Читать книгу Fürstenkrone Box 16 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 6

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Der Sturm rüttelte die alten Bäume, die um Schloss Langen standen, dass sie stöhnten und ächzten. Laut prasselten schwere Regentropfen gegen die breiten Fenster.

Mit ernster Miene stand die junge Komtess Gwendolin von Osterburg in ihrem Zimmer und sah hinaus in das tobende Unwetter.

Ihr sonst so heiteres Gesicht war bleich. Die großen braunen Augen, die sonst in kindlicher Unbekümmertheit lustig in die für sie noch so herrliche Welt lachten, trugen einen ungewohnt strengen Ausdruck.

Schon seit Tagen herrschte eine bedrückte Stimmung auf Schloss Langen. Heute wurde der Bruder ganz plötzlich zum Vater gerufen. Bleich, aber mit einem unbeugsamen Zug um den Mund, war er der Aufforderung seines Vaters nachgekommen.

Gwendolin fühlte ihr kleines Herz bis zum Hals klopfen. Sie ahnte, dass der Bruder nun hart um sein Glück kämpfen musste.

Graf Holger von Osterburg war der einzige Sohn des Hauses und zukünftiger Herr von Langen. Seit Jahren war seine Heirat mit einer jungen Dame aus den ersten Kreisen beschlossen. Aber bis heute hatte der junge Graf seine Werbung noch nicht vorgebracht und war trotz der ernsten Mahnung seines Vaters nicht dazu zu bewegen.

Nur eine im Schloss kannte den Grund, warum er nicht daran dachte, das Wort seines Vaters einzulösen, aber sie schwieg und verriet den Bruder nicht. Sie fand es empörend, was der Vater von dem Bruder verlangte. Heiraten ohne zu lieben, nur weil diese Ehe standesgemäß war – das war ja einfach entsetzlich. Du lieber Gott, als ob ein einfaches Mädchen nicht genausogut eine vorzügliche Gräfin von Osterburg abgeben konnte wie eine Komtess von Dahmen, die eine sehr nahe Verwandte des Fürstenhauses war.

Es musste eine sehr erregte Auseinandersetzung sein, die sich zwischen Vater und Sohn abspielte. Zwei Trotzköpfe schienen hier aufeinanderzuprallen, und keiner wollte nachgeben.

Ihre lauten erregten Stimmen schallten auf den Gang hinaus, und die Dienerschaft sah sich bedeutungsvoll an.

Der arme junge Graf! All sein Kämpfen würde ihm nicht viel nützen. Am Ende würde doch der alte Graf seinen Dickschädel durchsetzen, oder aber der junge Graf musste dieses bürgerliche Mädchen so lieben, dass er bereit war, sein Erbe aufzugeben, um ihretwillen.

Plötzlich wurde es still, beängstigend still.

Die junge Komtess wandte sich ruckartig vom Fenster ab. Dann stand sie unbeweglich und lauschte angestrengt zum Nebenzimmer hin. Aber sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht den geringsten Laut vernehmen. Ein sonderbares Angstgefühl kroch in ihr hoch und machte ihr das Atmen schwer.

Plötzlich schlug eine Tür, hart wie ein kurzer scharfer Peitschenhieb nach der fürchterlichen Stille.

Ein fast keuchender Atemzug hob die junge Brust des lauschenden Mädchens, das noch immer unbeweglich stand. Es hörte den festen Schritt des Bruders auf dem Gang, der dicht an ihrem Zimmer vorbeischritt.

Sie eilte auf die Tür zu. Alles in ihr drängte sie, dem Bruder nun ein liebes, zärtliches Wort zu sagen, das etwas von der bitteren Härte des Vaters mildern sollte.

Aber der junge Graf sah seine Schwester nicht, hörte nicht das Flehen in ihrer Stimme, als sie seinen Namen rief. Er stürmte wie von Furien verfolgt an ihr vorbei die Treppe hinunter.

Wirr hing ihm das Haar in die Stirn. Sein Gesicht war aufgewühlt und von einer beängstigenden Blässe.

Das Mädchen eilte hinter ihm her. Plötzlich hatte es das Gefühl, als müsste es den Bruder zurückhalten, als dürfte er in dieser Verfassung nicht aus dem Hause gehen.

Aber Graf Holger von Osterburg hatte das Schloss schon verlassen.

Kurz darauf klang Hufschlag auf.

Angstvoll presste das Mädchen ihre Hände auf die Brust.

Mein Gott – Holger ritt in diesem furchtbaren Wetter noch aus. Hoffentlich hatte er nicht Mimose, sein Lieblingspferd, genommen. Es scheute so schnell und würde in diesem Unwetter besonders nervös und erregt sein.

Heiß schluchzte das Mädchen auf. Nun, wo die entsetzliche Spannung etwas nachließ, musste sie plötzlich weinen, und ihre Nerven versagten.

Als sie eines der Mädchen auftauchen sah, floh sie überhastet in ihr Zimmer. Man brauchte ihre Tränen nicht zu sehen. Es ging keinen etwas an, dass sie sich Sorgen um den Bruder machte.

*

Während die Komtess um das Leben des Bruders bangte, trieb der Graf sein Pferd zu schneller Gangart an. Er ignorierte das tobende Unwetter, den Regen, der ihm ins Gesicht peitschte. In seinem Inneren tobte ein Aufruhr, der so wild und orkanartig war, dass alles andere dagegen unwesentlich wurde.

Im gestreckten Galopp stob sein Tier durch die einsamen Straßen des Dorfes, das still und verlassen lag. Die Bewohner hatten sich alle hinter schützenden Mauern ihrer Häuser zurückgezogen. Selbst die kläffenden Straßenköter schienen sich in einen schützenden Winkel verkrochen zu haben, um das Unwetter abzuwarten.

Naß und wirr hingen dem Grafen die Haare ins Gesicht, aus seinen Kleidern triefte das Wasser.

Endlich schien er sein Ziel erreicht zu haben.

Hart zog er die Zügel an, sodass sein Tier schnaubend den edlen Kopf zurückwarf und aufwiehernd steilte.

Er sprang aus dem Sattel, band sein Pferd fest und ging schnell auf das kleine Haus zu, das einen freundlichen, gepflegten Eindruck machte.

Gerade als er im Begriff stand, anzuklopfen, wurde die Tür von innen geöffnet. Ein alter Mann stand auf der Schwelle, ein freundliches Lächeln in den gütigen alten Augen.

»Kommen Sie herein, Herr Graf«, sagte er herzlich.

Mit einem Blick auf Holgers durchnässte Kleidung sagte er erschrocken: »Du lieber Gott, Sie sind ja völlig durchnässt. Sie können sich den Tod holen.«

Bitter auflachend winkte der junge Mann ab.

»Das wäre das Schlimmste nicht, Vater Uhlig«, stieß er ungeheuer bitter hervor, während er ins Haus trat. »Ist Phyllis da?«

Der alte Mann nickte nur. Er stellte keine Fragen.

Nur seine Augen hatten sich verschattet, während er mit einem langen nachdenklichen Blick hinter dem Mann hersah, der nun schnell durch den Flur ging und in einem der Zimmer verschwand.

Phyllis war das Kind seiner einzigen Tochter, die im Kinderbett gestorben war. Das Leid um den Mann, den sie geliebt und dem sie vertraut hatte, und der sie bitter enttäuschte, hatte ihre Kräfte aufgerieben.

Uhligs behielten das Kind bei sich und zogen es auf. Es wurde ihnen so lieb und teuer, als wäre es ihr eigenes. Seine Frau klammerte sich an das Kind, weil es das einzige war, was ihr von der geliebten Tochter geblieben war.

Phyllis wurde ein sehr schönes Mädchen. Wundervolles Haar, das weich und seidig schimmerte, war ein Erbe ihres Vaters. Die leuchtend blauen Augen aber hatte sie von der Mutter, und sie schienen die ganze Bläue eines strahlenden Sommerhimmels in sich aufgesogen zu haben.

Sie wurde das Glück ihrer Großeltern. Da sie ein sehr feines Gefühl für Musik hatte, ließ Uhlig seine Enkelin ausbilden, und sie war inzwischen eine sehr gute Pianistin. Sie erhielt ihr erstes Angebot und trat auf einer kleinen Bühne auf. Es wurde ein großer Erfolg. Mit einem Schlag war ihr Name ein Begriff. Aber es war seltsam. Phyllis schien auf einmal keinen großen Wert mehr auf ihre künstlerische Laufbahn zu legen.

Sie lehnte alles ab, was sie aus der Heimat führen würde. Uhlig drängte nicht. Er war viel zu glücklich, dass sie ihn nicht verlassen wollte, nun, wo er nach dem Tod seiner Frau ganz allein war. Erst viel später erkannte er den wahren Grund, warum sie nicht fortwollte.

Als sie ihm zum ersten Mal von ihrer Liebe zu dem Grafen sprach, da war er entsetzt gewesen. Mit zitternder Stimme hatte er sie beschworen, sich diese Liebe aus dem Herzen zu reißen, wenn sie nicht das Schicksal der Mutter erleben wollte. Aber er predigte tauben Ohren. Phyllis’ junges Herz war so mit ihrer heißen Liebe zu dem Mann ausgefüllt, dass nichts sie erschrecken konnte.

»Großvater, alles, was du sagst, habe ich mir hundertmal gesagt.«

Da hatte Uhlig es aufgegeben, bitter erkennend, dass es kein Ausweichen gab, dass man seinem Geschick nicht entfliehen konnte. Er hatte eine sehr ernste Unterredung mit dem jungen Grafen gehabt, den er schon als kleinen Jungen gekannt hatte. Eindringlich hatte er ihn darauf aufmerksam gemacht, dass eine Verbindung mit seiner Enkelin nie die Billigung seines Vaters finden würde.

Graf Holger hatte ihm zugestimmt. Aber dann hatte er ihn gebeten, Vertrauen zu ihm zu haben.

»Ich liebe Phyllis, Vater Uhlig. Sie wird meine Frau. Mein Vater wird sich damit abfinden müssen, oder aber er wird seinen Sohn verlieren.«

Es hatte so entschlossen geklungen, dass der alte Mann davon überzeugt war, dass es Holger bitterernst damit war.

Nun aber war schon über ein Jahr vergangen. Heimlich trug Phyllis seinen Ring. Noch hatte der junge Graf dem Vater nichts von seiner Liebe zu dem bürgerlichen Mädchen erzählt.

Der alte Graf litt seit Monaten an einem schweren Herzleiden und musste geschont werden.

Phyllis drängte den Geliebten nicht, sie wartete geduldig darauf, dass er eines Tages sein Wort einlösen und sie zu seiner Frau machen würde.

Der alte Mann ging mit einem Seufzer hinaus und führte das schweißnasse Pferd in den schützenden Schuppen. Fast zärtlich strich er über das dampfende Fell und schüttelte dann beunruhigt den Kopf.

»Ihr beide schaut ja aus, als ob euch der Leibhaftige begegnet sei«, murmelte er, während er das Tier abrieb. Das Herz lag ihm plötzlich wie ein Stein in der Brust, ohne dass er sich hätte erklären können, was ihn auf einmal bedrückte.

*

In diesem Augenblick saßen sich in der kleinen gemütlichen Wohnstube zwei junge Menschenkinder gegenüber und hielten sich bei der Hand. Krampfhaft waren ihre Finger ineinander verschlungen, als wollten sie sich gegenseitig Kraft geben.

Wie gebannt sah der Graf in das schöne Gesicht seiner jungen Braut, und sein Herz stöhnte auf in heißer Qual.

Ihr kleiner, sonst immer so leuchtend roter Mund war bleich und zuckte vor verhaltenem Weinen. Der Glanz in den wundervollen Augen war erloschen, und sie schimmerten feucht und voller Not.

Mit einem unterdrückten Stöhnen riss der Mann das geliebte Mädchen jäh an sich und bedeckte das bleiche Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen.

»Phyllis, meine kleine geliebte Phyllis – ich kann nicht, ich kann es nicht.«

Wie betäubt lag das Mädchen in seinen Armen.

Das Herz schlug ihr dumpf und bang, sodass sie fürchtete, es würde zerspringen.

»Ich habe es gewusst«, stöhnte sie erstickt, und es klang zerrissen vor innerer Qual. »Es war zu viel des Glücks, es musste ja so kommen.«

»Nein, Phyllis, nein«, wehrte der Mann ab. Seine dunklen Augen glühten. »Du gehörst zu mir, wir haben es uns geschworen, und wir werden unseren Schwur niemals brechen. Ich liebe dich so sehr, dass mein Leben keinen Sinn mehr hat, wenn ich dich verliere.«

Er war vor dem Stuhl des Mädchens in die Knie gesunken und barg aufstöhnend seinen Kopf in ihrem Schoß.

Wie gelähmt saß das Mädchen und sah auf ihn herab.

Dann hob sich ihre Hand, und unendlich weich glitten ihre Finger über das wirre Haar.

Lange saßen sie so und fanden keine Worte, um der Not Ausdruck zu geben, die ihre Herzen bis zum Bersten anfüllte.

»Wir müssen tapfer sein, Holger«, tropfte es nach einer Weile mühsam über die blutleeren Lippen. Jedes Wort schien wie ein Dolch ihr Herz zu durchbohren.

Sein Kopf ruckte hoch. Seine geweiteten Augen, die wie Kohlen glimmten, starrten sie an. Dann schrie er jäh auf, und sein ganzer Trotz lag in seiner Stimme:

»Nein, Phyllis, nein, ich gebe dich nicht her! Ich gehöre zu dir, und keine Macht der Welt wird uns trennen können.«

Es lag eine solch große Liebe in seinen Augen, dass das Mädchen erschauernd die Lider schloss und ein Beben die zarte Gestalt überflog.

»Dein Vater, Holger«, murmelte sie erstickt, während sie sich gegen ihn drängte.

Er zuckte wie unter einem Schlag zurück. Irre Verzweiflung breitete sich über das eben noch so trotzige junge Gesicht.

»Mein Vater – mein Gott, ich weiß nicht, wie es enden soll«, brach es dumpf aus ihm heraus. »Dich habe ich lieb, mehr als mein Leben. Aber all mein guter Wille zerrinnt in Nichts vor der entsetzlichen Gewissheit, dass mein Vater seine furchtbare Drohung wahr macht und sich umbringt, wenn er die Heimat aufgeben muss.«

Mit einem seltsamen Laut war er aufgesprungen und riss Phyllis nun so leidenschaftlich an sich, dass sie leise aufstöhnte.

»Hilf mir, Liebling, hilf mir, ich sehe keinen Ausweg mehr.«

Wie betäubt lag sie an seiner Brust, und ihr war es, als wiche langsam jedes Leben aus ihrem Körper, als stürzte sie in einen dunklen Schacht, aus dem es kein Entkommen mehr gab.

Langsam schlug sie die Augen auf, die wie erloschen waren, ohne Leben und Glanz.

Die sonst so weiche Stimme klang wie zersprungenes Glas, als sie spröde sagte:

»Du darfst nicht lange zaudern und wägen, Holger. Unser Glück war zu wundervoll, als dass es von Dauer hätte sein dürfen.«

Ihre Stimme gehorchte ihr kaum noch. Sie musste erst ein paarmal ganz tief Luft holen, ehe sie weitersprechen konnte.

»Es muss vorbei sein, Holger. Du bist Graf von Osterburg, der einzige Sohn und Erbe. Du gehörst zu deinem Vater. Du darfst Langen, das Schloss deiner Ahnen, nicht für die Liebe eines armen bürgerlichen Mädchens aufs Spiel setzen, darfst nicht das Leben deines Vaters unserer Liebe opfern.«

Jedes Wort, das sie mit zuckenden Lippen sagte, riss eine tiefe blutende Wunde in ihrem Herzen.

»Ich kann nicht, Phyllis, ich kann ohne dich nicht leben.«

Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste seine glühenden Augen. Ihre ganze Liebe lag in diesem Kuss.

»Holger, es gibt keinen anderen Weg für uns, wir müssen tapfer sein.« Ein Schauer durchlief ihre Gestalt. Grauen stand in ihren weit geöffneten Augen.

»Immer wird der Schatten deines Vaters zwischen uns stehen und uns anklagen. Holger, willst du der Mörder deines Vaters sein?«

Mit einem Aufschrei riss er sich von ihr los. Seine kräftige Gestalt wankte, als würde er unter der ihm aufgebürdeten Last zusammenbrechen.

»Hör auf, das ist mehr, als ein Mensch ertragen kann«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. Mit einem wilden Blick umfasste er die schlanke zierliche Mädchengestalt, als müsste er sich ihren Anblick für alle Zeit einprägen.

»Phyllis, was soll nun werden? Wie soll ich es ertragen ohne dich?«

Mit einem leidenschaftlichen Aufschrei warf sie sich an seine Brust und schlang die Arme um seinen Hals. Ihr Körper wurde von einem herzzerreißenden Weinen geschüttelt.

»Ich liebe dich, Holger, ich liebe dich.«

Der Mann stand wie versteinert und hielt das über alles geliebte Mädchen fest an sich gepresst.

Eine tiefe Hoffnungslosigkeit lag nun in seinen Augen. Dumpf ahnte er, dass dies der Abschied von einem namenlosen Glück war, dass nun alles vorbei sein musste.

Obwohl alles in seinem ungestümen Herzen sich aufbäumte und dagegen zur Wehr setzte, befürchtete er doch, dass er sich dem Willen des Vaters beugen musste. Nie würde er glücklich sein können mit dem Wissen, schuld zu sein an seines Vaters Tod.

Keine einzige Sekunde zweifelte Holger daran, dass der Vater seine Drohung, sich zu erschießen, wahr machen würde.

Stumm hielten die beiden Liebenden sich umschlungen. Ihre Lippen fanden keine Worte mehr.

Gewaltsam riss der Graf sich schließlich los. Weit schob er das Mädchen von sich, während seine Finger sich in die schmalen Schultern drückten.

»Phyllis, meine kleine Phyllis, mein Herz bleibt bei dir«, murmelte er. Jäh ließ er sie los und stürmte aus dem Zimmer.

Das Mädchen stand reglos mitten im Raum und starrte auf die Tür, die sich hinter dem Geliebten geschlossen hatte.

Aus – aus, war das einzige, was sie denken und fühlen konnte. Vorbei, was jede Regung ihres Herzens bis in den kleinsten Winkel ausgefüllt hatte. Vorbei ihr unbegreiflich schönes Glück, ihre Hoffnung, ihr Sehnen, endlich für immer mit dem geliebten Mann vereint zu sein.

Draußen klangen Hufschläge auf. Sie rissen das Mädchen jäh aus seiner Erstarrung. Wie irr brach es über ihre Lippen:

»Holger, bleib, geh’ nicht fort, lass mich nicht allein! Bitte, bitte, lass mich nicht allein!«

Phyllis brach in die Knie. Hart schlug ihr Kopf gegen das Stuhlbein. Aber sie spürte den Schmerz nicht, der klein und nichtig gegen die Not war, die ihr Herz zerriss.

*

Von der Schlosskirche läuteten die Glocken und verkündeten allen, dass Graf Holger von Osterburg zu Langen seine junge Braut, die Komtess Juliane von Dahmen, zum Altar führte, um mit ihr den Bund der Ehe einzugehen.

Die plötzliche Verlobung hatte allgemeines Verwundern hervorgerufen. Denn es war schon lange ein offenes Geheimnis im Dorf, dass der junge Graf sein Herz in stürmischer Liebe an die bildschöne Phyllis Uhlig verloren hatte.

Der Graf war sehr bleich. Sein Gesicht war wie versteinert, als er auf seine Braut zutrat, die ihm von ihrem Vater und den Brautjungfern zugeführt wurde.

Aber auch die junge Braut hatte alle Farbe aus dem sonst so frischen Gesicht verloren. In den klaren dunklen Augen flackerte es unruhig.

Die große Kirche war überfüllt. Alle waren gekommen, um das Brautpaar zu sehen.

Unbeweglich stand Holger neben seiner Braut. Kein einziger Blick streifte das bleiche Gesicht an seiner Seite.

Er zuckte wie erwachend zusammen, als der Priester ihre Hände ineinanderlegte und es wie ein wehes Schluchzen durch die stille Kirche klang.

