheid.«2
»Nun, so weißt du es eben. Aber daran ist doch nichts Schlimmes. Das ist doch ganz normal!« Markus verstand die Welt nicht mehr. Was konnte schon ein Adelstitel ausmachen. Ein Name! Er hatte es sich doch nicht ausgesucht, als Graf geboren zu werden. Wie konnte sie so unbarmherzig sein!
Doch die junge Frau sah ihm entschlossen ins Gesicht. »Ich kann damit nicht leben, und du musst das bitte akzeptieren.« Abrupt drehte sie sich um und stapfte die Treppe wieder hinauf. Unten blieb Markus zurück und verstand die Welt nicht mehr. Nur der dicke Herr Franz war auf seiner Seite. Schwanzwedelnd sah er zu seinem menschlichen Freund empor.
*
Als sie die Zimmertür hinter sich schloss, als sie hörte, wie unten endlich die Eingangstür zufiel, brach Verena neuerlich in Tränen aus. Wie stellte Markus sich das bloß vor? Er war verlobt, er würde heiraten! Wollte er ihr tatsächlich die Rolle der Mätresse anbieten? Stand ihr nicht mehr zu? Nur weil sie keine Adelige war? –
Wie betäubt ging Graf Markus hinaus. Er ließ den Autobus vorüber fahren und stolperte mit gesenktem Kopf durch die Straßen von Wien. Plötzlich war er in der Josefstadt und fand sich vor einem vertrauten Haus wieder. Ohne darüber nachzudenken, hatte er sich von seinen Beinen hierher hielten lassen. Er sah an dem einstigen Vorstadthaus mit der hellgrünen Fassade empor. Kurz entschlossen drückte er den Klingelknopf der Sprechanlage. Sonja war zu Hause.
Der Lift brachte ihn in den fünften Stock. Sie öffnete die Tür.
Es war ein trotziges Gefühl, das Graf Markus ergriffen hatte. Wenn er schon die Liebe seines Lebens nicht bekommen sollte, so konnte er doch gleich seine Eltern glücklich machen und tun, was das Leben von ihm verlangte! Hier stand sie, Sonja Rütter, und sah ihn schüchtern an. Wie immer hatte sie ihre blonden Haare in lange geflochtene Zöpfe gefasst, doch sie sah trotzdem nicht aus wie ein kleines Mädchen, sondern wie eine erwachsene Frau. Noch nie hatte er sie so wahrgenommen. Immer war sie nur die kleine Freundin seiner Schwester gewesen, das treue Anhängsel, das wie ein kleines Hündchen hinter Gabriela her trottete. Doch das galt nicht mehr für die junge Frau, die ihn aus ihren hellen Augen fragend ansah. Sonja trug ein altmodisches Schürzenkleid und Flip-Flops, in der Hand hielt sie ein Manuskript. Er hatte sie wohl gerade beim Textlernen gestört, was auch ihren verwirrten Blick erklärte. In welcher Welt sie sich wohl gerade befand?
Allmählich schien Sonja jetzt in die Wirklichkeit zurückzukehren, und sofort zog in ihre Wangen eine vertraute Röte. Markus musste lächeln. Er hatte sie schon in verschiedensten Rollen auf der Bühne der Schauspielschule gesehen. Ob wunderschön oder hässlich, Sonja gab immer genau das, was ihre Rolle von ihr verlangte. Doch im wirklichen Leben war sie schüchtern und zurückhaltend, oft brachte sie vor Nervosität keinen ganzen Satz hervor. Eine Welle der Zuneigung erfasste ihn.
»Sonja. Willst du mich heiraten?«
Es war nicht so romantisch wie im Film. Er warf sich nicht auf die Knie, er zog keinen funkelnden Ring aus der Tasche, sie brach nicht in Tränen aus. Lange sah sie ihn nur an, dann nickte sie entschlossen.
»Gut, Markus. Ja, heiraten wir.« Es war der Moment, in dem andere Paare sich in die Arme sinken und die Welt um sich herum vergessen. Doch das neue Brautpaar schaute sich nur still in die Augen. »Ich liebe sie nicht, aber ich werde sie glücklich machen«, beschloss Markus.
»Ich liebe ihn nicht, aber ich werde ihn glücklich machen«, nahm Sonja sich vor. Still reichten sie einander die Hände.
*
Lilo Benedikt streckte den Kopf in die Küche, wo die Haushälterin Anna laut klappernd das Frühstücksgeschirr wegräumte.
»Sie hat endlich wieder ordentlich gegessen!«
»Zwei Semmeln und ein ganzes Ei!«, jubelte Anna. »Es geht wieder bergauf.«
Die beiden Frauen zwinkerten sich zu. In der Sorge um die junge Untermieterin waren sie einander noch näher gekommen. Lilo kehrte in den Salon zurück, wo Verena die Morgenzeitung vor sich ausgebreitet hatte.
»Suchst du was Bestimmtes?«
»Ja. Die Ausstellung müsste ab heute angekündigt sein.«
»Richtig. Sind ja nur noch zehn Tage bis zur Vernissage. Nun, dann lass uns mal sehen!«
Gemeinsam blätterten die beiden Frauen den Kulturteil durch. Plötzlich hielt Verena inne. Eine Nachricht fesselte ihre Aufmerksamkeit. Lilo gelang es nicht mehr, sie abzulenken. Fassungslos starrte Verena auf die Verlobungsanzeige…
Graf Carl von Bäumler und seine Gemahlin, Gräfin Gerlinde von Bäumler, freuen sich, die Verlobung ihres Sohnes Markus mit Sonja Rütter bekannt zu geben … Ein Foto zeigte einen ernst blickenden Markus mit streng zurück frisierten Haaren und eine lachende blonde Frau mit Zöpfen.
Es tat immer noch so weh, sein Gesicht zu sehen. Verena schluckte. Währenddessen blätterte Lilo hektisch weiter, und endlich fand sie das Gesuchte.
