Читать книгу Der kleine Fürst Jubiläumsbox 6 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 5

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»Charly, kannst du mir mal helfen, Eduard wieder einzufangen?«, rief Bernhard von Isebing einer Gestalt zu, die im Blaumann unter einem alten Auto lag, um es zu reparieren. »Er ist schon wieder abgehauen, und allein kriege ich ihn nicht.«

Ein Brummen antwortete ihm, dann schob sich eine schlanke junge Frau mit wilder blonder Lockenmähne unter dem Wagen hervor und sprang mit einem Satz auf die Füße. »Ich kriege ihn allein«, sagte sie und lief mit langen Schritten über den Hof des Familienguts. Der junge Hammel mit Namen Eduard hatte sich wieder einmal trickreich von der nahe gelegenen Weide entfernt – sie wussten noch immer nicht, warum er das so gerne tat und welches Schlupfloch er dafür benutzte. Mindestens zwei Mal pro Woche mussten sie ihn wieder einfangen. Das war ausgesprochen mühsam – nur wenn Charlotta sich einschaltete, ging es in der Regel ohne Probleme.

Bernhard folgte seiner jüngeren Schwester gemächlich. Gleich darauf schüttelte er lächelnd den Kopf: Sie hatte Eduard bereits erwischt, und es sah nun so aus, als führte sie mit ihm ein Tänzchen auf. Sie hielt ihn bei den Hörnern gepackt, er bockte, sie schob, aber schon jetzt war klar, wer gewinnen würde. Auch Eduard wusste das, und so gab er schließlich nach und ließ sich von Charlotta auf die Weide zurückbringen.

Mit einem eleganten Satz setzte sie über den Zaun und bedachte ihren Bruder mit einem breiten Lächeln. »Ich weiß wirklich nicht, warum ihr nicht mit ihm fertig werdet«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, erwiderte Bernhard nachdenklich. »Ich bin auf jeden Fall stärker als du, aber ich schwöre dir, dass er sich von mir keinen Zentimeter bewegen lässt, da kann ich machen, was ich will.«

Sie lachte hellauf. Es war ein überraschend weiblich klingendes Lachen, dachte Bernhard, das eigentlich gar nicht zu Charlotta passte. Nicht umsonst hieß sie in der Familie und bei ihren Freunden nur »Charly«. Ihre weiblichen Reize, von denen sie eine Menge besaß, versteckte sie am liebsten unter ihrer Lieblingsbekleidung: dem blauen Overall, den sie gerade trug, mit den derben Stiefeln und dem ölverschmierten T-Shirt.

Die Schule hatte sie nach der Mittleren Reife verlassen, weil es ihr dort nicht gefiel und sie ständig Ärger mit den Lehrern gehabt hatte. Danach hatte sie drei verschiedene Lehrstellen ausprobiert, aber nirgends war sie geblieben. Das war eine harte Zeit gewesen, sowohl für Charlotta als auch für die Eltern, die verlangt hatten, dass sie eine ordentliche Ausbildung machte. Die hatte sie bis heute nicht.

Aber sie arbeitete hart auf dem Gut, härter als mancher Mann, und sie selbst bezweifelte nicht, dass sie von allen sieben Geschwistern am ehesten das Zeug dazu hatte, das Gut eines Tages von den Eltern zu übernehmen. Sie konnte einen Motor ebenso reparieren wie einen Rasenmäher, sie kannte sich mit Schafen und Kühen aus, eine erstklassige Reiterin war sie sowieso, und selbst draußen auf den Feldern ließ sie sich von niemandem etwas vormachen. Doch ohne Ausbildung, das hatte ihr Vater ganz klar gesagt, würde er ihr keinerlei Verantwortung übertragen.

Bernhard war der älteste Sohn der Familie Isebing, und eigentlich war er damit der Gutserbe, aber seine Eltern wussten, dass er andere Wünsche hatte. Er half gern mit, wenn er zu Hause war, aber noch lieber kehrte er an die Universität und zu seinen Bücher zurück – er träumte von einer Laufbahn als Archäologe, was in der Familie für lebhaftes Erstaunen sorgte. Immerhin hatte er bereits eine Stelle als Dozent ergattert mit seinen knapp achtundzwanzig Jahren, und jetzt arbeitete er an seiner Promotion. »Die Hauptsache ist, dass ihr glücklich werdet«, hatte seine Mutter gesagt, und für diesen Satz liebte er sie noch mehr.

Charlotta riss ihn aus seinen Gedanken. »Es kommt doch nicht auf körperliche Kraft an«, bemerkte sie kopfschüttelnd. »Du musst ihm deinen Willen aufzwingen, Bernd. Er muss dich als Chef anerkennen, sonst macht er natürlich, was er will.«

»Aha, und wie mache ich das?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn du es nicht weißt, ich kann’s dir nicht erklären«, sagte sie. »Du, ich muss jetzt wieder an den Wagen gehen, sonst werde ich nicht fertig. Papa und ich wollen nachher noch auf den Viehmarkt…« Sie lief bereits zurück zu dem Auto, und gleich darauf war sie erneut darunter verschwunden, nur ihre langen Beine waren noch zu sehen.

Auch Bernhard machte sich wieder an die Arbeit – auf einem Gut gab es immer jede Menge zu tun. Er wohnte nicht mehr zu Hause, kam aber regelmäßig an den Wochenenden, weil er gern mit seinen Eltern und Geschwistern zusammen war und auch, weil ihm die körperliche Arbeit eine willkommene Abwechslung zu seinen Studien bot.

Nach einer weiteren Stunde rief Luise, die Haushälterin, die Familie zum Essen. Bernhard war sehr hungrig und beeilte sich daher, dem Ruf zu folgen. Charlotta jedoch rührte sich nicht, sie blieb unter ihrem Wagen liegen.

»Hast du Luise nicht gehört, Charly?«, fragte Bernhard.

»Zu überhören ist sie wahrhaftig nicht«, erklärte seine Schwester. »Ich komme nach, Bernd, gerade habe ich den Fehler gefunden, ich will jetzt nicht aufhören, sonst dauert es hinterher bloß länger.«

»Du weißt, dass vollzähliges Erscheinen bei den Mahlzeiten erwünscht ist.«

»Ich komme ja – nur ein paar Minuten später!« Charlottas Stimme klang jetzt gereizt, und so machte er sich ohne sie auf den Weg ins Haus.

»Wo ist Charly?«, fragte seine Mutter sofort.

»Sie liegt noch unter dem Wagen, Mama, aber sie kommt gleich, hat sie gesagt.«

Marianne von Isebing stieß resigniert die Luft aus. »Immer das Gleiche mit Charly!«, murmelte sie.

Bernd ging zu ihr und nahm sie in die Arme. »Nimm es locker, Mama. Die paar Minuten, die sie später kommt…«

Sie befreite sich unwillig aus der Umarmung. »Darum geht es doch gar nicht, Bernd! Und du musst sie nicht ständig in Schutz nehmen – Charly ist zwanzig, allmählich könnte sie erwachsen werden.«

»Aber das ist sie doch! Sie arbeitet hier auf dem Gut sehr verantwortungsbewusst…«

»Ja, und so sieht sie auch aus! Wie ein Gutsarbeiter! Man muss ja zweimal hinsehen, bis man erkennt, dass sie weiblichen Geschlechts ist. Wo soll denn das hinführen? Ich will nicht, dass meine hübsche Tochter als verbitterte, einsame alte Frau endet, nur weil sie jetzt denkt, dass sie niemanden braucht…«

»Du übertreibst, Mama. Wie du selbst gesagt hast: Sie ist zwanzig. Da hat sie wirklich noch viel Zeit.«

»Mag sein«, gab Marianne zu, und damit war das Gespräch erst einmal beendet, denn nun kamen aus allen Richtungen Mitglieder der großen Familie, um sich im Esszimmer um den langen Holztisch zu versammeln. Der Erste war Bernhards Vater Ludwig, der seine Frau im Vorbeigehen kurz umarmte und ihr einen Kuss auf die Nase drückte. Dann erschienen die Zwillinge Jan und Anja, wie immer in ein intensives Gespräch vertieft, so dass sie kaum Augen für ihre Umgebung hatten. Es folgte Thomas, mit seinen sechsundzwanzig Jahren der Zweitälteste – von seinen Geschwistern wurde er nur »das Großmaul« genannt, was durchaus passend war, von Thomas aber begreiflicherweise nicht gern gehört wurde. Die Nächste war Sara, ein zierliches Püppchen, das ganze Gegenteil ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Charlotta, denn Sara verbrachte sehr viel Zeit vor dem Spiegel und sorgte sich ständig darum, ob sie auch wohl gut aussah. Zum Schluss trudelte die tüchtige Stephanie ein, die gerade für ihre Prüfung zur medizinisch-technischen Assistentin büffelte.

»Wo ist Charly?«, fragte Ludwig Isebing seine Frau, als alle Platz genommen hatten.

»Unter einem Auto«, erklärte Marianne seufzend.

»Sie hat gesagt, sie kommt gleich«, setzte Bernhard hastig hinzu. »Sie hatte den Fehler gerade erst gefunden und meinte, wenn sie jetzt aufhört, kostet es hinterher nur mehr Zeit.«

Ludwig machte ein unzufriedenes Gesicht, ließ die Sache aber auf sich beruhen.

Es dauerte dann aber doch noch fast zwanzig Minuten, bis Charlotta erschien und sich mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihren Platz setzte.

»Wir sind schon beinahe fertig«, bemerkte Sara spitz. »Und wie du wieder aussiehst! Das ist ja eklig. Hast du dir überhaupt die Hände gewaschen?«

»Ja, habe ich, stell dir vor«, erwiderte Charlotta. »Es können ja nicht alle so geschniegelt und gebügelt herumlaufen wie du, dafür haben wir nämlich nicht genug Badezimmer. Wenn ich so lange Zeit brauchen würde wie du…«

»Kein Streit, bitte«, sagte Marianne. »Guten Appetit, Charly.«

»Danke, Mama.« Charly hatte ordentlich Hunger, und das sah und hörte man.

Marianne wollte eine sanfte Mahnung aussprechen, doch Sara kam ihr zuvor. »Du frisst wie ein Schwein!«, sagte sie vorwurfsvoll. »Und wie du über dem Tisch hängst, also wirklich, man muss sich schämen, Charly.«

Charlotta sah auf, direkt in die Augen ihrer Mutter, und sofort riss sie sich zusammen. Sie richtete sich auf, nahm den Arm, den sie bis zum Ellenbogen auf der Tischplatte gelagert hatte, zur Seite und zwang sich, langsamer zu essen. Aber sie hatte noch so viel zu tun! Es drängte sie, so schnell wie möglich wieder nach draußen zu kommen, und sie war schon immer der Ansicht gewesen, dass Tischmanieren maßlos überschätzt wurden.

»Was war denn nun mit dem Auto?«, erkundigte sich Bernhard, um die Spannung zu vertreiben, die plötzlich spürbar geworden war.

Charlotta lächelte ihm dankbar zu und beantwortete die Frage ausführlich. Auch ihr Vater wollte noch einiges wissen, und so war die Stimmung bald wieder locker. Nur Sara hörte nicht auf, Charlotta vorwurfsvolle Blicke zuzuwerfen – denn »wie eine Dame« aß sie noch längst nicht, auch wenn sie jetzt gerade saß und das Essen nicht mehr in sich hineinschaufelte wie eine Wilde.

Die Zwillinge hatten sich um die Auseinandersetzung wie üblich nicht gekümmert, sie lebten in ihrer eigenen Welt, zu der die anderen nur begrenzten Zutritt hatten. Sie liebten ihre Familie über alles und hätten sich in Stücke reißen lassen für jeden, der dazu gehörte, aber sie nahmen eine Sonderstellung ein. Einer ihrer Lehrer hatte festgestellt, dass sie hochbegabt waren, und so waren sie, dank besonderer Förderung, mit ihren dreiundzwanzig Jahren bereits mit dem Studium fertig, und ihr erklärtes Ziel war der Nobelpreis in Physik. Niemand in der Familie zweifelte daran, dass sie das Ziel erreichen würden. Trotz ihrer Hochbegabung waren sie jedoch nicht lebensfremd, und wenn Not am Mann war, packten sie auf dem Gut ordentlich mit an. Am liebsten aber diskutierten sie über Probleme, die die anderen nicht einmal verstanden.

Charlotta hatte ihren Teller geleert, schob den Stuhl zurück und machte Anstalten aufzustehen, doch ihre Mutter hielt sie zurück. »Warte bitte, Charly, wir haben euch noch etwas zu sagen, Papa und ich.«

»Aber mach schnell, Mama«, drängte Charlotta. »Ich habe noch so viel zu tun.«

»Wir bekommen einen Gast«, erklärte Marianne. »Er heißt Armin von Thaden und wird zwei Wochen bleiben.«

»Zwei Wochen?«, fragte Thomas entgeistert. »Ein fremder Mensch? Was will der denn so lange hier?«

»Wir denken über eine geschäftliche Zusammenarbeit nach«, erklärte Ludwig seinem zweitältesten Sohn. »Ich kenne Armin von Thaden schon länger und finde, dass er außerordentlich interessante Ideen hat. Darüber hinaus ist er mir sympathisch. Es gibt einige Überschneidungen in dem, was wir machen, und darüber wollen wir in Ruhe reden.«

»Und wo soll er wohnen?«, erkundigte sich die praktische Stephanie. »Wir haben doch gar kein freies Zimmer. Ich meine, während der Woche kann er gern meins haben, aber an den Wochenenden, wenn wir hier einfallen…«

Sara unterbrach ihre ältere Schwester. »Wir haben wohl ein freies Zimmer«, bemerkte sie und schoss einen weiteren giftigen Blick auf Charlotta ab. »Wenn Charly nicht das eine Zimmer oben zu einer Rumpelkammer gemacht hätte.«

»Das ist keine Rumpelkammer, sondern eine Werkstatt«, fuhr Charlotta sie an. »Bisher hatte niemand etwas dagegen, dass ich das Zimmer nutze.«

»Das kannst du auch weiterhin tun, er kann hier unten schlafen, da ist Platz genug«, erklärte Marianne.

»Aber hier kommt er doch nicht zur Ruhe, Mama!«, meinte Stephanie. »Hier unten ist dauernd Betrieb. Alle Schlafzimmer sind oben…«

»Ihn stört es nicht, ich habe ihn gefragt«, sagte Marianne.

Charlotta stand auf. »Kann ich jetzt gehen?«

Ihre Mutter nickte ergeben, und im nächsten Augenblick polterte die junge Frau bereits aus dem Zimmer.

»Sie ist unmöglich!«, klagte Sara. »Wenn wir Besuch haben und sie benimmt sich so, muss man sich ja schämen!«

»Du übertreibst, wie immer, Sara«, bemerkte Stephanie ruhig. »Ich weiß wirklich nicht, warum du ständig auf Charly rumhacken

musst. Lass sie doch einfach mal in Ruhe.«

Zum allgemeinen Erstaunen stimmte Jan Stephanie zu. Bis eben hatte er noch leise mit Anja gesprochen, doch offenbar waren die Zwillinge dem Gespräch durchaus gefolgt. »Das finde ich auch, Sara!«, sagte er nachdrücklich. »Charly arbeitet für drei hier auf dem Gut, da musst du sie nicht dauernd angiften.«

Saras hübsches Gesicht wurde rot vor Empörung. »Ich habe nur gesagt, was ihr alle denkt!«, rief sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Charly sieht unmöglich aus, und sie benimmt sich unmöglich – im Dorf reden sie ja sogar schon über sie! Und nur weil ich ihre Schwester bin, darf ich das nicht sagen?« Sie sprang schluchzend auf. »Ich sage die Wahrheit, und ihr hackt auf mir herum!«, rief sie, drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.

»Na, bravo«, sagte Thomas. »Da hätten wir ja endlich wieder einmal eine hübsche kleine Familienkrise. Was musstest du dich auch einmischen, Jan? Du machst doch sonst den Mund nie auf.«

Aber Jan hörte ihn schon nicht mehr, er diskutierte bereits wieder mit Anja.

»Sara wird sich bald wieder beruhigen«, stellte Ludwig gelassen fest. »Wie immer.«

»Wann kommt dieser Armin von Thaden denn?«, erkundigte sich Stephanie.

»Nächste Woche schon, wir waren beide der Ansicht, dass wir unsere Ideen möglichst bald ausführlich besprechen sollten.«

Als die Tafel aufgehoben war, bemerkte Marianne aus dem Augenwinkel, dass Jan ohne Anja nach oben ging – und dann hörte sie ihn an Saras Zimmer klopfen. Sie lächelte in sich hinein. Wenn es darauf ankam, hielten ihre Kinder zusammen, auch wenn es manchmal gewaltig krachte.

Gleich darauf kam Jan wieder herunter und lächelte seiner Mutter zu. »Alles wieder in Ordnung, Mama«, sagte er. »Komm, Anja, erklär mir noch mal genau, was du meinst…«

Sie sah ihnen nach, wie sie über den Hof gingen, Anja eifrig redend, Jan aufmerksam zuhörend. Ja, ihre sieben Kinder waren sehr unterschiedlich, aber sie liebte jedes einzelne von ihnen.

*

Baronin Sofia von Kant und ihr Mann, Baron Friedrich, saßen gemeinsam mit Helena von Isebing in ihrem schönsten Salon und tranken Tee miteinander. Die alte Dame sah sehr zerbrechlich aus, aber ihr lebhaftes Mienenspiel ließ diesen Eindruck immer wieder in Vergessenheit geraten.

»Ich bin froh, dass ich mich von Robert habe überreden lassen, euch wieder einmal zu besuchen«, sagte sie jetzt gerade. Robert Kahrmann war ihr Butler – und zugleich ihr Chauffeur. Sie hatte ihn schon gekannt, als er noch ein Kind gewesen war, entsprechend vertrauensvoll war ihr Verhältnis zueinander. »Es ist so schön auf Sternberg – und dieser Blick in euren wundervollen Schlosspark ist einfach unbezahlbar.«

»Du solltest viel öfter kommen, Helena«, meinte die Baronin. »Wir haben dir das ja schon oft gesagt, aber bisher ohne Erfolg, was wir sehr bedauern.«

»Ich weiß, ich weiß.« Helena trank einen Schluck Tee und lehnte sich dann zurück. »Aber ich bin gesundheitlich angeschlagen, für mich ist auch eine kurze Autofahrt schon eine Anstrengung. Das könnt ihr nicht nachvollziehen, ihr seid ja noch jung…«

»So jung nun auch wieder nicht«, warf der Baron lächelnd ein. »Vierzig ist nicht mehr jung, Helena.«

»Verglichen mit mir seid ihr jung!« Helena seufzte. »Manchmal denke ich, dass ich zu viel allein bin. Könnt ihr euch das vorstellen? Sicher, Robert ist da, die Köchin ebenfalls, die Mädchen, die das Haus in Ordnung halten – aber manchmal wünsche ich mir, dass jemand einfach nur neben mir säße, meine Hand hielte und mir etwas erzählte. Das muss nichts Aufregendes sein, aber ich stelle es mir schön vor…« Sie brach ab und lächelte verlegen. »Entschuldigt, dass ich euch mit diesen Dingen langweile.«

»Du langweilst uns nicht«, widersprach die Baronin. »Hör mal, dein Sohn hat sieben Kinder – warum bittest du nicht einen deiner Enkel, für eine Weile zu dir zu ziehen? Du wärst nicht so allein, und für junge Leute ist es auch nicht schlecht, wenn sie beizeiten sehen, wie beschwerlich das Leben im Alter werden kann.«

Helena lächelte. »Da hast du wohl Recht, Sofia, aber so einfach ist das nicht. Die arbeiten oder studieren ja alle oder sie machen eine Ausbildung. Außerdem bin ich kein Mensch, mit dem es sich leicht zusammenleben lässt.«

Sofia und Friedrich lachten ungläubig. »Aber mit dir kommt doch einfach jeder gut aus!«, rief die Baronin.

»Nein, nein, ganz bestimmt nicht«, beteuerte Helena. »Meine jüngste Enkelin ist mir ähnlich. Sie will auch immer mit dem Kopf durch die Wand, schert sich nicht um Konventionen und eckt ständig an. Ich war als junge Frau wie sie.«

Friedrich beugte sich interessiert vor.