Graf Holger machte eine unbeherrschte Bewegung, seine Augen blitzten einen Moment wild auf. Doch dann hatte er sich schon wieder gefasst.

Kühl klang sein Ja durch die Kirche, und er steckte seiner Braut den Ring an als Zeichen, dass sie ihm nun für immer gehörte.

Mit unbewegter Miene nahm er die Glückwünsche entgegen, während seine Blicke fieberhaft durch die Kirche schweiften, als suchten sie etwas.

Nirgends aber konnte er ein bleiches Mädchengesicht sehen. Er wusste selbst nicht, was größer in ihm war, Erleichterung darüber, dass ihm diese Pein erspart blieb, oder aber die Not, die Geliebte nie mehr zu sehen.

Hoch aufgerichtet, den Kopf stolz in den Nacken geworfen, so schritt er neben seiner jungen Braut her. Ihre Hand lag auf seinem Arm, und er fühlte deutlich das heimliche Zittern ihrer Finger.

Und doch folgten ihm ein paar erloschene Mädchenaugen, hingen an seiner hohen Gestalt, und ein verzerrter Mund flüsterte seinen Namen. Erst als die Kirche völlig leer war, kam die zarte Gestalt hinter einem Pfeiler hervor und stürmte besinnungslos vor Schmerz hinaus.

*

Graf Holger hatte es brüsk abgelehnt, mit seiner jungen Frau eine Hochzeitsreise anzutreten. Wider Erwarten machte die junge Frau keine Einwände und fügte sich seinem Wunsch.

Gräfin Juliane war ein fröhliches Menschenkind, und alle Herzen flogen ihr zu. Ihr silberhelles Lachen brachte Frohsinn und Leben in die sonst meist so stillen Räume des Schlosses. Mit der jungen Schwägerin verband sie bald ein freundschaftliches Verhältnis.

Zu dem Gatten hatte sie unbedingtes Vertrauen. Ihr Verhältnis war kameradschaftlich und ungezwungen.

Graf Holger hatte es verschmäht, mit einer Lüge auf den Lippen um die junge hübsche Komtess zu werben. Obwohl sein Vater getobt und gewettert hatte, nicht von seiner Liebe zu der anderen zu sprechen, dem Mädchen glauben zu machen, dass er aus Liebe um sie freien würde, hatte der junge Graf entschieden abgewehrt.

»Ich habe mein Lebensglück geopfert, Vater, meinen Schwur gebrochen, den ich Phyllis gegeben habe, weil ich mein Gewissen nicht mit deinem Tod belasten konnte. Aber zwinge mich nicht, zu einem ehrlosen Schuft an einem gläubigen Mädchenherz zu werden. Komtess Juliane soll die Wahrheit wissen, Vater. Sie hat ein Recht darauf.«

»Ja, glaubst du denn, sie würde dann noch bereit sein, deine Frau zu werden?«, hatte der alte Graf außer sich geschrien.

Der Sohn hatte ausweichend die breiten Schultern gezuckt, dann sagte er:

»Ich kann nicht lügen und betrügen, Vater. Kann keine Gefühle heucheln, wo ich keine empfinde.«

Der alte Graf hatte es vorgezogen, nichts mehr zu sagen. Er wollte den Bogen nicht überspannen.

Hatte er nicht sein Ziel erreicht, hatte er nicht diese unstandesgemäße Ehe verhindert und den Sohn auf den rechten Weg zurückgebracht?

In diesem Augenblick erkannte der alte Graf fast schmerzlich, dass sein stolzer Sohn wenig von ihm hatte, sondern mehr von seiner Mutter, die oft von einer fanatischen Wahrheitsliebe gewesen war.

»Tu, was du nicht lassen kannst, Holger, aber bedenke bei allem, was du nun unternimmst, Langen steht auf dem Spiel und – mein Leben.« Das letzte war eine versteckte Drohung, die den Sohn wie ein Peitschenhieb traf.

Er hatte den Vater nur verächtlich angesehen und war mit schnellen Schritten aus dem Zimmer gegangen.

Holger hatte nie eine innere Bindung zu seinem Vater verspürt, dessen Wesensart war ihm zu fremd, und seine gnadenlose Härte hatte schon in dem Knaben Abscheu hervorgerufen.

Der junge Graf war kein Weichling. Wenn er sich in seinem Recht wusste, konnte er sehr hart und unnachgiebig sein. Aber er konnte auch ein Unrecht eingestehen, selbst wenn er es mit einem seiner Angestellten zu tun hatte. Diese Art hatte ihm viele Freunde eingebracht.

So wie man den Alten, wie der Graf nur genannt wurde, hasste und fürchtete, so liebte und verehrte man seinen Sohn, der einmal auf Langen Herr sein würde. Bei ihm wussten alle ihr Geschick in guten Händen und hatten keine Sorge um ihre Zukunft.

Graf Holger aber hatte mit ernstem, bleichem Gesicht seine Aufwartung bei seiner zukünftigen Braut gemacht.

Graf Dahmen hatte den jungen Mann herzlich willkommen geheißen. Er war sehr redselig und für seine etwas grobe Art überall bekannt. Aber er trug das Herz auf dem rechten Fleck und war ein gutmütiger Mensch.

Komtess Juliane war ein schlankes Mädchen, das dem Grafen bis an die Schulter reichte. Ihr mittelblondes Haar trug sie sportlich kurz. Die gerundeten Wangen waren wie die zarte Haut eines Pfirsichs, wie weicher Samt. Sie schien das blühende Leben selbst zu sein.

Die braunen Augen waren voller Lebensfreude und Wärme, sodass der junge Mann sich betroffen fühlte.

Hätte er einem kalten hochmütigen Mädchen gegenübergestanden, so wäre es ihm vielleicht nicht allzu schwer geworden, dem Wunsch seines Vaters nachzukommen. Aber dieses warmherzige Menschenkind durch eine bewusste Lüge zu seiner Braut zu machen, dagegen bäumte sich alles in ihm auf.

Hier saß er nun und musste um ein Mädchen werben, das seinem Herzen völlig fremd war, das ihm nie etwas bedeuten konnte. Dafür hatte er die Frau, die er bis zum Wahnsinn liebte, aufgeben müssen, und es würde nie mehr ein Glück für sie beide auf dieser Welt geben.

*

Juliane, die lustig drauflosplauderte, hielt betroffen mitten im Sprechen inne und sah erschrocken in das von Leid gezeichnete Gesicht des Mannes.

»Fehlt dir etwas, Holger?«, fragte sie besorgt.

Er rieb sich mit einer schnellen Bewegung über die Augen.

»Nein, nein. Verzeih meine Unaufmerksamkeit, aber mein Kopf schmerzt etwas«, wich er aus.

Mitleidig sahen die braunen Augen ihn an.

»Du Ärmster, soll ich dir etwas gegen deine Schmerzen holen? Mein Paps hat ein sehr gutes Mittel, denn er hat auch immer starke Kopfschmerzen.«

Ehe der Mann ablehnen konnte, war sie schon leichtfüßig aus dem Zimmer geeilt.

Wie abwesend blickte der Mann der biegsamen Gestalt nach. Wie brennende Scham stieg es in ihm auf, als er daran dachte, dass er im Begriff stand, dieses gläubige Vertrauen zu missbrauchen.

Er war aufgestanden und ans Fenster getreten. Mit bitterem Lächeln um den Mund sah er auf den wundervollen Park hinunter und war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass Dahmen es verstand, seinem Anwesen einen prachtvollen Rahmen zu verleihen.

Wie reich der Graf sein musste, zeigte jeder Gegenstand, der hier in den Räumen stand. Ohne zu prunken, verrieten die kostbaren Gemälde und prachtvollen Vasen den feinen, künstlerischen Geschmack der Bewohner, aber auch den Reichtum, der hier im Verborgenen blühte.

Graf Dahmen liebte sein einziges Kind über alles. Obwohl er sich mit dem alten Grafen einig war, dass aus ihren Kindern einmal ein Paar würde, hatte er doch die letzte Entscheidung seinem Kind überlassen. Selbst auf die Gefahr hin, sich mit Graf von Osterburg zu verfeinden, war er entschlossen, seine Tochter zu keiner Ehe zu zwingen, die sie nicht selbst eingehen wollte.

Er mochte den jungen Grafen Holger sehr.

Ihre Familien hatten schon immer miteinander verkehrt. Als seine Frau schon tot war, hatte er Graf Eberhard in Berlin getroffen. Wie es nun einmal so geht, wenn zwei alte Freunde sich plötzlich treffen, so trennten auch sie sich spät in der Nacht. Beide waren sie ziemlich bezecht und schworen sich ewige Freundschaft.

In dieser Nacht war denn auch der Plan entstanden, dass aus ihren Kindern ein Paar werden sollte.

Holger zählte damals gerade sechzehn Jahre und besuchte die Schule. Juliane aber war erst zehn und in einem Internat, weil er mit seinem kleinen Wildfang nicht fertig wurde.

Der Adel der Grafen von Dahmen war noch ziemlich jung und lag erst ein Menschenalter zurück, während die Grafen von Osterburg zu dem uralten Hochadel des Landes zählten.

Graf von Dahmen war bestrebt, seiner reizvollen Tochter den Weg nach oben zu bahnen. Eine Einheirat in den uralten Adel würde ihr die Salons der höchsten Gesellschaft öffnen, und sie würde eine der ersten Stellen einnehmen. Aber so weit ging sein Ehrgeiz nicht, dass er dafür das Glück seines einzigen Kindes aufs Spiel gesetzt hätte.

Nun war der junge Graf endlich gekommen, und wie er feststellte, war er als Werber erschienen. Lange genug hatte er sich ja Zeit gelassen.

Na ja, gut Ding will Weile haben. Aber ein wenig hätte er sich ja um Juliane kümmern können. Dass sie sich einmal als Kinder gekannt hatten, war noch lange keine Gewähr dafür, dass sie sich nun auch lieben würden.

Ohne Liebe? Nein, dazu würde seine Tochter niemals ja sagen, das wusste er ganz genau. Aber leid würde es ihm doch tun, wenn aus dieser Verbindung nichts würde.

Er hatte das junge Paar allein gelassen, damit der Mann Gelegenheit fand, seine Werbung vorzubringen. Früher, ja, da sprach man erst mit den Eltern der Auserwählten. Aber heute, da war alles ganz anders. Die Jugend war selbständig geworden, und sie ließen sich den Lebenspartner nicht mehr bestimmen. Sie wählten nach eigenem Gutdünken, und alles, was recht war, sie bewiesen meist dabei einen sehr klaren nüchternen Verstand.

*

Unterdessen stand die junge Komtess Juliane, von allen nur Jane gerufen, in der Küche und kramte eifrig in dem kleinen Arzneischrank herum. Ihre braunen Augen strahlten vor Glück. Die Wangen glühten vor heimlicher Erwartung.

Dass Holger etwas auf dem Herzen hatte, das hatte sie auf den ersten Blick erkannt. Was es war, ahnte sie, denn der Vater hatte oft genug davon gesprochen, was er mit seinem alten Freund geplant hatte, und die junge Juliane hatte seitdem mit klopfendem Herzen an den Mann gedacht, der ihr von ihrem Vater zugedacht war.

Graf Holger war ein faszinierender Mann und von einem bestechenden Äußeren. Kein Wunder, dass ihm das unberührte Herz der jungen Komtess stürmisch zuflog. Besonders, da sie in ihm ihren zukünftigen Gatten sah. Dass er sich so lange Zeit ließ, um seine Werbung vorzubringen, fand sie ganz in Ordnung, denn noch war sie zu jung, um zu heiraten, und sie liebte ihre goldene Freiheit viel zu sehr, um sie schon gegen die Ehefesseln einzutauschen.

Aber nun war er gekommen, und alles in ihr war bereit, sich zu ihm zu bekennen. Ihr Herz flog dem stattlichen Mann mit dem ernsten, finsteren Gesicht entgegen, und ein einziges bittendes Wort aus seinem Mund würde sie in seine Arme treiben…

Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie machte den kleinen Schrank zu, gab der Köchin noch ein paar Anweisungen für das Essen und eilte dann aus der Küche.

Graf Holger stand noch immer am Fenster, als sie eintrat. Er wandte sich ihr langsam zu, und sie erschrak vor seiner düsteren Miene, vor der Not in seinen dunklen Augen, die fast schwarz wirkten.

Mitleidig trat sie auf ihn zu.

»Hast du so große Schmerzen, Holger?« Sie griff nach einem Glas und füllte es mit Wasser.

»Komm, nimm die Tablette, du wirst sehen, es wird dir gleich viel besser werden, Paps nimmt sie auch immer, wenn auch mit Ach und Krach. Aber wenn er auch noch so einen Flunsch zieht, einnehmen muss er sie, da gebe ich nicht nach. Er sagt freilich immer, ich sei eine Tyrannin, aber es erschüttert mich nicht.«

Sie plauderte unbekümmert drauflos, während sie ihm die Tablette reichte und ihn erwartungsvoll ansah.

Er zwang ein kärgliches Lächeln um seinen Mund.

»Du meinst es gewiss sehr gut, Juliane, aber«, er zögerte einen Augenblick, dann fuhr er entschlossen fort, indem er ihr das Glas aus der Hand nahm und auf den Tisch zurückstellte: »Es hat keinen Zweck, Juliane. Was mich bedrückt, kann man mit einer Tablette nicht aus der Welt schaffen, es sitzt tiefer, viel tiefer.«

Seine Stimme war rau. Ein harter Zug hatte sich um seinen Mund gegraben.

Verwundert sahen die braunen Augen ihn an. Es lag Unverständnis in diesem Blick.

»Aber«, begann sie, kam aber nicht weiter, da er eine bittende Bewegung machte.

»Juliane, du weißt, weshalb ich heute gekommen bin.« Er holte Luft, ehe er leidenschaftslos fortfuhr: »Man hat es uns ja schon sehr zeitig beigebracht, was man von uns erwartet. Oder sollte es dir bisher unbekannt geblieben sein?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn nachdenklich an. Etwas an ihm störte sie plötzlich, machte sie unsicher und ließ ein jagendes, dumpfes Gefühl in ihr aufsteigen. Aber im gleichen Moment hatte sie es schon wieder überwunden und lachte leise. Vergnügt nickte sie ihm zu.

»Aber nein, Holger. Vater hat mir gegenüber nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gerne sehen würde, wenn aus uns beiden ein Paar würde. So kam es, dass ich schon als Kind wusste, was unsere beiden alten Herren beschlossen hatten.«

Unbekümmert lächelte sie. Ihre braunen Augen blitzten übermütig.

»Freilich kennt mein Paps mich zu genau, um nicht zu wissen, dass das letzte Wort nicht von ihm gesprochen wird. Niemals würde ich mich von ihm zu etwas zwingen lassen, was mir gegen den Strich geht. Damit hat er sich schon abgefunden. So weiß er auch in unserem Fall, dass es mich herzlich wenig kümmert, was er wünschte oder nicht, dass ich meine Zukunft selbst entscheiden werde.«

Sie war am Schluss sehr ernst geworden und sah nun viel reifer und älter aus, wie der Mann überrascht feststellte.

In seinen dunklen Augen zuckte es unterdrückt auf. Seine Stimme klang heiser, als er gepresst sagte: »Ehe ich dich bitte, meine Frau zu werden, Juliane, habe ich etwas klarzustellen. Obwohl ich weiß, dass von deiner Antwort das Wohl und Wehe meiner ganzen Familie abhängt, vielleicht sogar das Leben meines Vaters, kann ich nicht schweigen, kann ich dich nicht mit einer Lüge auf dem Herzen zu meiner Frau machen …«

Langsam wich unter dem Ernst, der in seinen Worten lag, alle Farbe aus dem Mädchengesicht. Angst flackerte in den großen braunen Augen.

»Bitte, sprich, Holger, spanne mich nicht so auf die Folter. Neugierde war schon immer meine große Schwäche«, versuchte sie den Ernst des Augenblicks zu überdecken.

Sein Gesicht wirkte hart und kantig, wie aus Marmor gehauen und jagte ihr einen eisigen Schrecken zum Herzen. Fast wünschte sie, dieser Mund würde schweigen. Dunkel fühlte sie, dass von diesen Lippen nur ein großer Schmerz für sie kommen konnte.

Er sah sie mit einem seltsam leeren Blick an, dann sagte er langsam, als würde ihm jedes Wort unsagbar schwerfallen:

»Gut, Juliane, du sollst die ganze Wahrheit wissen. Dass ich heute vor dir stehe, ist nicht mein freier Entschluss, Juliane. Mein Vater zwang mich dazu, weil es um Langen geht. Ich habe dich immer sehr gemocht, aber ich habe dich nie geliebt.«

Seine Blicke schweiften an ihr vorbei aus dem Fenster, als suchte er in einer unendlichen Ferne die verlorene Geliebte.

»Du – du liebst eine andere?« Ihre Stimme wollte ihr kaum gehorchen. Eine eisige Faust drückte ihr gewaltsam die Luft ab und ließ alles selige Hoffen in sich zusammensinken.

»Ja, Juliane, ich liebe eine andere. Ich gab ihr mein Wort, sie zu meiner Frau zu machen. Aber sie gab mich frei, da sie nicht die Kraft hatte, unser Leben mit dem Fluch meines Vaters zu belasten. Ich habe mich gefügt, wenn auch unter tausend Qualen, aber ich habe erkannt, dass es keinen Ausweg für uns gibt.«

Er rang nach Luft. Seine kühle Beherrschung war von ihm abgefallen und hatte einer starken Erregung Platz gemacht. Nichts hätte dem Mädchen deutlicher seine verzweifelte Not verraten können als dieser Ausbruch.

Mit bleichem Gesicht starrte sie ihn an. Schmerz und zornige Enttäuschung stritten in ihr einen wilden Kampf. Sie musste an sich halten, um nicht verzweifelt aufzuschreien, so weh und peinigend war der Gedanke, dass sein Herz einer anderen gehörte, dass sie die ganzen Jahre einem Trugbild nachgelaufen war und auf Erfüllung gewartet hatte.

»Warum lässt du dich von deinem Vater zwingen, Holger? Bist du nicht ein Mann, der Mut genug hat, um sein Glück zu kämpfen? Sollte ich mich so in dir getäuscht haben?«, entrang es sich ihr unsagbar bitter, während sie verzweifelt mit ihren Tränen kämpfte.

Mit einem unbeschreiblichen Blick, der erschreckend in seiner Wildheit war, sah er sie an. Schneidend lachte er und fuhr nach einem kurzen keuchenden Atemzug gepresst fort: »Ja, schelte den Sohn einen Feigling, der es nicht wagt, das Leben seines Vaters seinem eigenen Glück zu opfern. Der das geliebte Mädchen aufgibt, weil seine Kindespflicht ihm keine andere Wahl lässt. Ich kann dir darüber nicht gram sein, denn es ist schändlich, was ich tun muss.«

Er richtete sich auf.

»Ich liebe dich nicht, Juliane, und bitte dich trotzdem, meine Frau zu werden. Ich werde dir ein guter Gatte sein und dich vor allem Unheil des Lebens beschützen, so wie es sich für einen Edelmann gehört, und soweit es in meiner Kraft liegt. Liebe kann ich dir nicht bieten, aber ehrliche Freundschaft.«

Das Mädchen stand unbeweglich. Ihr blonder Kopf war gesenkt, und auf ihrem bleichen Gesicht spiegelte sich deutlich der bittere Kampf wider, den sie mit sich selbst ausfocht.

Alles in ihrem jungen Herzen wehrte sich gegen die Rolle, die er ihr aufzwingen wollte. Sie liebte diesen faszinierenden Mann mit der ganzen Leidenschaft ihrer ersten Liebe.

Sie hatte ihn wie selbstverständlich in all den Jahren als den einzigen Mann betrachtet, zu dem sie gehörte und der ihr versprochen war. Nun zerschlug eine einzige Minute all ihr seliges Hoffen, all ihr erträumtes Glück und ließ nichts als Schutt und Asche zurück.

Sollte sie sich mit kärglichen Almosen zufriedengeben? Sollte sie seine Frau werden mit dem peinvollen Wissen, dass sie nur ihres Reichtums wegen erwählt wurde, weil ein alter verbohrter Mann den Sohn mit unlauteren Mitteln dazu zwang, sich seinem eisernen Willen zu beugen?