»Sieh nur Verena! Hier steht es schwarz auf weiß. Deine Ausstellung! Ich freue mich so!« Doch die alte Dame wusste nur zu gut, dass ihre Worte keinen Trost brachten. Das arme Mädel!
In diesem Augenblick erlöste sie das Läuten des Telefons aus ihrer Hilflosigkeit. Gleich darauf betrat Anna den Salon.
»Es ist für dich, Verena. Ein Anrufer aus Deutschland.« Als Verena nach draußen ging, tauschten Anna und Lilo einen fragenden Blick. Ganz leise setzten sie sich an den Wohnzimmertisch, und dann taten sie so, als würden sie Zeitung lesen. In Wirklichkeit konzentrierten sie sich natürlich darauf, zu verstehen, was draußen geredet wurde.
»Verena! Ich vermisse dich!«, sagte eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
»Bernd! Wie kommst du zu meiner Nummer?«
»Ich habe deine Oma gelöchert! Wenn ich etwas will, dann kriege ich das auch, das solltest du doch wissen.« Er lachte selbstgefällig.
»Warum rufst du an, Bernd?«
»Ich … ich will dich wiederhaben, Verena. Ich weiß jetzt, dass ich ohne dich nicht sein kann. Bitte verzeih mir noch einmal. Bitte, bitte, komm zu mir zurück!«
Verena atmete tief durch. Das war nun wirklich das Letzte, was sie erwartet hatte. Und das Letzte, was sie momentan brauchen konnte. Ein weiterer Mann, der sie verwirrte! Noch vor wenigen Wochen wäre sie selig vor Glück sofort nach Hamburg geflogen – nein, sie wäre zu Fuß gelaufen. Aber heute war alles anders. Heute wollte sie von Männern nichts mehr wissen. Sie alle hatten sie nur enttäuscht.
»Ich weiß nicht, Bernd«, sagte Verena. »Ich weiß wirklich nicht.«
»Was gibt es da zu überlegen, Verena? Wir zwei gehören zusammen. Das wissen wir doch schon seit langem. Niemand kennt mich so gut wie du. Und niemand ist ohne Fehler. Vielleicht habe ich nur die Erfahrung mit einer anderen Frau gebraucht, um zu erkennen, dass du es bist, die ich will. Für immer.«
Nein, Bernd hatte noch nie einen Widerspruch geduldet. Er hatte auch immer, sein Leben lang, bekommen, was er wollte. Verena spürte Widerwillen in sich aufsteigen. Doch andererseits fühlte sie immer noch einen Stich in ihrem Herzen, wenn sie an Bernd dachte. Ja, er hatte recht. Sie kannte ihn wirklich wie keine andere. Er kannte sie genauso gut. Und sie hatten es wirklich lange miteinander ausgehalten. Sollte man so etwas aufgeben?
»Hör zu, Bernd. Ich muss nachdenken. Du hast mich betrogen, und das hat mich sehr verletzt. Und ich habe momentan den Kopf zu voll. Nächste Woche findet meine erste Ausstellung statt, in einer Innenstadtgalerie, und ich kann mich jetzt um nichts Anderes kümmern. Bitte gib mir Zeit. Ich werde dir danach sagen, was ich empfinde. Das verspreche ich dir.«
»Oh, das ist wunderbar, Verena. Eine eigene Ausstellung! Ich bin so stolz auf dich. Ich habe immer gewusst, dass du es schaffen wirst. Schick mir doch eine Einladung! Und das Andere: Bitte lass mich nicht zu lange zappeln. Ich brauche dich so sehr. Und Mutter hat auch schon nach dir gefragt. Sie lässt dich grüßen! Wir alle vermissen dich, wir alle brauchen dich, Verena. Und ich, ich liebe dich!«
Verena legte den Hörer auf und wusste nicht, was sie denken sollte. Hätte er nicht wieder von seiner Mutter angefangen … Womöglich hätte sie jetzt auf ihren großen Tag verzichtet und wäre gleich nach Hause gefahren. Nun aber schrillte in ihrem Hinterkopf eine Warnglocke. Nein, sie wollte es genauso machen, wie sie gesagt hatte. Sie kannte sich in ihrem Herzen ja wirklich selbst nicht mehr aus. Zuerst also die Vernissage, dann die Liebesgeschichten. So viel Zeit musste einfach sein.
*
Das Wohnhaus der Familie von Bäumler befand sich in einer kleinen Seitengasse neben dem Stephansdom. Von außen unterschied sich das Palais nur unmerklich von den Nachbarhäusern. Wie diese, handelte es sich um ein altehrwürdiges Innenstadthaus mit einer geschmackvollen Fassade. Nur ein kleines goldenes Schild neben dem Eingang zeugte von seiner historischen Bedeutung.
Im Erdgeschoss befanden sich die Nutzräume: die Küche, die Speisekammer und das Bügelzimmer. Über eine geschwungene Treppe gelangte man in den ersten Stock, den die Familie zum Wohnen, aber auch zu Repräsentationszwecken benutzte. Im zweiten Stock befand sich das Büro der Hoftischlerei Bäumler, und ganz oben, in einer netten Einzimmerwohnung mit Dachgarten, hatte sich der Juniorchef einquartiert.
Heute Abend war ein Essen im kleinen Familienkreis angesagt. Leider hatten sich die beiden jungen Damen, Gabriela und Sonja, entschuldigt. Die eine, weils sie sich mit einer alten Freundin aus ihren amerikanischen Studententagen traf, die andere, weil sie in einem kleinen Kellertheater auf der Bühne stand.
Nur der Hausherr, Graf Carl, seine Frau Gerlinde, Markus und dessen Patenonkel Theo saßen um den Tisch. Theo Swoboda ließ einen gefälligen Blick über die Ansammlung von Antiquitäten gleiten. Man sah der Einrichtung ihren Wert nicht gleich an, aber hier waren tatsächlich Kunstwerke versammelt! Die Möbel stammten freilich aus der eigenen Produktion, aber auch das Geschirr und das Glas trugen ehrwürdige Namen. Die Kerzenhalte, die den Tisch in flackerndes Licht tauchten, waren aus schwerem Silber und ein persönliches Geschenk des letzten Kaisers.