»Du und anecken?«, fragte er. »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

»Ja, es fällt mir selbst schwer«, gab Helena zu. »Aber ich habe Fotos von damals, da sieht man recht gut, dass ich mit der Welt auf Kriegsfuß stand. Zum Glück erinnert sich heute kaum noch jemand daran, und nach meiner Eheschließung bin ich dann ja auch recht brav geworden. Wenn mein Mann noch lebte – der könnte euch Geschichten erzählen!« Sie lächelte bei der Erinnerung, dann glitt ihr Blick aus dem Fenster, sie beugte sich ein wenig vor. »Ist das Christian?«, fragte sie. »Der kleine Fürst?«

»Ja«, bestätigte Sofia. »Er war sicher auf dem Hügel.«

Helena sah sie fragend an. »Du meinst auf dem Friedhof?«

Die Baronin nickte. »Er besucht seine Eltern jeden Tag«, erklärte sie. »Wir sind froh darüber, das gibt ihm Kraft. Er erzählt ihnen in Gedanken, was ihn bewegt, und er hat den Eindruck, dass sie ihn hören können.«

»Wie schön«, sagte Helena leise. »Was für eine tröstliche Vorstellung, dass unsere Toten uns begleiten, auch wenn sie von uns gegangen sind. Bei mir und meinem Mann ist es auch so. Ich spreche mit ihm und glaube, dass er mir zuhört.« Sie blickte wieder aus dem Fenster. »Das heißt, Christian hat den Verlust seiner Eltern einigermaßen gut verkraftet?«

»Ja, das glauben wir. Wir versuchen, ihm die Familie zu ersetzen, so gut es geht – unsere Kinder und Christian sind ja auch vorher schon praktisch wie Geschwister aufgewachsen, von daher hat sich nicht viel geändert.«

»Gut, dass ihr schon vor so vielen Jahren nach Sternberg gezogen seid.«

»Ja, das war ein Glück.«

Nach diesen Worten versanken sie in Schweigen, während ihre Gedanken zu Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold von Sternberg wanderten, den Eltern von Prinz Christian, die vor etlichen Monaten bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren. Christian war fünfzehn Jahre alt, aber dieser Verlust hatte ihn reifen lassen. Er war ernster als die meisten Jungen seines Alters, und nachdenklicher.

»Wird er immer noch ›der kleine Fürst‹ genannt?«, fragte Helena nach einer Weile.

Sofia lächelte. »Ja, und das bleibt vermutlich so, bis er volljährig wird. Dann ist er der nächste Fürst von Sternberg.«

»Der ›große Fürst‹«, bemerkte Helena. »Das war ein schönes Bild, wenn Leo mit Christian an der Hand irgendwo auftauchte. Ich glaube, damals ist der Kosename aufgekommen – kann das sein?«

Der Baron nickte. »Der große und der kleine Fürst – so haben die Leute immer gesagt, und dabei ist es geblieben.«

In diesem Augenblick kam Christian zur Tür herein, seinen jungen Boxer Togo hielt er an der kurzen Leine, was dem Hund sichtlich missfiel. »Ruhig, Togo! Du kannst nicht jeden Menschen so stürmisch begrüßen, wie es dir gefällt«, mahnte er.

»Lass ihn ruhig los«, lächelte Helena. »Ich sitze ja, also kann er mich nicht umwerfen, Chris.«

Der kleine Fürst ließ den Hund also von der Leine, und Togo eilte ohne zu zögern auf die Besucherin zu. Er war neugierig und verspielt, Gäste fand er immer besonders interessant.

Christian begrüßte Helena erst nach seinem Hund, denn Togo bestand darauf, zuerst gekrault zu werden, was Helena gerne tat. Anschließend reichte sie Christian die Hand. »Wir haben uns fast ein Jahr nicht gesehen, Chris«, sagte sie.

Er nickte. »Sie kommen eben zu selten«, meinte er mit einem Lächeln.

»Das haben wir auch schon gesagt!«, erklärte die Baronin. »Möchtest du einen Tee mit uns trinken, Chris?«

Er lehnte dankend ab. »Ich muss noch Hausaufgaben machen, ziemlich viel leider.«

Höflich verabschiedete er sich wieder.

»Ein bemerkenswerter Junge«, stellte Helena fest. »Und wie sicher er auftritt! Kaum zu glauben, dass er erst fünfzehn ist.«

Sofia merkte, dass die alte Dame müde wurde, und tatsächlich beschloss Helena wenig später, sich auf den Heimweg zu machen. Robert Kahrmann wurde gerufen, der sie behutsam zum Wagen geleitete.

Der Abschied fiel herzlich aus, und Helena versprach einmal mehr, sich in Zukunft öfter blicken zu lassen. »Ihr könntet mich bei Gelegenheit ja auch mal besuchen«, sagte sie. »Zwar habe ich keinen Schlosspark zu bieten, aber bei mir ist es auch schön.« Nach diesen Worten half ihr Robert Kahrmann in die Limousine, nahm dann selbst hinter dem Steuer Platz und lenkte den großen Wagen vorsichtig die breite Auffahrt hinunter.

»Ich habe mich gefreut, sie wiederzusehen«, stellte Sofia fest.

Friedrich stimmte seiner Frau zu, dann gab er ihr einen Kuss und entschuldigte sich: Die Arbeit rief.

*

»Sieben Kinder?«, fragte Rosalie von Thaden entgeistert. »Diese Leute haben sieben Kinder?«

»Ja«, erklärte ihr älterer Bruder Armin gelassen. »Da geht es vermutlich etwas lebhafter zu, als wenn wir beide mal zu Hause bei unseren Eltern sind.«

Sie schüttelte den Kopf. »Und wie alt sind die alle?«, fragte sie weiter.

»Der älteste Sohn ist achtundzwanzig, sagte mir Ludwig, die jüngste Tochter zwanzig.«

»Sieben Kinder in acht Jahren?« Rosalie fiel von einem Entsetzen ins nächste.

»Es sind Zwillinge dabei«, erklärte Armin, der sich über ihre Reaktion amüsierte. »Ludwigs Frau hat also nicht jedes Jahr ein Kind bekommen.«

»Aber beinahe«, stellte Rosalie fest. »Wahrscheinlich ist sie jetzt schon alt und verbraucht, ziemlich dick und völlig aus der Form nach diesen vielen Schwangerschaften.«

»Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Was Ludwig von seiner Frau erzählt – also, das klingt eher so, als wäre sie noch ziemlich beweglich und sehr unternehmungslustig.«

»Du musst mir unbedingt alles ganz genau erzählen, wenn du zurückkommst«, verlangte Rosalie. »Wieso bleibst du da eigentlich so lange?«

»Wir wollen zusammenarbeiten, Ludwig und ich«, antwortete Armin. »Es gibt noch keine konkreten Pläne, bisher haben wir nur alle möglichen unausgegorenen Ideen. Er möchte zum Beispiel Pferde züchten, würde sich um das gesamte geschäftliche Umfeld aber nicht gern kümmern. Das könnte ich machen, ich habe ja Erfahrungen auf diesem Gebiet. Um solche Dinge geht es. Er ist ja viel älter als ich, deshalb hat er mir eine Menge Erfahrung voraus, das finde ich angenehm. Außerdem ist er ein ruhiger und sympathischer Mann, es macht Spaß, mit ihm Ideen zu entwickeln und darüber zu diskutieren. Alles, was er sagt, hat Hand und Fuß.«

»Sei vorsichtig«, warnte Rosalie.

»Wieso vorsichtig?«, fragte Armin verwundert.

»Wegen der Kinder. Der älteste Sohn erbt das Gut eines Tages – was sagt der denn, wenn sein Vater jetzt plötzlich Pläne mit einem fremden jungen Mann macht und nicht mit seinem Erben?«

»Der älteste Sohn ist Archäologe«, erklärte Armin ruhig. »Der übernimmt das Gut nicht.«

»Dann eben der Zweitälteste«, sagte Rosalie ungeduldig.

»Auch nicht, der hat andere Pläne. Er träumt vom großen Geld, und das ist mit dem Gut sicher nicht zu machen.«

»Herrje!«, rief Rosalie. »Ich sage doch nur, du sollst vorsichtig sein, denn irgendjemand wird das Gut eines Tages erben – und das wirst in keinem Falle du sein.«

»Das weiß ich doch, aber diese Erbgeschichte betrifft unsere Pläne überhaupt nicht.«

»Jetzt vielleicht noch nicht, aber falls eure Geschäfte erfolgreich sind…«

Armin ließ seine Schwester nicht ausreden. »Ich verspreche dir, vorsichtig zu sein, Rosalie, aber Ludwig und seine Frau sind gerade mal Anfang Fünfzig. Er denkt noch längst nicht ans Aufhören.«

»Andere in dem Alter aber schon«, bemerkte Rosalie. Als sie sein Gesicht sah, umarmte sie ihn. »Schon gut«, sagte sie versöhnlich. »Ich höre ja schon auf mit meinen Einwänden. Auf alle Fälle wünsche ich euch beiden viel Erfolg mit euren Geschäften.«

Armin nickte. »Den wünsche ich uns auch«, meinte er nachdenklich. »Und ich bin ziemlich gespannt auf Ludwigs Familie, das muss ich schon sagen.«

»Schade, dass ich dich nicht begleiten kann«, seufzte Rosalie. »Da hätte ich zu gerne Mäuschen gespielt.«

»Du warst schon als kleines Mädchen neugierig«, lächelte Armin. »Sag mal, hattest du mich nicht zum Essen eingeladen?« Er schnupperte. »Da kommt ja überhaupt noch kein Duft aus der Küche.«

»Weil wir ausgehen«, erklärte Rosalie. »Komm, das Lokal ist gleich hier um die Ecke – es hat neu eröffnet, du wirst begeistert sein.«

In den nächsten beiden Stunden stellte sich heraus, dass sie zumindest mit dieser Vorhersage hundertprozentig Recht gehabt hatte.

*

Es war wieder Ruhe auf Gut Isebing eingekehrt. Charlottas Geschwister waren nach dem Wochenende abgereist, was sie einerseits angenehm fand, denn sie hatte beim Arbeiten gern ihre Ruhe – andererseits bedauerte sie es, denn der Trubel, den die anderen jedes Mal mitbrachten, gefiel ihr auch.

Beim Abendessen räusperte sich Ludwig und sagte nach einem kurzen Blick zu seiner Frau hinüber: »Armin von Thaden ist ein sehr netter junger Mann, Charly.«

»Sonst würdest du ja wohl kaum über Geschäfte mit ihm nachdenken«, bemerkte Charlotta.

»Sehr richtig. Wir, deine Mutter und ich, finden aber außerdem, dass du in der Zeit, wo er hier ist, auch einmal deine weibliche Seite herausstreichen könntest.«

Ganz langsam ließ Charlotta die Gabel, die sie eben zum Mund hatte führen wollen, wieder sinken. Misstrauisch und ungläubig sah sie ihren Vater an. »Was soll das denn jetzt heißen? Wollt ihr mich verkuppeln oder was?«

»Natürlich nicht!«, beteuerte ihr Vater. »Wir wissen ja, dass das von vornherein aussichtslos ist, aber…«

»Hoffentlich wisst ihr das!« Charlotta kniff beide Augen zusammen. »Aber dann kann es euch doch völlig gleichgültig sein, wie ich herumlaufe, wenn er kommt. Er interessiert mich nicht, ich interessiere ihn nicht – damit ist der Fall erledigt. Er will mit dir Geschäfte machen, Papa. Soll er. Aber mich haltet da bitte heraus, ich will damit nichts zu tun haben. Am liebsten wäre es mir, ich müsste den Mann überhaupt nicht sehen. Du weißt, ich habe nicht gern mit fremden Leuten zu tun.«

Das stimmte allerdings, und in der Regel führte es dazu, dass Charlotta sich, wenn sie sich unsicher fühlte, noch ruppiger aufführte als ohnehin schon.

Marianne schaltete sich ein. »Du bist zwanzig Jahre alt, Charly«, sagte sie sanft. »Und du läufst herum wie ein Stallknecht…«

»Ja, und?«, fragte Charlotta aufgebracht. »Was stört euch daran?«

Sie hatten es falsch angefangen: Charlotta war in dieser Stimmung keinem Argument mehr zugänglich, das wussten sie aus Erfahrung. Dennoch versuchte Marianne es noch einmal, zu ihrer jüngsten Tochter durchzudringen. »Du bist eine hübsche junge Frau, es wäre schön, wenn wir das ab und zu auch einmal zu sehen bekämen«, sagte sie ruhig. »Und wir würden uns freuen, wenn auch unsere Gäste es sähen. Die Vorstellung, dass Armin von Thaden, den dein Vater sehr schätzt und von dem ich daher annehme, dass er ein sympathischer Mann ist, dich für ungepflegt und hässlich hält, gefällt mir nicht.«

Charlotta starrte erst ihre Mutter an, dann ihren Vater. Diesen fragte sie mit anklagender Stimme: »Was soll das, Papa? Ich dachte, ihr wolltet mich nicht verkuppeln!«

»Das wollen wir ja auch nicht«, erklärte Ludwig. »Wie kommst du nur darauf? Deine Mutter hat dich lediglich gebeten…«

Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn Charlotta war aufgesprungen. Mit zornrotem Gesicht rief sie: »Mir ist es egal, was dieser Typ von mir denkt, dass ihr es nur wisst! Und wenn ihr euch meinetwegen schämt, dann kann ich während seiner Anwesenheit die Mahlzeiten ja auf meinem Zimmer einnehmen.«

»Hör auf!«, sagte Ludwig in ungewöhnlich scharfem Ton. »Du benimmst dich wie eine unreife Göre, Charly.«

Aber diese Worte entfachten Charlottas Zorn erst recht. »Ich wehre mich nur dagegen, dass ihr versucht, mir einen Mann schmackhaft zu machen, den ich noch nie gesehen habe. Ich will keinen Mann, das habe ich euch oft genug gesagt!« Mit diesen Worten stapfte sie aus dem Esszimmer und knallte gleich mehrere Türen mit solchem Schwung hinter sich zu, dass es im ganzen Haus zu hören war.

»Sie hat wieder einmal alles falsch verstanden«, murmelte Ludwig resigniert. »Was sollen wir nur mit ihr anfangen, Nana? Sie kann doch nicht immer so weitermachen!«

»Ich hoffe, das wird sie auch nicht«, seufzte seine Frau. »Aber Herrn von Thaden müssen wir vermutlich vorwarnen, sonst bekommt er einen Schrecken, wenn er das erste Mal auf sie trifft. Wahrscheinlich stampft sie ihn in Grund und Boden.«

Ludwig schüttelte den Kopf. »Wir sagen nichts«, bestimmte er. »Sollen sie sehen, wie sie miteinander zurechtkommen. Wahrscheinlich werden sie sich kaum begegnen, du kennst doch Charly, sie geht ihm mit Sicherheit aus dem Weg. Und bei den Mahlzeiten sind wir ja auch noch da, um das Schlimmste zu verhindern.«

»Ich hatte es mir so nett vorgestellt, den jungen Mann endlich kennenzulernen«, sagte Marianne unglücklich. »Aber nun ist mir die Vorfreude verdorben. Ich werde die ganze Zeit Angst haben, dass Charly aus der Rolle fällt.«

»Das soll sie nicht wagen!« Ludwig machte ein grimmiges Gesicht, aber gleich darauf lachte er schon wieder. »Ach was, wir sollten uns nicht verrückt machen lassen, Nana! Ich jedenfalls freue mich auf Armins Besuch. Er sprudelt geradezu über vor Ideen, du wirst ihn bestimmt auch mögen. Wir werden uns einfach eine schöne Zeit mit ihm machen.«

Sie nickte, ganz überzeugt wirkte sie freilich nicht – schließlich kannte sie ihre Jüngste!

*

Sara von Isebing hatte an diesem Montag einen fantastischen Start in die Woche: Sie verkaufte einer Kundin gleich zwei teure Kleider, einen Hosenanzug und dazu noch ein paar Schuhe. Besser konnte es eigentlich gar nicht laufen. Ihre Chefin lobte sie, und Sara war stolz auf sich.

Sie arbeitete seit einem halben Jahr in diesem Geschäft – dem Ersten am Platze. Hier kauften nur vermögende Damen der Gesellschaft ein, und das war genau der Rahmen, in dem Sara sich wohl fühlte. Später wollte sie ein eigenes Geschäft haben, aber zuerst brauchte sie Erfahrung. Und da sie sich schon immer für Mode und alles, was damit zusammenhing, interessiert hatte, war sie tatsächlich eine erstklassige Verkäuferin geworden. Sie hatte Geschmack, kannte sich mit der Ware, die sie verkaufte, aus, und konnte gut beraten. Außerdem sah sie ausgesprochen hübsch aus, ohne das während der Arbeitszeit allzu sehr herauszustreichen.

Das war die erste Lektion, die ihre Chefin ihr erteilt hatte: »Wenn Sie hier als Schönheitskönigin auftreten, Sara, machen Sie einen Fehler. Das entmutigt unsere Kundinnen, die weniger schön sind. Nehmen Sie sich zurück.« An diesen Rat hielt sie sich. Es reichte ja, wenn sie sich in ihrer Freizeit zurechtmachte, um ihre Freundinnen auszustechen!

Zur Mittagspause schloss sie das Geschäft ab, ihre Chefin war schon vorher gegangen, weil es sehr ruhig gewesen war. Langsam bummelte Sara die elegante Geschäftsstraße entlang. Sie hatte Hunger, würde aber nicht mehr als einen Salat essen. Wenn man schlank bleiben wollte, musste man Opfer bringen. Kurz dachte sie voller Neid an ihre jüngere Schwester Charly, die in der Regel für drei aß, ohne je ein Gramm zuzunehmen. Das war aber auch das Einzige, worum man sie beneiden musste, fand Sara. Unmöglicher als Charly konnte eine Frau nicht aussehen.

Vor ihr fuhr ein Radfahrer so dicht an einer alten Dame vorbei, dass er sie streifte. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre unweigerlich gestürzt, wenn ihr nicht gleich zwei Menschen zu Hilfe geeilt wären: Sara von der einen und ein sehr gut aussehender dunkelhaariger junger Mann von der anderen Seite.

Er rief dem Radfahrer zornig eine Beschimpfung nach, dann entschuldigte er sich mit charmantem Lächeln und fragte die alte Dame: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja, vielen Dank«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang ein wenig zittrig. »Es ist nur immer so ein Schreck…«

»Wollen Sie sich einen Augenblick setzen?«, fragte Sara. »Sehen Sie nur, da vorn ist eine Bank.« Sie war normalerweise nicht unbedingt der hilfsbereite Typ, aber in diesem Fall hatte sie ganz automatisch gehandelt, damit die Frau nicht stürzte. Jetzt allerdings war es eher dieser attraktive Dunkelhaarige mit den grünen Augen, der sie daran hinderte, ihren Weg fortzusetzen.

Er schenkte ihr ein anerkennendes Lächeln, das sie bereitwillig erwiderte. Gemeinsam brachten sie die Frau zu der Bank, wo sie sich noch einmal bei ihnen bedankte.

»Das war die gute Tat für heute«, sagte der Dunkelhaarige im Weggehen zu Sara. »Aber lassen Sie sich nur nicht hindern, ihr noch weitere folgen zu lassen, falls es sich anbietet.«

»Danke, gleichfalls«, erwiderte Sara. Warum fragte er sie nicht, wie sie hieß und wo sie wohnte? Wie sollten sie einander wiedertreffen, wenn er nichts von ihr wusste? Noch während sie überlegte, ob sie von sich aus die Initiative ergreifen und sich vorstellen sollte, sagte eine Stimme hinter ihr: »Guten Tag, Frau von Isebing. Ich schaue nachher mal bei Ihnen vorbei!«

Sie drehte sich um und erkannte eine gute Kundin, die sie nun ebenfalls mit Namen begrüßte. Als sie sich danach wieder dem Dunkelhaarigen zuwandte, lag auf dessen Gesicht ein amüsiertes Lächeln, das sie sich nicht erklären konnte. »Was ist so komisch?«, fragte sie.

Sofort blickte er ganz ernst. »Sie werden es erfahren, aber nicht heute«, antwortete er. »Und jetzt muss ich mich leider verabschieden, ich bin in Eile. Auf Wiedersehen, einen schönen Tag noch!« Er nickte ihr noch einmal freundlich zu und ging.

Sie sah ihm enttäuscht nach, während sie darüber nachdachte, was er mit seinen letzten Worten hatte sagen wollen – bis ihr einfiel, dass er ja ihren Namen gehört haben musste. Also konnte er auch ihre Telefonnummer herausbekommen und sie anrufen…

Plötzlich wieder bester Laune, machte sie sich auf den Weg zur Salatbar. Diese Woche hatte wahrhaftig gut angefangen!

*

»Und wenn Sie eine Kreuzfahrt unternähmen, Frau von Isebing?«, fragte Robert Kahrmann, nachdem er Helena von einem Besuch bei einer Freundin abgeholt hatte. »Das würde Sie auf andere Gedanken bringen, meinen Sie nicht?«

Sie hatte zuvor erneut über ihre Einsamkeit geklagt, die auch durch die Gespräche mit ihrer Freundin nicht gemildert worden war.

»Ich hasse Kreuzfahrten«, erklärte sie unverblümt. »Da sitzt man auf einem Schiff und kann nicht runter, selbst wenn man möchte. Das ist nichts für mich, Robert. Ich brauche meine Freiheit, sonst werde ich verrückt.«

»Dann eben eine andere Reise«, meinte er. »Da hat man immer Gesellschaft.«

»Ich glaube, es geht nicht nur um Gesellschaft, Robert«, erwiderte sie nachdenklich. »Ich brauche jemanden um mich, mit dem ich mich über alles austauschen kann, was mich bewegt. Mein Mann war so ein Mensch, er fehlt mir noch immer.«

»Mir auch«, erklärte er. »Wissen Sie noch, wie er mich einmal fürchterlich angeschnauzt hat, weil er dachte, ich hätte eine Beule in den Wagen gefahren und wäre zu feige, zu meiner Tat zu stehen?«

Helena musste lachen. »Natürlich weiß ich das noch! Es hat sich dann herausgestellt, dass es einer von unseren Gästen war, der nachts noch eine kleine Spritzfahrt unternommen hat – heimlich. Aber mein Mann hat sich bei dir entschuldigt, oder?«

»Nach allen Regeln der Kunst«, erklärte Robert. Er war froh, dass es ihm gelungen war, Helena abzulenken. In letzter Zeit machte er sich Sorgen um sie, weil sie immer öfter den Kopf hängen ließ. Das kannte er nicht von ihr, sie war eigentlich eine sehr couragierte Person, die sich nicht leicht unterkriegen ließ.