Nein, schrie alles in ihr. Ich kann es nicht – ich will auch nicht. Ich kann nicht im Schatten der anderen leben, kann nicht die Not und Qual in seinen Augen sehen, die der anderen gilt, die er mit der ganzen Inbrunst seines Herzens geliebt hat und nicht vergessen kann.

Ihr gesenkter Kopf ruckte hoch. Herb verzog sie den eben noch lachenden Mund.

»Du hast sehr viel Mut, mir die ganze Wahrheit zu sagen, Holger«, kam es verbittert aus ihrem blassen Mund. »Fürchtest du keinen einzigen Augenblick, dass ich es unter diesen Umständen ablehne, deine Frau zu werden?«

Er wich ihrem Blick nicht aus. Schließlich nickte er.

»Selbst auf diese Gefahr hin, Juliane, durfte ich nicht schweigen. Du bist ein zu anständiger Mensch, als dass ich dich mit einer Lüge und einem Betrug zu meiner Frau machen könnte. Meine Achtung für dich ist zu groß, und obwohl ich weiß, dass von deiner Antwort alles für uns abhängt, lege ich diese Entscheidung völlig in deine Hände und werde mich deinem Entschluss widerspruchslos fügen. Vielleicht wird die Not eines Tages still werden, wird der wilde Schmerz in meinem Innern ruhiger. Vielleicht kann ich eines Tages zu dir kommen und dir aus ehrlichem Herzen heraus sagen, dass ich dich lieb habe. Dann wird es keine Lüge sein, Juliane, und du wirst meinen Worten bedingungslos vertrauen können.«

Mit einer aufreizenden Bewegung warf sie den Kopf in den Nacken. Ihre braunen Augen flimmerten seltsam, und unzählige kleine Pünktchen schienen darin ihr Unwesen zu treiben.

»Du bist sehr davon überzeugt, Holger, dass ich damit zufrieden bin.« Sie lachte spröde und fuhr dann schnell fort, während ihre Hände sich ineinander verkrampften: »Aber im Grunde genommen kommst du meinen Wünschen entgegen.«

Sie machte eine ruckartige Wendung und schritt an ihm vorbei zum Fenster. Eine Weile stand sie unbeweglich und starrte in den hellen Frühlingstag hinaus, der ihr plötzlich grau und farblos erschien. Sie wandte ihm den Rücken zu, und so konnte er die Not nicht erkennen, die um ihren jungen Mund zuckte, die bittere Enttäuschung in ihren Augen nicht lesen, mit der sie verzweifelt rang.

Als sie sich ihm langsam wieder zuwandte, wirkte sie kühl und beherrscht.

»Auch ich liebe dich nicht, Holger. Dein ehrliches Geständnis macht es mir leichter, es dir zu sagen. Wenn ich bereit bin, deine Frau zu werden, dann geschieht es nur aus dem Grund, weil ich seit Jahren als deine heimliche Verlobte gelte und ich das Gerede der Leute hasse. Hinzu kommt noch, dass ich damit einen brennenden Wunsch meines Papas erfülle, der es für sein Lebensziel hält, unseren Namen mit dem der Osterburgs zu vereinen. Warum soll ich den alten Herrn enttäuschen, der sich ein ganzes Leben dafür abgerackert hat?«

Fassungslos weiteten sich seine Augen. Er starrte das Mädchen an, als sähe er es zum erstenmal in seinem Leben.

War das wirklich Juliane, die diese kalten herzlosen Worte sprach? Die von ihrer Ehe wie von einem Tauschgeschäft redete?

Er schüttelte leicht benommen den Kopf und brauchte eine ganze Weile, um damit fertig zu werden.

»So wärst du nur meine Frau geworden, weil es dir gesellschaftliche Vorteile eingebracht hätte, Juliane?«, kam es langsam, noch immer ungläubig, aus seinem schmalen Mund.

Das Mädchen warf mit einem wilden Ruck den Kopf in den Nacken und sah ihn aus funkelnden Augen an.

»Du sagst es in einem Tonfall, als wolltest du mir daraus einen Vorwurf machen, Holger.«

Sie zuckte die Schultern:

»Wir sind doch moderne Menschen, Holger, und haben uns doch viel zu wenig gekannt, um uns zu lieben, nicht wahr? Du hast dein Herz in einer ausweglosen Liebe verloren und wirbst nur um mich, weil dir keine andere Wahl blieb. Ich nehme deine Werbung an, weil es einmal so ausgemacht war und es auch für Dahmen Vorteile bringt.«

»Du redest sehr geschäftlich über unsere Ehe«, konnte er sich nicht verkneifen, sehr bitter zu sagen, und ihm wurde qualvoll bewusst, wie grundverschieden die beiden Frauen doch waren, die in seinem Leben eine so große Rolle spielten.

Phyllis – schrie sein Herz wild auf. Verzweifelt sehnte der Mann sich in diesem Moment nach der zärtlichen Liebe, dem gütigen Verstehen der Geliebten, nach ihren weichen streichelnden Händen, die alle Not, alle Qual wegwischen würden, als wäre sie nie gewesen.

»Ja, ist sie denn etwas anderes als ein Geschäft, Holger?«, warf das Mädchen ein. »Du bietest mir eine gehobene Stellung, ich aber gebe dir dafür die Mittel, Langen zu halten. Was erwartest du sonst noch von mir?«

»Den ehrlichen Willen, es zu einem guten Ende zu führen, den Wunsch, aus unserer Zwangslage das Beste zu machen«, entgegnete er.

Sie wandte sich wieder brüsk ab, damit er die Tränen nicht erkennen sollte, die auf dem Grund ihrer Augen brannten.

»Das Beste?«, murmelte sie, als spräche sie mit sich selbst. »Wie kann denn Segen auf einer Ehe ruhen, die nur aus nüchterner Überlegung geschlossen wurde?«

Er war hinter sie getreten und legte eine Hand auf ihre Schulter.

»Juliane, wir müssen alles versuchen, damit dieses Leben erträglich wird. Ich bringe den besten Willen mit und bitte dich um ein wenig Geduld, bis mein Herz sich wieder gefangen hat.«

Mit einem weichen, aber unwiderstehlichen Griff, aus dem es für sie kein Entrinnen gab, drehte er das widerstrebende Mädchen zu sich herum und zwang es, ihn anzusehen.

»Juliane, wollen wir versuchen, gute Freunde zu sein?«, fragte er.

Sie sah zu ihm auf. Langsam füllten sich die Augen mit brennenden Tränen, denen sie keinen Einhalt mehr gebieten konnte. Sie rannen die Wangen herunter und verfingen sich in den zuckenden Mundwinkeln.

»Freunde«, flüsterte sie erstickt und senkte wie unter einer schweren Last den blonden Kopf auf die Brust. Ihr Herz bäumte sich auf, wand sich in heißer Not.

Freundschaft, wo sie Liebe und Glück erwartete?

»Ja, wir wollen Freunde sein, Holger.«

Er hob mit einem tiefen Aufatmen ihr gesenktes Gesicht zu sich auf.

»Du sollst es nicht bereuen, Juliane. Ich werde alles versuchen, um dich glücklich zu sehen.«

Sie zuckte wie unter einem harten Schlag zurück.

Schroff befreite sie ihre Hand aus der seinen und blickte ihn hochmütig an.

»Ich erwarte keinerlei Gefühlsausbrüche, Holger, die ich nicht erwidern könnte.«

Seine Hände legten sich fester um ihre Schulter. Hart zog er sie zu sich heran.

»Du – du liebst einen anderen, Juliane – gibt es auch in deinem Leben eine unerfüllte Liebe?«, forschte er.

Die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Unwillkürlich hatten ihre Augen wie fasziniert die seinen gesucht. Beklommen senkte sie schnell die Lider, aber nicht schnell genug, um das Entsetzen, das in ihren Augen stand, zu verbergen.

»Und wenn es so wäre, Holger?«, wich sie einer direkten Antwort aus. »Dann würde es an unserem Entschluss nichts ändern, nicht wahr?«

»Nein, das nicht, Juliane, aber ich wäre dir dankbar, wenn du offen und ehrlich zu mir wärst, so wie ich es zu dir gewesen bin. Schließlich soll es doch zwischen uns keine Geheimnisse geben.«

Mit einem Ruck machte sie sich von seinen Händen frei. Zitternd zündete sie sich eine Zigarette an.

Graf Holger zog leicht unwillig die Augenbrauen hoch. Er liebte es nicht, wenn eine Frau rauchte, aber er sagte kein Wort, sondern reichte ihr höflich Feuer.

Tief sog sie den Rauch ein und stieß ihn langsam wieder aus. Sie schien zu den Frauen zu gehören, die durch eine Zigarette ruhiger wurden.

»Nun, Juliane, willst du mir meine Frage nicht offen beantworten?«, drängte er.

Mit einer anmutigen Bewegung schnippte sie die Asche in den Becher und wandte sich ihm dann wieder zu.

»Gut, Holger, du sollst es wissen.« Sie holte kurz Luft, dann sagte sie:

»Ja, ich liebe einen Mann, aber er ist für mich genauso unerreichbar wie die andere Frau für dich. Auch zwischen uns liegt eine ganze Welt von unüberwindlichen Hindernissen. Bei dir ist es, weil sie aus einer anderen Welt kommt, weil sie arm ist. Bei mir liegt es tragischer, Holger.«

Ein hohnvolles Lachen kam von ihren Lippen.

»All diese Hindernisse stehen nicht zwischen mir und diesem anderen Mann, und doch kann es nie ein Glück für mich an seiner Seite geben, denn er liebt mich nicht, sein Herz gehört einer anderen, die all das Glück mit vollen Zügen genießen darf, nach dem ich mich verzehre.«

Keinen einzigen Gedanken verschwendete Graf Holger daran, dass er vielleicht dieser Mann sein könnte, dass dieses frische junge Menschenkind ihm sein Herz spontan zugewandt hatte und nun an seiner Enttäuschung entsetzlich litt und nicht damit fertig wurde.

Freundschaftlich umklammerte er die eiskalte Mädchenhand.

»Ich wünschte, ich könnte dir dein Glück erringen, Juliane. Nichts würde mir dafür zu viel sein«, sagte er ernst, und das Mädchen zweifelte keinen Moment daran, dass es ihm bitterernst mit seinen Worten war.

Mit einem erstickten Laut riss sie sich von ihm los und stürmte aus dem Zimmer. Sie konnte seine Nähe einfach nicht mehr ertragen, fühlte sich am Ende ihrer Kraft.

Wie soll ich täglich seine unmittelbare Nähe ertragen, wie die Kraft finden, Gleichgültigkeit zu heucheln, wenn sich alles in mir nach ihm verzehrt, nach seinen Küssen, nach seiner Umarmung?

In diesen bitteren Stunden war Juliane fest entschlossen, Holger zu bitten, ihr das Jawort zurückzugeben. Aber am nächsten Tag hatte sie nicht mehr die Kraft dazu, empfand sie es als ein wehmütiges Glück, bei ihm sein zu dürfen, seine Kameradin zu sein.

Nie hätte die ungestüme stolze Juliane von Dahmen es für möglich gehalten, dass sie einmal so demütig um die Liebe eines Mannes ringen würde, dass ihr einziges Glück ein stilles Hoffen und Warten auf den Tag sein würde, da der Mann sie in seine Arme nahm und ihr sagte: »Ich liebe dich.«

Graf Holger ahnte nichts von dem Kampf, den seine junge Braut mit sich selbst ausfocht. Er glaubte um ihre Not zu wissen und versuchte ihr über ihre verlorene Liebe hinwegzuhelfen, so gut er vermochte. Freilich ahnte er nicht, dass sein Bemühen Öl in die leidenschaftlich brennende Glut goss.

Aber Juliane von Dahmen hatte gelernt, ihre Gefühle hinter ihrer Freundlichkeit und Beherrschtheit zu verbergen. Wohl schwankte ihre warme Stimme oft bedenklich, wenn ihre Hände sich wie zufällig begegneten oder er seinen Arm wie selbstverständlich um ihre Schultern legte, aber sonst blieb sie völlig ruhig, dass selbst die junge Schwägerin, mit der sie ein herzliches Verhältnis verband, nichts bemerkte.

Nur einmal hatte es wie Panik nach ihr gegriffen, und sie wäre am liebsten geflohen, so weit ihre Füße sie trugen. Als sie an Holgers Arm die Kirche verließ, da zuckte es in ihren dunklen Augen verhalten auf.

Sie hatte die Gestalt hinter dem Pfeiler entdeckt. Nur kurz trafen sich die Blicke der beiden Frauen und blieben ineinander hängen. Dann machte die andere eine erschreckte Bewegung und zog sich hinter den Pfeiler zurück.

Juliane aber sah immer wieder ein bleiches Gesicht vor sich, das von pechschwarzem Haar umgeben war. Die gesunde Bräune hatte einer elfenbeinernen Blässe Platz gemacht. Aus den blauen Augen schrie eine erschütternde Not.

Mit einem einzigen Blick hatte die junge Braut jede Einzelheit schmerzhaft in sich aufgenommen. Hatte die zarte Schlankheit des Mädchens wahrgenommen und kam sich direkt plump neben diesem zierlichen Persönchen vor in ihrer sportgestählten Gesundheit.

So also sah die Frau aus, die das Herz des Gatten gefangen hielt, dass er sich aus ihrem Bann nicht lösen konnte. Es tat weh, entsetzlich weh, und ließ allen Glanz in den großen dunklen Augen verlöschen. Nur der nagende Schmerz, die wilde Eifersucht blieben und machten ihr das Atmen schwer.

Juliane aber gehörte nicht zu den Frauen, die sich schnell unterkriegen ließen. Sie hatte einen starken Willen. Sie hatte sich vorgenommen, Holger zu erobern, und sie würde dieses Ziel nicht mutlos aufgeben.

Ganz langsam fand die junge Frau zu ihrer angeborenen Fröhlichkeit zurück, und ehe der Abend verging, klang immer häufiger ihr herzliches, mitreißendes Lachen auf und ließ selbst um den zusammengepressten Mund des jungen Grafen ein vages Lächeln erscheinen.

Ihre Bewegung jedoch war müde, und eine große Erschöpfung lag über ihren Zügen, als sie sich spätabends in ihr Zimmer begab. Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen, während sie sich unverwandt im Spiegel betrachtete.

Nein, neben dieser fremdartigen dunklen Schönheit der anderen konnte sie nicht bestehen. Ihr Kampf um sein Herz würde wohl immer erfolglos sein.

*

Auf der Wasserburg Meeresbucht, die in Westfalen stand, war die Wiege des weitverzweigten Geschlechts der Freiherrn von Lassberg. Die im Mittelalter erbaute Wasserburg mutete romantisch an und zog alle Blicke entzückt auf sich.

Die Ritter von Lassberg bauten die Festung auf einer natürlichen Insel im See, denn im Flachland Westfalens fanden sie keinen Berg, der ihnen als natürliche Verteidigungsbastion hätte dienen können.

Die Türme spiegelten sich im Wasser, und wohl keiner konnte sich dem idyllischen Reiz entziehen, der von diesem alten Gemäuer ausging.

An den schilf- und weidenumstandenen Ufern nisteten seltene Wasservögel. Schwäne zogen majestätisch ihre Bahn. Ein seltenes schwarzes Schwanenpaar war der ganze Stolz des jetzigen Besitzers, des Freiherrn Alexander von Lassberg. Er hatte es sich vor Jahren von einer Auslandsreise mitgebracht, und sie waren seitdem das Prunkstück seines Parks.

Es war sehr still auf Meeresbucht geworden. Der Freiherr lebte wie ein Einsiedler auf seiner Burg und lud nur sehr selten einmal Gäste ein.

Seine Ehe mit der lebensfreudigen Anette von Grimm war nicht besonders glücklich gewesen.

Sie verstand den ernsten, stillen Mann nicht, der lieber in seinen vier Wänden blieb, als draußen dem Vergnügen nachzulaufen.

Eines Tages war die junge Frau plötzlich verreist und kam nie mehr zurück. Ihre beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, blieben bei dem Vater und wuchsen unter seiner strengen Aufsicht zu wohlerzogenen Kindern heran. Mit keinem Wort sprach der Vater von der Mutter, und die Kinder wagten nicht nach ihr zu fragen, nachdem der Vater es ihnen einmal streng verboten hatte, obwohl ihre Herzchen sich nach der immer fröhlichen Mutter sehnten.

Keiner erfuhr, was sich wirklich damals abgespielt hatte, warum die schöne Gräfin spurlos verschwand.

Man hörte nur, dass der Freiherr sich hatte scheiden lassen, aber die Gründe wurden nicht bekannt, da der einzige, der sie kannte, verbissen darüber schwieg und sich noch nicht einmal seinem besten Freund anvertraute.

Es schien, als hätte er seine Gattin völlig aus seinem Leben gestrichen, und wenn nicht die beiden Kinder gewesen wären, die ihn immer wieder an die treulose Frau erinnerten, so hätte er alles für einen wüsten Traum gehalten.

In den letzten Wochen war die langjährige Erzieherin seiner beiden Kinder schwer erkrankt und würde ihren Dienst nicht mehr antreten können.

Freiherr von Lassberg sah sich gezwungen, nach einer neuen Erzieherin Umschau zu halten.

Verdrießlich machte er sich daran. Es behagte ihm nicht, denn er mochte nicht gerne neue Gesichter um sich.

Für heute hatte sich eine junge Bewerberin angesagt. Vielmehr, er hatte ihren Brief aus dem Stoß Angebote hervorgesucht und sie in engere Wahl gezogen.

Sie hatte ein Jahr bei einer alten Dame als Gesellschafterin gedient und war durch deren Tod von ihrer Verpflichtung befreit worden.

Sie konnte zwar nur ein einziges Zeugnis vorweisen, weil es ihre erste Stelle war. Aber etwas war an ihrem Schreiben, das so bescheiden und doch stolz klang, was ihn eigenartig berührte und ihn bewog, ihr zu schreiben, dass sie sich bei ihm vorstellen sollte.

Er hatte seinen Kutscher zum Bahnhof geschickt, um die junge Dame mit dem Wagen abzuholen.

Nun fuhr der Wagen über die große Brücke und bog in den breiten Parkweg ein. Es ging im schnellen Trab durch den wundervoll gepflegten Park. Überall blühte es in überschwänglicher Fülle, und der Duft der Blumen und Sträucher schwängerte die Luft.

Das junge Mädchen, das lässig zurückgelehnt im Wagen saß, sah sich interessiert um.

Ab und zu leuchteten ihre Augen wie trunken auf, dann geisterte ein winziges verträumtes Lächeln um den blassroten feingeschwungenen Mund.

Sie bogen in den Burghof ein.

Drei mächtige Hühnerhunde kamen in langen Sätzen herbei und umsprangen kläffend das Gespann. Die Pferde warfen erregt die Köpfe hoch und wichen schnaubend zur Seite.

Vom Haus her drang eine kernige Männerstimme, die die Hunde mit hartem Befehl zurückrief.

Das Mädchen hob den Kopf und wandte das Gesicht in die Richtung, aus der die befehlsgewohnte Stimme aufgeklungen war.

Sie sah einen großen kräftigen Mann, der einen grünen Jägeranzug und braune Jagdstiefel trug, über den Hof kommen.

Unweit von ihr blieb er stehen und warf einen prüfenden Blick zu ihr hin.

Dann kam er langsam näher und blieb bei ihrem Wagen stehen. Er zog seinen Hut und fragte höflich:

»Fräulein Uhlig?«

Das Mädchen neigte mit einer anmutigen Bewegung den Kopf. Eine vorwitzige Locke löste sich und fiel ihr in die Stirn, was ihr etwas herbes Gesicht sonderbar weich und jung machte.

Groß und voll richteten sich die blauen Augen auf den Mann, der ihr nun höflich die Hand reichte, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein.

»Herzlich willkommen auf Meeresbucht, Fräulein Uhlig. Ich bin Freiherr von Lassberg.«

Das Mädchen nahm die gereichte Hand.

»Ich danke Ihnen, Herr Baron, für Ihre Einladung«, sagte sie mit einer Stimme, bei deren Klang der Mann überrascht die Augenbrauen hochzog.