Theo hob sein Glas und prostete dem jungen Mann zu.
»Jetzt bist du also verlobt. So, so. Da muss ich dir wohl gratulieren, Junge! Schade, dass die Braut nicht hier ist. Ich hätte sie gerne geküsst!«
»Ja, wir sind alle sehr glücklich!«, antwortete Gräfin Gerlinde stellvertretend für ihren Sohn und lächelte stolz. Graf Markus selbst sah etwas verlegen drein. »Na ja, Onkel Theo, Sonja und ich, wir kennen uns schon so lange, da ist es keine große Sache.«
»Das Heiraten ist immer eine große Sache, Markus!«, sagte der alte Mann und betrachtete sein Gegenüber kritisch. »Ich hoffe, du hast dir das gut überlegt!«
»Das ist nicht nur eine Liebesgeschichte, Theo«, warf Graf Carl ein. »Hier geht es auch um unser Unternehmen. Um unseren Namen, um unseren Ruf, um unsere Position in der Gesellschaft.«
»Also ums Geld, habe ich recht?« Theo lachte schallend.
Markus wurde das Gefühl nicht los, dass der Onkel mit seiner Entscheidung nicht einverstanden war.
»Vergiss nicht, Markus, das Heiraten ist eine Sache fürs Leben!«
»Wie könnte ich das vergessen?«, fragte der junge Graf zerknirscht und starrte in sein Glas.
»Ach lass ihn, Theo, er ist zurzeit etwas durcheinander«, rief Graf Carl und klopfte seinem Sohn freundschaftlich auf die Schulter. »Markus hat ja auch einen großen geschäftlichen Erfolg zu verbuchen, weißt du?« Er erzählte dem Galeristen von dem großen Auftrag, den Markus mit dem Emir von Fudschaira abgeschlossen hatte.
Theo gratulierte aufrichtig. »Ich wusste, dass du es drauf hast, Markus. Aber was bedeutet dieser Auftrag konkret?«
»Wir werden …«, begann Graf Carl, doch Markus fiel ihm ins Wort:
»Ich werde die Planung und das Design übernehmen. Die geschäftlichen Belange überlasse ich Vater.«
Graf Carl bedachte seinen Sohn mit einem fragenden Blick. Offensichtlich war er mit dieser Rollenverteilung nicht ganz einverstanden. Theo beschloss, nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen, und wechselte das Thema.
»Ich habe auch etwas zu berichten«, sagte er nun und lächelte in die Runde. »Ich habe eine wunderbare Künstlerin entdeckt und stelle ihre Bilder aus. Nächste Woche findet die Vernissage statt!«
»Erzähl!«, rief Gräfin Gerlinde aufgeregt. Sie liebte Vernissagen und hatte ein ehrliches Interesse an der Kunst. Graf Carl hingegen nutzte den Erwerb von Kunstwerken vor allem als Investitionsmöglichkeit. Vielversprechende junge Talente weckten daher immer seine Aufmerksamkeit.
Er schaute interessiert hoch. »Eine junge Malerin?«
»Ja. Verena Königshofer.« Als er Verenas Namen nannte, beobachtete Theo seinen Neffen genau. Und richtig: der Junge schluckte den Köder. Seine Wangen wurden dunkelrot. Die Gabel fiel ihm aus der Hand. Nervös zupfte er mit der Serviette über seine Lippen. denn griff er zum Wasserglas, aber er verschluckte sich beim Trinken.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Theo scheinheilig.
»Aber ja, Onkel Theo. Ich finde es toll, dass du wieder eine junge Künstlerin entdeckt hast.« Markus’ Stirn glänzte vor Schweiß.
Die Eltern hatten inzwischen ein anderes Thema aufgegriffen. Gräfin Gerlinde erzählte von einer Ausstellung, die sie kürzlich besucht hatte. Da sie so abgelenkt waren, konnte Theo seinem Neffen zuraunen: »Sag mir, was dich bedrückt, Junge. Was hältst du davon, deinem alten Onkel später ein Glas Whisky anzubieten, oben, in deiner Wohnung?«
Vom ›Graben‹ her wehte leises Stimmengewirr herüber. Noch immer schlenderten vereinzelte Nachtschwärmer durch die warme Abendluft. Von jenseits des Donaukanals blinkten die Leuchtreklamen der Hochhäuser. Markus reichte seinem Patenonkel ein Glas, lehnte sich an die Brüstung seiner Terrasse und schaute ins Leere. Ins Leere richtete er dann auch seine Beichte. Währender sprach, wurde ihm klar, wie sehr er Sonja mochte. Sie war seine beste Freundin. Es wurde ihm aber auch deutlich bewusst, dass er sie nicht liebte. Wenn er an Liebe dachte, kam ihm ein anderer Name in den Sinn …
»Warum hast du dich von Verena getrennt, Markus?«, fragte der alte Herr sanft.
»Sie hat sich von mir getrennt, Onkel Theo. Sie hat mich verlassen. Sie wollte nichts mit einer reichen Familie zu tun haben. Und schon gar nicht mit einem Grafen. Sie hat in Hamburg mit dem Sohn einer Fernsehfirma schlechte Erfahrungen gemacht. Dieser Kerl hat sie ausgenutzt. Und sie glaubt wohl, ich bin genauso, nur weil ich kein armer Schlucker bin. Verena hielt mich für einen einfachen Tischler. Das habe ich leider nicht richtig gestellt.«
»Und deine Verlobung mit Sonja? Hast du Verena davon erzählt? Könnte ja auch ein Grund für ihre Zurückhaltung sein, oder?« Die Eiswürfel im Whiskyglas klirrten leise.
»Ich habe mich doch erst nachher verlobt. Erst als Verena für mich für immer verloren war.«
»Was genau hat Verena zu dir gesagt, Markus?«, wollte Theo Swoboda wissen.
»Gar nichts. Das ist ja das Schlimmste. Sie hat es nicht einmal mir selbst gesagt. Ich habe alles von Gabriela erfahren«, antwortete Markus bitter.