Er half ihr aus dem Wagen und geleitete sie bis zum Haus, obwohl sie versuchte, ihn daran zu hindern. »Behandele mich bitte nicht, als wäre ich krank, Robert!«

»Das tue ich nicht«, behauptete er, »ich bin nur vorsichtig.«

»Übervorsichtig!«, erklärte sie. »Nun lass mich schon los, du musst doch noch den Wagen in die Garage fahren.«

Er hatte den Wagen noch nicht erreicht, als er einen spitzen Schrei aus dem Inneren des Hauses hörte, gefolgt von lautem Gepolter. Erschrocken machte er auf dem Absatz kehrt und rannte zur Haustür, die noch offen stand.

Helena von Isebing lag am Fuß der breiten Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

»Frau von Isebing, was ist denn passiert?«, fragte Robert, als er versuchte, ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie schrie jedoch auf und sackte wieder zusammen.

Tränen standen in ihren Augen. »Ich war schon halb oben, hatte aber etwas vergessen«, flüsterte sie. »Und dann muss ich eine Stufe übersehen haben, als ich wieder nach unten gehen wollte – ich bin die halbe Treppe hinuntergefallen.«

Robert holte ihr ein Kissen und eine Decke, damit sie besser liegen konnte, dann rief er die Notrufnummer an. Eine Stunde später wussten sie, was passiert war: Helena hatte sich einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen.

*

»Wie geht es ihr?«, fragte Marianne am nächsten Tag, als Ludwig nach Hause zurückkehrte. Er war sofort losgefahren, um seine Mutter im Krankenhaus zu besuchen, nachdem Robert Kahrmann ihm mitgeteilt hatte, was passiert war.

»Wie heißt die Floskel? ›Den Umständen entsprechend gut‹ – das ist jedenfalls das, was die Ärzte sagen. Jetzt liegt sie erst einmal im Krankenhaus, aber da will sie natürlich nicht bleiben, Nana. Sie hat geweint, ich erkenne sie kaum wieder. Sie wirkt so mutlos – so, als wäre nach diesem Sturz ihr Leben zu Ende. Herr Kahrmann sagte mir, dass das schon eine ganze Zeitlang so geht. Sie vermisst meinen Vater, sie ist zu viel allein…«

»Wenn wir Platz hätten, könnte sie zu uns ziehen«, sagte Marianne zögernd. »Ich weiß zwar nicht, ob das gut für uns alle wäre, aber…«

»Nein, das wäre es nicht«, erklärte Ludwig. »Du kennst doch meine Mutter, sie ist viel zu eigensinnig. Und wenn nicht alles nach ihrem Kopf geht, kann sie ganz schön grantig werden. Sie sagt das ja selbst.«

»Aber wenn sie sich einsam fühlt, müssen wir uns etwas einfallen lassen, Ludwig. Das wird ja, so lange sie ans Bett gefesselt ist, noch schlimmer sein.«

»Ich weiß«, erwiderte er bedrückt.

Charlotta kam herein. »Wie geht es Omi?«, fragte sie.

Ludwig wiederholte, was er bereits Marianne erzählt hatte und schloss mit den Worten: »Vielleicht kann sie eine Zeitlang zu uns kommen, so lange sie bettlägerig ist. Ich muss darüber noch einmal nachdenken.«

»Omi hierher?«, fragte Charlotta. »Nie im Leben, Papa. Eher geht sie in den Hungerstreik. Sie liebt ihr Haus und will da nicht weg.«

»Kann sein, dass du Recht hast«, gab er zu. »Noch haben wir ja ein wenig Zeit zum Nachdenken. Sie muss mindestens zwei Wochen im Krankenhaus bleiben, so lange können wir ohnehin nichts tun.« Er stockte. »Was ist mit Armin?«, fragte er seine Frau. »Meinst du, ich sollte ihm absagen?«

»Warum fragst du ihn nicht? Du wirst sicher öfter mal zu deiner Mutter fahren zwischendurch, aber du und er, ihr müsst ja nicht ständig zusammenhocken, oder? Von mir aus kann er ruhig kommen – und für dich wäre es vielleicht auch nicht schlecht, wenn du ein wenig Abwechslung hättest. Du hast dich doch auf diesen Besuch gefreut.«

»Das schon, ja, aber ich rufe ihn doch lieber an und schildere ihm die Lage.«

»Ich würde Omi auch gern besuchen«, erklärte Charlotta, als ihr Vater zum Telefonieren ins Nebenzimmer gegangen war. »Von der Arbeit her müsste das eigentlich gehen.«

»Deine Großmutter würde sich sicherlich sehr freuen«, meinte Marianne. »Und vielleicht könntest du bei der Gelegenheit doch einmal vorfühlen, ob sie bereit wäre, wenigstens einige Wochen zu uns zu kommen – so lange, bis sie wieder auf den Beinen ist.«

»Fragen kann ich sie schon, Mama, aber sie wird ablehnen.«

Ludwig kehrte zurück. »Armin möchte auf jeden Fall kommen, wenn es uns nicht stört. Es bleibt also bei unserer Verabredung.«

Marianne lächelte ihm zu. »Das ist gut«, sagte sie. »Charly will zu deiner Mutter, ihr solltet darüber reden, an welchem Tag es am günstigsten wäre.«

»Wenn euer Besuch kommt«, sagte Charlotta schnell. »Das fände ich am besten.«

Sie wartete die Reaktion ihrer Eltern nicht ab, sondern verließ das Haus wieder. Gleich darauf sahen sie sie mit den für sie typischen langen Schritten über den Hof marschieren.

»Darüber hatte sie offenbar schon vorher nachgedacht«, bemerkte Ludwig. »Na ja, mir ist es recht. Dann haben wir wenigstens ein paar ruhige Stunden mit Armin, und du kannst ihn kennenlernen, ohne wegen Charly in Sorge sein zu müssen.«

»Ach, ich bin nicht mehr in Sorge, Ludwig. Sie wird sich unmöglich benehmen, und wir werden es aushalten müssen – so sehe ich das. Wenn dein junger Freund nicht allzu empfindlich ist, wird er sie auch ertragen, oder?«

Er nahm sie in die Arme und gab ihr einen Kuss. Das war seine Art, ihr für ihre Gelassenheit zu danken.

*

Rosalie von Thaden stutzte, als sie im Vorübergehen zufällig den Namen »Isebing« las. Ein Archäologe namens Bernhard von Isebing hielt einen Vortrag über Ausgrabungen in Asien – das Thema interessierte sie. Noch mehr aber interessierte sie der Mann, der ja wohl eines von diesen vielen Kindern sein musste, die Armins neuer Freund Ludwig hatte. Oder vielleicht auch ein Bruder?

Sie beschloss, sich den Vortrag anzuhören. Es konnte ja nicht schaden, sich auf diese Weise zumindest von einem der Familienmitglieder ein Bild zu machen. Bei dem Gedanken, was ihr Bruder dazu gesagt hätte, musste sie lachen. Es hätte ihm, da war sie sicher, nicht gepasst. »Du spionierst!«, hätte er vermutlich gesagt.

Der Vortrag war erst in einigen Stunden, so dass ihr Zeit genug blieb, in Ruhe alles zu erledigen, was sie sich vorgenommen hatte. Sie arbeitete in einem Übersetzerbüro, das im Augenblick leider nicht viele Aufträge zu vergeben hatte. Zum Glück war sie nicht dringend auf regelmäßige Einnahmen angewiesen, aber sie war gern unabhängig und verdiente ihr eigenes Geld. Außerdem machte ihr die Arbeit Spaß. Sie träumte davon, eines Tages einen Roman zu übersetzen, der dann ein Welterfolg wurde.

Sie rief sich zur Ordnung. Im Augenblick musste sie einkaufen, das war viel wichtiger! Sie konzentrierte sich also, arbeitete ihren Zettel ab und kehrte nach Hause zurück. Als sie sich im Spiegel betrachtete, fand sie plötzlich, dass sie sich für den Vortrag von Bernhard von Isebing ruhig ein wenig hübsch machen sollte – warum auch nicht? Natürlich würde sie kein Wort mit ihm wechseln, aber es schadete ja nicht, wenn man gut aussah.

Eine halbe Stunde später verließ sie in bester Laune ihre Wohnung und machte sich auf den Weg zur Universität, denn dort sollte der Vortrag gehalten werden. Sie war schon lange nicht mehr dort gewesen, aber es hatte sich wenig verändert, und so fand sie sich schnell zurecht. Der angekündigte Hörsaal war bereits erstaunlich gefüllt, als sie eintraf. Verblüfft sah sie sich um. Damit hatte sie nicht gerechnet. Normalerweise fanden sich bei solchen »exotischen« Themen doch höchstens ein Dutzend Leute ein! Sie sah, dass ganz vorn noch mehrere Plätze frei waren, und so setzte sie sich dorthin.

»Sind Sie auch ein Fan von ihm?«, raunte ihr eine noch sehr junge Frau zu, die gleich darauf neben ihr Platz nahm.

Rosalie nahm an, dass sie noch studierte. »Von wem?«, fragte sie, obwohl sie sich natürlich denken konnte, wer gemeint war.

»Von Ise natürlich«, hauchte die Frau. Auf Rosalies fragenden Blick hin setzte sie erklärend hinzu: »Wir nennen ihn hier so, Herrn von Isebing, meine ich. Er ist der beste Dozent, den wir je hatten, das schwöre ich Ihnen – und alle Frauen sind in ihn verliebt.«

»Ich kenne ihn bisher nicht«, erklärte Rosalie. »Ich interessiere mich für seinen Vortrag.«

Ihre Nachbarin kicherte. »Echt? Da sind Sie wahrscheinlich die Einzige. Alle anderen kommen nur, weil er so sexy ist.«

Allmählich wurde Rosalie neugierig. Das musste ja ein toller Mann sein!

Als Bernhard von Isebing gleich darauf das Podium betrat, war sie zuerst enttäuscht. »Sexy?« Auffällig gut aussehend war er jedenfalls nicht. Sie hatte sich nach den Beschreibungen ihrer Nachbarin eine Art strahlenden Leinwandhelden vorgestellt und sah nun einen normalen Mann vor sich. Er sah natürlich gut aus, aber nicht blendend. Auch seine Statur fand sie eher normal – sie konnte an ihm beim besten Willen nichts Besonderes entdecken.

Das änderte sich schlagartig, als er anfing zu sprechen. Vom ersten Augenblick an war sie wie elektrisiert, und sie hätte noch nicht einmal sagen können, ob es an seiner Stimme oder an den eleganten Bewegungen seiner Hände lag, mit denen er versuchte, das, was er gerade erzählte, zu unterstreichen. Jetzt endlich verstand sie, was ihre Nachbarin gemeint hatte. Ja, »Ise« war wirklich ein außerordentlich attraktiver Mann, der zudem sein Thema beherrschte. Sein Vortrag war klug aufgebaut, er brachte Spannung hinein und sogar einen gewissen Witz, er schaffte es, seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit auf eine interessante Reise zu nehmen. Sie folgten ihm willig, und als er schließlich endete, wurde er zum Dank mit lang anhaltendem Geklopfe auf die Pulte bedacht.

Rosalie war wie betäubt. Sie sah, wie eine Traube von jungen Frauen sich vorn um den Dozenten scharte, hörte ihre aufgeregten Stimmen, die ihn etwas fragten, hörte ihn ruhig antworten, während sie selbst wie angeklebt auf ihrem Stuhl sitzen blieb. Ihre Nachbarin war ebenfalls nach vorn gestürzt, um dem verehrten Dozenten wenigstens für einige Minuten nahe zu sein und vielleicht sogar ein Lächeln von ihm zu ergattern, und plötzlich wünschte sich Rosalie, zu ihnen zu gehören, denn sie hätte jetzt auch gern da vorn gestanden…

An dieser Stelle erhob sie sich eilig. Es wurde höchste Zeit, dass sie hier verschwand, bevor sie sich zum Narren machte und wie die Studentinnen einen jungen Dozenten anhimmelte. Aus dem Alter war sie wahrhaftig heraus – wenn auch noch nicht lange…

Während sie sich dem Ausgang näherte, spürte sie das unwiderstehliche Verlangen, sich noch einmal umzudrehen und einen letzten Blick auf Bernhard von Isebing zu werfen. Sie tat es – genau in dem Moment, als er sich von seinen Verehrerinnen verabschiedet hatte und in ihre Richtung sah.

Ihr Herz blieb stehen. Dann drehte sie sich wieder um und lief davon.

*

Auf alles war Armin gefasst gewesen, aber nicht auf so einen schmucken Gutshof, auf dem es wundervoll still war, wenn man vom Blöken der Schafe auf der nahe gelegenen Weide und von einem gelegentlichen Wiehern, das aus einem der Pferdeställe drang, absah. In seiner Vorstellung hatte Gut Isebing immer gewimmelt von Menschen, es war laut und ziemlich unordentlich zugegangen.

Eine schmale Frau kam aus dem Haus, mit hellen Haaren, die sie locker aufgesteckt hatte und einem hübschen, wachen Gesicht. Sie lächelte freundlich, als sie sagte: »Sie müssen Armin von Thaden sein, der Besucher, auf den mein Mann sich schon so freut. Ich bin Marianne von Isebing.«

Er staunte sie unverhohlen an – so lange, dass sie schließlich verwundert fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Entschuldigen Sie bitte, gnädige Frau«, bat Armin, »aber ich hatte dermaßen falsche Vorstellungen von allem hier – von dem Gut, von Ihnen…«

»Von mir?«, fragte sie. »Wieso das denn?«

Er lächelte verlegen. »Ich wusste ja nur, dass Sie sieben Kinder zur Welt gebracht haben«, erklärte er. »Und da habe ich halt gedacht, das…, na ja, das würde man Ihnen ansehen.«

Sie lachte auf, so hell und vergnügt wie ein junges Mädchen. »Ich will gar nicht weiter fragen«, erwiderte sie. »Ich kann mir auch so vorstellen, was Sie sich gedacht haben. Aber trösten Sie sich: Sie sind nicht der Einzige, dem es so geht. Kommen Sie bitte herein, um Ihr Gepäck kümmern wir uns später.«

Er folgte ihr ins Haus, noch immer verwundert und auch verunsichert, weil er sich in allem offenbar so sehr geirrt hatte. »Außerdem dachte ich, es müsste hier von Menschen nur so wimmeln«, sagte er.

»Am Wochenende tut es das auch«, erwiderte Marianne. »Aber von unseren Kindern lebt ja nur noch Charlotta, unsere Jüngste, bei uns, und die besucht heute ihre Großmutter im Krankenhaus.«

»Es tut mir sehr leid, dass Ihre Schwiegermutter diesen Unfall hatte«, erklärte Armin. »Geht es ihr besser?«

»Sie ist todunglücklich, das ist das Hauptproblem«, meinte Marianne. »Sie mag nicht im Bett liegen – und schon gar nicht in einem Krankenhaus. Wir haben überlegt, sie zu uns zu holen, so lange sie nicht laufen kann, aber das wird sie nicht wollen.«

»Warum nicht?«, fragte Armin verwundert. »Das klingt doch so, als wäre es eine ziemlich gute Idee.«

»Theoretisch ist es das auch«, antwortete Marianne mit einem Lächeln. »Aber meine Schwiegermutter hat ihren eigenen Kopf.«

Sie wurden von Ludwig unterbrochen, der rief: »Also doch! Ich war nicht sicher, ob du das bist, Armin, der gerade angekommen ist.«

Die beiden Männer begrüßten einander herzlich, Marianne kochte Tee, und dann entspann sich ein lebhaftes Gespräch, in dessen Verlauf Marianne zu der Überzeugung gelangte, dass dieser junge Mann genau so sympathisch war, wie Ludwig ihn ihr geschildert hatte.

Wären sie allein gewesen, hätten sie mit ihm sicherlich wunderbar entspannte Tage verbringen können. Aber abends würde Charly zurückkehren – und dann… Sie verdrängte diesen Gedanken eilig. Vielleicht ging ja ausnahmsweise alles gut und ihre Jüngste benahm sich absolut untadelig?

*

»Es ist lieb, dass du gekommen bist, Charly«, sagte Helena. Blass sah sie aus, noch schmaler war sie geworden, und ihre Haut wirkte beinahe durchsichtig.

Charlotta hatte den Schrecken, der sie beim Anblick ihrer Großmutter durchzuckt hatte, nur mühsam verborgen. »Wie lange musst du denn noch hierbleiben, Omi?«, fragte sie.

Trotz ihrer sichtbaren Schwäche schimpfte Helena so kraftvoll wie eh und je, wenn ihr etwas nicht gefiel. »Die bilden sich wahrhaftig ein, sie könnten mich hier wochenlang festhalten, stell dir das mal vor? Aber das kommt natürlich überhaupt nicht in Frage! Ich gehe so bald wie möglich nach Hause!«

»Du kannst nicht laufen«, gab Charlotta zu bedenken. »Und das heißt, du kannst dir überhaupt nicht allein helfen.«

»Das weiß ich!« Helena funkelte ihre Lieblingsenkelin an, weil sie es gewagt hatte, auszusprechen, was ihr selbst das größte Kopfzerbrechen bereitete. »Aber Robert ist ja auch noch da – und das übrige Personal.«

»Das sind aber keine ausgebildeten Pflegekräfte«, bemerkte Charlotta. »So viel ich weiß, muss man auf vieles Acht geben, wenn ein Mensch bettlägerig ist. Du könntest dich wundliegen oder…«

Helena sorgte mit einer ungeduldigen Handbewegung für ein Ende dieser unerwünschten Ausführungen. »Das kann man lernen!«, schnaubte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass du dich gegen mich stellst, Charly.«

»Das tue ich nicht«, versicherte Charlotta. »Ich sage dir nur, dass es nicht so einfach ist, wie du es gerne hättest. Du hast dich schwerer verletzt, als du denkst.«

Daraufhin fiel Helena sichtlich in sich zusammen, und Charlotta bereute ihre offenen Worte sofort. »Tut mir leid«, sagte sie zerknirscht. »Ich wollte dich nicht entmutigen, Omi, aber es hat auch keinen Sinn, dass du dir Illusionen machst.« Als sie sah, dass in Helenas Augen plötzlich Tränen schimmerten, beugte sie sich über ihre Großmutter und küsste sie liebevoll auf beide Wangen. »Bitte, nicht weinen, Omi. Lass uns lieber überlegen, was wir tun können, damit es dir schnell besser geht.«

»Ich muss hier raus«, murmelte Helena, und dieses Mal klang ihre Stimme so kraftlos, wie sie sich fühlte. »Krankenhäuser haben mich schon immer verrückt gemacht, Charly. Schon als Kind. Allein, wie die hier mit mir reden – ich kann das nicht ausstehen. So, als hätte ich mir nicht den Oberschenkelhals gebrochen, sondern einen Hirnschaden davongetragen. Dieses krampfhaft muntere Auftreten, wenn sie zur Tür hereinkommen…«

»Du übertreibst, Omi«, sagte Charlotta. »Bestimmt sind nicht alle so. Aber ich gebe dir Recht: Es wäre für dich besser, wenn du schnell wieder nach Hause kämst. Mama hatte die Idee, dass du vielleicht für ein paar Wochen zu uns…«

»Nie im Leben!« Schlagartig klang Helena wieder vollkommen gesund. »Nie im Leben, Charly, hast du mich verstanden? Bei euch würde ich verrückt. Ich brauche meinen geordneten Haushalt, in dem jeder weiß, was er zu tun hat – und mich weitgehend in Ruhe lässt. So fühle ich mich wohl.«

»Aber neulich hast du gesagt, dass du dich manchmal ziemlich allein fühlst«, erinnerte Charlotta sie.

»Das stimmt, aber deshalb kann ich nicht mein gesamtes Leben ändern, Kind. Ich hätte gern jemanden im Haus, den ich gerne mag und mit dem ich mich zwischendurch unterhalten kann.«

»Herrn Kahrmann?«, fragte Charlotta. »Aber der wohnt ja schon bei dir.«

Helena lächelte. »Er ist immer für mich da, das stimmt schon, aber es gibt Dinge, über die ich mit ihm nicht sprechen kann, Charly.«

»Ja, aber wer sonst…?«, fragte Charlotta verwundert.

Helena seufzte. »Das ist es ja eben: Für mein Problem gibt es keine Lösung. Ich will nirgends anders hin – und so werde ich allein bleiben müssen. Fertig, aus.«

Über diese Worte dachte Charlotta noch nach, als sie eine halbe Stunde später ins Auto stieg und zurück zum Gutshof ihrer Eltern fuhr.

*

»Man könnte meinen, Sie seien auf der Flucht!«, sagte eine Stimme hinter Rosalie.

Sie blieb stehen und drehte sich um. Das Blut schoss ihr in die Wangen, als sie den Mann erkannte, der ihr offensichtlich gefolgt war: Es war Bernhard von Isebing. »Bin ich nicht!«, behauptete sie.