»Kommen Sie ins Haus, damit wir alles in meinem Zimmer besprechen können, Fräulein Uhlig.«

Er winkte einen Diener heran und befahl, das Gepäck des gnädigen Fräuleins ins Haus zu tragen.

»Aber Sie wissen doch gar nicht, ob Sie mich brauchen können, Herr Baron«, brachte das Mädchen leicht betroffen hervor, dem es bei dem Tempo des finsteren Mannes etwas schwindelte.

Er wehrte fast schroff ab und sah sie mit einem durchdringenden Blick an.

Ihr wurde es seltsam unter diesem Blick zumute.

Noch nie glaubte sie so durchdringend helle Augen von einem so seltsamen Gemisch von Grün und Grau gesehen zu haben wie bei dem Burgherrn.

»Ich denke, Sie sind gekommen, um die Stellung anzunehmen?«, fragte er.

In ihren Augen lag Erschrecken. Aber dann glitt ein winziges Lächeln um ihren Mund.

»Ich schon, Herr Baron, aber die Entscheidung liegt ja nicht bei mir allein«, gab sie dann überlegen zurück.

Kurz zuckte es in den graugrünen Augen des Mannes auf. Der freie ungezwungene Ton des Mädchens überraschte ihn. Er war bisher gewohnt, dass man ihn überall ein wenig fürchtete und ihm gern aus dem Weg ging.

Gelassen sah er darüber hinweg, ja, es schien, als gäbe er sich bissiger und unzugänglicher, als er in Wirklichkeit war, weil er lieber allein sein wollte und nicht gerne Menschen um sich hatte.

Seine Angestellten trugen eine unterwürfige Haltung zur Schau, wenn sie mit ihm sprachen. Sie wagten keinen Widerspruch.

Verachtung lag oft in seinem Blick, wenn er hochmütig über sie hinwegsah. Er mochte dieses demütige Ducken nicht. Er war selbst zu sehr Kämpfernatur und achtete einen mutigen Gegner.

Dieses Mädchen schien von anderem Schlag zu sein als die Erzieherin, die bisher auf der Burg gewesen war und keine Entscheidung ohne Rücksprache mit ihm zu treffen wagte. Hoffentlich war dieses Mädchen hier ein wenig selbstständiger und klagte ihm nicht den ganzen Tag die Ohren voll.

Freilich, es würde ihr sehr schwerfallen, an die Kinder heranzukommen, die genau wie er allem Neuen gegenüber misstrauisch und zurückhaltend waren. Sie würden zwar nicht ausgesprochen bösartig werden, aber sie hatten beide eine hochmütige Art, einen anderen zu schneiden, die selbst ihn manchmal verblüffte.

Das Mädchen blieb eine Weile staunend stehen und machte keinen Hehl aus seiner Begeisterung.

Ihre Blicke glitten entzückt über die schweren dunklen Möbel, blieben an den mächtigen Sesseln hängen und schweiften dann über den wundervollen Wandgobelin.

Ihre bewegten Züge gaben sehr offen kund, was sie empfand und wie das wundervolle Zimmer auf sie wirkte. Wie in einem offenen Buch konnte der Mann in diesen klaren Augen lesen.

Er hatte Muße, seinen Blick diskret über die zierliche Gestalt gleiten zu lassen.

Das Mädchen machte einen sehr vornehmen Eindruck und war einfach, aber elegant gekleidet.

Pechschwarzes Haar, wie der Mann es bisher nur selten gesehen hatte, fiel weich und locker in die Stirn. Das Gesicht hatte eine zarte braune Tönung.

Wie dieses Mädchen es in Zukunft schaffen sollte, mit seinen Kindern fertig zu werden, das war dem Mann schleierhaft.

»Kommen wir zur Sache, Fräulein Uhlig«, riss er das Mädchen in die Wirklichkeit zurück.

Phyllis zuckte leicht zusammen und strich sich mit einer hastigen Bewegung die vorwitzige Locke wieder aus der Stirn, eine charakteristische Bewegung, wie der Mann in den wenigen Minuten schon wiederholt festgestellt hatte. Sie schien ihr gar nicht mehr bewusst zu werden.

»Bitte, Herr Baron.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. Mit einem leichten Neigen ihres Kopfes setzte sie sich in den ihr angebotenen Sessel und sah ihn erwartungsvoll an. Nichts an ihr verriet, ob sie erregt war. Nur ihre großen schillernden Augen waren von einem unruhigen Licht erfüllt, während sie die langen dunklen Wimpern vor seinem durchdringenden Blick langsam senkte.

»Wie Sie mir schrieben, waren Sie noch nie bei Kindern, Fräulein Uhlig?«

Sie schüttelte den Kopf:

»Nein, Herr Baron. Ich besuchte die höhere Schule, anschließend das Konservatorium. Nach der Ausbildung bin ich zu meinem Großvater zurückgegangen und blieb bei ihm, bis er starb. Nach seinem Tod nahm ich die Stelle bei Frau von Bergen an.«

Bei der Bemerkung, dass sie das Konservatorium besucht habe, hatte es sekundenlang in seinen hellen Augen aufgeblitzt. Aber mit keinem noch so winzigen Zucken seiner Züge verriet er seine Überraschung.

»Glauben Sie denn mit Kindern umgehen zu können, Fräulein Uhlig? Es ist keine leichte Aufgabe. Kinder sind eines der schwierigsten Kapitel im Leben.«

»Ich habe da keinerlei Bedenken, Herr Baron. Ich habe sehr viel Umgang mit Kindern gehabt. Wenn man sie versteht und sie fühlen, dass man sie gern hat und es gut mit ihnen meint, sind sie leicht lenkbar. Man muss nur die nötige Geduld aufbringen.«

Es klang sehr selbstbewusst und überzeugt und doch nicht überheblich.

»Dann wollen wir es miteinander versuchen, Fräulein Uhlig. Ich hoffe, dass Sie sich nicht zu sehr beklagen müssen.«

»Beklagen?«, wiederholte sie leicht verwundert. »Warum wohl sollte ich mich beklagen müssen?«

Er zuckte die breiten Schultern und stand auf, klingelte nach dem Diener, der wenige Minuten später eintrat und abwartend an der Tür stehen blieb.

»Führen Sie Fräulein Uhlig auf ihr Zimmer«, sagte er zu ihm. Er machte eine leichte Kopfbewegung zu dem Mädchen hin, das sich durch diese fast unhöfliche Verabschiedung etwas betroffen fühlte. Sie neigte stolz den Kopf und schritt dann hinter dem Diener her aus dem Zimmer.

Nachdenklich stand der Baron in der Mitte seines Raumes. Er begriff selbst nicht, warum er so unzufrieden war. Eigentlich hätte er doch froh sein müssen, so schnell einen Ersatz gefunden zu haben.

Innerlich aber graute es ihm davor, wenn diese Neue nun auch jeden Abend in sein Arbeitszimmer eindringen würde, um den Tagesplan für den nächsten Tag bei ihm abzuholen. Dann würde sie wohl auch die Gelegenheit beim Schopf fassen und ihre Klagen vorbringen, weil die Kinder einfach nicht folgen wollten.

Grimmig verzog sich sein Gesicht, dann machte er eine abwehrende Handbewegung, als müsste er etwas Unangenehmes wegscheuchen, und wandte sich seinen Büchern zu.

*

Tage waren vergangen. Wider Erwarten war die neue Erzieherin noch nicht in seinem Arbeitszimmer erschienen. Zwar hatte sie sich von ihm am ersten Tag Informationen geben lassen, aber die täglichen Klagen blieben aus.

Fräulein Uhlig schien entschlossen zu sein, sich ohne seine Hilfe bei den Kindern durchzusetzen. Obwohl er ihren Mut bewunderte, war er doch fest davon überzeugt, dass es ein Fehlschlag werden würde. So gut erzogen seine Sprößlinge auch waren, so konnte ihre stumme Abwehr, ihr verbissener Trotz zermürbend sein; und es gab nicht viele, die bisher damit fertig geworden waren.

Unruhe, aber auch eine große Portion Neugierde trieben ihn nach ein paar Tagen, die luftigen Kinderzimmer aufzusuchen. Etwas wie Mitleid mit dem jungen Mädchen, das vielleicht nicht wagte, sich um Hilfe an ihn zu wenden, war in ihm, sodass er den festen Entschluss fasste, von sich aus helfend einzugreifen.

Aus dem Kinderzimmer drangen ihm laute Stimmen entgegen. Im ersten Augenblick glaubte er, es sei ein Streit ausgebrochen, aber dann blieb er verblüfft stehen. Helles fröhliches Lachen folgte, dann die jubelnde Stimme seiner kleinen Tochter:

»Prima, Tante Phyllis, das machen wir.«

»Hurra, das wird eine knorke Sache werden, Tante Phyllis«, klang die etwas dunklere Stimme seines Sohnes auf.

Im gleichen Moment wurde die Tür ungestüm aufgerissen und die beiden Kinder stürmten auf den Gang. Zwischen sich hielten sie an jeder Hand ihre Tante Phyllis, wie sie die neue Erzieherin spontan genannt hatten, als das Eis gebrochen war.

Wirr hing dem Mädchen das pechschwarze Haar ins Gesicht. Ihre Wangen glühten, und der rote Mund blühte wie eine Rose.

Beim Anblick des Barons blieben alle wie angewurzelt stehen, und eine fast peinvolle Verwirrung malte sich auf allen Zügen.

Der Mann musterte mit hochgezogenen Brauen die Kinder, die in kurzen Turnhosen und Hemdchen vor ihm standen. Dann schweiften seine Blicke von den Kindern zu der Erzieherin, die in einer enganliegenden langen Hose und einer sportlichen Bluse zwischen ihnen stand.

Bisher hatte er seine Kinder in einem solchen Aufzug noch nicht gesehen. Miss Mabel war sehr engherzig gewesen, oft unerträglich altmodisch in ihren Ansichten.

Dieses Mädchen aber schien völlig andere Ansichten zu vertreten, und er wusste zunächst nicht, ob er wütend oder erleichtert darüber sein sollte.

Aber dass sie so handelte, ohne seine Meinung darüber einzuholen, das wurmte ihn doch. Schließlich war er der Vater, und sie hatte sich nach seinen Wünschen zu richten.

Phyllis fühlte eine seltsame Beklemmung unter seinem Blick, und eine heiße Glut stieg ihr ganz langsam in die Wangen.

Mit einer herausfordernden Bewegung, wütend über seine fast unhöfliche Art, sie zu mustern, warf sie den dunklen Kopf zurück und richtete ihre zierliche Gestalt straff auf.

Sie löste ihre Hände aus den sie umklammernden Kinderhänden.

»Lauft schon in den Park, Kinder, ich komme gleich nach.«

Ille warf einen schnellen Blick zu dem Vater hin, dann sagte sie unmutig:

»Warum kommst du nicht gleich mit uns, Tante Phyllis? Wenn du nicht dabei bist, macht es doch keinen Spass.«

Unschlüssig sah das Mädchen von dem Kind zu dem Mann hin. Eine stumme Frage lag in ihren blauen Augen, die ohne Scheu und Furcht zu ihm aufblickten. Etwas, was dem finsteren Mann bisher noch nicht widerfahren war.

»Ich nehme an, dass Sie mich sprechen wollten, Herr Baron?«, brach die ruhige Mädchenstimme das Schweigen.

Er warf einen Blick auf die Kinder, die ungeduldig von einem Bein auf das andere traten und nicht gewillt zu sein schienen, ohne Phyllis zu gehen.

»Ich vermisse Ihren täglichen Rapport, Fräulein Uhlig.«

Ihre blauen Augen weiteten sich verblüfft.

»Rapport, Herr Baron – wie soll ich das verstehen?«

»Miss Mabel gab mir jeden Abend Bericht über alles, was sich im Laufe des Tages zugetragen hatte, und nahm für den nächsten Tag den Tagesplan von mir entgegen. Sie sind nun schon fast acht Tage hier und haben mir noch nicht einen einzigen Bericht oder eine einzige Beschwerde eingereicht.«

Ihre Miene zeigte fassungsloses Staunen. Nun schüttelte sie leicht benommen den Kopf.

»Verzeihen Sie, Herr Baron. Ich hatte keine Ahnung, dass hier militärischer Drill herrscht. Ich habe angenommen, dass Ihre Kinder zu fröhlichen jungen Menschen heranwachsen sollen, ohne von der dauernden Furcht beherrscht zu sein, dass jedes laute Lachen, jede unüberlegte Antwort oder Handlung eine Lawine von Beschwerden und Strafen nach sich ziehen wird«, entfuhr es ihr erregt.

Nun war es an ihm, überrascht zu sein. Es war ein sehr eigenartiger Blick, der ihr glühendes Gesicht streifte. Ohne weiter darauf einzugehen, fragte er dann kühl:

»Was soll dieser Aufzug?« Er deutete auf die Kinder, die es nun doch für ratsamer gehalten hatte, sich schon etwas zu entfernen.

»Wir halten unsere Turnstunde im Freien ab. Es macht den Kindern mehr Spaß und ist gesünder.«

»Spaß – Sie wollen mir doch nicht einreden, dass sie Freude am Turnen haben?«, spottete er und erinnerte sich an die vielen Klagen von Miss Mabel, weil die Kinder unlustig und nur murrend die Turnstunde hinter sich brachten.

»Warum sollte es ihnen keine Freude machen, Herr Baron?«, kam es ruhig und überlegen zurück. »Jede Arbeit macht einem Kind Freude, wenn man versteht, seinen Ehrgeiz oder seine Spiellust anzuregen. Solange sie keinen Zwang fühlen, werden sie willig sein.«

»Hoffentlich erleben Sie keinen Reinfall, Fräulein Uhlig. Ein Kind kann sehr boshaft sein und seine Vorteile bis zur Grenze des Erlaubten ausnutzen. Aber für diesen Fall stehe ich Ihnen zur Verfügung.«

Sie hörte aus seiner dunklen Stimme sehr wohl den leichten Spott heraus. Ihre blauen Augen, die sonst meist sanft waren, blitzten unterdrückt auf.

»Ich werde Ihre Hilfe nicht benötigen, Herr Baron. Ich habe bereits Freundschaft mit den Kindern geschlossen, und es wäre unfair und ein grober Vertrauensbruch, würde ich bei etwaigen Schwierigkeiten zu Ihnen laufen und die Anklägerin spielen. Es würde das Vertrauen der Kinder mit einem einzigen Schlag vernichten.«

»Sie trauen sich sehr viel zu, Fräulein Uhlig.« Ungewollt klang etwas wie Anerkennung durch die raue Stimme.

Sie schüttelte den Kopf:

»Nein, Herr Baron. Ich habe Ihre Kinder von Herzen gern. Ich bin glücklich, dass sie Vertrauen und Zuneigung zu mir gefunden haben. Ich möchte es niemals aufs Spiel setzen.«

Sie wandte sich langsam ab.

»Darf ich mich jetzt entfernen, Herr Baron? Die Kinder versäumen sonst ihre Stunde.«

Er war völlig überrumpelt und nickte nur. Das war ihm noch nie widerfahren, dass er sich einem jungen Mädchen gegenüber wie ein dummer Junge fühlte.

Er war leicht verärgert, als er sich zum Gehen wandte.

Unterdessen aber tummelte sich Phyllis mit den Kindern auf dem Rasen. Sie hatte auf den ersten Blick erkannt, woran es den beiden Kindern fehlte, die mit abweisenden Gesichtern und feindseligen Blicken ihr entgegengesehen hatten, als sie zu ihnen in ihr Zimmer trat.

*

Diese Kinder hatten wenig Liebe kennengelernt. Sie waren trotz ihres großen Reichtums ärmer als das ärmste Bettlerkind, das die Liebe einer zärtlichen Mutter besaß.

In den ersten Tagen hatte sie manchmal verzagen wollen, denn es war sehr schwer, die eisige Ablehnung, die ihr wie eine Mauer entgegenstand, zu überwinden.

Aber dann kam ihr ein Zufall zu Hilfe.

Ille, die kleine Baroness, hatte eine Katze, an die sie ihr Kinderherz stürmisch gehängt hatte. Bisher hatte sie diese Katze nie mit ins Zimmer bringen dürfen, da Miss Mabel es nicht wünschte und sie keine Tiere leiden mochte. Außerdem fand sie es unhygienisch und schädlich, wenn Ille die Katze auf den Arm nahm und koste.

Heimlich musste das Kind sich zu seinem kleinen Liebling stehlen und noch mit empfindlichen Strafen rechnen, wenn Miss Mabel sie ertappte.

In den Wochen aber, wo Miss Mabel im Krankenhaus lag, hatte Mieze es sich zur Gewohnheit gemacht, mauzend im Kinderzimmer zu erscheinen und seiner kleinen Freundin auf den Schoß zu springen.

Als sie an diesem Tag auch wieder im Zimmer erschien, als das neue Fräulein Französisch mit ihnen durchnahm, wurde das Kind bleich bis in die Lippen, und in den großen Kinderaugen stand eine trotzige Angst, als sie wie schützend die Ärmchen um den kleinen Liebling legte.

Phyllis hatte mitten im Sprechen aufgehört.

Schnell trat sie auf das Kind zu und streckte ihre Hand nach dem schneeweißen Kätzchen aus.

»Ist die süß«, sagte sie ehrlich erfreut und streichelte das weiche seidige Fell des schnurrenden Tierchens.

Fassungsloses Erstaunen lag in den Kinderaugen.

»Sie – Sie mögen Katzen, Fräulein?«, fragte die Kleine ungläubig.

Phyllis lächelte und nahm das weiße Wollknäuel auf ihren Arm. Zärtlich streichelte sie das kleine Köpfchen und lachte, als das Tierchen seinen Kopf an ihrem Hals rieb.

»Aber ja, warum soll ich sie denn nicht leiden mögen? Ich hatte zu Hause auch eine Katze. Aber sie war pechschwarz und wurde von allen Satan gerufen. Wir hatten einen großen Hof und einen Garten, da konnte sie herumtollen. Freilich, als sie größer geworden war, da haben wir sie in gute Hände gegeben.«

»Und Sie sind niemals krank geworden?« Ille konnte nicht begreifen.

Verwundert sah Phyllis sie an.

»Krank – aber warum sollte ich denn krank werden?«

Bert war eifrig auf sie zugetreten und sah sie mit den grüngrauen Augen seines Vaters erwartungsvoll an.

»Miss Mabel hat immer ein großes Geschrei angestellt und ist gleich zum Vater gelaufen, wenn Ille die Mieze einmal auf den Arm genommen hat. Sie hat gesagt, man würde schwer krank werden, wenn man viel mit Tieren zusammen ist. Natürlich tat Vater ihr den Willen und verbot Ille den Umgang mit Mieze. Noch nicht einmal in ihr eigenes Zimmer durfte sie das Kätzchen mitnehmen.«

»Hm, freilich, wenn dein Vater es verboten hat, Ille, dann wirst du wohl oder übel gehorchen müssen«, meinte Phyllis. Als sie aber die schmerzliche Enttäuschung in den Kinderaugen erkannte, fuhr sie schnell fort:

»Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wenn deine Mieze stubenrein ist, dann nehme ich sie mit in mein Zimmer, und du kannst da zu jeder Zeit mit ihr spielen, bis ich mit deinem Vater gesprochen habe, dass er dir die Erlaubnis gibt, Mieze mit in dein Zimmer zu nehmen.«

»Das – das würden Sie wirklich tun, Fräulein Uhlig?«, hatte das Kind außer sich gestammelt.

Lächelnd hatte sie genickt und ihr das Kätzchen wieder in den Schoß gelegt.

»Aber ja, Ille, gleich heute werde ich mit ihm sprechen.«

*

Phyllis hatte Wort gehalten. Der Baron hatte sie einen Moment sprachlos angesehen und dann mit einem versteckten Schmunzeln seine Zustimmung gegeben.

Diese spontane Tat aber hatte das Eis um die Kinderherzen zum Schmelzen gebracht. Plötzlich fühlten sie die Zuneigung, die ihnen von dem neuen Fräulein entgegengebracht wurde.

So abweisend und verschlossen sie sich in den ersten Tagen gezeigt hatten, so stürmisch zeigten sie ihr jetzt ihre Zuneigung.