»So, so«, murmelte Theo, für den sich allmählich alles zusammen reimte. »Und wenn das alles nur ein Missverständnis war?«, fuhr er fort.
»Das ändert dann auch nichts mehr. Ich habe Sonja mein Wort gegeben. Ich werde sie nicht im Stich lassen. Und mach dir keine Illusionen – es war sicher kein Missverständnis. Ich war später ja dort und habe versucht, mit Verena zu reden. Sie hat laut und deutlich gesagt: ›Es macht mir etwas aus. Lass mich in Ruhe‹. Die alte Schachtel, bei der sie wohnt, kann das bestätigen.«
»So, so«, sagte Theo wieder und musste schmunzeln. Insgeheim aber dachte er: In genau diese alte Schachtel habe ich mich verliebt. – Doch was Verena betrifft: Was, wenn sie mit ihren Worten die Verlobung gemeint hat? – Ich werde Lilo danach fragen müssen!
*
Aufgeregt stand Theo Swoboda vor dem Spiegel in seiner kleinen Jugendstilwohnung und warf sich schon das dritte Mal den weißen Seidenschal über die Schulter. Wieder verhedderte sich das Ende des Schals. Erst beim fünften Anlauf klappte es.
»Wie ein Teenager«, sagte Theo kopfschüttelnd zu seinem Spiegelbild.
Auf der anderen Seite von Wien ließ sich Lilo von ihrer jungen Freundin die Locken stylen. Sanft knetete Verena einen Klacks Gel in die weißen Haare.
»Mhm, das Zeug riecht gut«, stellte Lilo fest.
»Ja, angeblich nach Honigmelone. Aber das weiß man erst, wenn man es auf der Packung gelesen hat«, antwortete Verena.
Es hatte den Anschein, als wäre die junge Frau aus dem Gröbsten heraus. Sonst hätte Lilo sie nie einen Abend lang allein gelassen. Verenas herzzerreißende Verzweiflung war einem stillen Kummer gewichen, der sie aber nicht mehr loszulassen schien. Ein Kummer, der es ihr erlaubte zu lächeln, wenn etwas lustig war, und zu nicken, wenn sie vor Begeisterung hätte tanzen sollen.
Es war nur noch eine Woche bis zu ihrem großen Tag. Aber anstatt nervös herumzurennen, wie sie Lilo, es an ihrer Stelle getan hätte, wurde Verena mit jedem Tag ruhiger. Es war fast so, als könnte gar nichts schiefgehen, weil ohnehin schon alles schiefgegangen war.
»Aber was soll denn schiefgehen, Gnädigste?«, fragte Theo verwundert und schob Lilo den Stuhl zurecht. Für ihr erstes Rendezvous hatte er sie in die ›Meierei‹ vom Volksgarten geführt, zum Fünf-Uhr-Tee, wie in der guten alten Zeit.
»Ach ich weiß nicht. Theo, ich war vor jeder Premiere immer so furchtbar aufgeregt. Ich konnte nichts mehr essen, nicht mehr schlafen, und ich fürchte, ich war keine nette Zeitgenossin. Natürlich hat Verena keinen Grund zur Nervosität – ihre Bilder sind großartig, aber sie braucht ja bei ihrer Vernissage keine Show abzuliefern – aber ich mache mir Sorgen.«
»Sie hat Liebeskummer. Und vielleicht können wir ihr helfen.« Theo zwinkerte verschwörerisch und begann ihr seinen Plan darzulegen.
Lilo hatte ihm schweigend zugehört, war ihm kein einziges Mal ins Wort gefallen und hatte sich auch jeglicher Kommentare enthalten. Jetzt aber streckte sie ihren ohnehin makellos geraden Rücken noch weiter durch und sagte: »Dann haben Sie ihr die Ausstellung nur ermöglicht, weil sich Ihr Neffe in sie verliebt hat?«
»Nein, Verehrteste. Ich wusste ja gar nichts von den beiden. Außerdem ist mir die Malerei heilig. Das Potential, das in Verena steckt, das habe ich gleich erkannt, als sie mir ihre Mappe gebracht hat. Sie hat mir’s vielleicht nicht angesehen, weil ich manchmal ein grantiger alter Mann bin.«
»Und das soll ich Ihnen glauben?«, fragte Lilo und lächelte kokett.
»Auf welchen Teil meiner Aussage bezieht sich Ihr Zweifel?«, gab Theo zurück. »Auf mein Kunstverständnis, auf die Vermutung, dass ich bisweilen schlecht gelaunt bin oder auf die traurige Tatsache meines Alters?«
»An Ihrem Kunstverständnis, mein Lieber, gibt es keinen Zweifel. Ich kann Sie mir durchaus auch schlecht gelaunt vorstellen. Über Ihr Alter dürfen Sie sich aber bei mir nicht beklagen, immerhin liegen Sie mit Sicherheit ein Stückerl hinter mir zurück.«
»Da müsst’ ich ja noch in den Kindergarten gehen!«, rief Theo und lachte schallend.
*
Das kleine Kellertheater in Ottakring war restlos ausverkauft. Ferdinand Siebenstein, Autor des Stückes ›Himbeersorbet mit Zitrone‹, Regisseur und Hauptdarsteller in einem, rannte hinter der Bühne nervös auf und ab.
»Ihr werdet nie erraten, wer da unten im Publikum sitzt!«, rief er, und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Wer?« – » Sag schon!« – »Spann’ uns nicht auf die Folter!«, bedrängten ihn die anderen Schauspieler.