Er betrachtete sie lächelnd. »Sie waren in meinem Vortrag«, stellte er fest. »Und leider sind Sie hinterher nicht zu mir gekommen, um mir eine lebenswichtige Frage zu stellen.«

»Leider?«, fragte sie verwundert.

»Sie sind mir sofort aufgefallen«, erklärte er. »Sie sind doch keine Studentin, oder?«

»Nein, bin ich nicht. Ich habe schon vor Ihrem Vortrag festgestellt, dass ich offenbar die Einzige im Saal war, die sich für das Thema interessierte. Alle anderen waren offenbar Ihretwegen gekommen.«

Er lachte amüsiert, und sie stellte fest, dass er sehr schöne Augen hatte. »Ja, ich weiß auch nicht, warum gerade ich im Moment so beliebt bin«, stellte er fest. »Das sind so Moden, wissen Sie? Die kommen und gehen. Im nächsten Semester wird es jemand anders sein. Wollen wir eine Kleinigkeit zusammen essen?«

Sie konnte es nicht fassen. Der Schwarm aller Studentinnen fragte sie – ausgerechnet sie! – ob sie mit ihm etwas essen gehen wollte. Sie hörte sich sagen: »Gern«, und wenig später saßen sie einander in einem Restaurant gegenüber, das er ausgesucht hatte und in dem sie noch nie gewesen war. Es sah gemütlich und nicht allzu teuer aus, und sie fragte sich noch immer, wie sie hier eigentlich gelandet war mit diesem Mann, den sie geradezu unverschämt attraktiv fand.

Aber mit der Zeit vergaß sie diese Frage, denn es stellte sich heraus, dass Bernhard von Isebing und sie eine Menge gemeinsamer Interessen hatten, und so entspann sich zwischen ihnen ein lebhaftes Gespräch. Schließlich erzählte sie ihm von ihrem Bruder, und Bernhard begann laut zu lachen. »Das gibt es doch gar nicht!«, rief er. »Der Mann, mit dem sich mein Vater angefreundet hat, ist Ihr Bruder?«

»Ja, und in gewisser Weise bin ich nur deshalb zu Ihrem Vortrag gegangen: Ich bin erst durch den Namen ›Isebing‹ darauf aufmerksam geworden«, gestand Rosalie.

»Dann müssen Sie uns unbedingt an einem der Wochenenden besuchen, an denen er bei uns ist«, schlug Bernhard vor.

»Er wäre sicherlich sehr verwundert«, meinte Rosalie.

»Denken Sie darüber nach«, bat er. »Ich würde mich jedenfalls sehr freuen. Wir könnten zusammen fahren.«

Doch Rosalie zögerte. »So gut kennen wir uns noch nicht«, fand sie.

Seine Augen ruhten nachdenklich auf ihrem Gesicht. »Vielleicht haben Sie Recht«, gab er zu. »Aber ich hätte nichts dagegen, wenn sich das bald ändern würde.«

Sie errötete heftig. Er brachte sie nach dem Essen nach Hause, und zum Abschied umarmte er sie. Halb war sie enttäuscht, dass er keinen Versuch machte, sie zu küssen – halb war sie froh darüber.

Er war eben ein gut erzogener junger Mann!

*

Charlotta blieb in der Tür stehen und betrachtete den Gast ihrer Eltern. Als er aufsah und sie anlächelte, presste sie die Lippen zusammen, um ihm gleich zu zeigen, dass er keine Chance hatte, sich bei ihr einzuschleimen. Was bildete er sich denn ein? Nur weil er zufällig gut aussah und es geschafft hatte, dass ihr Vater ihn mochte, würde sie sich noch lange nicht von ihm beeindrucken lassen!

»Charly, das ist Herr von Thaden«, sagte Marianne in diesem Augenblick. »Herr von Thaden, unsere Jüngste, Charlotta. Sie wird allgemein Charly genannt.«

»Aber nur von Freunden«, erwiderte Charlotta in eisigem Ton.

Marianne und Ludwig wechselten einen bestürzten Blick. Das fing ja gut an.

Armin hatte sich höflich erhoben. »Guten Abend, Frau von Thaden«, sagte er ruhig.

Charlotta machte keinerlei Anstalten, näher zu kommen. Mit verschränkten Armen blieb sie an der Tür stehen und musterte den Gast so feindselig, dass Ludwig sich einschaltete und mit warnendem Unterton sagte: »Setz dich einen Moment zu uns und erzähl uns, wie es im Krankenhaus war.«

Widerwillig kam sie näher, machte jedoch um Armin einen großen Bogen und setzte sich möglichst weit von ihm entfernt auf einen Stuhl. Armin setzte sich erst wieder, als sie Platz genommen hatte. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, was er dachte.

Ohne auch nur einen einzigen Blick in seine Richtung zu werfen, berichtete sie von ihrem Gespräch mit Helena, beantwortete die Fragen, die ihre Eltern ihr stellten und stand dann wieder auf. »Ich muss noch nach den Pferden sehen«, sagte sie und ging wieder.

Draußen blieb sie erst einmal stehen und atmete tief durch. Er war leider nicht der unsympathische Mensch, den sie sich vorgestellt hatte – eher im Gegenteil. Das machte es für sie nicht leichter. Sie hatte ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen gesehen, als sie in weitem Bogen um ihn herumgegangen war – und diese Augen waren von einem intensiven, ziemlich interessanten Grün. Es ärgerte sie, dass ihr das überhaupt aufgefallen war. Und wie er sie angeredet hatte: Frau von Thaden! Das hatte er natürlich mit Absicht getan, weil sie ihm praktisch untersagt hatte, sie Charly zu nennen. Außerdem ärgerte es sie, dass er keinen weiteren Ton von sich gegeben hatte. Aber wahrscheinlich tat er das jetzt: Bestimmt beschwerte er sich bei ihren Eltern über ihr Verhalten.

Bei diesem Gedanken legte sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sollte er doch! Dann kam er wenigstens nicht auf dumme Gedanken, was sie selbst betraf – denn daran wollte sie ihn schließlich hindern. Aus keinem anderen Grund hatte sie sich ihm gegenüber so abweisend verhalten.

Als sie den Stall betrat, atmete sie auf und vergaß Armin von Thaden. Es war so schön, wieder zu Hause zu sein!

*

»Falls du dich fragst, ob Charly etwas gegen dich hat«, sagte Ludwig in die Stille hinein, die entstanden war, nachdem Charlotta die Küche wieder verlassen hatte, »so muss ich leider sagen: Ja, das hat sie. Allerdings nicht gegen dich persönlich, ich hoffe, du glaubst mir das.«

Armin sah ihn interessiert an. »Sag mal, denkt sie vielleicht, ihr wolltet mich mit ihr zusammenbringen?«, fragte er.

»Wie kommst du denn auf die Idee?«, rief Ludwig peinlich berührt.

»Ich weiß nicht. Etwas an ihrem Blick…«, murmelte Armin. »Na ja, ist ja auch gleichgültig. Macht euch meinetwegen keine Gedanken, ich bin nicht empfindlich. Ist sie immer so kratzbürstig?«

»Fast immer«, erklärte Ludwig. »Wir haben schon oft versucht, sie dazu zu bringen, sich anders zu verhalten und auch sich anders anzuziehen – aber die Sache ist aussichtslos. Sie wird sofort fuchsteufelswild, wenn man versucht, ihr Vorschriften zu machen. Das kann sie überhaupt nicht leiden.«

»Ich kann es mir vorstellen«, bemerkte Armin. »Wenn sie nicht mit mir reden will, macht mir das nichts aus.«

»Wirklich nicht?«, fragte Marianne besorgt. »Uns ist das sehr unangenehm, Herr von Thaden…«

Armin winkte ab. »Schon vergessen, gnädige Frau.«

Ludwig sah eine Möglichkeit, das unangenehme Thema zu beenden, und das tat er denn auch: »Gnädige Frau, gnädige Frau«, rief er, »wollt ihr euch nicht duzen, ihr beiden?«

Marianne, die ihn natürlich sofort durchschaute, lächelte amüsiert. »Von mir aus gern«, sagte sie. »Meine Freunde nennen mich Nana.«

»Und ich bin Armin!«

Wenig später holte Armin sein Gepäck und richtete sich in dem engen Zimmer im Erdgeschoss ein, das für ihn vorbereitet worden war. Die weiteren Begegnungen mit Charlotta von Isebing versprachen interessant zu werden – er gestand sich ein, dass er sich jetzt schon darauf freute. Er liebte Herausforderungen, und dies schien ihm eine zu sein.

*

»Und wenn du zu uns kämst, Helena?«, fragte Baronin Sofia von Kant, die es sich nicht hatte nehmen lassen, Helena von Isebing einen Krankenbesuch abzustatten. »Wir haben viel Platz, wir könnten eine Pflegerin engagieren, und…«

Helena winkte ab. »Sehr lieb von dir, Sofia, aber mein Sohn und meine Schwiegertochter haben mich auch schon gefragt, ob ich nicht zu ihnen ziehen will, so lange ich mir nicht selbst helfen kann. Ich habe abgelehnt. Du kennst mich: Ich fühle mich in meinen eigenen vier Wänden am wohlsten.«

»Ja, das kann ich durchaus verstehen«, gab die Baronin zu. »Dann wirst du also eine Pflegerin engagieren und dafür sorgen, dass du möglichst schnell aus dem Krankenhaus entlassen wirst?«

Helena seufzte. »Sie lassen mich noch nicht weg, Sofia. Und eine Pflegerin…, ich weiß nicht. Ich habe nicht gern fremde Leute um mich herum.«

»Aber Herr Kahrmann wäre vielleicht überfordert, oder nicht?«

»Er kann mich natürlich nicht pflegen!«, wehrte Helena ab. »Ich weiß noch keine Lösung, Sofia. Jetzt merke ich erst, wie wichtig mir meine Selbstständigkeit ist. Dass ich sie im Moment verloren habe, macht mir sehr zu schaffen.«

»Du brauchst auf jeden Fall jemanden, der zu dir zieht«, sagte Sofia. »Wir haben ja bei deinem Besuch neulich schon darüber gesprochen. Da hast du gesagt, deine Enkel haben alle keine Zeit. Vielleicht solltest du sie mal fragen.«

Helena machte ein nachdenkliches Gesicht, und Sofia hielt es für besser, das Thema nicht weiter zu vertiefen. Sie konnte ja ohnehin nur Ratschläge geben – was die alte Dame letztlich tun würde, war allein ihre Entscheidung.

»Erzähl mir von euch«, bat Helena. »Das bringt mich auf andere Gedanken. Was machen eure Kinder und Christian?«

Sofia begann bereitwillig mit einem Bericht des Lebens auf Schloss Sternberg, und sie sah voller Freude, dass die Patientin sich tatsächlich ablenken ließ von ihren eigenen Problemen.

Gelöst waren sie dadurch freilich noch längst nicht.

*

»Spricht etwas dagegen, dass ich mich auf eigene Faust mal ein wenig umsehe hier?«, fragte Armin.

»Überhaupt nicht«, meinte Ludwig. »Dann kann ich in der Zwischenzeit ein paar Anrufe erledigen.«

Armin nickte. »Die Arbeit auf dem Gut muss ja weitergehen«, sagte er. »Auch wenn wir wilde Pläne für die Zukunft machen.«

»So wild sind sie nun auch wieder nicht«, fand Ludwig. »Sieh dich um, wo du willst!«

Dieser Aufforderung folgte Armin bereitwillig. Er ging systematisch vor, um zu begreifen, wie Gut Isebing funktionierte – und schon bald war ihm klar, dass er es tatsächlich mit einer Art Musterbetrieb zu tun hatte. Das freute ihn, denn es bestätigte den Eindruck, den er von Ludwig von Isebing gewonnen hatte. Sie würden erstklassig zusammenarbeiten können, das sah er jetzt.

Es dauerte nicht lange, bis er bei seinem Rundgang auf Charlotta stieß, die gerade dabei war, einen der Pferdeställe auszumisten.

Sie sah ihn mit böser Miene an. »Was wollen Sie hier?«, fragte sie. »Laufen Sie mir etwa nach?«

Er fing an zu lachen. »Um Himmels willen, nein, auf diese Idee wäre ich im Traum nicht gekommen. Ich sehe mir das Gut an, und dabei bin ich aus Versehen über Sie gestolpert. Aber keine Sorge, ich bin schon wieder weg. Die Ställe kann ich mir auch ansehen, wenn Sie sich woanders aufhalten.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und ging wieder, noch immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Ludwigs Jüngste war sehr hübsch, auch wenn sie sich die größte Mühe gab, das vor der Umwelt zu verbergen. Allein diese wilden Locken und das süße herzförmige Gesicht… Halt, sagte er dann energisch zu sich, du bist hier, um dich auf deine und Ludwigs Zukunftspläne zu konzentrieren – aus keinem anderen Grund. Lass dich bloß von dieser kleinen Kratzbürste nicht von deinen Zielen ablenken!

Kurz darauf kam er mit einigen der Männer, die auf dem Gut arbeiteten, ins Gespräch, und er fand seine ersten Eindrücke nur bestätigt: Ludwig von Isebing wusste, wie man die Arbeit auf einem solchen Gut organisierte, und wenn er jetzt Pläne hatte, sich auf neue Geschäftsfelder vorzuwagen, dann konnte man davon ausgehen, dass er sich das reiflich überlegt hatte.

Je länger Armin sich umsah, desto besser wurde seine Laune. Er freute sich auf die nächsten beiden Wochen, wenn Ludwig und er endlich Nägel mit Köpfen machen würden.

*

Charlotta wurde immer wütender, je länger sie über die Worte Armin von Thadens nachdachte. »Um Himmels willen, nein, auf diese Idee wäre ich im Traum nicht gekommen«, hatte er auf ihre Frage geantwortet, ob er ihr nachlaufe. Als wäre das so abwegig, dass man nur darüber lachen konnte.

Eigentlich hätte die Antwort sie zufriedenstellen müssen, aber dummerweise tat sie das nicht. Im Gegenteil, sie ärgerte sich darüber. Irgendwie hatte sie sich den Mann und ihr Zusammentreffen mit ihm anders vorgestellt: Er, hatte sie gedacht, würde sich anschleimen, und sie würde ihn nach allen Regeln der Kunst abblitzen lassen, damit ein für allemal klar war, dass sie sich nicht für ihn interessierte, gleichgültig, was ihre Eltern ihm vorher auch gesagt haben mochten.

Und nun lief das überhaupt nicht so. Er schien sich sogar über sie lustig zu machen, jedenfalls wirkte er in keiner Weise interessiert an ihr. Er sah sie nicht einmal an und tat ganz so, als sei es ihm nur recht, wenn er sie nicht sehen musste. Das passte ihr nicht, es passte ihr ganz und gar nicht!

So zornig machten diese Überlegungen sie, dass sie nicht einmal bemerkte, dass ihr Vater schon eine ganze Weile in der Tür stand und ihr mit wachsender Verwunderung zusah. Erst als er sich räusperte und fragte: »Was machst du denn da immer noch, Charly? Es ist doch längst alles sauber?«, fuhr sie herum und hörte endlich auf, den Boden zu schrubben.

Ludwig kam näher. »Ich dachte, Armin wäre vielleicht hier, er wollte sich auf dem Gut ein wenig umsehen, während ich einige Telefonate erledigen musste. Du hast ihn wohl nicht gesehen?«

Sie biss sich heftig auf die Lippen. »Er war kurz hier«, sagte sie dann, ohne ihrem Vater in die Augen zu sehen, »aber er ist gleich wieder gegangen.« Sie wandte sich ab und begann, frisches Stroh auf dem Boden zu verteilen, um ihrem Vater auf diese Weise klar zu machen, dass sie zu tun und keine Zeit für weitere Unterhaltungen hatte.

Ludwig sah ihr noch einen Moment zu, dann ging er.

Erst als er weit genug weg war, hielt sie inne und starrte hinaus in den Hof, wo sich jetzt auch Armin von Thaden einfand, der lächelnd auf ihren Vater zuging. Die beiden schienen sich wirklich großartig zu verstehen! Sie verspürte einen Stich der Eifersucht, als sie die Männer miteinander reden sah. Sie hasste Armin von Thaden. Er war unverschämt, und er schleimte sich bei ihrem Vater ein. Sie wünschte von Herzen, sie wäre ihm nie begegnet!

*

»Nein!«, rief Armin. »Du hast einen von den Isebings kennengelernt, Rosalie?«

»Ja, den Ältesten, Peter. Er ist Dozent hier an der Universität, stell dir das mal vor.«

»Das wusste ich nicht«, gestand Armin. »Ludwig hat mir nur erzählt, dass er Archäologe ist. Wie ist er denn so? Unausstehlich?«

»Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragte Rosalie verwundert.

»Na, seine jüngste Schwester ist eine solche Kratzbürste, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Sie bemüht sich nach Kräften, mich zu vergraulen. Ihren Eltern ist das sehr peinlich, mich amüsiert es eher. Sie benimmt sich wirklich unmöglich, und offenbar sind beide zu schwach, um sie daran zu hindern. Das ist übrigens die einzige Schwäche, die ich bisher an Ludwig feststellen konnte.«

»Was meinst du damit: Sie benimmt sich unmöglich?«, erkundigte sich Rosalie.

Er schilderte ihr einige von Charlottas Bemerkungen, die sie ihm gegenüber gemacht hatte, und Rosalie rief: »Das kann sie so nicht gesagt haben, Armin, das ist doch grob unhöflich!«

»Sie IST grob unhöflich«, erwiderte er. »Ich sagte dir doch, sie versucht mit allen Mitteln, mich zu vergraulen. Vielleicht ist sie eifersüchtig, weil ich mich mit ihrem Vater gut verstehe, aber so leicht werde ich es ihr natürlich nicht machen.«

»Wie sieht sie denn aus?«, erkundigte sich Rosalie. »Ist sie wenigstens hübsch?«

»Im Prinzip schon«, erklärte Armin zögernd, »aber das verbirgt sie geschickt unter Blaumännern, dreckigen Arbeitshosen, weiten Hemden und einer speckigen Mütze, die sie meistens so trägt, dass man weder von ihren Haaren noch von ihrem Gesicht etwas sieht. Make-up benutzt sie nicht, und in normalen Klamotten habe ich sie noch nie gesehen.«

»Klingt ziemlich durchgeknallt«, murmelte Rosalie.

»Das ist vielleicht übertrieben, aber sehr eigenwillig ist sie schon. Ihr älterer Bruder ist also anders?«

»Völlig anders!«, antwortete Rosalie und begann, in einer Weise von Peter von Isebing zu schwärmen, dass Armin gar nicht anders konnte, als sie zu fragen: »Sag mal, hast du dich etwa in ihn verliebt?«

»Vielleicht ein bisschen«, gab sie vorsichtig zu, »aber da alle Studentinnen der Uni in ihn verliebt sind, sollte ich mir in der Hinsicht wohl lieber keine übertriebenen Hoffnungen machen.«

»Du hast doch gesagt, dass er dir gefolgt ist – dir und keiner von seinen für ihn schwärmenden Studentinnen!«

»Das schon, aber was heißt das, Armin?«

Nach dem Telefonat trat Armin nachdenklich ans Fenster und sah hinaus auf den nun im Dämmerlicht liegenden Hof. Charlotta arbeitete noch, er sah sie an einem Wagen herumschrauben. Plötzlich wünschte er sich, einfach hinausgehen und ein wenig mit ihr plaudern zu können – ganz normal, ohne Hintergedanken.

Er wunderte sich selbst über diesen Wunsch, und natürlich gab er ihm nicht nach, sondern blieb, wo er war. Aber er bedauerte es sehr, dass an die Erfüllung eines so harmlosen Wunsches nicht einmal zu denken war.

*

Sara von Isebing war die Erste von den Geschwistern, die am Wochenende auf dem elterlichen Gut eintraf. Ihre jüngere Schwester Charlotta lag wie üblich unter einem Auto, von ihren Eltern und dem Besucher war nichts zu sehen.

»Hallo, Charly«, sagte Sara zu den beiden Beinen, die vor ihr auf der Erde lagen. »Wo sind die anderen?«

»Keine Ahnung«, lautete die Antwort. Charlotta machte keinerlei Anstalten, ihre Arbeit zu unterbrechen, um ihre Schwester zu begrüßen, unbeirrt schraubte sie weiter.

»Wie ist er denn so, der Besucher?«, wollte Sara wissen.

»Grässlich«, lautete die Antwort. »Ich kann ihn nicht ausstehen.«

»Und warum nicht? Papa findet ihn doch toll! Was ist so grässlich an ihm?«

Endlich bequemte sich Charlotta unter dem Auto hervor. Ihre blauen Augen blitzten. »Er hat Mama und Papa total eingewickelt«, erklärte sie aufgebracht. »Und mich grinst er immer nur blöd an, weil er weiß, dass er es bei mir gar nicht erst versuchen muss.«

»Was versuchen?«, fragte Sara.

»Sich einzuschleimen«, erklärte Charlotta.

»Aber was hat er dir denn getan?«, fragte Sara, die nicht verstand, warum ihre Schwester so wütend auf den Gast war. Normalerweise ging sie Fremden einfach aus dem Weg.