Phyllis war sehr glücklich darüber, und zum erstenmal nach der schmerzlichen Trennung von Holger zog wieder ein stilles Glück in ihr einsames Herz.

Die zwei Jahre, die hinter ihr lagen, waren voller bitterer Einsamkeit und Not gewesen. Nur ganz langsam hatte ihr Herz sich zu einem stillen Frieden durchgerungen.

Nach dem Tod des Großvaters verkaufte Phyllis das kleine Haus, um so rigoros alle Brücken hinter sich abzubrechen, die sie noch an die Heimat banden. Als sie fortfuhr, stand sie hochaufgerichtet, mit unbewegtem Gesicht, am Fenster des Zuges und sah zu dem Dorf zurück.

Ihre Herrin, bei der sie als Gesellschafterin war, war eine alte unzufriedene Frau, der alle Güte fremd war. Sie spannte das Mädchen hart ein, und Phyllis fand kaum einen Augenblick der Besinnung. Aber es war ihr lieb so, denn so hatte sie keine Zeit, ihren quälenden Gedanken, ihrer brennenden Sehnsucht nach dem Mann, dem ihr Herz ausschließlich gehörte, nachzugeben.

Langsam verrannen die Monate. Sie wurden zu Jahren. Noch hatte sie nicht vergessen, noch zuckte ihr Herz schmerzhaft zusammen, wenn sie an Holger erinnert wurde. Aber es war stiller und friedlicher geworden. Von dem einstigen Sehnen war nichts zurückgeblieben als eine entsetzliche Leere.

Zum erstenmal fühlte sie sich nach dieser entsetzlichen Zeit wieder etwas befreiter und ausgefüllter, seitdem sie auf der Wasserburg weilte. Die herzliche Zuneigung der Kinder brachte wieder etwas Glück und Wärme in ihre Einsamkeit, und sie konnte sich schon nach ein paar Tagen nicht mehr vorstellen, ohne die Kinder noch leben zu können.

Als sie jetzt mit ihnen herumtollte, da war sie wieder ein fröhliches junges Menschenkind und hatte alle Schwere für Augenblicke von sich abgeworfen.

Die Schwermut, die sonst wie ein Schatten über ihren Zügen lag, war wie weggewischt. Ihre biegsame Gestalt bewegte sich mit geschmeidiger, anmutiger Grazie und bot ein wundervolles Bild weiblichen Charmes.

Das empfand auch der Mann, der, von seiner heimlichen Neugierde getrieben, in den Park gegangen war, um aus der Ferne die Leibesübungen seiner Kinder zu beobachten. Baron von Lassberg hatte sich nie die Mühe gemacht, sich in eine Kinderseele zu vertiefen.

Er hatte bisher geglaubt, dass es genüge, für das leibliche Wohlergehen und die Ausbildung der Kinder Sorge zu tragen.

Er liebte seine Kinder, aber es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass es damit nicht genug war, dass man es den Kindern auch zeigen musste. Seine Liebe mussten sie doch spüren, ohne dass er viel Worte darüber verlor. Wenn er auch streng zu ihnen war, so war er noch nie ungerecht gewesen, und das hätte ihnen doch verraten müssen, wie besorgt er um sie war.

Er hatte noch nie sein Herz auf der Zunge tragen können sondern seine Gefühle hinter Grobheit und Verschlossenheit verborgen.

Inzwischen wusste er, dass es nicht immer gut war, aber er konnte sich nun nicht mehr ändern. Man musste ihn nehmen, wie er war.

Vielleicht wäre es seiner jungen Frau gelungen, die Herbheit seines Wesens zu mildern, denn er liebte sie von ganzem Herzen. Aber sein verschlossenes Wesen war der lebenshungrigen Frau so fremd, dass sie erst gar keinen Versuch machte, es zu ändern.

So blieb der Mann auch in seiner Ehe allein und einsam. Als sie ihn dann wegen eines anderen verließ, weil er es besser verstand, Liebesworte zu stammeln, da zerbrach etwas in seinem Inneren, das nie mehr heilen konnte.

Zum erstenmal war ihm nun eine Frau begegnet, die nicht voller Furcht vor seinem finsteren, unzugänglichen Wesen zurückwich, sondern mutig ihre Ansichten ihm gegenüber vertrat. Es hatte ihm mehr imponiert, als er es jemals für möglich gehalten hätte …

Jetzt stand er schon eine ganze Weile hinter einer mächtigen Eiche versteckt und beobachtete, wie geschickt sie verstand, Spiel mit Ernst zu verbinden. Ohne dass den Kindern bewusst wurde, dass sie hier eine Schulstunde abhielten, folgten sie jeder noch so schwierigen Übung lachend und freuten sich, wenn ihre Tante Phyllis ein Lob aussprach. Hatte Miss Mabel früher nur daneben gestanden und ihre Anweisungen gegeben, so machte Phyllis jede Übung mit und ließ den Kindern ab und zu den Triumph, besser gewesen zu sein als sie selbst.

Phyllis klatschte in die Hände.

»Schluss für heute, Kinder«, sagte sie etwas atemlos. »Wenn ihr so weitermacht, dann werdet ihr noch einmal etwas Großes leisten können.«

»Ooch, schon Schluss?«, maulte Ille und kam näher geschlendert. »Aber warum denn, Tante Phyllis? Du sagst doch immer, dass nur fleißiges Training zum Ziel führt.«

Das Mädchen lächelte und strich weich über das erhitzte Kindergesicht.

»Das stimmt schon, Ille. Aber du willst doch nicht schon in ein paar Wochen zu einer Sportskanone aufrücken, oder doch?«

»Nee, das nicht, aber es war doch gerade so schön«, murrte die Kleine noch immer unzufrieden, während der Bruder sich faul ins Gras geworfen hatte.

»Siehst du, Ille, auch das gehört zur Disziplin, aufhören können, wenn es noch so schön ist.«

Es klang nicht belehrend, sondern klar und verständlich, dass selbst das Kind es verstehen musste.

»He, willst du wohl aufstehen, Berle.«

Phyllis war zu dem Jungen geeilt, der sich auf dem Boden rekelte und in die Sonne blinzelte.

»Weißt du denn nicht, dass du dir eine Erkältung holen kannst, wenn du dich mit deinem erhitzten Körper auf den kühlen Boden legst?«

Interessiert richtete der Junge sich auf.

»Kann ich davon richtig krank werden, Tante Phyllis? So mit Fieber und allem Drum und Dran?«

Nun war das Mädchen doch einen Augenblick verblüfft.

»Na hör mal, das hört sich ja an, als würde es dir Freude bereiten, krank zu werden?«

Der Junge sah sie mit leuchtenden Augen an.

»Wirst du mich dann pflegen, Tante Phyllis?«, wollte er wissen.

»Dass du dich nur nicht in den Finger schneidest, mein Junge. Die Jacke werde ich dir vollhauen, wenn du nicht gleich aufstehst, du Bengel. Das könnte dir so gefallen, was?«, schalt sie, aber es klang keineswegs erbost. Ihre Stimme klang weich und unsagbar zärtlich. Sie nahm den Jungen bei seinen Händen und zog ihn hoch.

Einen Moment drückte sie ihn an sich und sah ihn ernst an.

»Mit solchen Gedanken spielt man nicht, Bert«, erwiderte sie ernst. »Du willst doch mal ein großer gesunder Junge werden, nicht wahr?«

Voller Vertrauen sah das Kind zu ihr auf.

»Ich werde es nicht mehr tun, Tante Phyllis«, versprach er dann eifrig. Einen Augenblick drängte der Junge sich fester an sie. »Nur, es wäre so schön, wenn du an meinem Bett sitzen würdest und mir eine Geschichte erzähltest.«

Eine unaussprechliche Sehnsucht klang durch die leise Kinderstimme, und sie wühlte das Herz des Mädchens auf.

Sie zwang ein fröhliches Lachen um ihren Mund.

»Aber Bert, dafür brauchst du doch nicht erst krank zu werden. Ich werde es auch so tun, wenn du es dir wünschst.«

Ungläubig riss der Junge die Augen auf.

»Ist das wahr, Tante Phyllis, wirklich wahr?«, brach es erfreut aus ihm hervor.

»Aber ja, Bert. Gleich heute Abend werde ich damit anfangen. Wenn ihr gewaschen seid und euren Teller schön leergegessen habt, dann setze ich mich zu euch und erzähle euch eine wunderschöne Geschichte.«

»Oh, Tante Phyllis, du bist doch die beste, wundervollste Tante auf der ganzen Welt«, jauchzte Ille und warf stürmisch ihre Ärmchen um die Tante. Bert aber drückte sein heißes Gesicht in die Falten ihres Kleides, und Phyllis legte die Arme um die Kinder.

Nun hatte ihr Leben wieder einen Sinn, einen Inhalt bekommen. Sie konnte aus übervollem Herzen Liebe verschenken und Liebe entgegennehmen, ohne dass sie einen anderen beraubte.

*

Still und sehr nachdenklich schritt der Baron in sein Haus zurück.

In der nächsten Zeit beschäftigte er sich mehr als ihm selbst lieb war mit der neuen Erzieherin seiner Kinder. Ohne ihn zu fragen, hatte Phyllis manche seiner Härten gemildert. Die Kinder lebten freier und ungebundener, und ihr frohes Lachen drang immer häufiger in sein Zimmer.

Aus den stillen ernsten Burgkindern waren übermütige Kobolde geworden, die ihre lustigen Streiche machten und keinen verschonten. Nur vor der Tür des Vaters machten sie halt.

Zwar waren sie in seiner Nähe nicht mehr so scheu und bedrückt, aber sie führten sich gesitteter und wohlerzogen auf, gaben nur Antwort, wenn sie gefragt wurden, und nahmen ihre Mahlzeiten schweigend, ohne die Augen zu heben, ein.

Der Baron wusste, dass es viel lauter und lebhafter am Tisch zuging, wenn er nicht anwesend war. Es schmerzte ihn, dass die Kinder kein Vertrauen zu ihm fanden, denn wenn es etwas im Leben gab, was dieser harte Mann liebte, dann waren es seine Kinder.

In den letzten Wochen war er immer häufiger aus seiner kühlen Reserve herausgetreten. Es schien, als ob das ruhige sichere Wesen des jungen Mädchens einen milderen Wesenszug in dem harten Mann ausgelöst hatte, der den Kindern zugute kam. Er beschäftigte sich mehr mit ihnen und nahm sie auch schon einmal mit auf die Jagd, etwas, was noch vor Wochen undenkbar gewesen wäre.

*

Phyllis weilte nun schon fast ein halbes Jahr auf Meeresbucht. Sie liebte die Burg, wie sie einst ihre Heimat geliebt hatte, und ihr war es manchmal, als hätte sie schon immer hier gelebt, als wäre ihr jeder Stein und jeder Strauch schon immer vertraut gewesen.

In der letzten Zeit war häufig Besuch auf Meeresbucht. Zwei Herren fuhren in einem schweren Wagen vor. Der Ältere wurde mit Professor angesprochen, und der Jüngere schien sein Bruder zu sein.

Phyllis hatte bisher ihre Bekanntschaft noch nicht gemacht. Außer einem höflichen Gruß hatten sie noch kein Wort miteinander gewechselt. Phyllis war meist mit den Kindern unterwegs oder hielt sich mit ihnen in ihren eigenen Räumen auf. Sie wusste, der Baron liebte es nicht, wenn seine Gäste von den Kindern belästigt wurden, und so hielt sie die zwei nach Möglichkeit zurück.

Gestern Abend hatte sie den dunklen schweren Wagen wiederkommen hören. An der lebhaften Begrüßung, die in der großen Halle erfolgte, konnte sie ersehen, dass der Baron schon ungeduldig auf seine Gäste gewartet hatte.

Sie ging in ihr Zimmer zurück und zog den Sessel an das geöffnete Fenster. Die Kinder schliefen, und Phyllis liebte diese stillen Stunden.

Sie setzte sich in den Sessel und schaukelte hin und her. Ihre Blicke glitten immer wieder aus dem Fenster. Der gelöste Zug, der in den letzten Wochen auf ihrem Gesicht lag, wenn sie mit den Kindern zusammen war, hatte einem traurigen Ernst Platz gemacht.

Phyllis zog mit einer müden Bewegung den Brief aus der Tasche, den sie morgens mit der Post erhalten hatte.

Er kam von einer früheren Freundin aus der Heimat. Sie hatte geheiratet und teilte es Phyllis mit. Der Brief umfasste fünf Seiten. Immer wenn die Freundin ihr schrieb, erzählte sie ihr alles, was sich im Dorf seit ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Ganz am Schluss schrieb sie von dem jungen Grafen.

Er war seit einem Jahr von einer Reise zurückgekommen und lebte nun wieder auf Langen.

Die junge Gräfin war liebenswert und wurde von allen im Dorf verehrt. Vor zwei Monaten war ein kleiner Graf geboren worden, und es schien, als wäre das Glück auf Langen eingekehrt.

Mit einem wehmütigen Seufzer ließ Phyllis den Brief sinken. Sie gönnte dem einstigen Geliebten sein Glück von ganzem Herzen. Sie trug auch keinen Groll gegen die junge Gräfin in ihrem Herzen, die den Platz eingenommen hatte, den sie sich einmal so inbrünstig ersehnt hatte.

Es war Schicksal, und alles Auflehnen war sinnlos und würde zu keinem Ziel führen.

Mittlerweile war Phyllis soweit, dass sie an Holger ohne Bitterkeit denken konnte. Sie konnte träumen und sich das Bild des Geliebten vor ihr geistiges Auge zaubern und noch einmal all die wundervollen, glücklichen Stunden an seiner Seite in Erinnerung rufen.

Aber es war seltsam. Seitdem sie das von dem Kind wusste, war es ihr, als wäre sein geliebtes Gesicht plötzlich unendlich weit von ihr entfernt, in einen grauen Nebel gehüllt.

All ihr Bemühen, es wieder so klar und deutlich vor sich zu sehen wie bisher, war erfolglos.

*

Es war zehn Uhr, als sie sich müde zur Ruhe begeben wollte.

Sie kleidete sich aus und schlüpfte in ihr Nachtgewand.

Dann trat sie noch einmal an das Fenster und atmete tief die frische Luft ein.

Sie stand reglos wie eine wundervolle Statue und hob ihr schönes verträumtes Gesicht dem Sternenhimmel entgegen.

Phyllis ahnte nicht, dass auf dem dunklen Burghof ein Mann wie angewurzelt stehengeblieben war.

Die zarte Mädchengestalt in dem duftigen leichten Nachtgewand bot einen berauschenden Anblick. Hell umschmeichelte weiches Mondlicht das verträumte Gesicht, und dem Mann war es, als hätte er das strahlende Blau der großen Augen erkennen können.

Beklommen hob ein schwerer Atemzug seine breite Brust, dann wandte er sich ab und verschwand mit harten Schritten im Park.

Leise schloss Phyllis das Fenster und wandte sich ins Zimmer zurück. Sie ahnte nicht, dass ihr Anblick etwas in dem Herzen eines einsamen Mannes zum Klingen gebracht hatte. Dass es wie ein heißer Funken in ein bisher so verhärtetes Männerherz gefallen war und dort ganz langsam zu einer steten Flamme wuchs.

*

Am nächsten Morgen ließ der Burgherr die junge Erzieherin zu sich rufen.

Phyllis war leicht beunruhigt. Bisher hatte der Baron sie noch nie rufen lassen.

War etwas geschehen, war er mit ihr nicht zufrieden?

Bei dem Gedanken stockte ihr fast der Atem. Sie blieb einen Augenblick wie gelähmt stehen und presste angstvoll die Hände gegen das wild hämmernde Herz.

Nur das nicht. Der Gedanke, die Kinder wieder verlassen zu müssen, war so unerträglich für sie, dass er sie mit jagendem Entsetzen erfüllte.

Gewaltsam riss sie sich zusammen und schalt sich selbst aus. Warum gleich das Schlimmste annehmen? Sie hatte sich doch nichts zuschulden kommen lassen. Warum sollte der Baron sie denn entlassen?

Der Baron erwartete sie bereits in seinem Arbeitszimmer. Er stand auf, als sie eintrat, und bot ihr höflich einen Stuhl an.

Erst als sie Platz genommen hatte, setzte er sich auch wieder. Er schob die Blätter, die er vor sich liegen hatte, mit einer schnellen Bewegung zurück.

»Sie werden wohl verwundert sein, dass ich Sie rufen ließ, Fräulein Uhlig«, begann er in seiner beherrschten, ruhigen Art das Gespräch.

Sie sah ihn nur an.

Nun schien er doch ein wenig nervös zu sein. Er stand auf und ging mit unruhigen Schritten um den Schreibtisch herum. Dicht vor ihr blieb er stehen.

»Fräulein Phyllis, ich habe mich entschlossen, mit meinem Freund, dem Professor, für eine längere Zeit auf Reisen zu gehen. Da diese Reise nicht ganz ungefährlich ist, möchte ich vorher alles in meinem Hause in guten Händen wissen. Vor allem das Wohl meiner Kinder möchte ich gesichert sehen.«

Er machte eine kurze Pause, während seine grüngrauen Augen auf sie gerichtet blieben.

»Sie haben die Kinder sehr lieb, nicht wahr, Fräulein Phyllis?«

»Ja, Herr Baron, ich habe sie sehr lieb.« Es klang schlicht, aber gerade darum so überzeugend.

Er nickte, als hätte er diese Antwort erwartet.

»Ich wusste es, Fräulein Phyllis.« Sie wunderte sich, dass er sie nun bei ihrem Vornamen ansprach. Das hatte er bisher noch nie getan.

Und nachdem er tief durchgeatmet hatte: »Werden Sie meine Frau, Phyllis.«

Es kam wie aus der Pistole geschossen, und eine seltsamere Brautwerbung hatte es wohl noch nie gegeben.

Das Mädchen saß wie gelähmt und starrte ihn an, als zweifelte sie an seinem Verstand.

Dann aber schoß ganz langsam eine dunkle Röte in ihre Wangen. Mit einem heftigen Ruck sprang sie von ihrem Stuhl auf.

»Sie vergreifen sich im Ton, Herr Baron«, kam es empört von ihren Lippen. Ihre Augen sprühten förmlich.

Er verzog seinen schmalen Mund zu einem spärlichen Lächeln. Dann zuckte er seine breiten Schultern und sagte mit großer Gelassenheit:

»Ich wüsste nicht, seit wann ein Heiratsantrag etwas Verletzendes hat, Phyllis. Meine Worte waren kein Scherz, sondern es war mir sehr ernst damit.«

Nun sank sie wie aller Kraft beraubt auf ihren Stuhl zurück. Fassungslos starrte sie ihn an.

»Aber das – das ist doch nicht möglich, Herr Baron! Warum wollen Sie mich denn heiraten? Sie kennen mich doch kaum und Sie lieben mich doch gar nicht?«, entrang es sich dann mühsam ihren Lippen.

Mit einer harten Handbewegung durchschnitt er die Luft.

»Ich habe Ihnen meine Gründe gesagt. Ich habe vor, meinen Freund auf eine sehr gefährliche Expedition zu begleiten. Da es aber nicht unmöglich ist, dass uns etwas Menschliches zustoßen kann, so möchte ich die Zukunft meiner Kinder gesichert wissen.

Vor allem will ich sie vor dem Zugriff meiner Frau bewahren. Ihr sollen sie nicht in die Hände fallen. Das kann ich aber nur verhindern, wenn ich wieder heirate und die Sorgerechte meiner zweiten Frau übertrage. Wenn Sie mit meinem Vorschlag einverstanden sind, so werde ich noch heute alles mit meinem Anwalt in Ordnung bringen. Sie werden hier die Herrin sein, und wenn ich nicht mehr zurückkommen sollte, so wird auch Ihre Zukunft auf immer gesichert sein.«

Sein kühler, geschäftsmäßiger Ton empörte sie und brachte sie fast um ihre Fassung. Mit einem unterdrückten Laut sprang sie auf und stand nun am ganzen Leib zitternd vor ihm.