»Da sitzt eine Frau ganz hinten in der letzten Reihe, die sieht aus wie die Benedikt!«
»Die Benedikt? Das kann nicht sein. Jeder weiß, dass sie nicht mehr aus dem Haus geht. Sie hat sich völlig zurückgezogen.«
»Dann schaut doch selbst nach, wenn ihr mir nicht glaubt!«
»Dafür ist jetzt keine Zeit mehr. Wir müssen auf die Bühne!«
Der provisorische Vorhang – zusammengenäht aus alten Picknickdecken – hob sich wieder, und der Applaus schwoll erneut an. Sonja verneigte sich und strahlte vor Glück. Noch war sie in ihrer Rolle gefangen. Noch war sie eine starke, selbstbewusste Frau. Kaum senkte sich der Vorhang zum letzten Mal, als die Wirklichkeit wieder von ihr Besitz ergriff. Ihre Schultern zogen sich zusammen, sie senkte den Kopf, ihre Schritte wurden kleiner. Sie war wieder die schüchterne Sonja Rütter.
»Sonja! Da ist jemand für dich gekommen.«
»Wer denn? Markus oder Gabriela? – Ein junger Mann mit dunklen Locken? Eine junge Frau mit schwarzen Haaren?«
»Eher nicht«, gab die Kollegin trocken zur Antwort.
Aber da schaute die weißhaarige alte Dame schon um die Ecke der kleinen Kammer, die als Garderobe diente.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte sie freundlich.
»Frau Benedikt!«, stammelte Sonja überrascht. So hatte Ferdinand also Recht gehabt!
»Ja, so heiße ich«, sagte Lilo und setzte sich auf einen wackeligen Sessel, der in der Ecke stand. »Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht Lust hätten, mit mir noch ein Glaserl trinken zu gehen?«
Sonja nickte erstaunt. »Da – das wäre eine Ehre für mich«, stotterte sie.
»Sofern es hier ein nettes Lokal gibt? Ich kenne mich hier nicht aus«, fuhr Lilo fort und lächelte entwaffnend.
»Ehrlich gesagt, kenne ich mich hier auch nicht aus«, antwortete Sonja. »Aber wenn Sie noch in die Stadt fahren wollen, könnten wir uns ein Taxi teilen.«
»Das ist eine wunderbare Idee, mein Kind!«
Wenig später saßen sie in einem anheimelnden kleinen Weinlokal in Grinzing. In einer der von Kerzenlicht erhellten gemütlichen Nischen ließ es sich vortrefflich plaudern.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich auch für Theaterstücke interessieren!«, begann Sonja. Ihre Wangen glühten schon wieder.
»Das tue ich normalerweise auch weniger«, erwiderte Lilo. »Heute habe ich aber eine Ausnahme gemacht. Wollen Sie wissen, warum?«
»Das würde mich schon interessieren«, nickte Sonja.
»Ach, Kindchen!« Die alte Dame griff über den Tisch und tätschelte Sonjas Hand. »Das hat natürlich mit Ihnen zu tun! Ich wollte Sie spielen sehen.«
»Warum ausgerechnet mich?«, wollte die junge Frau wissen.
»Das hat mehrere Gründe. Einer davon ist, dass ich den Direktor der Züricher Kammerspiele kenne. Und ich könnte ihm erzählen, dass ich eine sehr begabte junge Schauspielerin aus Wien entdeckt hätte…«
Sonja schluckte überwältigt. »Sie meinen …«
»Talent ist nicht nur eine Gabe, es ist auch eine Pflicht«, fiel ihr Lilo streng ins Wort. »Ich habe mich vorhin davon überzeugen können, das Sie über eine Menge Talent verfügen. Machen Sie was draus!«
»Ich habe Graf Markus mein Wort gegeben«, sagte Sonja unglücklich. »Wenn ich ihn heirate, kann ich eine Bühnenkarriere vergessen. Das lässt die Familie nie und nimmer zu.«
»Wenn das alles ist, was Ihnen einfällt, um mir zu widersprechen, ist das für eine Lebensentscheidung etwas dürftig, meinen Sie nicht?«
Sonja seufzte.
»Würden Sie den jungen Grafen Bäumler wirklich lieben, dann wäre Ihnen ein besseres Argument eingefallen!«, hakte Lilo nach. »Vielleicht sollten Sie noch mal mit ihm reden. Dass Sie an der Vereinbarung festhalten, finde ich löblich, aber Ihre Ehrsamkeit könnte drei Menschen ins Unglück stürzen.«
»Drei?«
Lilo nickte. Und dann erzählte sie Sonja von Verena …
*
Fernes Donnergrollen kündigte ein Sommergewitter an. Mit viel Pech würde es sich aber über die Donau verziehen und die Stadt nur mit schwüler, aufgeladener Luft zurück lassen. Statt des erlösenden Regens würde nur ein weiterer Tag der schweißtreibenden Hitze folgen.
Graf Markus entkorkte eine Flasche Rotwein. Seine Hände schwitzten nicht nur wegen der drückenden Luft, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass ihm seine Verlobte gegenüber saß. Wie oft hatte er mit Sonja ein Glas Wein getrunken, wie oft schon von seiner Terrasse aus über die Stadt geschaut! Heute war alles anders. Sie waren offiziell verlobt, und in einer modernen Beziehung verlangte das nach intimer Nähe. Nicht, dass er abgeneigt war, mit Sonja zu schlafen. Sie war wunderschön und er kein Kostverächter. Trotzdem kam er sich vor wie auf dem Prüfstand. Genau so, wie sich die frisch vermählten Frauen früherer Jahrhunderte wohl in ihrer Hochzeitsnacht gefühlt haben mussten. Vor Nervosität glitt er mit dem Korkenzieher ab. Markus fluchte leise und entschuldigte sich sofort bei seinem Gast.
Sonja aber lachte nur. »In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?«, fragte sie vergnügt. Was ihn wiederum daran erinnerte, was ihm als modernen Mann des 21. Jahrhunderts noch in dieser Nacht bevorstand.
»Markus, ich will mit dir reden«, sagte Sonja da und schaute ihm ernst in die Augen. »Ich mag dich sehr und will dich nicht verlieren – aber ich will dich nicht heiraten. Ich will nach Zürich gehen und Theater spielen. Bitte verzeih mir!«
Plopp! Der Korken schoss aus der Flasche wie eine Kanonenkugel. Markus gönnte ihm jedoch keinen weiteren Blick. Er starrte Sonja an… »Ich bin ja so froh!«
Sonja hatte beschlossen, Verena nicht zu erwähnen. Was auch immer Markus mit seiner neuen Freiheit anfangen würde, blieb ihm selbst überlassen.