Sara bekam keine Antwort mehr auf ihre Frage, denn in diesem Augenblick tauchte Ludwig auf und rief: »Ach, Sara, du bist schon da! Dann kann ich dir ja gleich unseren Gast vorstellen…«

Hinter ihm tauchte ein attraktiver Dunkelhaariger auf, dessen Augen sich, aus der Nähe betrachtet, als grün erwiesen. Saras Herz machte einen Satz. Den hatte sie doch schon mal gesehen?

Er lächelte breit und sagte: »Ich habe Ihnen doch versprochen, dass Sie erfahren würden, was ich so komisch fand bei unserer Begegnung – jemand hat Sie mit Namen angeredet, und das war unmittelbar vor meiner Reise zu Ihren Eltern. Ich bin Armin von Thaden.«

»Die alte Dame!«, rief Sara, als sie ihm die Hand reichte. »Die dieser blöde Radfahrer beinahe umgefahren hätte!«

»Genau«, erwiderte Armin.

Ludwig sah verwirrt von Sara zu Armin. »Ihr kennt euch schon?«, fragte er.

»Kennen ist nicht ganz richtig«, meinte Armin. »Aber wir sind einander schon begegnet.« Er schilderte Ludwig ihr Zusammentreffen in wenigen Sätzen. »Und ich wusste natürlich, dass ich deiner Tochter wiederbegegnen würde.«

Langsam gingen sie zu dritt auf das Haus zu, Charlotta hatten sie vollkommen vergessen. Sie starrte ihnen fassungslos nach, dann schob sie sich wieder unter das Auto.

Es wurde wahrhaftig immer schlimmer.

*

Armin fühlte sich wohl wie ein Fisch im Wasser. Nach und nach waren alle Isebing-Geschwister eingetrudelt, und er hatte nicht lange gebraucht, um sie einzuordnen: Thomas war nett, wenn auch ein bisschen angeberisch; die Zwillinge schwebten in anderen Welten, konnten zwischendurch aber überraschend normal sein; Sara war niedlich, aber naiv und träumte, wenn er sich nicht irrte, von einem attraktiven reichen Mann; Stephanie war tüchtig und patent – und Peter, der Älteste, war ein kluger und ausnehmend sympathischer Mann, der nur drei Jahre jünger war als er selbst.

Wie aber passte Charlotta in diese Geschwisterschar? Ihm war gleich klar, dass sie auch in diesem Verbund die Außenseiterin war. Alle schienen sie zu mögen, zugleich aber gab es eine klare Grenze zwischen ihr und den anderen. Am besten schien sie sich mit Peter zu verstehen, was Armin nicht wunderte. Der Älteste hatte eine ruhige, ausgleichende Art, er schaffte es immer wieder, kleine Spitzen, die vor allem Sara gegen ihre jüngere Schwester losließ, zu entschärfen. Es wunderte ihn nicht, dass Rosalie sich in ihn verliebt hatte.

Von ihr hatte Peter im Übrigen sofort gesprochen. »Ich kenne Ihre Schwester«, hatte er gesagt. Das war alles gewesen, doch Armin rechnete damit, dass er das Gespräch bei Gelegenheit noch einmal auf Rosalie lenken würde – vielleicht, wenn sie unter sich waren und er keine neugierigen Fragen von Seiten seiner Geschwister befürchten musste.

Während er über die Isebings nachdachte, begegnete er Charlottas Blick. Der war so unverhüllt feindselig, dass er nun doch erschrak. Was hatte sie nur gegen ihn? Er wollte ihr doch weder etwas wegnehmen, noch ihr zu nahe treten! Doch sie schien ihn als eine Prüfung zu betrachten, die ihr ein böses Schicksal gesandt hatte.

Er wandte vorsichtshalber den Blick ab, denn sie sah angriffslustig aus, und er hatte an diesem Abend kein Verlangen danach, mit ihr zu streiten. Bisher war nämlich kein Tag ohne Zusammenstoß zwischen Charlotta und ihm vergangen, was er wegen ihrer Eltern sehr bedauerte, denn denen war das schrecklich unangenehm.

»Du hättest dich ruhig umziehen können, Charly«, bemerkte Sara in diesem Augenblick, nachdem sie ihre Schwester eine Weile kopfschüttelnd betrachtet hatte. »Man sollte doch meinen, dass dich wenigstens ein Gast im Haus dazu bringt, dich wie ein gesitteter Mensch an den Tisch zu setzen.«

»Sara«, mahnte Marianne leise, während sie einen besorgten Blick zu Charlotta hinüber warf.

Die war bereits aufgesprungen, wobei sie ihren Löffel so heftig in die Suppe warf, dass diese ringsum auf den Tisch spritzte. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«, herrschte sie Sara an. »Ich mache mich doch auch nicht darüber lustig, dass du angemalt bist wie ein Mondkalb, nur weil du meinst, jemanden beeindrucken zu müssen.« Ein finsterer Blick traf Armin. »ICH jedenfalls habe nicht vor, das auch zu tun!« Sie trat einen Schritt zurück, wobei sie ihren Stuhl umstieß, der polternd zu Boden fiel, und verließ mit langen Schritten das Esszimmer.

»Musste das sein, Sara?«, fragte Ludwig mit leichtem Tadel. »Es wäre taktvoller gewesen, deine Bemerkung unter vier Augen zu machen.«

Sara war rot angelaufen vor Zorn über Charlottas Bemerkung. »Takt nutzt bei Charly überhaupt nichts!«, rief sie erregt. »Das wisst ihr doch ganz genau!«

Peter stand auf. »Ich sehe mal, was Charly macht.« Er blickte Sara nachdenklich an. »Du brauchst nicht jedes Mal auf ihr herumzuhacken, Sara«, sagte er. »Das war völlig überflüssig.« Mit diesen Worten folgte er Charlotta.

»Jetzt bin ich auf einmal die Böse!«, rief Sara, die aussah, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.

»Krieg dich wieder ein«, riet ihr die nüchterne Stephanie ruhig. »Du hast genau gewusst, dass Charly hochgehen würde – wenn du das nicht wolltest, hättest du die Klappe halten müssen.«

»Sehr richtig«, bemerkte Jan beifällig. »Du kannst sie einfach nicht in Ruhe lassen, während Charly dich umgekehrt nie kritisiert, das war heute das erste Mal. Ist dir das noch nicht aufgefallen?«

»Was soll sie denn an mir kritisieren?«, fuhr Sara ihn an. Diese Auseinandersetzung vor dem attraktiven Gast war ihr mehr als peinlich – das war wirklich das Letzte, was sie gewollt hatte.

»Dein perfektes Make-up zum Beispiel – für ein normales Familienabendessen auf einem Gutshof ist es reichlich übertrieben«, erklärte Jan.

Ludwig hielt es nun doch für angebracht, einzugreifen. »Schluss jetzt, bitte«, sagte er. »Ihr seid alle erwachsen, man sollte annehmen, dass ihr euch auch so benehmen könnt.« Er warf Armin einen entschuldigenden Blick zu, stellte jedoch fest, dass sein jüngerer Freund sich offenbar still amüsierte. Jedenfalls sah er nicht so aus, als quälte ihn die familiäre Auseinandersetzung.

Von da an blieb es ruhig. Sara kämpfte noch eine Weile mit den Tränen, beruhigte sich aber, als Armin gutmütig nach ihrer Arbeit fragte. Auch die anderen fingen wieder an, sich zu unterhalten, schließlich hatten sie einander die ganze Woche über nicht gesehen.

Marianne und Ludwig aber tauschten einen bangen Blick. Was war nur in Charlotta gefahren? So wie jetzt hatte sie sich noch nie aufgeführt. Sie schien Armin von Thaden ganz besonders wenig zu mögen, anders war ihr Verhalten kaum zu erklären.

*

»Charly!« So aufgelöst hatte Peter seine jüngste Schwester noch nie gesehen. Sie hatte Tränen in den Augen, erlaubte sich aber natürlich nicht, sie fließen zu lassen, sondern wischte sie mit einer zornigen Geste weg, als sie ihn plötzlich hereinkommen sah. Sie stand vor der Box ihres Lieblingshengstes, er hatte gleich gewusst, dass er sie hier finden würde. »Du kennst doch Sara – wieso regt dich das, was sie sagt, überhaupt noch auf?«

»Weil sie es vor einem Fremden gesagt hat!«, fuhr Charlotta ihn an. »Und weil es ihr Spaß gemacht hat, mich vor ihm zu demütigen. Dabei macht er sich sowieso schon die ganze Zeit über mich lustig, auch ohne dass Sara ihm dabei hilft.«

»Also, den Eindruck hatte ich nun wirklich nicht«, widersprach er. »Ich finde Armin von Thaden sehr zurückhaltend, das muss ich schon sagen.«

»Ja, du!«, sagte Charlotta anklagend. »Du siehst ihn ja heute auch zum ersten Mal, aber ich musste ihn die ganze Woche schon ertragen mit seinem überheblichen Lächeln…«

»Hey!« Er nahm sie in die Arme, obwohl sie sich zunächst sperrte.

Nach einer Weile gab sie nach, bettete ihren Kopf an seine Brust und sagte leise: »Am liebsten würde ich zu Omi fahren. Dann müsste ich sein Grinsen nicht mehr sehen und Saras blöde Bemerkungen nicht mehr hören, und ich käme erst wieder, wenn die Luft rein ist.«

Peter dachte an das, was sein Vater ihm unter vier Augen erzählt hatte: dass Robert Kahrmann ihn verzweifelt angerufen hatte, weil Helena wieder zu Hause war und die engagierte Pflegerin mit ihrem Eigensinn zur Verzweiflung brachte. »Könnten Sie nicht noch einmal mit der gnädigen Frau reden, Herr von Isebing? Wenn die Pflegerin geht, weiß ich nicht, wie wir hier zurechtkommen sollen.«

Laut sagte er: »Das ist eine ziemlich gute Idee, Charly. Omi braucht nämlich Hilfe, und du stehst ihr von uns allen am nächsten!«

»So war das nicht gemeint«, protestierte Charlotta, »ich bin doch keine Pflegerin, Peter! Das könnte ich überhaupt nicht, du kennst mich.«

»Sie hat ja eine Pflegerin«, erwiderte er. »Aber die braucht Unterstützung, wenn ich Mama und Papa richtig verstanden habe. Omi ist nicht gerade einfach im Umgang, wie du weißt. Fahr zu ihr, heitere sie ein bisschen auf – damit schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe. Du tust ein gutes Werk, und du musst, wie du schon festgestellt hast, Armin von Thaden nicht mehr begegnen und Saras spitze Bemerkungen nicht mehr hören.«

»Ach, Sara«, brummte Charlotta. »Die fährt ja am Sonntag wieder. Aber dieser… dieser…«

Er drückte sie an sich. »Hör auf, nach Schimpfwörtern für ihn zu suchen. Er ist ein netter Kerl, auch wenn du ihn nicht leiden kannst, glaub mir. Aber da du nun einmal nicht mit ihm zurechtkommst… Außerdem tut dir vielleicht auch ein Tapetenwechsel mal gut.«

Sie befreite sich aus seiner Umarmung. Was sie erwiderte, wunderte ihn nicht – wenn sie Entscheidungen fällte, dann tat sie es meistens schnell und ohne lange nachzudenken.

»Ich fahre, Peter, und zwar gleich morgen früh!«

*

»Ich kündige!«, sagte Schwester Arnhild mit hochrotem Kopf. »Hier halte ich es keine Sekunde länger aus. Suchen Sie sich jemanden anders!«

»Aber, Schwester Arnhild«, flehte Robert Kahrmann, »bitte, bleiben Sie, wir…«

»Ich bleibe nicht!«, fuhr sie ihn an.

Bereits eine Viertelstunde später hörte er sie die Treppe hinunterpoltern. Er bezahlte ihr, was sie noch zu bekommen hatte und verabschiedete sie höflich, was sie jedoch mit weiteren Verwünschungen quittierte.

Dann ging er zu Helena, die wie ein Häufchen Elend in ihrem Bett lag, Tränen in den Augen. Vor zwei Tagen war sie auf eigene Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassen worden, nachdem er Schwester Arnhild für die häusliche Pflege gefunden hatte – doch von Anfang an hatte deren Arbeit unter keinem guten Stern gestanden. Helena von Isebing war es nicht gewohnt, dass jemand ihr selbst bei intimsten Verrichtungen half, sie konnte ihre eigene Hilflosigkeit nicht ertragen. Entsprechend unwillig war sie gewesen, zumal Schwester Arnhild eine von der »handfesten« Sorte war. »Ich bin bisher mit jedem Patienten fertig geworden«, hatte sie vorher siegesgewiss erklärt – und nun war sie also gegangen.

»Und jetzt?«, fragte Robert, als er sich neben Helenas Bett setzte. »Jetzt soll ich eine neue Schwester suchen? Aber das wird genauso enden, Frau von Isebing. Ganz abgesehen davon, dass das wahrscheinlich nicht so schnell gehen wird.« Er sah auf die Uhr. »Heute Abend brauche ich nirgends mehr anzurufen, also kann ich erst morgen früh mit der Suche anfangen. Vielleicht müssen Sie doch ins Krankenhaus zurück.«

Eine Träne rollte Helenas Wange hinunter. »Tun Sie mir das nicht an«, bat sie. »Alles, nur das nicht. Ich… ich nehme mich bei der nächsten Schwester ganz bestimmt zusammen, wenn es nur nicht wieder so ein Besen ist wie diese Arnhild.«

Er kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn das Telefon klingelte. Helena war schneller als er – sie hatte sich bereits gemeldet, bevor er auch nur die Hand nach dem Apparat ausgestreckt hatte. Er sah, wie sich ihr Gesicht zu einem Lächeln verzog, als sie den Namen ihrer jüngsten Enkelin rief. »Charly, wie schön, dass du dich meldest!«

Robert wollte den Raum verlassen, doch Helena bedeutete ihm, da zu bleiben, und so wartete er. Es wurde ein äußerst kurzes Gespräch, und er konnte, ohne zu hören, was Charlotta zu sagen hatte, der Unterhaltung mühelos folgen.

»Wunderbar, Kind«, sagte Helena. »Du ahnst gar nicht, wie willkommen du hier bist! Die Schwester ist nämlich soeben gegangen, sie hat es mit mir nicht ausgehalten. Nein, nein, keine Sorge, Robert engagiert eine andere, aber wenn du dann auch noch da bist…«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, sagte sie strahlend: »Das ist ein Wink des Schicksals, Robert! Charly kommt, und sie kann eine ganze Woche bleiben. Ist das nicht einfach wundervoll?«

Robert nickte, obwohl er Helenas Begeisterung nur bedingt teilte. Er hatte Charlotta sehr gern, aber die vernünftige und praktisch veranlagte Stephanie wäre in dieser Situation sehr viel nützlicher gewesen als ihre leicht verwilderte und eigensinnige jüngere Schwester. Doch da er es sich nicht aussuchen konnte, sagte er nur: »Ja, das ist sehr schön und wird Sie vor allem auf andere Gedanken bringen, Frau von Isebing.«

Helena lehnte sich lächelnd in ihrem Bett zurück. »Ja, Robert, das wird es!«, sagte sie mit Nachdruck.

*

»Helena hat Besuch von ihrer jüngsten Enkelin«, berichtete Baronin Sofia am Sonntagmorgen beim Frühstück. »Sie klang so glücklich – ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass sie bettlägerig sein könnte, wenn ich es nicht gewusst hätte.«

»Helena von Isebing?«, fragte Sofias dreizehnjährige Tochter Anna.

Die Baronin nickte. »Ihr wisst ja, dass wir uns Sorgen um sie gemacht haben, aber das scheint nun nicht mehr nötig zu sein. Ich bin sehr froh darüber.«

»Und wie ist sie so, die Enkelin?«, wollte Christian wissen.

»Das kann ich dir nicht sagen, Chris, ich habe Charlotta das letzte Mal gesehen, als sie etwa elf war«, lachte die Baronin. »Aber man erzählt sich, dass sie ein bisschen verwildert ist, das war sie übrigens damals schon. Helena jedenfalls hat sie sehr gern, und das ist die Hauptsache, finde ich.«

»Lade sie doch mal ein, falls sie ein bisschen Abwechslung braucht zwischendurch«, schlug Christian vor. Die Worte seiner Tante hatten ihn neugierig gemacht.

»Gute Idee«, meinte Baron Friedrich beifällig. »Wir können in den nächsten Tagen ja mal mit Helena darüber sprechen.«

»Wie alt ist denn die Enkelin?«, wollte nun der sechzehnjährige Konrad wissen, Annas Bruder.

»Zwanzig«, erklärte die Baronin.

»Fast das richtige Alter für mich«, bemerkte Konrad, der sich gern älter machte als er war.

»Lass das nicht Laura hören«, meinte Anna. »Die wäre bestimmt eifersüchtig.«

»Ach was, da steht Laura drüber«, entgegnete Konrad.

Anna verzichtete auf eine Erwiderung, sie lächelte nur.

Sofia und Friedrich wechselten einen amüsierten Blick. Seit Konrad eine Freundin hatte – eben jene Laura – war er sehr viel umgänglicher geworden. Früher hatte er ständig mit Anna gestritten, jetzt gab es Tage, an denen zwischen den beiden kein einziges böses Wort fiel.

Wenig später verzogen sich die drei Jugendlichen, die beiden Erwachsenen blieben allein zurück. »Es ist fast ein bisschen unheimlich, wenn es so friedlich bei uns zugeht, findest du nicht?«, erkundigte sich Friedrich bei seiner Frau.

Die Baronin lachte. »Mir gefällt es so sehr gut, Fritz, ich sehne mich wahrhaftig nicht nach diesen ewigen Zankereien zurück, das kannst du mir glauben.«

»Ich auch nicht«, versicherte er und vertiefte sich in seine Zeitung, während die Baronin versuchte, sich an Charlotta von Isebing zu erinnern. Doch alles, was ihr dazu einfiel war ein Mädchen mit wildem Haarschopf, das ritt wie der Teufel.

Der kleine Fürst hatte Recht: Sie sollten die junge Dame einladen. Das würde Helena freuen – und Charlotta selbst vielleicht auch.

*

»Ich habe ein schlechtes Gewissen«, sagte Armin am Sonntagabend, als er mit Marianne und Ludwig allein war. »Charly ist nur meinetwegen abgereist, das wollte ich natürlich nicht.«

»Das sehe ich anders«, widersprach Ludwig. »Es war vor allem Saras Schuld, würde ich sagen. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Armin – etwas Besseres hätte im Grunde nicht passieren können: Meine Mutter ist überglücklich, und wir sind mit dieser Entwicklung auch nicht unzufrieden, nicht, Nana?«

Marianne nickte. »Im Gegenteil, Armin«, sagte sie. »Es ist gut für Charly, dass sie mal was anderes sieht. Sie kommt doch sonst nie raus hier.«

»Nie raus?«, fragte Armin. »Wieso denn nicht?«

»Weil sie freiwillig nicht weggeht«, erklärte Ludwig. »Sie ist zwar ruppig, aber sie hat eine empfindsame Seele. Und sie ist schüchtern, sie fürchtet sich vor fremden Menschen.«

»Aber sie kann sich doch nicht für immer hier auf dem Gut verstecken!«, rief Armin.

»Wir wissen das, und wir sagen es ihr auch, aber das will sie nicht hören. Außerdem muss sie natürlich eine Ausbildung machen, wenn sie das Gut eines Tages übernehmen soll.«

»Sie soll also eure Nachfolgerin werden?«

»Ich wüsste nicht, wer es besser könnte als sie«, antwortete Ludwig. »Sie ist hier zu Hause, Armin, sie kennt alles, im Grunde weiß sie auch schon alles – nur das Geschäftliche muss sie noch lernen. Aber mit Tieren macht ihr niemand etwas vor – und mit Motoren auch nicht. Was meinst du, was wir allein an Werkstattkosten sparen, weil Charly alles selbst repariert?«

»Ich kann es mir denken«, erwiderte Armin.

»Wir wollen, dass sie zuerst eine Ausbildung macht, und das will sie bisher nicht. Aber natürlich muss sie betriebswirtschaftliche Grundlagen haben, wenn sie ein Gut führen will.«

Armin nickte nachdenklich. »Würdet ihr mir bitte eine Frage offen und ehrlich beantworten?«

»Welche?«, fragte Marianne.

»Was hat sie gegen mich? Warum hat sie sofort die Krallen ausgefahren, als ich gekommen bin?«

»Das war unsere Schuld«, gestand Marianne. »Wir hatten die Vorstellung, dass ihr beide gut miteinander auskommen solltet, wenn ihr, Ludwig und du, jetzt mit gemeinsamen Geschäften anfangt und Charly eines Tages hier die Chefin wird – aber sie hat unsere vorsichtigen Sätze in den falschen Hals bekommen und zwar gründlich.«

»Sie hat gedacht, was du ja neulich auch schon vermutet hast«, setzte Ludwig niedergeschlagen hinzu, »dass wir sie nämlich mit dir verkuppeln wollten. Natürlich haben wir gesagt, sie solle vielleicht etwas mehr auf ihr Äußeres achten, damit du nicht gleich einen Schrecken bekommst, wenn du sie siehst – aber, wie gesagt, das hat sie völlig falsch verstanden.«

»Dann verstehe ich immerhin, warum sie sich so bemüht hat, mich vor den Kopf zu stoßen«, bemerkte Armin lächelnd. »Macht euch nur keine Sorgen, ich mag sie trotzdem, denn natürlich ist mir aufgefallen, was sie hier auf dem Gut leistet.«

»Ehrlich?«, fragte Ludwig erleichtert. »Du bist ihr nicht böse?«

»Überhaupt nicht«, versicherte Armin. »Ich hoffe, dass wir irgendwann einmal gemeinsam über unsere ersten Begegnungen lachen können.«

»Na, ob es dazu jemals kommt?«, fragte Ludwig skeptisch.