»Sie wurden mir als kalt und unsagbar hochmütig geschildert, Herr Baron. Ich habe es nicht geglaubt, weil ich gewohnt bin, mir mein eigenes Urteil zu bilden. Ich war versucht, hinter Ihrer Kälte mehr Herz zu suchen, als es vielleicht gut war. Aber jetzt – jetzt weiß ich, wie recht diese Menschen alle hatten. Ja, Sie sind kalt und ohne Gefühl. Sie sind wie ein Eisblock, und nichts ist Ihnen heilig. Noch nicht einmal die Ehe.«

Nie hatte der Mann es für möglich gehalten, dass soviel Temperament in diesem sonst so stillen, ernsten Mädchen steckte. Wie gebannt hingen seine Blicke an dem aufgewühlten Gesicht, und sein Herz schlug einen dumpfen schnellen Rhythmus.

Nur mühsam bezwang er seinen jähen Zorn, der unter ihren Anklagen in ihm aufloderte.

»Ich weiß nicht, was Sie erwarten, Phyllis. Zu einem schmachtenden Liebhaber tauge ich nun einmal nicht. Ich achte Sie, und das bedeutet bei mir sehr viel, wie Sie auch schon gehört haben.«

Er lachte schneidend, aber das Mädchen hörte doch die ungeheure Bitterkeit aus diesem Lachen heraus, und ihr Zorn schwand jäh.

»Ich weiß, was man hinter meinem Rücken erzählt, Phyllis, aber es hat mich nie berührt. Die Meinung meiner lieben Mitmenschen ist mir völlig schnuppe. Ich weiß, dass ich in ihren Augen ein Grobian bin, ein Weiberschreck, ein unmöglicher Gesellschafter. Es lässt mich kalt. Ich habe nichts gewollt als meine Ruhe, und da man sie mir nicht lassen wollte, habe ich eben schärfere Geschütze aufgefahren. Nun habe ich meine Ruhe, aber die gute Meinung über mich ist auch futsch.«

Er lächelte grimmig. Seltsam glitzerte es in seinen hellen Augen.

»Man ist in unseren Kreisen sehr schnell damit bei der Hand, einen Menschen in Grund und Boden zu verdammen oder ihn in den Himmel zu erheben.«

Er wehrte schroff ab und fuhr dann wieder gleichmütig fort: »Aber warum erzähle ich Ihnen das alles? Was Sie von mir zu halten haben, das werden Sie selbst am besten wissen, denn ich traue Ihnen ein gesundes Urteil zu.«

Eine dumpfe Beklommenheit hatte von ihr Besitz ergriffen. Etwas seltsam Zwingendes ging von diesem kräftigen hochgewachsenen Mann aus, der stolz aufgerichtet vor ihr stand und keinen Blick von ihr ließ.

»Ich biete Ihnen meine Hand, Phyllis. Ich habe bemerkt, dass Sie Meeresbucht lieben, dass Sie sehr gerne hier leben. Wenn ich alles in Ihren Händen zurücklassen könnte, dann würde ich beruhigt sein.«

Sie überlegte kurz.

»Es ist eine hohe Ehre, Herr Baron, aber ich fürchte, ich würde Sie enttäuschen. Ich stamme aus einfachen Verhältnissen und besitze keinerlei Reichtümer. Ich gehöre nicht in Ihre Welt, und man würde Ihnen diesen Fehlgriff niemals verzeihen.«

»Bisher habe ich immer nur so gehandelt, wie ich es vor meinem Gewissen verantworten konnte, Phyllis. Ich bin keinem anderen Rechenschaft schuldig, bin mein eigener Herr. Sie tragen keinen adligen Namen, aber Sie tragen einen unschätzbaren Adel in Ihrem Herzen, und der ist mehr wert als alle Reichtümer und Schätze der Welt. Sie sind fähig, zu lieben und Wärme um sich zu verbreiten. Sie lieben meine Kinder, als wären es Ihre eigenen.«

Seine sonst harte Stimme hatte einen sonderbar weichen Klang angenommen.

»Sehen Sie, Phyllis, man mag mir Gefühlskälte nachsagen, aber meine Kinder liebe ich.«

Es war deutlich herauszuhören, wie schwer ihm dieses Bekenntnis wurde. Seine Stimme klang ungewöhnlich rau:

»Ich weiß, wie sehr meine Kinder Wärme und Liebe vermisst haben. Eigentlich habe ich es erst erkannt, als Sie ins Haus kamen und ich sah, wie die Kinder unter Ihrer Obhut auflebten und zu echten Rangen wurden. Sehen Sie, aus diesem Grund bitte ich Sie, meine Frau zu werden.«

»Und Sie, Herr Baron, befriedigt Sie wirklich das Leben, das Sie seit Jahren führen?« Wie unter einem fremden Zwang flüsterte sie es.

»Ich – Phyllis?«, murmelte er und sah an ihr vorbei. Eine erschütternde Einsamkeit lag über seinen Zügen.

»Ich kann nicht mehr glauben und vertrauen.«

Sie nickte.

»Ich weiß, es ist sehr schwer, Herr Baron. Das Herz will keine Ruhe geben, wenn der Verstand einem auch immer wieder einhämmert, dass alles vorbei ist und keine Hoffnung mehr besteht. Aber man soll sich nicht selbst darüber völlig vergessen, Herr Baron.«

Überrascht zuckte es in seinen Augen auf.

»Was wissen denn Sie junger Mensch schon von Liebe und Enttäuschung?«, stieß er hervor.

Ein wehes Lächeln geisterte um ihren Mund. Ernst sah sie ihn an.

»Auch ich habe geliebt und gelitten, Herr Baron. Monate habe ich gebraucht, um mich wieder zurechtzufinden und zu merken, dass das Leben weitergeht, dass die Welt vor meinem Schmerz nicht stillsteht.«

»So wurden auch Sie betrogen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, wir liebten uns, mussten uns aber trennen, weil das Schicksal gegen uns entschied. Er war aus gutem Hause, ich nur eine arme Bürgerliche. Er musste die Frau heiraten, die sein Vater ihm aussuchte, ihm blieb keine Wahl – die Heimat und das Leben seines Vaters standen auf dem Spiel. So gab ich ihn mit blutendem Herzen frei und ging fort.«

Er hatte sich schon bei ihren ersten Worten abgewandt und stand nun am Fenster und sah hinaus.

»Sie wussten sich aber geliebt, Phyllis, und er betrog Sie nicht.«

Bei seinen letzten Worten hatte er sich ihr langsam wieder zugewandt.

»Ja, er hat mich geliebt. Aber ich habe täglich gefleht, dass er mich vergessen möchte, dass er sein Glück bei der anderen findet, die gut und reizend ist. Ich erfuhr vor ein paar Tagen, dass er einen kleinen Sohn hat.«

Phyllis wusste selbst nicht, wie es kam, dass sie so offen mit dem Mann über alles sprach, was sie bisher vor jedem Fremden verborgen hatte.

Etwas ging von ihm aus, was ihr unbedingtes Vertrauen einflößte.

Mit einem undefinierbaren Blick sah er sie lange an, dann sagte er leise:

»Sie sind ein seltsames Menschenkind, Phyllis. Ich glaube, es wäre ein großes Glück für Meeresbucht, wenn Sie meine Frau würden.«

»Erwarten Sie wirklich, dass ich Ihren sehr eigenartigen Antrag ernst nehme, Herr Baron?«

Er zuckte gelassen die Schultern und spielte mit dem schweren Goldring an seinem Finger. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf und sah sie an.

»Warum wohl sollten Sie meine Werbung ablehnen, Phyllis? Eine bessere Chance, ein sorgloseres Leben zu führen, werden Sie wohl kaum noch einmal im Leben geboten bekommen. Hinzu kommt, dass Sie die Kinder wirklich lieben. Phyllis, wollen Sie es nicht mit mir versuchen? Ich werde alles tun, damit Sie sich hier wohlfühlen.«

Etwas in dieser Stimme machte es Phyllis unmöglich, schroff abzulehnen. Sie hob ihm langsam ihr Gesicht entgegen und sah ihn voll an.

Einen Augenblick blieben ihre Blicke ineinander hängen. Forschend. Es war, als ob sie sich gegenseitig bis auf den Grund ihrer Seele sehen wollten.

In den grüngrauen Männeraugen lag eine stumme Bitte. Sein Blick war zwingend, von einem fremden Leuchten angefüllt, das ihr Herz seltsam aufwühlte und ihr Blut schneller durch die Adern kreisen ließ.

»Ich frage dich noch einmal, Phyllis, willst du meine Frau werden?« Er hatte wie selbstverständlich nach ihren Händen gegriffen und zog sie langsam zu sich heran.

Phyllis wusste nicht, wie ihr geschah.

Plötzlich war jeder Widerstand in ihr zusammengesunken.

Wie unter einem fremden Zwang senkte sie den Kopf, und während eine heiße Glut ihre Wangen ganz dunkel färbte, erwiderte sie leise:

»Ja, ich will Ihre Frau werden.«

Er tat einen tiefen gepressten Atemzug. Es war ihr, als griffen seine Hände fester zu, dann gab er sie wieder frei.

»Ich danke dir, Phyllis.«

»Sie setzen ein sehr großes Vertrauen in mich, Herr Baron. Fürchten Sie nicht, dass ich Sie enttäuschen werde?«

Spontan wehrte er ab.

»Nein, du wirst mich nicht enttäuschen, Phyllis. Wenn deine Augen lügen, dann könnte ich nie mehr in meinem Leben einem Menschen vertrauen.«

Sie fand keine Antwort mehr. In ihr tobte eine Aufruhr, dem sie kaum noch Herr werden konnte.

»Bitte, ich – ich möchte allein sein. Darf ich mich entfernen?«, brachte sie mühsam hervor.

Er nickte lächelnd. Einen winzigen Augenblick strichen seine Finger über ihr glänzendes Haar, dann trat er beherrscht zurück.

»Gut, Phyllis. Ich gebe dir Zeit, es dir reiflich zu überlegen. Es soll dein freier Entschluss sein. Vergiss nicht, wenn du mir einmal dein Wort gegeben hast, dann wird dich nichts auf der Welt davon befreien können. Ich würde einen Wortbruch niemals verzeihen können, und ich glaube, ich würde mich grausam rächen, sollte ich mich betrogen fühlen.«

Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Wie hart, wie eisig diese Stimme klingen konnte.

»Warum sagen Sie mir das?«, fragte sie verwirrt.

»Damit du weißt, was dich erwarten würde, solltest du es nicht ehrlich meinen, Phyllis. Ich sage es dir jetzt schon, damit du es reiflich überprüfst. Sage nein, wenn du glaubst, nicht die Kraft zur unbedingten Treue zu haben, denn wenn du erst einmal meinen Ring trägst, gibt es kein Entrinnen mehr.«

Er sagte es ganz freundlich, aber mit einem leisen, drohenden Klang, der ein jähes Entsetzen in ihr hochtrieb.

Ohne eine Antwort zu geben, wandte sie sich wie auf der Flucht ab und verließ überhastet das Zimmer, um mit sich allein zu sein.

*

Phyllis fühlte eine dumpfe Furcht in sich. Die ungeschminkte Drohung, die in seinen Worten gelegen hatte, stimmte sie nachdenklich.

Sie schalt sich eine Törin. War es denn verwunderlich, dass er solche Worte sagte, nachdem er schon einmal so bitter enttäuscht wurde?

Warum erregte sie sich so? War es nicht ihre selbstverständliche Pflicht, ihm eine gute Frau zu sein, wenn sie seine Werbung annahm? Warum nur hatte sie sich so betroffen gefühlt, warum hatte sie diese Angst in sich?

Immer wieder stellte sie sich diese Frage und fand keine Antwort darauf.

Die Kinder stürmten ins Zimmer, verwundert darüber, dass ihre Tante Phyllis sich nicht mehr blicken ließ.

»Hast du uns vergessen?«, wollte Ille in ihrer ungestümen Art wissen.

Phyllis legte einen Arm um die kleine Kindergestalt und presste sie ungestüm an sich. »Ille, hast du mich lieb?«, fragte sie, als hinge von der Antwort des Kindes alles für sie ab.

Leidenschaftlich warf Ille die kleinen Ärmchen um ihren Hals und küsste sie stürmisch ab.

»Ich hab’ dich so schrecklich lieb, Tante Phyllis, ich wäre ganz traurig, wenn du nicht mehr bei uns bist.«

Tränen standen bei dieser leidenschaftlichen Erklärung in Phyllis’ Augen.

Plötzlich zog Ruhe in ihr Herz. Nun wusste sie, wohin sie gehörte, welche Aufgabe das Leben ihr bestimmt hatte. Konnte es etwas Herrlicheres geben, als für diese Kinder zu sorgen, ihnen eine gute, zärtliche Mutter zu sein?

»Und du, Bert, würdest du auch froh sein, wenn ich für immer bei euch bleiben würde?«, wandte sie sich an den Jungen, der sich leicht an sie lehnte.

Bert warf den Kopf mit einer stolzen Bewegung in den Nacken. Seine grauen Augen erinnerten sehr stark an seinen Vater.

»Du musst immer bei uns bleiben, Tante Phyllis, du gehörst doch zu uns«, sagte er sehr bestimmt, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, und als gäbe es nichts, was die Tante noch einmal von ihnen trennen könnte.

»So, und was würdest du sagen, wenn ich eure Mutti würde, wäre es dir recht, Bert?«, fragte sie verhalten und legte ihren Arm um den Jungen.

Selig leuchteten die Kinderaugen auf. »Oh, Tante Phyllis, wenn du unsere Mutti würdest, das wäre wunderschön!«

»O ja, Tante Phyllis, dann bliebest du immer bei uns und gingest nie mehr fort. Miss Mabel kommt dann doch nicht mehr zurück, nicht wahr, du bist dann doch für immer bei uns?«, jauchzte Ille glücklich.

Phyllis umschlang die Kinder, und ihr Herz war mit einem unbeschreiblichen Glück erfüllt.

»Kommt, Kinder, wir wollen gleich zu eurem Vater gehen und ihm sagen, dass ich gerne eure Mutter werden will und für immer bei euch bleiben werde«, sagte sie im plötzlichen Entschluss.

»Prima, Tante Phyllis, da wird der Vater aber staunen. Aber wenn er nicht mag, wirst du dann nicht unsere Mutti?«, wurde die eben noch so jauchzende Stimme zaghaft, und bange Kinderaugen sahen sie an.

Liebevoll strich sie über das blonde Köpfchen.

»Keine Angst, dein Vater wird schon mögen, kleine Ille.«

»Wenn er nicht will, Tante Phyllis, dann werde ich dich heiraten«, versicherte Bert eifrig.

»Das ist aber sehr lieb von dir, Bert.« Sie lachte zärtlich und gab dem Jungen einen Kuss. »Jetzt kann mir ja nichts mehr geschehen.«

Einträchtig hingen die Kinder sich an ihren Arm, und gemeinsam betraten sie nach kurzem Anklopfen das Arbeitszimmer ihres Vaters.

*

Der Burgherr hob verwundert den Kopf, als er die drei eintreten sah. Aber ehe er eine Frage stellen konnte, hatte Bert sich schon von Phyllis gelöst und war vor seinen Vater getreten.

»Papa, wenn du Tante Phyllis nicht heiraten magst, dann werde ich es tun«, erklärte er wie ein Erwachsener.

Der Baron saß eine Weile wie erstarrt. Er sah verdutzt auf seinen Sohn, dann hob er den Blick und sah fragend zu dem jungen Mädchen, das mit einem feinen Lächeln um den roten Mund zwischen den Kindern stand.

Nun schien Ille es an der Zeit zu finden, dem Bruder zu Hilfe zu kommen.

Sie riss sich von Phyllis’ Hand los und stellte sich neben Bert.

»Du musst nämlich wissen, Papa«, begann sie altklug, »dass wir Tante Phyllis als Mutter haben möchten, damit sie uns nie mehr allein lassen kann.«

»Das sieht mir fast nach einer Verschwörung aus«, sagte er dann mit einem amüsierten Lächeln. Seine Augen suchten wieder mit jenem rätselhaften Blick, den Phyllis sich nicht erklären konnte, ihre Augen und blieben fragend darin hängen.

»Und was sagt Tante Phyllis dazu? Will sie denn eure Mutti werden?«, wollte er wissen.

Phyllis legte ihre Arme um die Kinderschultern. Zärtlich zog sie sie an sich und sah ihn offen an.

»Ja, ich will, Herr Baron. Ich liebe sie, als wenn es meine eigenen wären. Ich will ihnen eine gute Mutter sein.«

Eine Weile standen sie sich schweigend gegenüber. In seinem kantigen Gesicht regte sich kein Muskel, nur seine Augen schienen dunkler zu werden und ihr Glanz intensiver.

Dann streckte er ihr plötzlich mit einem tiefen Atemzug seine Hand entgegen.

»So wollen wir es denn miteinander versuchen, Phyllis. Mögest du deinen Entschluss nie bereuen.«

Er richtete sich auf und warf einen Blick auf die Kinder, die ihn erwartungsvoll anschauten.

»Na, Bert, freust du dich denn gar nicht?«, neckte er den Jungen, der einen unzufriedenen Eindruck machte. »Nun wird Tante Phyllis doch eure Mutti.«

»Aber ich wollte sie doch heiraten«, konnte er seine Enttäuschung nicht völlig verbergen.

Verhalten lachte der Vater und strich über das krause Haar seines Sohnes.

»Das würde aber noch viele Jahre dauern, bis du heiraten kannst, mein Sohn. Dann würde Tante Phyllis längst auf und davon sein, und du hättest das Nachsehen. Es ist schon besser, ich heirate sie, und sie wird deine Mutti, dann kann sie dir nicht mehr davonlaufen und muss für immer bei uns bleiben.«

Das schien Bert einzuleuchten, und so nickte er gnädig seine Zustimmung.

»So, Kinder, nun lauft aber, ich habe noch allerhand mit Tante Phyllis zu besprechen.«

»Ooch, du kommst nicht mit uns?« Ille war bitter enttäuscht. Sie war eigentlich die Einzige, die es immer wieder versuchte, dem Vater zu widersprechen.

Der Mann setzte eine strenge Miene auf.

»Du wirst jetzt ganz artig sein und mit deinem Bruder spielen gehen. Tante Phyllis wird nachkommen, wenn wir alles besprochen haben.«

Vor diesem Befehl wagte auch die Kleine keinen Einwand mehr. Trotzig schürzte sie die roten Lippen und zerrte den Bruder ungestüm mit sich hinaus.

Phyllis musste gewaltsam ein amüsiertes Lächeln unterdrücken. Ille sah auch zu reizend in ihrem kindlichen Trotz aus.

Der Mann bemerkte sehr wohl das Zucken um ihren Mund und wusste es auch zu deuten.

Leicht verweisend schüttelte er den Kopf und sagte mit leichtem Vorwurf:

»Hoffentlich verwöhnst du die Rangen nicht allzu sehr, Phyllis. Auch Liebe kann manchmal nicht angebracht sein.«

»Nein, Herr Baron. Nicht wenn man sie richtig anwendet.«

Sein Mund verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln. Dann meinte er mit leichtem Vorwurf: »Wie wäre es, wenn du den Baron fortlassen würdest, Phyllis? Schließlich ist es ja unter Verlobten so üblich.«

Sie kämpfte einen Moment mit ihrer Verwirrung, dann sagte sie unsicher:

»Ich werde es versuchen.«

Er sah sie unverwandt an.

»Dann versuche es nur gleich, Phyllis. Nenne mich Alexander oder Axel, wie meine Freunde es tun.«

Gebannt sah sie zu ihm auf, und wie unter einem fremden Zwang murmelte sie:

»Ich werde Axel sagen, der Name ist geläufiger.«

Verhalten zuckte es in seinen Augen auf, aber er verriet mit keinem Wort, ob es ihn freute, dass sie ihn wie seine Freunde einfach Axel nannte.

»Komm, Phyllis, setz dich. Ich glaube, nun stoßen wir beide erst einmal auf eine glückliche Zukunft an.«

Sie setzte sich nur zögernd, denn seine Nähe bedrückte sie und machte sie unsicher. Etwas, was ihr nur sehr selten widerfuhr.

Durchdringender Rosenduft strömte durch das offene Fenster ins Zimmer und erfüllte es mit einem berauschenden Wohlgeruch. Die feinen Nasenflügel des Mädchens blähten sich leicht, und dieses feine Vibrieren verriet deutlich, wie erregt sie war.