Für den Augenblick genoss sie die Leichtigkeit, dass die Last der Verlobung von ihren Schultern genommen war. Und die große Erleichterung, dass Markus ihr nicht zürnte.
»Ich mag dich sehr!«, wiederholte sie und strahlte ihn an.
»Ich mag dich auch sehr«, erwiderte Markus und prostete ihr zu.
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»Muss ich eigentlich wirklich dabei sein?«, fragte Verena mit zitternder Stimme.
Der große Tag war gekommen. So sehr sie sich auf ihre Vernissage gefreut hatte, fühlte sie sich jetzt nur noch elend. Am liebsten hätte sie sich ihre alten Jeans angezogen, wäre in die Mansarde hinauf gestapft und hätte eine Leinwand mit Farbe beworfen. Stattdessen saß sie in Lilos Salon vor dem barocken Schminkspiegel und ließ sich von Anna die Haare richten. Die ehemalige Kostümbildnerin des Theaters kannte alle Arten von Lampenfieber und lachte nur. »Du machst das schon, Verena! Toi, Toi, Toi!« Und dann spuckte sie der jungen Frau tatsächlich über die Schulter. Verena wusste, dass sie sich jetzt nicht bedanken durfte, aber galten diese abergläubischen Rituale überhaupt auch für Maler? Sie beschloss, einfach daran zu glauben. Anna hatte ihr die Haare, die inzwischen gar nicht mehr so stoppelkurz waren, in freche Stacheln geformt, die sie nun mit den Fingern behutsam wieder auflockerte. So bekam Verenas Frisur das genau richtige Maß an Nachlässigkeit, wie sie nur ein guter Stylist zuwege bringt.
»Hoffentlich ist deine ganze Mühe nicht umsonst!« Lilo Benedikt warf einen prüfenden Blick aus dem Fenster, wo düstere Wolken den Himmel verdunkelten. Nach tagelanger Hitze schien das erlösende Gewitter nun endlich zu kommen. Mit grollender Stimme näherte es sich der Stadt von Westen her.
Noch hatte Verena ein Frisiertuch über ihr Kleid gebreitet, an dem Anna erst gestern noch die letzten Änderungen vorgenommen hatte. Lilos Dior-Fähnchen passte wie angegossen. Lächelnd stand die frühere Besitzerin des Kleides im Türrahmen und betrachtete ihre schöne junge Freundin. »Ob ich in dem Fetzchen auch so gut ausgesehen habe?« Sie seufzte.
»Ach, Lilo! Du warst sicher noch viel schöner – und widersprich mir nicht, ich habe die Fotos gesehen!«, protestierte Verena. Lilo drückte Verena einen Kuss auf die Stirn. »Ich wünsche dir alles Gute, mein Kind. Für deine Vernissage und auch für alles andere.« Dann zwinkerte sie Verenas Spiegelbild zu. »Bei dir ist das Schönsein noch so einfach, Verena!«, lachte sie. »Für mich ist es schon Schwerstarbeit!«
»Ach, das lass nur meine Sorge sein, Lilo!«, meinte Anna und betrachtete zufrieden ihr Werk auf Verenas Kopf.
Lilo summte ein Liedchen und murmelte: »Komisch, vor ein paar Tagen wäre es mir noch nicht so wichtig gewesen, gut auszusehen. Woran liegt es bloß, dass ich heute so eitel bin?«
»Ja, woran bloß?« Anna und Verena tauschten einen belustigten Blick, wagten es jedoch nicht, ihre Gedanken dazu laut zu äußern.
Als Verena sich aus dem Schminksessel erhob, staunte sie selbst aufs Neue über den Zauber, der dem Dior-Kleid innewohnte. Wie ein Wasserfall fiel das silberne Seidenkleid über ihren Körper. Die hellblauen Punkte strahlten wie Spiegelbilder ihrer blauen Augen. Ja, ein wenig Zauber hatte sie durchaus nötig, weil der Kummer der letzten Tage sie blass und glanzlos gemacht hatte. Aber das Kleid verbreitete auch nach seinem ersten Erfolg vor über fünfzig Jahren immer noch Magie. Sogar Herr Franz schien beeindruckt und schnüffelte ehrfürchtig an Verenas Hand.
Lilo selbst trug ein lilafarbenes fließendes Kleid mit eleganter Raffung. »Vielleicht lenken die Falten in meinem Kleid ja von denen in meinem Gesicht ab!«, sagte sie hoffnungsvoll. Ihre Haare hatte sie mit kleinen silbernen Kämmen hochgesteckt, die Locken perlten frech in ihre Stirn.
Auch Anna war wunderschön in ihrem bodenlangen roten Kleid, das perfekt zu den farbigen Strähnchen in ihren schulterlangen Haaren passte. Bis auf einen gleichfarbigen Lippenstift hatte sie auf jegliche Schminke verzichtet, denn: »Merk dir, Verena. Bei Schminke und Schmuck gilt: Lieber zu wenig als zu viel.«
»Gut schauen wir aus!«, lachte Lilo zufrieden und telefonierte nach dem Taxi.
Theo Swoboda war damit beschäftigt, die letzten Bilderrahmen gerade zu rücken. Als die drei Frauen und der dicke Mops, vom aufkommenden Sturmwind zerzaust, die Galerie betraten, wandte er sich ihnen freudestrahlend zu. Er hatte seinen Bart gestutzt und trug ein violettes Hemd mit Paisley-Muster über einer eierschalenfarbenen Leinenhose. Verena freute sich, dass er so gut aussah, und dass Lilo es auch zu bemerken schien. Es war ein netter Zufall, dass die Farbtöne in seinem Hemd genau mit jenen in Lilos Kleid harmonierten. Auch der unvermeidliche Seidenschal um seinen Hals schien ihre weißen Haare widerzuspiegeln. Ein schönes Paar! Anna zwinkerte Verena verschwörerisch zu und zog ein weißes Seidenband hervor, das sie Herrn Franz um den Hals band. Er grunzte zwar unwillig, musste die ›Verschönerung‹ dann aber hinnehmen. »Was sein muss, muss sein, Herr Franz. Sie wollen doch dazugehören, oder?«, redete ihm die Haushälterin zu.