»Erst einmal sicher nicht«, erwiderte Armin, »denn sie wird sich ja wohl nicht wieder zu Hause blicken lassen, so lange ich hier bin, nicht wahr?«

»So hat sie es zumindest gesagt, und eine Woche sollte sie es bei meiner Mutter schon aushalten«, meinte Ludwig. »Von uns aus gerne auch länger, denn meine Mutter braucht jemanden im Haus, das wissen wir schon lange, aber bisher haben wir keine Lösung gefunden. Sie und Charly sind einander ähnlich.«

»Und trotzdem kommen sie miteinander aus?«, fragte Armin verwundert. »Oft ist es doch so, dass Menschen, die sich zu sehr ähneln, ständig in Streit geraten.«

»Ach nein, das ist bei den beiden weniger zu befürchten«, sagte nun Marianne. »Wir rechnen eher damit, dass Charly schnell Heimweh bekommt und zurückkommen will, während meine Schwiegermutter sie sicherlich am liebsten so lange wie möglich bei sich behielte.«

»Wir müssen es abwarten«, brummte Ludwig. »Du, Armin,

musst dir jedenfalls keine Vorwürfe machen, du hast Charly wahrhaftig nichts getan.«

Armin widersprach seinem älteren Freund nicht, aber er sah das ein wenig anders. Er hatte Charlotta absichtlich mit Nichtachtung gestraft, und er wusste durchaus, wie das auf sie gewirkt haben musste. Aber sie hatte ihn auch geärgert und gereizt durch ihr Verhalten. Jetzt bedauerte er, dass er sich von ihr hatte provozieren lassen.

Denn zugleich fand er sie ja sehr interessant, und nichts wünschte er sich sehnlicher, als die Charlotta zum Vorschein kommen zu sehen, von der er annahm, dass sie unter ihren schlechten Manieren und ihrer Männerkleidung verborgen sein musste. Ob ihm das eines Tages gelingen würde?

»Wollen wir wieder an die Arbeit gehen?«, fragte Ludwig. »Wir haben noch eine Menge zu tun, Armin.«

»Das kann man wohl sagen!« Armin war erleichtert, als sie sich wieder auf die vor ihnen liegenden Pläne konzentrierten. Das war bedeutend einfacher, als sich über Charlotta und seine seltsam widersprüchlichen Gefühle ihr gegenüber klar zu werden.

*

»Hier läufst du nicht so herum wie bei euch zu Hause!«, sagte Helena sehr bestimmt. So froh sie war, Charlotta bei sich zu haben, so wenig war sie gewillt, ihrer Enkelin alles durchgehen zu lassen. »Wir sind hier in der Stadt, ich bekomme Besuch, dieser Besuch wird dich sehen – und ich habe nicht die Absicht, mich deinetwegen zu genieren, Charly. Außerdem wirst du hier keine Autos reparieren und keinen Stall ausmisten, also brauchst du dich auch nicht entsprechend anzuziehen.«

»Ich habe nur Jeans und T-Shirts«, sagte Charlotta störrisch. »Außerdem bin ich ja nur ein paar Tage hier, Omi, da wirst du doch wohl kaum annehmen, dass ich mir dafür eine neue Garderobe kaufe, oder?«

»Doch, genau das nehme ich an, weil ich dir diese Garderobe nämlich schenken werde«, erklärte Helena. »Außerdem hoffe ich sehr, dass du nicht nur ein paar Tage hier bleibst, sondern ein wenig länger, weil das nämlich mein sehnlichster Wunsch ist. Deine Anwesenheit macht mich glücklich, mein Kind!«

»Omi, ich muss doch zurück…«

»Weil sonst das Gut zusammenbricht?«, fragte Helena. »Dein Vater hat mir versichert, dass er eine Weile auch ohne dich zurechtkommt. Aber ICH komme nicht ohne dich zurecht, das hast du doch wohl schon begriffen, oder?«

Charlotta nickte zögernd. Zwar gab es jetzt zwei sehr nette Krankenschwestern, die einander abwechselten bei der Pflege – aber es kam immer öfter vor, dass Charlotta sagte: »Lassen Sie mich das machen, ich weiß, wie meine Großmutter es am liebsten hat.«

Tatsächlich erwies sich Charlotta als durchaus begabte Pflegerin. Zu ihrem Vater hatte sie am Telefon gesagt: »Ich gehe mit ihr um wie mit Eduard, wenn er bockig ist, Papa, das klappt wunderbar.« Ludwig hatte sich am anderen Ende der Leitung beinahe verschluckt vor Lachen, aber seine Tochter hatte es ganz ernst gemeint.

»Aber ich hasse es, Klamotten einzukaufen«, sagte sie. »Ich mag diese Läden nicht, und…«

»Keine Läden«, lächelte Helena. »Nachher kommt eine reizende junge Dame mit einem Auto voller Kleidung, und das wirst du hier unter meinen und ihren Augen anprobieren, Schätzchen.«

»Omi!« Charlotta hätte nicht entsetzter aussehen können, aber Helena ließ sich nicht erweichen.

»Reg dich gar nicht erst auf, denn es nützt dir sowieso nichts, Charly! Außerdem darfst du, wenn wir beide allein sind, weiterhin so herumlaufen, wie es dir beliebt, das verspreche ich dir.«

»Du legst mich herein«, beklagte Charlotta sich. »Du bist krank und schonungsbedürftig, und das nutzt du aus, um mich unter Druck zu setzen. Findest du das nett von dir?«

»Nicht besonders«, gab Helena zu, »aber ich habe keine Wahl, denn ohne Druck wirst du dich niemals anders kleiden als jetzt, habe ich Recht?«

Widerwillig nickte Charlotta.

Und dann kam die angekündigte junge Dame mit dem Auto voller Kleider. Robert half ihr, sie ins Haus zu tragen, in Helenas Zimmer. Die junge Dame hieß Esther Waldorf und erwies sich als völlig normale junge Frau, die zu Charlottas Freude sogar Jeans und T-Shirt trug, worin sie allerdings, anders als Charlotta, elegant aussah.

»Hallo, ich bin Esther«, sagte sie zur Begrüßung und drückte Charlotta kräftig die Hand. »Wollen wir gleich loslegen? Ihr Großmutter sagte mir, Sie brauchen eine völlig neue Garderobe.«

»Omi!«, rief Charlotta anklagend. »Ich BRAUCHE überhaupt nichts! Du willst, dass ich Kleidung kaufe, das ist etwas völlig Anderes.«

»Wir fangen mit den sportlich-eleganten Sachen an«, befahl Helena, ohne auf den Einwurf ihrer Enkelin zu achten. Und so begann »die Modenschau«. Wann es anfing, hätte Charlotta hinterher nicht mehr zu sagen gewusst, aber nach einer bestimmten Zeit merkte sie, dass sie Spaß an der Sache bekam. Ob es daran lag, dass Esther keinerlei Sachen mitgebracht hatte, die ihr nicht gefielen? Jedes einzelne Stück war von schlichter, klassischer Eleganz, es gab nichts Verspieltes oder Niedliches – was Charlotta sofort rundheraus abgelehnt hätte. Aber nein, alles, was Esther ihr präsentierte, war einfach zeitlos schön und dabei doch modisch. Auch an Schuhe hatte sie gedacht – und obwohl sie zierlich wirkten, waren sie keineswegs unbequem.

Schließlich wurde noch Robert dazugerufen, damit auch er seine Meinung kundtat, und sein Gesichtsausdruck machte Charlotta vielleicht am deutlichsten, wie sehr sie sich unter Esthers kundigen Händen verändert hatte. Die junge Frau hatte ihr nämlich kurzerhand die wilde Lockenpracht locker aufgesteckt, was zusammen mit den neuen Kleidern ein völlig neues Erscheinungsbild ergab, und so rief Robert bei Charlottas Anblick aus: »Das glaube ich nicht! Sind Sie das wirklich, Charly?«

Charlotta nickte. Wenn sie ehrlich war, fand sie ihr Spiegelbild selbst ziemlich beeindruckend. Blitzartig schoss ihr der Gedanke an Armin von Thaden durch den Kopf. Was hätte er wohl gesagt, wenn er sie so hätte sehen können? Schade, dachte sie, dass es dazu nicht kommen wird.

»Fein!«, sagte Helena und klatschte in die Hände. Sie sah so gesund aus wie seit langer Zeit nicht mehr, mit ihren rosig angehauchten Wangen und den glänzenden Augen. »Jetzt braucht sie noch einen anständigen Haarschnitt, was meinen Sie, Esther?«

Aber nun legte sich Charlotta quer. »Nein!«, rief sie leidenschaftlich. »Ich ziehe vielleicht mal einen von diesen Röcken oder sogar ein Kleid an, wenn du es unbedingt willst, Omi – aber an meine Haare lasse ich niemanden. Die bleiben, wie sie sind!«

Unerwartet kam ihr Esther Waldorf zu Hilfe. »Sie sind wunderschön – und wenn es etwas gebändigter aussehen soll, Frau von Isebing«, sagte sie zu Helena, »dann kann man sie zum Pferdeschwanz binden oder aufstecken. Auch ein lockerer Knoten sähe sicherlich sehr hübsch aus.«

»Aber sie wirken so wild«, murrte Helena. »Können wir sie nicht wenigstens ein bisschen kürzen, Charly?«

Charlotta blieb jedoch hart, und in diesem Punkt setzte sie sich durch.

Als Esther Waldorf sich verabschiedet hatte, lächelte Helena und fragte: »War es nun so schlimm, wie du befürchtet hast?«

»Nein«, gab Charlotta zu. »Aber das kostet doch furchtbar viel Geld, Omi! Und zu Hause ziehe ich die Sachen garantiert nicht an. Du hättest das nicht tun sollen.«

»Doch!«, entgegnete Helena. »Auch wenn du einiges davon vielleicht nie anziehst: Allein dein Anblick war mir die Sache wert, Charly. Ich habe immer gewusst, dass du eine schöne junge Frau bist – aber jetzt habe ich es wenigstens einmal GESEHEN!«

»Du übertreibst«, erwiderte Charlotta verlegen. »Schön bin ich bestimmt nicht.«

»Wenn du das nicht siehst, hast du keine Augen im Kopf, Kind! Geh noch einmal zum Spiegel und sag mir, was du dort siehst. Na? Da steht Charlotta von Isebing, Schätzchen, eine außerordentlich attraktive junge Frau, die sich bisher durch ihr ungehobeltes Verhalten viele Chancen verbaut hat.«

Charlotta fuhr wie der Blitz herum. »Was für Chancen denn? Fängst du jetzt auch auf einmal an, mir zu sagen, dass ich Eindruck auf Männer machen soll?«

»Ach, sagt das jemand?«, wunderte sich Helena.

Aber Charlotta ärgerte sich bereits, dass ihr diese Bemerkung herausgerutscht war. So war sie froh, dass das Telefon ihr Gespräch unterbrach. Rasch nahm sie ihre alten Sachen und verließ das Zimmer ihrer Großmutter, um sich umzuziehen. Als sie in ihre alten Jeans und das ausgewaschene und ausgeleierte T-Shirt schlüpfte, seufzte sie vor Wohlbehagen.

Anders sah sie vielleicht besser aus, aber sie würde bald wieder auf Gut Isebing sein, da war elegante Kleidung vollkommen überflüssig!

*

»Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen, Rosalie«, sagte Peter nach seiner Rückkehr in die Stadt. »Ihr Bruder ist ein sehr sympathischer Mann.«

»Seltsam«, lachte Rosalie, »Armin hat das Gleiche von Ihnen gesagt.«

»Das freut mich«, erklärte Peter. »Was hat er denn sonst noch gesagt?«

»Dass Ihre Schwester seinetwegen zu Ihrer Großmutter geflohen ist. Könnten Sie mir das mal ein

bisschen genauer erzählen? Er will nicht so richtig heraus mit der Sprache.«

»Nicht seinetwegen, eher wegen einer dummen Bemerkung meiner zweitjüngsten Schwester. Sie hat Charlotta vor Ihrem Bruder bloßgestellt, das war nicht nett von ihr.« Er beschrieb die Szene, die zu Charlottas Abreise geführt hatte.

»Das war wirklich nicht nett«, fand Rosalie. »Weshalb hat Ihre Schwester Sara sich so verhalten? Mag sie Charlotta nicht?«

»Manchmal denke ich, es ist Eifersucht, weil Charlotta das Küken ist und noch bei unseren Eltern wohnt. Außerdem ist sie diejenige, die am engsten mit dem Gut verwachsen ist. Vielleicht wollte sich Sara aber auch nur wichtig machen – sie hat einen Hang dazu. Und ich glaube, dass Ihr Bruder ihr gefällt.«

»Und er? Wie reagiert er auf sie?«, fragte Rosalie neugierig. »Davon hat er nämlich nichts erzählt.«

Peter dachte nach. »Also, mir ist nichts aufgefallen«, gestand er endlich. »Ich glaube, er hat überhaupt nicht auf sie reagiert.«

»Überhaupt nicht?«, fragte Rosalie ungläubig. »Ist sie hübsch? Sara, meine ich?«

»Sehr hübsch, ja. Und sie weiß, wie sie das zur Geltung bringen muss, sie arbeitet in einem exklusiven Modeladen.«

»Interessant. Also, mir gegenüber hat er nichts von ihr gesagt.«

»Und wie ist es Ihnen am Wochenende ergangen?«, wollte Peter wissen.

»Ich habe gearbeitet«, erklärte Rosalie wahrheitsgemäß. »Ich hatte am Freitag überraschend noch einen Auftrag für eine eilige Übersetzung bekommen, und die habe ich am Wochenende gemacht – ich hatte ja leider nichts Besseres vor.«

»Kommen Sie nächstes Mal mit mir nach Isebing? Ich schätze, Ihr Bruder ist dann noch da. Meine Eltern habe ich schon gefragt – ohne Wissen Ihres Bruders selbstverständlich – und sie würden sich sehr freuen, Sie kennenzulernen.«

»Aber wir beide kennen uns doch noch gar nicht«, wandte Rosalie ein.

Peter blieb stehen und sah sie an. »Das wird sich aber bis zum nächsten Wochenende noch ändern!«, erklärte er und nahm sie in die Arme.

»He, was machen Sie denn da?«

Er lachte leise. »Wie würden Sie es denn beschreiben?«

»Sie umarmen mich und…« Weiter kam sie nicht, denn er verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. Als er sich von ihr löste, wollte sie etwas sagen, doch mit einem weiteren Kuss hinderte er sie daran – und danach hatte sie kein Bedürfnis mehr zu reden.

Sie überließ sich einfach dem Glück, das so überraschend zu ihr gekommen war.

*

»Hallo!«, sagte Sara zur Armin, als sie am nächsten Wochenende auf Gut Isebing eintraf. »Ich habe schon gehört, dass Sie noch hier sind.«

Er lächelte ihr zu. »Ja, Ihr Vater und ich sind noch nicht ganz fertig geworden mit unseren Plänen, also bleibe ich noch.«

»Es war wahrscheinlich schön ruhig hier – jetzt, wo Charly nicht da ist«, bemerkte Sara in der Hoffnung, ihn zu einer kritischen Bemerkung über ihre jüngere Schwester zu bewegen.

Doch den Gefallen tat er ihr nicht, im Gegenteil. »Ihrem Vater fehlt sie, glaube ich, sehr bei der Arbeit, aber das gibt er nicht zu, weil er froh ist, dass seine Mutter Gesellschaft hat und ihr das offenbar gut tut.«

Das war nicht das, was Sara hatte hören wollen, und so wechselte sie eilig das Thema. »Hätten Sie Lust, mit mir auszureiten – irgendwann an diesem Wochenende? Schließlich können Sie ja nicht immer nur arbeiten.«

»Ich arbeite gern«, erwiderte Armin lächelnd. »Ja, ich würde gern ausreiten, aber das muss ich leider davon abhängig machen, wie Ihr Vater und ich vorankommen – ohne ihn kann ich keine Pläne machen.«

»Oh, keine Sorge, ich rede gleich mit ihm«, sagte Sara und nahm ihre für ein Wochenende beachtlich große Reisetasche aus dem Auto. »Bis später dann!« Sie lief zum Haus, wo sie ihre Eltern begrüßte. »Wir wollen ausreiten, Herr von Thaden und ich«, sagte sie danach zu ihrem Vater. »Es spricht doch nichts dagegen, oder? Er braucht ja auch mal eine Pause, Papa!«

»Natürlich spricht nichts dagegen«, antwortete Ludwig.

Mit hoch gezogenen Augenbrauen sah er Sara nach, die bereits nach oben verschwand, um ihre Sachen auszupacken. »Was sollte das denn?«, fragte er seine Frau. »Meinst du, Armin hat sich bei Sara beschwert, dass er hier zu viel arbeiten muss?«

Marianne schüttelte den Kopf. »Das ist auf Saras Mist gewachsen, da könnte ich wetten«, sagte sie. »Ich glaube, sie hat ein Auge auf ihn geworfen.«

»Auf Armin?«, fragte Ludwig entgeistert. »Die beiden passen doch überhaupt nicht zueinander!«

»Ich glaube nicht, dass Sara das so sieht. Sie findet ihn attraktiv – was er ja auch ist – und so versucht sie, ihn zu erobern. Du kennst doch Sara, sie erprobt ihre weiblichen Reize gern.«

»Noch ein Problem mit einer unserer Töchter«, murmelte Ludwig. »Fehlt nur noch eins mit Anja oder Stephanie…«

»Keine Sorge, da wird nichts passieren«, lächelte Marianne. »Und ich glaube, Armin kann sich selbst ganz gut wehren, überlass das nur ihm.«

»Wehren?«, fragte Ludwig. »Du meinst also nicht, dass er Saras Reizen erliegt?«

»Es sieht bisher jedenfalls nicht danach aus«, erklärte Marianne.

Ludwig, der grenzenloses Vertrauen in die Beobachtungsgabe seiner Frau hatte, verließ halbwegs beruhigt das Haus, um mit Armin ein weiteres Gespräch zu führen – dieses Mal auf einem Spaziergang.

*

Charlotta legte das Telefon zur Seite und dachte nach. Ihr Vater hatte sie angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Armin von Thaden noch länger auf Gut Isebing bleiben würde. »Wir sind schon ziemlich weit mit unseren Plänen, Charly, aber eben noch nicht ganz fertig. Und da wir jetzt Nägel mit Köpfen machen wollen…«

Kurz und gut, er hatte es ihr anheimgestellt, ob sie noch bei Helena bleiben oder zurückkehren wollte. Sie hatte nach einer ganzen Woche Abwesenheit mittlerweile großes Heimweh nach Isebing, und sie hätte gern einmal mit Armin von Thaden ein ganz normales Gespräch geführt – eins, in dem sie ihn nicht angriff und er sie nicht mit überheblichem Lächeln übersah, aber dazu würde es wohl sowieso nie kommen, und deshalb konnte sie genauso gut noch hier bleiben, bei ihrer Großmutter. Helena war in der vergangenen Woche regelrecht aufgeblüht, sie hatte gute Laune, scherzte mit den Krankenschwestern und nahm, trotz ihrer Bettlägerigkeit, sogar zu.

Der Arzt war vollkommen verblüfft gewesen bei seinem letzten Besuch. »Wenn das Ihr Werk ist«, hatte er zu Charlotta gesagt, »dann müssen Sie unbedingt hier bleiben! So gut ist es Ihrer Großmutter ja schon seit Jahren nicht mehr gegangen – und das trotz ihres gebrochenen Oberschenkelhalses!«

Sie würde noch bleiben, diese Entscheidung hatte sie schon während des Gesprächs mit ihrem Vater gefällt, und sie war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie nicht nur aus Liebe zu Helena blieb. Nein, sie hatte, seit sie in Helenas elegantem Stadthaus war, einen neuen Weg beschritten, auf dem sie noch ein wenig sicherer werden wollte. Zunächst war sie durchaus unwillig gewesen, aber mittlerweile trug sie einige von ihren neuen Sachen richtig gern, und es gefiel ihr, wenn sie bemerkte, wie auf der Straße wohlwollende Blicke auf ihr ruhten.

Sehr behutsam hatte zudem Robert Kahrmann es übernommen, ihre Umgangsformen zu verändern. Sie wusste genau, dass er das auf Geheiß ihrer Großmutter tat, und zuerst hatte sie sich einen Spaß daraus gemacht, so zu tun, als verstünde sie ihn nicht. Aber mittlerweile hörte sie auf ihn. Sie bemühte sich, nicht mehr so oft zu fluchen, sie warf sich nicht mehr breitbeinig in einen Sessel, sie lümmelte sich beim Essen nicht mehr quer über den halben Tisch. Es war schon seltsam, dachte sie jetzt, dass ihre Eltern sie seit Jahren vergeblich angefleht hatten, sich an ihre gute Erziehung zu erinnern – und dass sie jetzt hier, bei ihrer Großmutter, plötzlich bereit war, diesen Wunsch zu erfüllen.