Er hatte nach dem Diener geklingelt und ihm den Auftrag erteilt, eine Flasche von dem besten Wein und zwei Gläser zu bringen.

Der alte Diener riss erstaunt die Augen auf. Ein verblüffter Blick traf das Mädchen, und es war seiner Miene deutlich anzumerken, dass ihre Anwesenheit ihn verwunderte.

Ob der Baron mit ihr den Wein trinken wollte? Das war aber mehr als seltsam.

Baron von Lassberg verzog mokant seinen Mund. Er ahnte, was in seinem Diener vor sich ging, und er wusste auch, dass die Tatsache, dass er mit der Erzieherin seiner Kinder Wein trank, schon sehr bald die Runde durch das Haus machen würde.

»Musste das sein, Axel?«, fragte Phyllis mit leichtem Vorwurf. Es war ihr unangenehm, der Mittelpunkt von Dienstbotenklatsch zu sein.

»Warum?«, kam es gleichmütig zurück. »Morgen werden sie alle wissen, dass du meine Braut bist, und ihre Neugierde ist befriedigt.«

»Wird man es dir in deinen Kreisen nicht übelnehmen?«

»Soll man – was kümmert es mich? Ich bin mein eigener Herr und von niemandem abhängig.«

»Aber deine Verwandten?«, warf sie ein.

Er zog seine Augenbrauen hoch und sah sie an.

»Warum machst du dir Gedanken, Phyllis? Glaubst du meinen Worten nicht, wenn ich dir erkläre, dass ich gewohnt bin, das zu tun, was ich für richtig halte? Keiner meiner Verwandten würde es auch nur auf einen Versuch ankommen lassen, mir in etwas dreinzureden, was ich entschieden habe.«

Er trat auf sie zu und hielt ihr sein Etui hin. Als sie ablehnte, zuckte es befriedigt in seinen Augen auf. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, sagte er betont:

»Ich hoffe, du hast Vertrauen zu mir, Phyllis, denn ohne Vertrauen zueinander würde unsere Ehe unmöglich sein.«

Sie sah an ihm vorbei aus dem Fenster und musste daran denken, mit welcher Furcht im Herzen sie hierhergekommen war, weil man ihr im Dorf nicht gerade Mut gemacht hatte, als sie davon sprach, dass sie die Stelle auf der Burg anzunehmen gedachte. Die gutmütige Wirtin aus dem Bahnhofslokal hatte sie gewarnt und gemeint, es sei schon besser, wenn sie erst gar nicht bis zum Schloss hinausfahren würde, denn es müsse ja furchtbar für ein so junges Mädchen sein, mit so einem finsteren Gesellen unter einem Dach zu leben.

Langsam kehrte ihr Blick zu ihm zurück. Ein feines Schwingen lag in ihrer weichen Stimme, als sie sagte:

»Ich vertraue dir, Axel, ich weiß, dass du gut und edel bist.«

»So hast du keine Furcht vor mir?« Es klang so überrascht, dass sie leise auflachte.

»Nein, warum sollte ich mich fürchten?«

Er rieb sich hastig über die Augen. Es war eine fahrige, verwirrte Geste, die sie rührte.

»Aber alle fürchten mich doch. Wie kommt es nur, dass du vom ersten Augenblick an keine Angst vor dem finsteren Gesellen hattest?«

»Vielleicht, weil ich verstanden habe, einen Blick hinter den eisigen Wall zu werfen, hinter dem der Burgherr seine wahren Gefühle versteckte«, kam es ernst zurück.

Er hatte sich abgewandt, als ertrüge er den Blick der großen schönen Augen nicht länger. Seine sonst so kernige Stimme klang seltsam heiser, als er fragte:

»Und was willst du dort entdeckt haben, kleiner Naseweis?«

»Nichts anderes als nur dein Herz, Axel, deine grenzenlose Einsamkeit, deine schmerzliche Verbitterung durch die Vergangenheit.«

Er stand unbeweglich, nur seine Hände krampften sich um den Bleistift, den er zwischen den Fingern hielt, als ob er ihn zerbrechen wollte.

»Mein Herz«, entrang es sich ihm ungeheuer bitter. »Wer sagt dir denn, dass ich überhaupt ein Herz habe?«

Sie war aufgestanden und langsam auf ihn zugegangen.

»Wer seine Kinder so liebt wie du, Axel, der muss ein gutes Herz haben.«

Er schnellte herum, seine Augen glühten. Noch nie hatte sie ihn so unbeherrscht gesehen.

»Wäre es nicht unnatürlich, wenn ich meine eigenen Kinder nicht lieben würde, Phyllis? Selbst ein Raubtier liebt seine Jungen.«

»Warum machst du dich schlechter, als du bist, Axel?«, fragte sie

ganz ruhig zurück. Ihre sanften blauen Augen übten eine beruhigende Wirkung auf den erregten Mann aus.

Seine Züge glätteten sich, sein Mund verzog sich in beißendem Spott:

»Mach dir nichts vor, Phyllis. Es ist besser, du siehst mich so, wie ich von allen geschildert werde. Ich bin nicht weichherzig, kein verliebter Jüngling mehr und werde nie mehr meine Knie vor der Liebe beugen.«

»Aber du hast es einmal getan, Axel, nicht wahr?«

»Ja, ich habe es einmal getan, aber man soll keinen Illusionen nachtrauern. Es ist vorbei – ein für allemal vorbei.«

Der Diener trat ein und brachte den Wein und die Gläser.

»Lass nur, ich schenke selbst ein«, wehrte der Baron ab, nahm das Tablett entgegen und stellte es auf den Tisch.

Während der Diener sich wieder entfernte, füllte er die Gläser und reichte Phyllis den Kelch, der von kostbarem Kristall war.

»Auf unsere Zukunft, Phyllis«, sagte er. Aller Spott war aus seinen Zügen geschwunden.

Leise klangen ihre Gläser aneinander, und es gab einen schwingenden Ton.

»Auf unsere Zukunft«, sagte Phyllis leise und fügte in Gedanken hinzu: Dass keiner von uns diesen Schritt jemals bereuen muss.

*

Fast eine Stunde verging, bis Phyllis sich entfernen und zu den Kindern zurückkehren konnte.

Während sie leichtfüßig über den Burghof schritt, stand der Mann mit finsterer Miene am Fenster und sah hinter ihr her. Noch glaubte er ihre weiche Stimme zu hören, als sie zu ihm sagte:

»Auf unsere Zukunft, Axel.«

Axel – wie weich es aus ihrem Mund klang. Wie Musik. Wie sanft ihre blauen Augen waren, wie blühend und zärtlich ihr Mund.

Wie besinnend legte der Mann eine Hand über die Augen, als blendete ihn das helle Sonnenlicht. Schwerfällig wandte er sich ab, und seine Züge wirkten wie aus Marmor gehauen.

*

Acht Tage später wurde Phyllis dem Baron von Lassberg angetraut. Es wurde eine stille Feier im engsten Kreise. Der Professor fungierte als Zeuge. Sein Bruder saß neben der jungen Braut und brachte sie mit seinen lustigen Einfällen immer wieder zum Lachen.

Franzel, wie er sich nannte, bot ihr noch am selben Abend seine Freundschaft und das Du an. Phyllis schlug in seine Hand ein, ohne sich zu zieren, und sah nicht, wie die Augen des Gatten sich finster zusammenzogen.

Die Gäste blieben bis zum nächsten Tag. Dann wurde verabredet, dass sie sich in vier Wochen in Hamburg treffen wollten, von wo sie dann ihre Fahrt beginnen wollten.

»Ist es nicht sehr gefährlich?«, wandte Phyllis sich an Franzel.

Der wich ihrem besorgten Blick aus und tat betont lustig.

»Wovor bangt dir mehr, Phyllis, dass dein Mann von einem Krokodil gefressen wird, oder dass eine der Urwaldschönen ihn mit Haut und Haar verschlingt und ihn in ihren Banden schmachten lässt?«, forderte er sie heraus.

»Darum ist mir nicht bange, Franzel, Axel von Lassberg bleibt sich immer selbst treu, auch wenn es ihm noch so schwerfallen würde«, kam es überlegen zurück, und es klang so überzeugt, dass es dem übermütigen Franzel die Sprache verschlug.

»Hast du das gehört, Axel? Herrgott, um so eine Frau bist du doch einfach zu beneiden«, brach er dann lachend die seltsame Stimmung.

Der Baron warf einen Blick zu seiner jungen Frau.

Wenn du wüsstest, mein Lieber, durchfuhr es ihn hohnvoll. Herrgott, warum war er eigentlich zu beneiden? Dass er eine sehr schöne, aparte Frau hatte, die einfach hinreißend aussah?

Wie eine Märchenkönigin erschien sie ihm in dem flimmernden Licht der Lüster, die den Festsaal erhellten.

Spitzen überrieselten die zierliche Gestalt der Frau. In ihren blauen Augen schien sich das Licht der unzähligen Kerzen verfangen zu haben und erfüllte sie mit einem seltsamen Flirren und Funkeln.

Ein gepresster Atemzug hob seine Brust. Mit leicht zitternden Händen griff er nach seinem Glas und trank es leer.

O ja, schön war sie, die stolze, ernste Phyllis von Lassberg, die junge Herrin auf Meeresbucht. So schön, dass es Zeit wurde, dass er abreiste.

Als die Gäste sich endlich in ihre Zimmer zurückzogen, stand das junge Brautpaar sich sekundenlang schweigend gegenüber.

Obwohl der Mann eine große Menge Alkohol zu sich genommen hatte, merkte man ihm nichts an. Nur das Glimmen in seinen Augen beunruhigte Phyllis.

Ganz langsam kroch eine eisige Furcht in ihr hoch und presste ihr die Kehle zusammen, sodass sie glaubte, ersticken zu müssen.

Plötzlich wurde es ihr bewusst, dass sie diesem Mann auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war, dass sie ihm Rechte über sich eingeräumt hatte, die er geltend machen konnte.

»Ich bin müde«, murmelte sie unruhig und wich unwillkürlich vor ihm zurück, als ob sie ihn fürchtete.

Er hatte es bemerkt, und ein höhnisches Lächeln verzog seinen Mund.

»Angst vor deiner eigenen Courage, Phyllis?«, fragte er voll dunklem Spott, der das Blut in ihren Schläfen hämmern ließ.

Um alles in der Welt hätte sie ihm nicht ihre Angst gezeigt. Mit einer herausfordernden Bewegung warf sie den Kopf in den Nacken und sah ihn von unten herauf an.

Phyllis ahnte nicht, wie verführerisch sie in dieser Pose wirkte und wie schwer sie es dem Mann machte, nicht nach ihr zu greifen.

»Warum wohl sollte ich Furcht haben, Axel?«

Er machte einen Schritt auf sie zu und zog sie so jäh an sich, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Schneidend lachte er auf, als sie sich in seinen Armen aufbäumte und von ihm fortstrebte.

»Also doch Furcht, Phyllis. Sieh mich nur nicht so angstvoll an, ich fresse dich nicht.«

So jäh, wie er nach ihr gegriffen hatte, ließ er sie auch wieder los. Wie besinnend fuhr er sich über die heiße Stirn und sah sie wie erwachend an.

»Verzeih, ich habe zu viel getrunken«, murmelte er und wandte sich traurig und schwerfällig ab.

Sie stand unbeweglich, obwohl alles in ihr zitterte und bebte. Aber seltsam, es war keine Empörung in ihr, nur ein wehes Gefühl, eine unerklärliche Sehnsucht, die sie zu dem Mann treiben wollte. Was ist nur los mit mir?, fragte sie sich bang und fand keine Erklärung für die peinigende Enttäuschung, die in ihr tobte, als er sie aus den Armen ließ.

Sie wusste nur eines, dass sie sich wünschte, er würde zu ihr zurückkommen und sie wieder so besitzergreifend in seine Arme reißen, wünschte sich brennend, dass er gut und zärtlich zu ihr wäre.

Ob dieser Mund leidenschaftlich küssen konnte?

Als sie sich bei diesem Gedanken ertappte, schoss eine brennende Scham in ihr hoch und färbte ihr Gesicht ganz dunkel. Mit einem erstickten Laut floh sie an ihm vorbei und wollte aus dem Zimmer.

Aber damit schien er nicht ganz einverstanden zu sein. Er fing die flüchtende Gestalt in seinen Armen auf und hielt sie mit kraftvollen Händen fest.

»Was soll das, Phyllis?«, knurrte er leicht gereizt. »Schließlich sind wir beide doch keine dummen Kinder mehr, die Versteck miteinander spielen, nicht wahr?«

»Was – was willst du?«, stammelte sie, vergehend aus Scham vor ihren brennenden Wünschen.

Noch nie hatte die junge Phyllis ihre Jugend, ihr Verlangen nach Liebe und Zärtlichkeit, ihre verzweifelte Einsamkeit so stark empfunden wie in diesem Augenblick, wo die kraftvollen Männerarme sie umklammert hielten, als wollten sie sie nie mehr freigeben.

»Was soll diese Frage, Phyllis?«, höhnte er bissig. »Bist du wirklich noch so naiv, oder tust du nur so?«

Seine beißende Ironie traf sie wie ein Schlag. Wild bäumte sie sich auf und versuchte seinem Griff zu entkommen.

Seine Augen wurden weit, seine Lippen spitzten sich. Leise pfiff er durch die Zähne.

»Gib es auf, mein Herzchen. Was einmal zwischen diese Fäuste gerät, ist verloren.«

Tränen schossen ihr in die Augen. Furcht und Hilflosigkeit spiegelte sich in ihren Zügen wider, und das brachte ihn zur Besinnung.

Eine dunkle Röte wurde unter seiner sonnenverbrannten Haut sichtbar. Das Glühen in seinen Augen erlosch, und nun lag eine düstere Hoffnungslosigkeit in ihnen.

Schroff gab er sie frei und stieß heiser hervor:

»Geh, Phyllis! Es ist besser für dich, wenn du dich sofort in dein Zimmer zurückziehst.«

Etwas in seiner Haltung erschütterte sie und spülte allen Zorn hinweg.

Hatte sie nicht gewusst, dass sie in dem Augenblick, als sie bereit war, seine Frau zu werden, nicht nur die Mutter seiner Kinder, sondern auch seine Gattin wurde? War sie nicht bereit gewesen, ihm eine gute Frau zu sein und sich seinen Wünschen zu fügen?

»Und du, Axel, wirst auch du jetzt schlafen gehen?«, fragte sie unsicher und verlegen.

Er wandte sich nicht nach ihr um. Fast schien es, als hätte er ihren Anblick nicht ertragen können.

»Ich, Kind?«, sagte er bedächtig, mit einem fremden, traurigen Klang in der Stimme. »Warum sorgst du dich um mich?«

»Muss ich es nicht, Axel? Ich – ich bin doch nun deine Frau«, flüsterte sie.

Er wirbelte wie von einer Sehne geschnellt herum. Wild starrte er sie an.

»So, bist du das?«, dehnte er beißend. »Ich habe schon geglaubt, du wärest es dir nicht bewusst.«

Diesem kalten Spott konnte sie nicht standhalten. Mit einem harten Ruck wandte sie sich überhastet ab und verließ mit einem gemurmelten Nachtgruß das Zimmer.

Der Mann presste mit einem dumpfen Stöhnen die geballten Hände gegen die unerträglich brennenden Augen und kämpfte verzweifelt gegen den Wunsch an, der ihn in das Zimmer seiner jungen Frau treiben wollte.

Zum erstenmal fühlte der starke Mann nicht die Kraft in sich, gegen sein heißes Sehnen anzukommen. Wie auf der Flucht vor sich selbst und seinem brennenden Verlangen stürmte er aus dem Haus und bot dem kühlen Nachtwind seine erhitzte Stirn.

Nur langsam kehrte die alte Beherrschung zurück, und als er ins Haus ging, hatte der junge Morgen schon begonnen.

*

Phyllis’ Freundin hatte die Wahrheit geschrieben. Auf Schloss Langen war wirklich ein kleiner Sohn angekommen, und er war das Glück des ganzen Hauses.

Juliane von Osterburg hatte sich sehr schnell eingelebt. Obwohl sie von allen noch für ein fröhliches Kind gehalten wurde, mussten die Schlossbewohner bald einsehen, dass ein starker Wille in der jungen Frau steckte. Energisch nahm sie die Zügel des frauenlosen Haushaltes in ihre Hände, und es dauerte nicht allzulange, da hatte sie sich Respekt und Gehorsam bei der Dienerschaft verschafft. Gwendolin aber hatte sich vom ersten Augenblick an spontan ihr angeschlossen. Unter der fröhlichen Anleitung der jungen Gräfin fand die junge Komtess plötzlich Gefallen daran, ihr zur Hand zu gehen, und aus dem bisher meist gelangweilten Mädchen, das mit seiner Zeit nichts anzufangen wusste, wurde allmählich eine tüchtige Hausfrau, die es schon nach kurzer Zeit verstand, einen Gutshaushalt selbständig zu führen.

Holger hatte nach einer ersten Unterredung mit seiner jungen Frau beschlossen, für einige Zeit auf Reisen zu gehen.

Juliane hatte ihn angesehen. Nichts verriet, wie sehr sie litt.

»Tu, was du für richtig hältst, Holger, ich werde dir keine Schwierigkeiten machen«, hatte sie nach einer Weile gesagt und sich wieder ihrer Beschäftigung zugewandt.

»Ja, ich weiß, es wird nicht leicht für dich sein. Aber du bist ja nicht allein. Du hast meine Schwester, die dich sehr gern hat, meinen Vater, der dich mehr liebt als seine eigenen Kinder.«

»Nein, Holger, ich bin nicht allein«, kam es zurück, und er hörte nicht die ungeheure Bitterkeit aus der Stimme heraus, da er zu sehr mit sich selbst beschäftigt war.

»Ich danke dir, Jane, du machst es mir leicht.«

Sie sah mit einem unbeschreiblichen Blick zu ihm auf.

»Wir wollen uns noch etwas Zeit lassen, Holger. Vielleicht hast du vergessen, wenn du wiederkommst. Meinetwegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen, ich werde keine Zeit zum Grübeln haben. Hier auf Langen ist so viel zu tun, dass meine Tage voll ausgefüllt sind.«

Er wehrte unmutig ab.

»Ich mag es nicht, wenn du hier den ganzen Tag herumrennst und dich aufreibst, Jane. Schone dich, ich bitte dich. Schließlich ist doch Personal da, das die Arbeit verrichten kann.«

Verständnislos sah sie ihn an.

»Das ist doch nicht dein Ernst, Holger. Glaubst du wirklich, ich könnte mich den ganzen Tag hier hinsetzen und meine Zeit mit Nichtstun totschlagen?«

Sie schüttelte den Kopf, ein bitteres Lächeln verzog ihren sonst so schönen Mund.

»Arbeit hat noch nie geschadet, Holger.« Sie streckte ihre schlanken und doch kräftigen Arme aus. »Sie können etwas leisten und sind gewohnt, zu schaffen.«

»Weißt du, dass ich mir Langen ohne deine Gegenwart nicht mehr vorstellen kann, Jane?«, sagte er plötzlich mit einem warmen Blick.

Sie errötete jäh. Eine heiße Freude überspülte ihr Herz, sodass sie eine Weile brauchte, um mit dem aufkommenden Gefühl fertig zu werden.

»Das war sehr hübsch, Holger, ich danke dir«, murmelte sie und wandte sich hastig ab.

Nachdenklich blickte der junge Graf hinter ihr her, und er wünschte sich von ganzem Herzen, seine unglückliche Liebe vergessen zu können, damit er mit seiner jungen Frau ein neues Leben beginnen konnte.

Aber noch war es nicht soweit. Sein Herz gehörte noch mit jeder Faser seiner geliebten Phyllis, nach der er sich in qualvollen Nächten sehnte und verzehrte.

Graf Holger schien in den letzten Wochen um Jahre gealtert zu sein. Sein sonst so fröhliches Gesicht war sehr schmal und kantig. Um seinen Mund hatte sich ein weher Zug gegraben, der mehr verriet, als er jemals aussprechen konnte.