»Es ist auch schon ein erster Besucher gekommen, Verena!«, sagte der Galerist und deutete in den hinteren Bereich der Galerie. Dort stand einsam ein junger Mann und hielt sich an einem Glas Wein fest.
Verena hatte beinahe schon ganz vergessen, wie gut Bernd aussah. Natürlich hatte er es schon immer verstanden, sich für spezielle Ereignisse besonders gut herzurichten. Er trug einen schlichten schwarzen Anzug und ein hellblaues Hemd. Das schwarze Brillengestell schmeichelte seinem kantigen Gesicht. Als er Verena sah, machte er einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber jäh stehen.
»Verena – wie schön du bist! Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich hier bin. Aber ich habe es ohne dich nicht mehr ausgehalten. Und natürlich will ich auch deine Bilder sehen. Ich wusste gar nicht, dass du so gut malst!«
»Ja, Kummer macht kreativ. Also hast du auch etwas dazu beigetragen!«, murmelte Lilo leise vor sich hin.
Verena wusste nicht, was sie sagen sollte. Wie sollte sie sich verhalten? Langsam schritt sie auf Bernd zu. Doch plötzlich blieb ihr Blick an der Wand hinter Bernd hängen. Sie wandte sich Theo zu: »Was ist denn mit dem Bild passiert?« Dort, wo gestern noch jenes Ölbild hing, das sie nach ihrer ersten Begegnung mit Graf Markus gemalt hatte, schmückte nun ein anderes Bild die Wand, eines, das sie eigentlich in Reserve gehalten hatte.
»Das Bild ist schon verkauft«, antwortete Theo und nestelte nervös an seinem Schal.
»Ich verstehe nicht, die Ausstellung ist doch noch gar nicht eröffnet!«
»Nun, nehmen wir’s als gutes Zeichen. Eine Ausstellung, die so beginnt, kann nur erfolgreich werden!«
»Aber wer hat das Bild gekauft?«
»Das war ich!«
Verena wandte sich um – und fand sich jener Frau gegenüber, an die sie zuletzt immerzu gedacht hatte – seltsamerweise ohne Groll zu empfinden.
Sonja Rütter sah ihr sanft und prüfend ins Gesicht. Ihre langen blonden Zöpfe fielen weich über die bloßen Schultern, die aus einem lindgrünen Kleid hervorsahen.
»Ich habe das Bild gekauft. Es sollte ein Geschenk sein …«
Das Glöckchen der Tür bimmelte erneut. Graf Carl von Bäumler, seine Frau sowie seine schöne Tochter Gabriela betraten die Galerie und schauten sich neugierig um. Gräfin Gerlindes Blick fiel auf die Bilder, dann nickte sie anerkennend.
Als sie Sonja entdeckte, umarmte sie die vermeintliche Braut ihres Sohnes herzlich.
»Dass man dich auch mal wieder zu Gesicht bekommt!«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Eigentlich bin ich ja schon wieder auf dem Sprung«, gab Sonja zurück. »Aber ich will euch zuerst noch etwas sagen. Verena, Gabi, kommt ihr bitte kurz her?«
Widerwillig bremste Gabriela ihre Schritte ab, die sie schon in Richtung des attraktiven jungen Mannes gelenkt hatte, der da ganz allein herumstand. Sie zog entschuldigend ihre Augenbrauen in die Höhe und deutete mit dem Finger auf sein Glas. Bernd verstand die Anspielung sofort – grinsend ging er Nachschub holen, während sich seine neue Flirtbekanntschaft ungeduldig dem kleinen Kreis von Zuhörern anschloss, der sich um Sonja Rütters versammelt hatte. Sie bedachte Verena mit einem Katzenfreundlichen Lächeln, das diese mit einem kurzen Kopfnicken beantwortete.
»Also, es ist so …«, begann Sonja mit leiser Stimme zu sprechen. Dann fiel ihr Blick auf Lilo Benedikt, sie räusperte sich, straffte ihre Schultern und sprach plötzlich offen und frei. »Es ist so:
»Ich habe Markus gestern gebeten, unsere Verlobung zu lösen.«
Bevor sie mit einer Flut von Schreckensrufen und Fragen bestürmt wurde, fuhr sie mit lauter Stimme fort: »Ich werde noch heute Abend nach Zürich fahren und einen Vertrag bei den Kammerspielen unterschreiben. Ich will Schauspielerin werden und nicht Ehefrau – vorerst jedenfalls. Was Markus betrifft, so habe ich ihm nicht das Herz gebrochen, wir sind uns beide einig. Ich glaube, er war ziemlich erleichtert, dass ich ihn wieder freigegeben habe. Er ist nämlich schon längst in eine andere Frau verleibt. Leider hat ihm da irgendwer ziemlich übel dazwischengefunkt.« Sie warf Gabriela einen strengen Blick zu, den diese mit gespielter Demut entgegennahm. Obwohl ihr Kopf reuig gesenkt war, grinste sie schon wieder frech.
Sonja atmete tief durch, dann machte sie einen Schritt zurück und fiel ein bisschen in sich zusammen. Ihre Wangen wurden rot.
»Gut gemacht!«, flüsterte Lilo ihr zu und tätschelte ihren Arm.
»Ich habe mich an Ihrer ›Medea‹ orientiert«, flüsterte Sonja zurück. Sie küsste Gräfin Gerlinde und Graf Carl, die mehr erstaunt als enttäuscht drein sahen, dann wandte Sonja sich an Gabriela: »Sei nett zu ihr!«, sagte sie leise.
»Aber ja doch, das war doch alles nicht persönlich gemeint. Das weißt du doch, Verena, oder?« Gabriela sah ihre neue Schwägerin in spe offenherzig an. »Warum ist Markus eigentlich nicht hier? Das wäre doch der perfekte Rahmen für eine Liebeserklärung«, sagte sie und deutete auf die festlich dekorierte Galerie.