Was hatte sich geändert? Sie

wusste es nicht – aber ihr fiel doch auf, dass Armin von Thaden immer öfter durch ihre Gedanken spukte und dass sie sich wünschte, er könnte sie jetzt sehen. Dann würde er immerhin feststellen müssen, dass es nicht nur die grobe und unfreundliche Charly gab, sondern auch noch eine andere, die sich benehmen konnte und bei Bedarf sogar richtig hübsch aussah.

»Charly?« Robert Kahrmann stand in der Tür. »Ihre Großmutter möchte gern mit Ihnen sprechen. Es geht um eine Einladung.«

»Eine Einladung? Für mich? Ich gehe nirgends hin, Robert, ganz bestimmt nicht.«

»Warten Sie es ab«, lächelte er.

Es ging tatsächlich um eine Einladung. »Sofia von Kant hat angerufen«, berichtete Helena ihrer Enkelin.

»Von Schloss Sternberg?«, fragte Charlotta.

»So ist es, ja. Sofia meinte, du brauchtest vielleicht ein wenig Abwechslung von deinem Pflegerinnendasein bei deiner alten Großmutter, und deshalb lädt sie dich zu einem familiären Abendessen nach Sternberg ein. Es kommen nur einige Freunde der Kinder und ein guter Freund von Friedrich – ich habe ihr nämlich gleich gesagt, dass ich dich sicherlich nicht würde überreden können, wenn es um eine größere Einladung ginge.«

»Du kannst mich auch so nicht überreden!«, sagte Charlotta. »Ich will hier bleiben, Omi.«

»Unsinn!«, erklärte Helena. »Es wird Zeit, dass du unter Leute kommst, damit sich herumspricht, wie schön du bist. Und nettere Menschen als die Schlossbewohner von Sternberg findest du nirgends. Außerdem warst du schon dort, vor ungefähr neun oder zehn Jahren.«

»Ich weiß. Ich glaube, ich habe mich schrecklich benommen«, murmelte Charlotta. »Aber das Fürstenpaar war sehr nett – ihr Sohn war damals noch ziemlich klein, vier oder fünf, glaube ich. Er ist mir immer nachgelaufen. Und dann waren da noch zwei Kinder…«

»Anna und Konrad von Kant«, bestätigte Helena. »Anna ist zwei Jahre jünger als der kleine Fürst, Konrad ein Jahr älter.«

»Der kleine Fürst? Heißt er immer noch so?«, wunderte sich Charlotta.

»Diese Frage habe ich auch gestellt, als ich kürzlich auf Sternberg war«, lächelte Helena. »Ja, die Leute halten an diesem Namen fest. Christian ist übrigens ein sehr netter Junge geworden.«

»Omi, muss das wirklich sein?«, seufzte Charlotta.

»Ja«, erklärte Helena geradeheraus. »Robert fährt dich, das ist schon geklärt. Er übernachtet auch auf Sternberg.«

»Und wie willst du hier ohne uns zurechtkommen? Das geht doch gar nicht.«

»Vorsicht, Vorsicht – mach nie den Fehler, dich für unersetzlich zu halten!«, warnte Helena. »Ich möchte, dass du die Einladung annimmst, hörst du? Und am Sonntag, wenn du zurückkommst, wünsche ich mir einen ausführlichen Bericht von dir. Darauf freue ich mich jetzt schon, und deshalb bin ich bereit, ein paar Stunden auf dich und Robert zu verzichten.«

»Es sind mehr als ein paar Stunden«, bemerkte Charlotta, aber trotz dieses Einwands hatte sie ihren Widerstand bereits aufgegeben.

Es interessierte sie tatsächlich, Schloss Sternberg und seine Bewohner wiederzusehen – und wenn sie gleichzeitig ihrer Großmutter mit diesem Besuch eine Freude machen konnte, warum nicht?

»Also gut, ich fahre«, sagte sie und gab Helena einen Kuss. »Aber weitere Einladungen möchte ich nicht haben, Omi, die eine genügt.«

Als sie das Zimmer verlassen hatte, lächelte Helena. Sie hatte es immer gewusst, dass Charlotta eine Art Rohdiamant war, der nur noch den richtigen Schliff brauchte, um seinen Glanz erstrahlen zu lassen. Nun war es so weit. Marianne und Ludwig würden staunen, wenn ihre Tochter zu ihnen zurückkehrte – und vermutlich würden sie sie kaum wiedererkennen!

*

»Ludwig, meinst du, ich könnte von Samstag bis Sonntag einen kleinen Ausflug machen?«, fragte Armin. »Da ich ja ohnehin noch etwas länger bleibe…«

Ludwig dachte mit Schrecken an seine Tochter Sara. Wollte Armin etwa mit ihr…? Aber die nächsten Worte seines jungen Freundes beruhigten ihn in dieser Hinsicht. »Sofia von Kant von Schloss Sternberg rief mich an. Sie hat ein paar Gäste zu einem Abendessen am Samstag eingeladen – und da ich länger nicht auf Sternberg war, meinte sie, es wäre schön, wenn ich auch käme. Es ist ja nicht allzu weit bis dorthin, also würde ich gerne fahren, aber natürlich nur, wenn du es für vertretbar hältst, dass wir unsere Arbeit ein wenig ruhen lassen.«

»Aber natürlich ist das vertretbar«, erklärte Ludwig. »Grüß bitte herzlich auf Sternberg, meine Mutter steht mit Baronin Sofia und Baron Friedrich in regelmäßigem Kontakt.«

»Tatsächlich?«, fragte Armin. »Die Welt ist doch wirklich klein!«

»Sieh mal, wer da kommt!«

Armin drehte sich um und sah einen Wagen auf den Hof rollen. Gleich darauf stieg eine ihm bestens bekannte weibliche Person auf der Beifahrerseite aus, die ihn verschmitzt anstrahlte. Hinter dem Steuer hatte Peter von Isebing gesessen. »Rosalie!«, rief Armin. »Wieso wusste ich nicht, dass du kommst?«

Ludwig, Rosalie und Peter lachten. »Weil es eine Überraschung sein sollte«, erklärte Rosalie. »Was dachtest du denn?«

Peter stellte sie seinem Vater vor, dann umarmte Rosalie ihren Bruder.

»Die Überraschung ist wahrhaftig gelungen«, meinte Armin und fragte dann besorgt: »Wird das denn hier nicht zu eng, Ludwig?«

»Überhaupt nicht – Charly ist ja nicht da!«, erklärte Ludwig. »Und du weißt doch mittlerweile selbst, dass wir im Notfall einfach ein bisschen zusammenrücken. Ein zusätzlicher Gast findet bei uns immer noch ein Bett – und Marianne und ich waren sehr gespannt darauf, deine Schwester kennenzulernen.«

»Ist Mama im Haus?«, fragte Peter.

»Ja, sie wartet schon auf euch«, erklärte Ludwig.

Armin und er sahen Rosalie und Peter nach. »Er ist in sie verliebt«, raunte Ludwig Armin zu. »Wusstest du das?«

Armin lächelte. »Ich wusste bisher nur, dass sie in ihn verliebt ist«, gestand er. »Wenn das auf Gegenseitigkeit beruht, Ludwig, umso besser!«

Sie wechselten einen verschwörerischen Blick, dann folgten sie dem jungen Paar ins Haus.

*

»Willkommen auf Schloss Sternberg, Charlotta«, sagte Baronin Sofia herzlich. »Du weißt sicherlich nicht mehr, dass wir einander schon einmal begegnet sind, oder?«

»Doch«, erwiderte Charlotta, »ich erinnere mich sogar sehr gut – ich bin einmal mit meinen Eltern hier gewesen, aber das ist schon ziemlich lange her, ich war noch ein Kind. Übrigens kannst du mich gern Charly nennen, Sofia, das tut ja sowieso jeder.«

Sofia betrachtete sie nachdenklich. »Aber der Name passt gar nicht mehr zu dir, will mir scheinen. Damals warst du ein sehr wildes Kind – ein verhinderter kleiner Junge, wenn ich mich recht erinnere.«

Charlotta errötete. »Das war ich bis vor kurzem immer noch. Aber meine Großmutter hat gesagt, sie will sich nicht schämen müssen, wenn ich ihren Bekannten und Freunden begegne.«

»Das hat sie gesagt?«, wunderte sich Sofia. »Das sieht ihr gar nicht ähnlich, finde ich.«

»Na ja, wenn du mich gesehen hättest«, lächelte Charlotta. »Da waren deutliche Worte wohl angebracht. Ich weiß auch nicht, warum ich darauf bestanden habe, immer wie ein Dorftrampel aufzutreten – ich glaube, zumindest in den letzten Jahren hatte das auch mit meiner Schwester Sara zu tun. Die schminkt sich sogar, wenn sie zum Einkaufen geht, und immer muss alles ganz genau zueinander passen. Das ist mir so auf die Nerven gegangen, dass ich wohl irgendwann beschlossen habe, das Kontrastprogramm zu ihr aufzustellen.«

Sie schwieg einen Moment, dann setzte sie hinzu: »Außerdem bin ich wohl von Natur aus ziemlich wild, und ich fand es als Kind immer sehr langweilig, mich wie ein Mädchen benehmen zu müssen. Das habe ich dann auch nicht getan – aber später eben auch nicht, als ich die wilden Jahre eigentlich hätte hinter mir lassen sollen.«

»Also, schämen muss sich deine Großmutter deinetwegen ganz sicher nicht, wenn du mir diese Bemerkung erlaubst«, lächelte Sofia. »Du siehst ganz bezaubernd aus, Charly.«

Die Röte auf Charlottas Wangen vertiefte sich. »Das höre ich in den letzten Tagen öfter – nachdem es zwanzig Jahre lang niemand gesagt hat, Sofia. Das ist eine sehr merkwürdige Erfahrung.«

»Aber doch keine unangenehme, oder?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Wie geht es Helena?«, erkundigte sich die Baronin. »Wir haben einige Male mit ihr telefoniert. Zu Beginn haben wir uns durchaus Sorgen um sie gemacht, aber wir hatten den Eindruck, dass sie auflebt, seit du bei ihr bist.«

»Ja, so ist es auch«, bestätigte Charlotta, »und das freut mich natürlich. Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich mich nicht auf unserem Gut nützlich, sondern in einem gepflegten Haushalt, und jemand freut sich einfach darüber, dass ich da bin. Und dass sich mein Äußeres jetzt verändert hat, freut meine Omi auch. Der Arzt hat neulich gesagt, so gut hätte sie schon lange nicht mehr ausgesehen.«

»Dein Verdienst«, lächelte Sofia, wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Aber du wirst ja nicht für immer bleiben, nicht wahr?«

»Nein, das kann ich nicht. Ich vermisse das Gut, und ich bin sicher, mein Vater vermisst mich auch, weil ich dort für vieles längst ganz allein zuständig bin. Es fällt ihm bestimmt nicht leicht, meine Arbeitskraft zu ersetzen. Es ist ein schönes Gefühl, hier wie dort gebraucht zu werden – das gefällt mir schon. Aber du hast Recht: Ich denke nicht gern daran, wie es wird, wenn meine Großmutter wieder allein lebt. Sie braucht jemanden, der bei ihr ist und Zeit für sie hat. Wir sitzen manchmal nur da und reden. Das hat ihr gefehlt vorher. Sie will leider unbedingt in ihrem Haus bleiben, sonst könnte man viel leichter eine Lösung finden.«

»Rede noch einmal mit ihr«, riet Sofia.

Sie wurden von Anna und Christian unterbrochen, die neugierig auf den Besuch waren. Anna, die selten ein Blatt vor den Mund nahm, sagte enttäuscht: »Du siehst überhaupt nicht wild aus!«

Charlotta lachte, begrüßte die beiden herzlich und erzählte noch einmal in Kurzform von ihrer gerade erst abgeschlossenen Verwandlung. Dann kramte sie in ihrer Tasche und zog einige Fotos heraus. »Hier, bitte schön. Auf dem Bild da bin ich zehn – und sehe aus wie ein Junge, oder? Und das Bild hier wurde erst vor sechs Wochen aufgenommen. So sah ich aus, bevor ich zu meiner Großmutter gefahren bin.«

»Das bist du?«, rief Anna ungläubig. »Du verkohlst uns, Charlotta!«

»Charly – bitte, sagt Charly zu mir. Dieser Name wenigstens soll mir bleiben, wo sich schon mein Äußeres so verändert hat.«

Auch der kleine Fürst betrachtete die Fotos voller Interesse. »Wieso hast du dich denn auf einmal so verändert?«, fragte er dann. »Normalerweise macht man das doch nur, wenn man verliebt ist.«

Erstaunte Blicke von seiner Tante und seiner Cousine trafen ihn, während Charlotta ihre Verlegenheit hinter einem Lachen zu verstecken suchte.

»Woher weißt du denn solche Dinge?«, erkundigte sich Sofia interessiert. »Ich wusste gar nicht, dass du Experte auf diesem Gebiet bist, Chris.«

Nun war es an Christian, verlegen zu werden, und so fiel es gar nicht mehr auf, dass sich Charlottas Gesichtsfarbe erst nach und nach wieder normalisierte.

»Ich bin kein Experte!«, wehrte er ab. »Ich habe das nur mal irgendwo gelesen.«

»Jedenfalls bin ich nicht verliebt«, erklärte Charlotta endlich. »Ich habe mich meiner Großmutter zuliebe verändert – und weil ich irgendwann, als der Anfang einmal gemacht war, selbst Spaß daran hatte.«

»Und bleibst du jetzt so?«, wollte Anna wissen. »Oder wirst du bald wieder so aussehen?« Bei diesen Worten tippte sie auf das einige Wochen alte Foto.

»Mal sehen, ob ich in alte Gewohnheiten zurückfalle«, meinte Charlotta. »Aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich fühle mich nämlich jetzt sehr wohl in meiner Haut.«

Eberhard Hagedorn, der langjährige Butler auf Sternberg, erschien an der Tür.

»Ihr Gepäck ist oben in Suite Nr. 5, Frau von Isebing«, sagte er höflich. »Soll ich für Sie auspacken oder möchten Sie das selbst übernehmen?«

»Vielen Dank, Herr Hagedorn, aber das mache ich selbst«, erklärte Charlotta und stand auf. »Ich würde gern noch ein Bad nehmen, bevor der offizielle Teil des Abends beginnt«, erklärte sie. »So viel Zeit habe ich doch noch?«

»Aber ja«, versicherte die Baronin.

Als Charlotta sich zurückgezogen hatte, ging Sofia ebenfalls nach oben in ihre Privaträume, um sich für den Abend zurechtzumachen.

*

Friedrich umarmte Armin herzlich. »Schön, dich wiederzusehen, Armin.«

»Danke gleichfalls, Fritz. Ich bin auch froh, wieder einmal hier zu sein. Es kommt mir so vor, als wäre Sternberg seit meinem letzten Besuch noch schöner geworden. Kann das sein?«

»Wir mussten einiges machen lassen, und der Park wurde teilweise umgestaltet – aber sonst ist alles wie immer. Lass dein Gepäck im Wagen, Herr Hagedorn wird sich darum kümmern.«

»Ich bin ein bisschen spät«, entschuldigte sich Armin, »das tut mir leid, aber ich bin nicht früh genug weggefahren. Wir konnten uns nicht von unserer Arbeit losreißen, Ludwig von Isebing und ich.«

Friedrich blieb stehen. »Ludwig von Isebing?«, fragte er. »Helenas Sohn? Warst du bei ihm, als wir dich angerufen haben?«

»Ja, hatte ich das nicht erwähnt?«

»Nein. Ich hatte es bei dir zu Hause versucht, und erst als ich dich dort nicht erreicht habe, habe ich es auf deiner Mobilfunknummer probiert. Was hast du denn mit Ludwig von Isebing zu tun?«

Lebhaft fing Armin an zu erzählen, und da sich der Baron sehr für die Pläne interessierte, die Armin und Ludwig schmiedeten, vergaß er zu erwähnen, dass eine von Ludwigs Töchtern an diesem Abend ebenfalls zu den Gästen auf Sternberg gehörte.

So wichtig war das ja auch nicht, schließlich würde Armin sie beim Essen ohnehin sehen. Dieser Ansicht war auch Sofia, als er es ihr wenig später erzählte. »Er kennt sie ja vermutlich gar nicht, Fritz«, sagte sie. »Wenn er erst seit zwei Wochen auf Isebing ist, hat er Charly wohl gar nicht mehr gesehen. So lange ist sie doch bestimmt schon bei Helena. Ach, das wird aber nett, wenn wir die beiden miteinander bekannt machen.«

»Und wer sind nun eigentlich die anderen Gäste?«, erkundigte er sich.

»Annas Freundin Sabrina von Erbach und Konrads Freundin Laura von Wredeburg«, erklärte die Baronin. »Es ist praktisch ein erweitertes Familienessen, mehr Gäste konnte ich nicht einladen, nachdem Helena erwähnt hatte, dass Charly sonst garantiert nicht kommen würde.«

»Warum nicht?«, fragte er erstaunt.

»Sie ist schüchtern, Fritz. Das war sie wohl schon immer, auch als sie noch reichlich ungehörig aufgetreten ist. Helena hat mich noch einmal angerufen, nachdem sie mit Charly gesprochen hatte: Sie musste sie erst überreden, unsere Einladung anzunehmen.«

»Sieh mal an, das hätte ich nicht gedacht. Sie wirkt doch so, als seien solche Einladungen ihr täglich Brot, oder?«

Die Baronin lächelte fein und gab ihrem Mann einen Kuss. »Da siehst du mal, dass man sich auf den äußeren Eindruck nicht verlassen kann, Liebster!«

*

Marianne und Ludwig waren entzückt von Armins Schwester Rosalie – und ebenfalls von der nicht zu übersehenden Tatsache, dass ihr Ältester sich heftig in die reizende junge Frau verliebt hatte.

Auch Peters Geschwister waren angetan von Rosalie, die sich innerhalb kürzester Zeit in der Familie bestens zurechtfand und sich während des Abendessens lebhaft an den Tischgesprächen beteiligte. Die Einzige, die stumm und beleidigt vor sich hin starrte, war Sara. Zwar hatte sie einen kurzen Ausritt mit Armin von Thaden unternommen, aber sie war ihm dabei nicht, wie erhofft, nähergekommen. Und wenig später hatte sie dann erfahren müssen, dass er am Samstagnachmittag abreisen werde, um erst am Sonntag zurückzukehren. So hatte sie sich dieses Wochenende auf dem elterlichen Gut wahrhaftig nicht vorgestellt. Mittlerweile war sie fest entschlossen, seine Rückkehr am kommenden Tag nicht abzuwarten, sondern vorher abzufahren. Vielleicht war er dann wenigstens enttäuscht, sie nicht mehr anzutreffen!

»Was ist dir eigentlich für eine Laus über die Leber gelaufen, Sara?«, fragte Peter in diesem Moment, und es passte ihr gar nicht, dass sich kurzfristig die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie richtete.

»Nichts«, antwortete sie knapp und hoffte, er werde sich damit zufriedengeben.

Doch den Gefallen tat er ihr nicht. »So siehst du aber gar nicht aus«, stellte er fest. »Man könnte meinen, du hättest dich über etwas sehr ärgern müssen.«

»Und wenn es so wäre«, fuhr sie ihn an, »dann würde ich jedenfalls nicht mit dir darüber reden.«

»Sara!«, mahnte Marianne. »Peter hat dir nur eine Frage gestellt – es gibt keinen Grund, ihn daraufhin so anzufahren.«

»Er soll mich in Ruhe lassen, mehr verlange ich gar nicht!«, fauchte Sara.

Ludwig sah, dass Thomas bereits den Mund öffnete, um weiteres Öl ins Feuer zu gießen, doch das verhinderte er mit einem warnenden Blick und einer Frage, die er an Rosalie stellte.

Diese antwortete prompt, und damit war die Harmonie am Familientisch, zumindest äußerlich, gerettet.

*

Charlotta betrachtete sich im Spiegel und dachte an ihre Großmutter. Es war Helena gewesen, die darauf bestanden hatte, dass sie dieses blaue Seidenkostüm auch noch kauften, obwohl ihre Enkelin mehrfach betonte hatte, es fehle ihr an Gelegenheiten, es zu tragen. »So viel Geld, Omi – für ein einziges

Kostüm! Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Und ob das mein Ernst ist, Kind!«

Nun trug sie es also, und sie musste zugeben, dass Helena und Esther Waldorf Recht gehabt hatten: Es stand ihr ausgezeichnet. Es betonte das Blau ihrer Augen und ließ ihre Lockenpracht erst richtig zur Geltung kommen. Sie war dann doch noch bei einem Friseur gewesen, der ihre Haare kaum gekürzt, aber in Form geschnitten hatte. Das Ergebnis war überwältigend gewesen. Hatten ihre Haare vorher häufig widerborstig in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abgestanden, so fielen die dunkelblonden Locken jetzt geschmeidig bis auf die Schultern und bildeten den passenden Rahmen für ihr Gesicht. Sie trug sogar Schuhe mit kleinen Absätzen, auf denen sie mittlerweile einigermaßen gut laufen konnte.

Sie verließ ihre Gästesuite und machte sich auf den Weg nach unten. Aus der Bibliothek hörte sie leises Gemurmel, offenbar tranken Sofia und Friedrich dort bereits einen Aperitif. Die alte Schüchternheit überfiel sie wieder. Aber während sie noch zögernd am Treppenabsatz stand, kamen Anna, Christian und drei weitere Jugendliche in die große Eingangshalle. »Hallo, Charly!«, rief Anna. »Mensch, du siehst ja super aus!«

Erleichtert wandte sich Charlotta den Jugendlichen zu. Die drei, die sie noch nicht kannte, wurden ihr jetzt von Christian vorgestellt: »Das ist Sabrina von Erbach, Annas beste Freundin, dies ist Laura, Konrads Freundin, und das ist mein Cousin Konrad, von uns allgemein nur Konny genannt.«

»Ich freue mich, euch kennenzulernen«, sagte Charlotta, die in lauter freundlich lächelnde Gesichter blickte und ihren kurzen Anfall von Schüchternheit bereits wieder vergessen hatte.

Die Baronin erschien in der Tür der Bibliothek. »Da seid ihr ja alle!«, rief sie erfreut. »Armin, komm her, damit ich dich mit den anderen Gästen bekannt mache!«

Bei dem Namen »Armin« zuckte Charlotta zusammen – und gleich darauf erschien der einzige Mann dieses Namens, den sie kannte, tatsächlich hinter der Baronin. Sie konnte es einfach nicht glauben! War das nun Zufall? Oder steckte Absicht dahinter?

Er lächelte ihr unbefangen zu, dann veränderte sich seine Miene, er trat einen Schritt näher und fragte schließlich unsicher: »Frau von Isebing? Sind Sie das?«

»Ihr kennt euch?«, fragte Sofia enttäuscht. »Und wir hatten uns so darauf gefreut, euch überraschen zu können.«

Armin hatte sich wieder gefangen. »Oh, das ist euch gelungen«, versicherte er. »Überraschter bin ich noch nie in meinem Leben gewesen.« Er lächelte Charlotta verschmitzt zu.

Sie konnte in seiner Miene keinerlei Überheblichkeit entdecken, und so tat sie das Nächstliegende: Sie erwiderte sein Lächeln.

*

»Wie lange kennt ihr euch schon, Peter und du?«, fragte Stephanie, als Rosalie und sie nach dem Abendessen einige Augenblicke lang allein auf der Terrasse standen, um frische Luft zu schnappen.

»Nicht lange«, antwortete Rosalie. »Ich war neulich mal in einem seiner Vorträge, der mir übrigens sehr gefallen hat. Wisst ihr überhaupt, dass sämtliche Studentinnen ihn anbeten?«

»Peter?«, fragte Stephanie erstaunt. »Er ist doch gar nicht der Typ, oder?«

»Dachte ich zuerst auch, aber wenn er anfängt zu reden und Feuer zu fangen für sein Thema, dann ist er hinreißend, das kann ich dir versichern.«

Stephanie musste lachen. »Für mich wird er immer mein ältester Bruder sein, und ich kenne ihn so gut, ich glaube, ich könnte ihn niemals hinreißend finden. Ich erinnere mich einfach noch zu gut daran, wie er mir einmal eine Kröte ins Bett gesetzt und mich ein anderes Mal mit einer langbeinigen Spinne bedroht hat.«

»Das hat er getan?«, fragte Rosalie fasziniert. »Solche Schandtaten hätte ich ihm überhaupt nicht zugetraut. Er wirkt so…, so ruhig und sicher, findest du nicht?«

»Jetzt schon, aber irgendwann war er eben auch mal ein achtjähriger Bengel, dem es gefallen hat, seine jüngeren Geschwister zu tyrannisieren.«

»Wer tyrannisiert hier wen?«, erkundigte sich Peter, der unbemerkt nähergekommen war.

»Wird nicht verraten«, erklärte Stephanie. »Geheimnis unter Frauen, großer Bruder.«

Peter schlang einen Arm um Rosalie und zog sie zu sich heran. »Erzähl es mir«, verlangte er. »Du willst doch bestimmt nicht jetzt schon Geheimnisse vor mir haben!«

Aber Rosalie tat ihm nicht den Gefallen, ihm zu verraten, vorüber sie mit Stephanie gesprochen hatte, und so gab er seine Überredungsversuche schließlich auf. Und als Stephanie sich gleich darauf feinfühlig zurückzog, hatten sie ohnehin Besseres zu tun als sich zu unterhalten.

»Das ist der Nachteil, wenn man seine Familie besucht«, flüsterte Peter zwischen zwei Küssen, »man muss sich anständig benehmen, dabei hatte ich während des ganzen Abends eigentlich nur einen Wunsch: Ich wollte dich küssen, Rosalie.«

Marianne und Ludwig, die das junge Paar auf der Terrasse stehen sahen, lächelten einander zu. »Unser Peter«, flüsterte Marianne. »Und ich dachte schon, er will vielleicht lieber allein bleiben und sich ganz der Wissenschaft widmen.«

»Danach sieht es nicht aus«, erwiderte Ludwig schmunzelnd, warf einen letzten Blick auf die Terrasse und schloss die Tür.

*

Armin hatte seine Fassung nur äußerlich wiedergewonnen – innerlich fragte er sich noch immer, wer – oder was – diese unglaubliche Veränderung bei Charlotta von Isebing wohl bewirkt hatte. War sie verliebt? Das schien ihm die einleuchtendste Erklärung zu sein, und zugleich war es diejenige, die ihm am wenigsten gefiel. Denn hier war sie nun, die junge Frau, von der er geahnt hatte, dass es sie gab und von der er sich gewünscht hatte, sie einmal sehen zu dürfen – und er fand sie unwiderstehlich.

Sein Herz hatte einen Riesensatz gemacht, als er sie erkannt hatte, und dann gleich noch einen zweiten hinterher. Sie sah hinreißend aus, er erkannte die unfreundliche Charly, mit der er auf Gut Isebing ständig aneinandergeraten war, einfach nicht wieder. Aber nicht nur ihr Aussehen, auch ihr Verhalten war vollkommen verändert: Da und dort blitzte noch eine Spur ihres ungebärdigen Temperaments auf, aber sie unterhielt sich auf reizende Art und Weise mit dem neben ihr sitzenden kleinen Fürsten, ging auf ein Problem ein, das Anna ihr schilderte und fiel zu keinem Zeitpunkt aus der Rolle. Ob ihre Eltern von dieser Verwandlung wussten? Er konnte es sich nicht vorstellen, denn dann hätte Ludwig ihm gegenüber bestimmt schon eine Bemerkung darüber gemacht.

»Haben Sie wirklich nicht gewusst, dass wir uns hier begegnen würden?«, fragte sie ihn in diesem Augenblick mit leiser Stimme.

»Wirklich nicht!«, beteuerte er. »Vermutlich wäre ich sonst gar nicht gekommen, weil ich eine weitere Katastrophe befürchtet hätte. Was ist denn passiert, Frau von Isebing?«

Sie warf ihm einen schrägen Blick aus ihren bemerkenswert schönen blauen Augen zu und sagte: »Charly. Meine Freunde nennen mich Charly.«

Diese Erwiderung verschlug ihm zunächst einmal die Sprache. Endlich fragte er atemlos: »Freunde?«

»Wenn Sie wollen, natürlich nur«, antwortete sie. »Aber wir müssen diesen lächerlichen Kleinkrieg doch nicht unbedingt fortsetzen, oder?«

»O nein!« Das kam aus tiefstem Herzen. »Aber ich glaube es einfach immer noch nicht. Ich habe Sie auf den ersten Blick ja nicht einmal erkannt.«

»Meine Großmutter«, erklärte sie und erzählte ihm dann mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, welche Maßnahmen Helena ergriffen hatte. »Sie liegt wie ein Feldwebel in ihrem Bett und kommandiert ihre Truppen – also vor allem Robert und mich. Sie hat einfach gesagt, sie schämt sich, wenn ihre Freunde einen schlechten Eindruck von mir bekommen, und das will sie nicht. Also müsste ich mein Äußeres verändern – und mein Benehmen gleich noch dazu.«

»Das alles verstehe ich – aber was ich absolut nicht begreife: dass Sie sich darauf eingelassen haben«, gestand Armin. »Sie haben auf mich eher den Eindruck gemacht, dass Sie sich durch nichts und niemanden von Ihrem einmal eingeschlagenen Weg abbringen lassen.«

Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, bevor sie antwortete: »Das hat auch mit Ihnen zu tun, glaube ich.«

»Mit mir?«, fragte Armin erstaunt. »Aber wieso denn mit mir?«

»Sara hat mich darauf gebracht. Ich glaube, ich wollte einfach nicht, dass Sie mich so sehen, wie Sara mich sieht. Und dann war ich es wohl auch leid, immer die gleiche Rolle zu spielen. Der Vorstoß meiner Großmutter kam also zur rechten Zeit. Hätte sie es ein paar Wochen früher versucht, hätte ich mich mit Sicherheit geweigert.«

»Ich bin sehr froh, dass ich Charlys anderes Gesicht sehen durfte«, erklärte Armin leise.

Charlotta errötete tief, als sie antwortete: »Ich bin auch froh darüber.«

Anna bat um ihre Aufmerksamkeit, weil sie eine Geschichte aus der Schule erzählen wollte, und so wandten sie sich ihr zu. Aber sie wussten beide, dass ihr Gespräch an dieser Stelle nicht beendet, sondern nur unterbrochen worden war. Sie würden es, sehr bald schon, fortsetzen.

*

»Meinst du, es geht ihr gut, Robert?«, fragte Helena, die sich sehr über seinen Anruf von Schloss Sternberg freute.

Er lachte leise. »Gut? Gut ist gar kein Ausdruck, Frau von Isebing. Ich höre, dass sie sich mit dem jungen Herrn von Thaden ausgezeichnet versteht.«

»Mit wem?«, fragte Helena verwundert.

»Armin von Thaden gehört zu den Gästen«, erzählte Robert.

»Aber das ist der junge Mann, mit dem mein Sohn in Zukunft Geschäfte machen will!«, rief Helena. »Der, der gerade auf Gut Isebing zu Besuch ist.«

»Ach«, sagte Robert, »das ist ja interessant. Jedenfalls erzählen die Mädchen, die bei Tisch servieren, dass sich da offenbar etwas anbahnt zwischen Charly und dem jungen Thaden.«

Nach dem Gespräch war Helena hellwach und bester Dinge. Sie hatte ein wenig Angst gehabt, mit ihren beiden Krankenschwestern allein zu bleiben, ohne Robert, ohne Charly, doch es ging bislang alles überraschend gut. Und wenn dann noch solche erfreulichen Nachrichten kamen…

Sie griff nach ihrem Buch, legte es jedoch bald wieder beiseite. Es war viel schöner, sich die Zukunft noch ein wenig auszumalen – jetzt, da Charly endlich entdeckt hatte, dass sie außer ihrer wilden Seite noch eine andere hatte, eine weiche, weibliche, die ihr sehr gut stand.

Es klopfte leise, eine der Schwestern kam herein. »Ist alles in Ordnung, Frau von Isebing – oder kann ich noch etwas für Sie tun?«

»Danke, Schwester Gisela, mir geht es gut, ich werde wohl bald schlafen. Ich habe gerade mit Robert telefoniert, meiner Enkelin geht es offenbar gut.«

»Das freut mich zu hören, Frau von Isebing. Bitte, melden Sie sich, wenn Sie etwas brauchen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht«, murmelte Helena, und die Schwester verschwand. Mit geschlossenen Augen gab sich Helena daraufhin erneut ihren erfreulichen Zukunftsfantasien hin.

*

»Von deiner Großmutter habe ich heute Abend das erste Mal gehört«, stellte Rosalie fest. Alle anderen schliefen bereits, nur Peter und sie saßen noch in der Küche und unterhielten sich.

»Wir kennen uns eben noch nicht lange genug«, stellte er fest. »Ich habe dir von meinen Eltern und Geschwistern erzählt – als nächstes wäre ich auf meine Großmutter zu sprechen gekommen.«

»Dein Vater sagte, dass es ihr jetzt, wo deine jüngste Schwester bei ihr ist, sehr viel besser geht.«

»Ja, aber das ist kein Dauerzustand, denn Charly wird auf jeden Fall hierher zurückkehren, auf das Gut.«

»Und dann?«

»Das wissen wir noch nicht. Von uns Geschwistern ist Charly schon immer am besten mit unserer Großmutter ausgekommen. Sie ist nicht ganz leicht zu nehmen.«

»Ich könnte es ja mal versuchen«, sagte Rosalie nachdenklich.

Er verstand sie nicht auf Anhieb, dann jedoch wurden seine Augen groß. »Du meinst…?«

»Ich kann meine Übersetzungen überall machen, Peter, ich bin örtlich nicht gebunden. Und wenn deine Großmutter vor allem Gesellschaft braucht…«

»Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dir das vorzuschlagen«, sagte er leise.

Sie lächelte. »Ich weiß. Aber vielleicht wären wir einander sympathisch, und dann könnte das zumindest eine Zeitlang eine Lösung sein, oder nicht? Ich hänge nicht so sehr an meiner Wohnung, dass ich sie auf keinen Fall aufgeben würde, weißt du? Und zu viel zu tun habe ich auch nicht gerade. Da bleibt immer noch viel Zeit, um mit einer alten Dame zu reden, sie auszufahren, ihr vorzulesen – was immer sie sich wünscht.«

Er gab ihr einen Kuss. »Wenn das ginge, Rosalie, das wäre einfach großartig.«

»Abwarten«, sagte sie ruhig. »Vielleicht findet sie mich schrecklich – oder ich sie. Dann ist die Idee schon gestorben.«

»Dich kann kein Mensch schrecklich finden«, erklärte er voller Überzeugung. »Und meine Großmutter ist auch nicht schrecklich, das wirst du schon sehen.«

Sie schmiegte sich in seine Arme. »Sag mal, Peter, und all die attraktiven Studentinnen, die so für dich schwärmen – was ist mit denen?«

Er lachte leise. »Sie schwärmen weiter – und eines Tages hören sie damit auf, weil es dann einen neuen jungen Dozenten gibt, zu dem sie weiterziehen. So geht das, weißt du? Man darf nur nicht den Fehler machen, diesen Zirkus ernst zu nehmen. Mir schmeichelt das, aber ich finde es auch lästig. Meine Arbeit ist mir nämlich wichtig – und es gefällt mir besser, wenn die Studenten wegen der Themen, die ich anbiete, in meine Vorlesungen kommen, als wegen meiner Person.«

»Wenn ich das nächste Mal in deine Vorlesung komme, dann nur wegen deiner Person«, erklärte sie mit einem Lächeln. »Ich hoffe, das ist nicht schlimm?«

»Bei dir möchte ich es nicht anders haben«, erwiderte Peter und küsste sie.

*

Als Charlotta auf dem Weg zu ihrer Suite war, stellte sie fest, dass Armin auf sie gewartet hatte. »Ich kann sowieso nicht schlafen«, sagte er, »und da dachte ich, wir könnten vielleicht noch ein wenig miteinander reden?«

Sie stand dicht vor ihm, im Dämmerlicht des Flurs wirkten ihre Augen fast schwarz. Ihre Haare dufteten schwach nach Äpfeln, und er sah, dass sie lächelte, denn ihre Zähne schimmerten weiß in der Dunkelheit. »Reden?«, fragte sie. Es hörte sich an, als unterdrückte sie gewaltsam ein Lachen. »Wir haben den ganzen Abend miteinander geredet. Sind Sie sicher, dass Sie nicht an etwas ganz Anderes denken, Armin?«

»Ich… äh… wie kommen Sie denn auf die Idee?«

Jetzt lachte sie tatsächlich, es war ein leiser, glucksender Laut, der ihm sehr vertraut erschien. »Ja, wie bin ich wohl darauf gekommen?«, fragte sie. »Vielleicht lag es an den Blicken, die Sie mir den ganzen Abend über zugeworfen haben? Oder an Ihrer Hand, die mehrmals meinen Unterarm streifte? Oder…«

Er dachte nicht nach, sondern zog sie einfach in seine Arme, bevor sie weiterreden konnte. »Es stimmt«, bestätigte er, »ich denke tatsächlich an etwas Anderes – den ganzen Abend schon. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann habe ich das auch vorher schon getan, auf Gut Isebing, aber da habe ich diese Gedanken schnell verdrängt.«

»Schade«, flüsterte sie, »sonst hätten wir das Kriegsbeil vielleicht schon früher begraben können.« Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, als wäre es selbstverständlich, dass sie einander mit einem Mal so nahe waren. Er spürte ihren Körper, der sich an seinen schmiegte, und dann trafen sich ihre Lippen, noch bevor er richtig verstanden hatte, was gerade vor sich ging. Hatte sie ihn tatsächlich geküsst? Oder hatte er sie geküsst? Er wusste es nicht, aber es war auch nicht mehr wichtig. Wichtig war allein, dass sie hier standen und einander endlich gefunden hatten.

»Wenn du wüsstest«, flüsterte er nach einer halben Ewigkeit, »wie zornig ich auf dich war.«

»Das hat man dir aber nicht angemerkt«, flüsterte sie zurück. »Du hast den Überlegenen gespielt und damit mich zornig gemacht, das weißt du hoffentlich?«

»Das war meine Absicht«, gestand er. »Ich wollte dir nicht zeigen, dass ich längst angefangen hatte, mich für dich zu interessieren.«

»Genauso war es bei mir.«

Sie küssten sich erneut, selbstvergessen und der Welt entrückt, wie man es nur am Beginn einer großen Liebe tut.

*

»Armin hat eine Frau bei sich«, sagte Marianne am nächsten Tag zu ihrem Mann. »Das ist ja seltsam, Ludwig.«

»Eine Frau?« Ludwig zog die Augenbrauen in die Höhe. Sie hatten noch viel Arbeit vor sich, Armin und er, eine Frau konnte da nur stören. Er spähte aus dem Fenster, musterte die elegante Gestalt, die an Armins Seite auf das Haus zulief und stutzte. »Das ist doch…«, murmelte er. »Nein, unmöglich…«

»Was ist unmöglich?«, fragte Marianne und folgte seinem Blick. Das junge Paar war nur noch wenige Meter vom Haus entfernt. Ihre Augen weiteten sich. »Charly!«, rief sie. »Das ist Charly!«

Mit diesen Worten stürzte sie aus dem Haus, gefolgt von ihrem Mann, von Thomas, Stephanie und den Zwillingen, die ebenfalls neugierig geworden waren, was ihre Mutter so in Aufregung versetzt hatte. Sie staunten ihre jüngste Schwester unverhohlen an – und noch viel mehr staunten sie, als sie feststellten, dass Charlotta und Armin ein Liebespaar waren, denn das ließ sich schwerlich übersehen.

Zum Glück, dachte Marianne flüchtig, war Sara bereits abgereist – sie würde an dieser Neuigkeit zu knabbern haben. Auch Rosalie und Peter waren nicht mehr auf dem Gut, sondern mittlerweile bereits bei Helena eingetroffen. Robert Kahrmanns Zwischenbericht hatte gelautet: »Die beiden Frauen lachen schon miteinander!«

»Charly, meine Kleine!«, sagte Ludwig und schloss seine Tochter gerührt in die Arme. »Ich habe dich auf den ersten Blick überhaupt nicht erkannt.«

»Ich auch nicht«, setzte Marianne hinzu, und Thomas schließlich sprach allen aus der Seele, als er sagte: »Charly, ich hätte niemals gedacht, dass ich dich noch einmal als attraktive Frau erlebe!« Das war zwar nicht sehr zartfühlend ausgedrückt, es sprach aber allen aus der Seele.

»Ich habe Charly überredet, mit mir nach Isebing zu fahren, um euch alle zu überraschen«, erklärte Armin lächelnd. »Außerdem hörten wir, dass meine Schwester deine Mutter besuchen will, Ludwig, um zu sehen, ob sie einander verstehen…«

»Das sieht gut aus«, warf Marianne ein. »Und nun kommt endlich herein, wir möchten in allen Einzelheiten hören, wie es zu deiner Veränderung gekommen ist, Charly.«

Charlotta lächelte nur, gab Armin einen Kuss und folgte ihren Eltern vergnügt ins Haus.

*

Christian von Sternberg stand vor der Gruft seiner Eltern, denen er gerade in Gedanken erzählt hatte, was es an Neuigkeiten gab. Er überlegte, ob er auch nichts vergessen hatte. Das Wichtigste war natürlich die Liebesgeschichte von Charly und Armin von Thaden gewesen, denn die hatte schließlich ihren Anfang auf Schloss Sternberg genommen. Nein, er hatte nichts vergessen, und so sagte er jetzt laut: »Komm, Togo!«

Sein junger Boxer, der bis dahin brav neben ihm gelegen hatte, sprang auf dieses Stichwort hin sofort auf und rannte zu dem Weg, der den kleinen Hügel, auf dem der Familienfriedhof lag, hinunterführte. Erst als er unten angelangt war, gestattete er sich ein aufforderndes Bellen.

Der kleine Fürst aber ließ sich nicht drängen. In Gedanken war er noch bei seinen Eltern, und einmal mehr stellte er sich die Frage, wo sie jetzt wohl waren.

Ein Sonnenstrahl blitzte am bis dahin düsteren Himmel auf und zauberte ein Lächeln auf das ernste Gesicht des Jungen. Wo auch immer sie sich befanden: Sie waren bei ihm!

– ENDE –

Der kleine Fürst Jubiläumsbox 6 – Adelsroman

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