»Markus weiß ja nicht, wie Verena zu ihm steht. Er denkt immer noch, sie will von einem Grafen nichts wissen!«
»Ach, wenn das so ist!« Gabriela lachte hell auf und dann richtete sie sich an Verena: »Er sitzt sicher zu Hause und bläst Trübsal. Jasomirgottstraße 7, letzter Stock. – Darf ich jetzt endlich gehen? Der Typ da drüben ist total süß, und außerdem trägt er eine Rolex!«
Doch ihr Vater hielt sie am Arm zurück. »Wusstest du das, Gabriela? Wer ist die Frau, in die sich Markus verliebt hat?«
»Sie ist eine ganz Nette, Paps, sie wird dir gefallen. Und lass Markus doch bitte selbst entscheiden, wie er sein Leben gestalten will. Beruflich hat er es doch auch auf die Reihe gekriegt und mit einem Super-Auftrag unsere Finanzen saniert. Wir alle sollten ihn endlich in Ruhe lassen!« Während sie sprach, sah Gabriela Verena entschuldigend an. Ja, sie verstand es wirklich, alle um den Finger zu wickeln. Verena konnte ihr beim besten Willen nicht böse sein.
Graf Bäumler zögerte, dann meinte er: »Du hast recht, Gabi. Vielleicht solltest zur Abwechslung du dir einen reichen Ehemann suchen!«
»Vielleicht mache ich das sogar!«, rief die Komtess und tänzelte zu Bernd hinüber, der seine Augen nicht von ihr gelassen hatte, seit sie in die Galerie gekommen war.
»So viel also zu seiner Verzweiflung«, dachte Verena belustigt und beobachtete, wie sich die beiden gleich mitten ins Flirtgeplänkel stürzten.
»Worauf wartest du?«, fragte eine Stimme an ihrem Ohr. Lilo Benedikt lächelte sie mütterlich an. »Wenn du die Liebe gefunden hast, dann halt sie fest. Warte nicht, bis du alt bist!«
»Außer, du begegnest der großen Liebe erst, wenn du alt bist, nicht wahr, Lilo?« Theo Swoboda war zu ihnen getreten und hob Lilos Hand an seine Lippen.
»Dann, mein lieber Theo, hat sich das Warten aber ausgezahlt!«
Lilo legte ihre andere Hand an seine Wange.
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Draußen donnerte es bedrohlich. Es war ihr großer Tag, ihre Vernissage, ihre Gäste kamen zur Tür herein. Und trotzdem ließ Verena all das zurück. Sie raffte das silberne Seidenkleid an den Seiten hoch und lief in den Sturm hinaus. Herr Franz kläffte aufgeregt hinter ihr her.
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Es donnerte wieder. Ein abgebrochener Ast flog quer über den Stephansplatz, gefolgt von einem kullernden Plastikbecher. Aus einem nahen Schanigarten segelte ein ganzer Stoß Papierservietten durch die Luft.
Er sollte wohl die Terrassentür schließen. Keine Lust.
Wie es ihr wohl gerade erging? Ob sie glücklich war?
Graf Markus entkorkte eine Bierflasche lässig an der Kante seines Couchtisches. Wenn das der Vater gesehen hätte! Ein Graf benutzte einen Flaschenöffner. Ein Graf trank kein Bier. Ein Graf lümmelte nicht in Boxershorts und Mickey-Mouse-T-Shirt vor dem Fernsehapparat herum.
»Ein Graf lässt die Füße auf dem Teppich«, murmelte Markus und legte seine Füße auf den Tisch. »Einen Grafen kann sie nicht lieben.« Er griff nach der Fernbedienung und drehte die Lautstärke des Fernsehers höher. Der Sturm machte dem Fußballspiel ganz schön Konkurrenz.
Er schaffte es keine zwei Minuten, dem Spiel zu folgen. Immer wieder glitten seine Blicke zu dem Ölbild, das über seinem Bett hing. Sonjas Abschiedsgeschenk! Selbstlos wie immer hatte sie genau das für ihn gefunden, das sein Herz aufwühlte.
Wie sehr er dieses Bild liebte! Alles war darin enthalten: der Prater, die Berührung ihrer Hände, der dicke Mops, das Kaffeehaus, Verenas wunderschöne Stimme. Alles sah er in diesem Bild, das nur eine abstrakte Komposition von Farben war.
Die Terrassentür schlug gegen die Angel, und ein Schwall Regenwasser schoss ins Zimmer. Mühsam erhob sich Markus von seinem gemütlichen Platz und schlurfte nach draußen. Seine Füße wurden nass. Was soll’s, dachte er. Wenigstens trage ich keine Schuhe.
Der Regen prasselte so laut, dass er das Klackern der Schuhe auf dem Asphalt beinahe überhört hätte. Dann sah er aber doch nach unten.
Das nasse Kleid hatte sich um Verenas Körper wie eine Schicht aus silberner Farbe gelegt. Die nassen Haare fielen ihr ins Gesicht, das vom Laufen ganz gerötet war. Sie rannte quer über den sturmgebeutelten Platz und bog, dem Wind trotzig die Stirn bietend, in die Jasomirgottstraße ein.
»Verena!«, schrie Markus über sämtliche Donnergrollen hinweg. Sie hob ihren Kopf und fand seinen Blick.
»Verena! Willst du mich heiraten?«
Die junge Frau hob ratlos die Schultern. Sie hatte ihn nicht verstanden. Also rannte auch er los, barfuß und in Boxershorts, mit Mickey-Mouse-T-Shirt und unrasiert. Er rannte alle drei Stiegen hinab und fiel ihr vor dem Eingang des Palais in die Arme.
»Willst du mich heiraten?«, keuchte er noch einmal und schnappte nach Luft.
Verena rang ebenfalls nach Atem, »Ja«, brachte sie dann heraus. Und der Sturm warf sie einfach in seine Arme.