Manchmal dachte Holger darüber nach, wer der Mann sein konnte, der an diesem liebenswerten Geschöpf achtlos vorbeiging und sein Herz einer anderen schenkte, wenn eine Jane von Dahmen ihn liebte. Aber sosehr er auch acht gab, er konnte keinen aus ihrem weitläufigen Bekanntenkreis entdecken, in dessen Gegenwart seine junge Frau ihr ruhiges, freundliches Wesen verlor und eine nervöse Unruhe sie beherrschte.

An sich selbst dachte er nicht und wäre wohl bis ins Herz betroffen gewesen, wenn er erkannt hätte, dass er die große Liebe im Leben seiner jungen Frau war.

Zwischen ihnen bestand, dank Janes Mühe, eine herzliche Freundschaft, ein gutes Einvernehmen, das durch kein unbedachtes Wort von beiden Seiten getrübt wurde.

Holger hatte erkannt, dass er vergessen musste, dass er Verpflichtungen eingegangen war, denen er sich nicht einfach entziehen konnte.

Aber er wusste auch, dass er ihnen beiden Zeit lassen musste, wenn diese Bindung von Dauer sein und ihnen nicht zur Qual werden sollte.

Aus diesen Erwägungen heraus beschloss er, für eine Zeit auf Reisen zu gehen. Vielleicht würde Zeit die Wunden heilen, die immer noch in ihren Herzen brannten, und würde sie später zusammenführen.

Als er sich nach ein paar Tagen von Jane verabschiedete, stand die Frau zwar bleich, aber äußerlich gefasst vor ihm und reichte ihm die Hand.

»Gib auf dich acht, Holger, und komm gesund zurück«, sagte sie.

Er sah sie mit einem langen Blick an. Plötzlich zog er sie an sich, und er hätte später nie zu sagen vermocht, was ihn zu diesem Handeln getrieben hatte. Zum ersten Male berührte er mit seinen Lippen den zuckenden Mund seiner jungen Frau. Dann riss er sich los und ging mit schnellen Schritte davon.

Jane stand mit geschlossenen Augen. Unter den schweren Lidern rannen unaufhaltsam die Tränen hervor.

Aber kein Laut, kein noch so winziges Stöhnen kam aus dem fest zusammengepressten Mund.

Nein, Juliane von Dahmen würde nicht eine Beute ihrer inneren Not werden, sie würde sich nicht willenlos von seiner Liebe unterkriegen lassen.

Sie würde ihr Herz fest in die Hände nehmen und den Kampf um ihr Glück beginnen.

Mit einem Ruck warf die junge Frau den Kopf zurück und trat ans Fenster.

Sie wischte die Tränen ab. Als sie hinter dem Wagen des Mannes hersah, lag ein harter, entschlossener Zug um den jungen Mund und in den Augen ein eiserner Wille.

*

Ein halbes Jahr blieb der junge Schlossherr seiner Heimat fern. Dann aber trieb ihn die Sehnsucht zurück. Hatte er heimlich gehofft, irgendwo die Geliebte wiederzufinden, so musste er sehr schnell einsehen, dass seine Hoffnung sich nie erfüllen würde.

Langsam kehrte der Friede in sein Herz ein. Die furchtbare Qual wurde milder, und es gab jetzt schon Stunden, wo er an Phyllis denken konnte, ohne das Gefühl zu haben, verzweifeln zu müssen.

Als er heimkehrte, war es stiller in ihm geworden, und er trug den festen Willen in sich, aus seiner Ehe mit Juliane das Beste zu machen.

Er hatte seine Ankunft nicht mitgeteilt, und so kam sie allen überraschend.

Gwendolin stand einen Augenblick erstarrt, aber dann flog sie ihrem Bruder mit einem Jubelruf um den Hals.

»Holger – Bruder, du bist wieder da?«

Er umfing das kindhafte Persönchen und drückte es an sich. Dann hielt er die Schwester weit von sich und betrachtete sie eingehend.

»Donnerwetter, du bist ja fast eine richtige Dame geworden, Gwendolin«, sagte er verblüfft.

Ein seliges Leuchten zeigte sich in den dunklen Mädchenaugen. Dann fragte sie kokett:

»Gefalle ich dir, Holger?«

»Na hör mal, willst du vielleicht von deinem eigenen Bruder Komplimente hören?«

»Warum nicht? Weißt du, wenn der eigene Bruder sagt, dass man hübsch ist, dann muss es doch stimmen, denn er betrachtet seine Schwester doch mit nüchternen Augen, nicht wahr?«

»Hm, wie mir scheint, legt meine kleine Schwester sehr großen Wert darauf, hübsch zu sein. Sag mal, Frosch, Hand aufs Herz – willst du nur im allgemeinen gefallen, oder ist es nur ein Einziger, für den du hübsch sein möchtest?«, forschte er mit leichtem Spott.

Sie machte sich hastig aus seinen Händen frei und lachte silberhell. Aber er sah doch das verwirrte Rot, das ihr in die Wangen gestiegen war.

»Du bist reichlich neugierig, lieber Bruder«, gab sie aggressiv zurück. »Aber damit du keine grauen Haare bekommst, beruhige dich, noch habe ich mein Herz nicht verloren.«

Dann aber wandte er sich leicht verwundert um, da es ihn befremdete, dass seine Frau ihn noch nicht begrüßt hatte.

»Wo ist Jane?«

Die Komtess schlug sich gegen die Stirn und sah ihn bestürzt an.

»Oje, da haben wir es. Warum hast du uns deine Ankunft auch nicht mitgeteilt, Holger? Jane ist vor zwei Tagen zu ihrer Tante gefahren. Sie feiern dort Silberhochzeit. Ich sollte auch mit, denn Jane wollte nicht gerne allein fahren. Aber Vater war nicht gut dran, und da musste ich leider hierbleiben.«

Holger konnte sich nicht erklären, warum er eine so schmerzliche Enttäuschung darüber empfand, dass Jane nicht da war.

»Vater ist krank?«, fragte er gedankenlos.

»Es ist schon wieder besser. Die leidige Herzgeschichte. Jane will, dass er für einige Zeit in ein Sanatorium fährt. Aber er wollte uns Frauen nicht allein lassen und warten, bis du zurückgekommen bist.«

Vorwurfsvoll sah er sie an.

»Warum habt ihr mir nichts davon geschrieben?«

»Jane wollte es nicht. Sie meinte, wir würden es auch so schaffen, ohne männlichen Schutz.« Leise lachte die Komtess. Es war ein vergnügter Blick, der den Bruder traf.

»Sie ist sehr selbstsicher, Holger. Du wirst dich wundern, wenn du siehst, wie sie den ganzen Laden hier schmeißt, und was sie aus dem Gut gemacht hat.«

Seltsam, diese Auskunft behagte Holger im Grunde genommen nicht besonders. Wie ein nagendes Schuldgefühl war es in ihm, dass er einfach auf und davon gegangen war und hier alles den Händen seiner Frau überließ.

Es war beschämend und bedrückend und traf seinen männlichen Stolz tief.

Der Graf trat ins Zimmer. Innerlich erschrak Holger, wie alt sein Vater in dem halben Jahr geworden war.

Zum erstenmal brachte er ein spontanes warmes Gefühl für den Vater auf, der ihm bisher innerlich fremd gewesen war.

Als er auf ihn zutrat und ihm seine Hände reichte, lag ein herzlicher Klang in seiner sonoren Stimme.

»Vater.«

Der alte Mann hörte die Wärme heraus, und in seinen Augen zuckte es überrascht auf. Auch er hatte in den letzten Monaten sehr viel von seiner Härte verloren. Die Krankheit hatte ihn geduldiger und weicher gestimmt, als er jemals in seinem Leben gewesen war.

Aber es lag ihm nicht, allzu viel Gefühl zu zeigen. So ließ er es mit einem knurrenden Gruß genug sein. Aber in seinen Augen lag ein warmes Licht, als sein Blick die hohe stattliche Gestalt seines Sohnes umfing.

Gwendolin ließ es sich nicht nehmen, den Bruder mit sich zu schleppen und ihm alles auf dem großen Gut zu zeigen, was Jane angeschafft und verändert hatte.

Holger war überrascht und tief beeindruckt. Die klare Umsicht, mit der seine junge Frau aus dem Schlossgut fast ein Mustergut geschaffen hatte, erfüllte ihn mit großer Bewunderung.

Zum erstenmal stieg eine dunkle Ahnung in dem Mann auf, dass er für Langen nie eine bessere Frau hätte finden können.

Überall, wohin er gekommen war, hatte man das Lob seiner jungen Frau gesungen. Vom Verwalter bis zum kleinsten Knecht verehrte man sie und brachte ihr Bewunderung entgegen.

Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder wütend sein sollte. Schließlich tat man ja, als wäre sie und nicht er der eigentliche Herr auf Langen, und als wäre ihr Wort allein maßgebend …

»Du, Holger, wie wäre es, wenn du Jane nachfahren würdest? Sie würde sich bestimmt riesig freuen.«

Gwendolins lebhafte Stimme riss ihn aus seinem Brüten.

»Aber ich kann doch nicht so einfach mit der Tür ins Haus fallen. Man erwartet mich nicht«, wehrte er schroff ab.

»Du bist ja dumm. Tante Inez kennst du doch, und mit Onkel Gerald hast du dich prima verstanden. Was glaubst du wohl, wie die sich freuen werden. Und Jane erst, für sie würden diese Tage doch nun erst richtig schön. Lange genug hat sie ja auf dich warten müssen, oder meinst du nicht?«

Klang nicht ein schwerer Vorwurf in der jungen Stimme? Was wusste die Schwester von seiner Ehe mit Jane? Hatte seine Frau sich etwa bei ihr beklagt?

Aber aus der unbekümmerten Miene seiner Schwester konnte er nichts lesen, und fragen wollte er nicht, weil es plötzlich wie Scham in ihm war.

»Wirst du nun fahren, Holger?«, drängte Gwendolin eifrig.

Obwohl man dem jungen Mädchen nie erzählt hatte, wie diese Ehe zwischen Jane und dem Bruder zustande gekommen war, ahnte sie, dass es nicht so zwischen dem Ehepaar war, wie es hätte sein müssen. Sie hatte von der Liebe des Bruders zu der schönen Phyllis gewusst, und als er sich kurze Zeit später mit Juliane von Dahmen verlobte, da hatte sie sich ihren eigenen Reim darauf gemacht.

Dass sie nun so darauf drängte, dass der Bruder Jane nachfuhr, hatte seine besonderen Gründe.

Sie fürchtete, dass Jane auf dem besten Weg war, ihr Herz einem anderen Mann zuzuwenden, was schließlich auch kein Wunder sein würde, nachdem der eigene Mann seit vielen Monaten durch Abwesenheit glänzte und eine so junge Frau sich völlig selbst überließ.

Bei diesem Gedanken angekommen, hielt die Komtess es für angebracht, ein paar harmlose Bemerkungen einzuflechten, die den Bruder unbedingt hellhörig machen mussten, ohne dass sie mehr sagte.

Graf Holger horchte auch sofort interessiert auf, als immer wieder der Name des Grafen von Hessen fiel, der allem Anschein nach ein sehr guter Freund des Hauses geworden und auch als weitläufiger Verwandter seiner Frau ihr Begleiter zu der Tante war.

»Dieser Graf Hessen – seit wann verkehrt er denn bei uns im Hause?«, wollte er wissen.

»Ooch, ein paar Tage, nachdem du abgereist warst, tauchte er ganz plötzlich hier bei einer Gesellschaft auf. Doktor Bonn hatte ihn mitgebracht. Es stellte sich heraus, dass er und Jane alte Bekannte waren. Seitdem war er fast jeden Tag bei uns. Er ritt mit uns aus und führte uns ins Theater oder in die Oper, wie es gerade kam.«

»Uns – so warst du immer in ihrer Gesellschaft?« Es klang lauernd und rief eine heimliche Schadenfreude in dem Herzen der Komtess wach.

Warte nur, mein Lieber. Wollen doch mal sehen, ob wir dich nicht aus deiner Gleichgültigkeit herausholen. Den Mann will ich einmal sehen, der ruhig und gelassen bleibt, wenn er bemerkt, dass ein anderer in seinem Revier wildern will.

»Hm, ja, immer war ich nicht dabei. Jane ist ein paarmal mit ihm allein ausgefahren, aber das will doch unter guten Freunden nichts besagen«, schürte sie das Feuer.

Er sprang mit einem heftigen Ruck auf, seine Augen loderten förmlich.

»Das sind ja nette Sachen, die man da zu hören bekommt«, brauste er auf. »Du scheinst das noch ganz in Ordnung zu finden. Herrgott noch mal, ist euch denn nie der Gedanke gekommen, wie man darüber redet?«

Unschuldig sah sie zu ihm auf, dann zuckte sie die schmalen Schultern und meinte gelassen:

»Du lieber Gott, was ist denn schon dabei? Oder glaubst du, man würde weniger darüber geredet haben, dass du deine junge Frau schon nach ein paar Tagen allein gelassen hast und auf Reisen gegangen bist?«

Sie lachte hämisch.

»Mein lieber Bruder, da kennst du aber unsere lieben Mitmenschen schlecht. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie viele boshafte Fragen, die natürlich durch mitleidige Anteilnahme getarnt waren, Jane über sich ergehen lassen musste. Um ganz ehrlich zu sein, ich habe deine Frau bewundert, wie ruhig und gelassen sie all diese Anspielungen geschickt parierte und keine noch so winzige Schwäche zeigte.«

Komtess Gwendolin ballte unwillkürlich die Hände.

Holger hatte seine unruhige Wanderung im Zimmer eingestellt und starrte seine Schwester fassungslos an. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie unüberlegt er seiner Frau gegenüber bisher gehandelt hatte.

Er hatte nur an sich gedacht, nur an seinen Schmerz, an seine Verzweiflung, und kein einziger Gedanke hatte seiner jungen Frau gegolten, die er dadurch in eine unmögliche Situation brachte.

»Mein Gott, warum hat sie mir nicht ein einziges Wort davon geschrieben?«, entrang es sich ihm.

»Du bist gut, Holger. Dazu war Jane viel zu stolz. Die wäre lieber durch eine Hölle gegangen, als deine Hilfe anzurufen.«

»Aber warum denn, ich war doch der Nächste, an den sie sich wenden konnte, ich bin doch ihr Mann.«

Mit einem eigenartigen Blick sah sie ihn an. Lässig lehnte sie sich in ihrem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander.

»So, bist du das wirklich, Holger? Bisher hat Jane sehr wenig davon bemerkt.«

»Hat sie sich beklagt?«

Gwendolin schnippte mit den Fingern. »Da kennst du aber deine Frau sehr schlecht, mein holder Bruder. Lieber würde sie sich die Zunge abbeißen, als etwas von dem zu verraten, was in ihr vor sich geht.«

Sie stand schnell auf und trat dicht auf den Bruder zu.

»Ich weiß nicht, wie es zwischen euch steht, Holger, aber eines weiß ich, Jane ist ein prachtvoller Mensch. Wenn dir auch nur etwas an deiner Ehe gelegen ist, dann lass sie nicht mehr länger allein. Einsamkeit ist Gift für ein sehnendes Herz, und man sucht Erfüllung bei einem anderen Menschen, wenn man glaubt, daran ersticken zu müssen.«

»Was soll das heißen? Willst du damit sagen, dass Jane …« Er hatte sie bei den Schultern gefasst und schüttelte sie hin und her.

»He, was soll das, bist du nicht gescheit?«, schrie die Komtess ihn empört an. »Lass mich sofort los!« Sie rieb sich maulend abwechselnd ihre schmerzenden Schultern und sah ihn schräg von unten herauf an.

»Könnte Jane schon verstehen, wenn sie Vetter Schorsch dir vorziehen würde. Der ist wenigstens Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle und nicht so ein Grobian wie du.«

Peng – die Tür war zu, und Graf Holger stand wie zur Salzsäule erstarrt.

Das war nun seine Heimkehr, die er sich weiß Gott ganz anders ausgemalt hatte.

Aber wie hattest du sie dir denn vorgestellt?, fragte er sich verwirrt und fand keine Antwort darauf.

Eine bissige Stimme höhnte in ihm:

Hast du geglaubt, sie würde dir entgegenfliegen und jauchzend in deinen Armen liegen? Oder sie würde hold errötend vor dir stehen, und ihre Augen würden strahlen in seligem Glück, weil du heimgekommen bist?

Hat Gwendolin nicht recht mit dem, was sie dir sagte? Hast du nicht versagt und bist wie ein jämmerlicher Schwächling vor den Folgen deiner eigenen Entscheidung geflohen?

Es war eine sehr bittere Erkenntnis, zu der Graf Holger sich in diesem Minuten durchrang.

Als er am nächsten Tag in seinen Wagen stieg, um Jane nachzufahren, da war er fest entschlossen, in seiner Ehe wieder einiges zurechtzurücken.

*

Die Villa des Barons von Dahmen, einem Bruder von Julianes Vater, war hell erleuchtet. Das Fest hatte bereits seinen Höhepunkt erreicht, als der graue Wagen von Graf Holger in den Hof einbog.

Eilig kam ein Diener herbeigelaufen, um dem verspäteten Gast beim Aussteigen behilflich zu sein.

Er kannte den Grafen nicht, da Holger bisher noch nie als Gast hiergewesen war.

»Melden Sie mich den Herrschaften – aber bitte unauffällig, ich möchte nicht stören«, sagte er und reichte dem Diener seine Karte.

»Wollen der Herr Graf ablegen?«, fragte der Diener höflich und bedeutete einem Mädchen, sich um den Gast zu kümmern.

Holger hatte gerade den Mantel abgelegt, als die etwas rundliche Gestalt von Tante Inez auftauchte. Mit ausgebreiteten Armen kam sie auf ihn zugeeilt, ehrliche Freude auf ihrem frischen Gesicht, in dem ein Paar lustiger blauer Augen funkelte.

»Holger, Junge, wie schön, dass du wieder da bist.« Ehe Holger etwas sagen konnte, wurde er von ihren Händen erfasst, die seinen Kopf herunterzogen, und fühlte einen schmatzenden Kuss auf seiner Wange.

»Herzlich willkommen, mein Junge. Nun bleibst du aber endlich für immer daheim, nicht wahr?«, sprudelte sie hervor.

Holger kam gar nicht dazu, etwas zu erwidern. Sie war so freudig bewegt, dass sie ihn mit einem Wortschwall überfiel, dem er einfach nicht gewachsen war.

»Nun lass ihn doch endlich einmal los, Inez«, dröhnte die kernige Stimme von Onkel Gerald auf. »Schließlich ist hier ja noch jemand, der ihn gern begrüßen will.«

Holger drehte sich hastig um. Seine Augen weiteten sich, richteten sich in fassungslosem Erstaunen auf die schöne Frau, die weit von ihm stand und zu ihm hinsah.

Sie stand wie angewurzelt, völlig reglos, als wäre durch sein plötzliches Auftauchen alles Leben in ihr erstarrt.

War dieses zauberhafte Wesen wirklich Juliane, seine junge Frau?

Sie hatte sich in den Monaten, wo er weggewesen war, sehr zu ihrem Vorteil verändert. Ihre sportliche, knabenhafte Schlankheit war schönen weiblichen Formen gewichen. Das sonst so kurze blonde Haar fiel in weichen Wellen bis auf die Schultern. Das türkisfarbene Abendkleid hob den Wuchs der schönen Gestalt ganz besonders hervor. Um den Hals trug sie ein wundervolles Kollier aus Brillanten und Rubinen.

»Jane?«, sagte er und strich sich über die Augen, als glaubte er an einen Traum, der ihn narrte.

Nun kam Leben in die Frauengestalt. Leichtfüßig kam sie auf ihn zu, ehrliche Freude hatte ein tiefes Rot in das schöne Gesicht getrieben. Aus den dunklen Augen brach sekundenlang ein seliges Leuchten.

»Holger, ich kann es nicht glauben«, stammelte sie kaum hörbar.

Sie waren aufeinander zugegangen und hielten sich bei den Händen, ohne dass es ihnen bewusst wurde.

»Jane.«

Seine Stimme klang bewegt, seine Augen leuchteten.

»Freust du dich, dass ich nun wieder da bin?«

»Ja, ich freue mich.«

Unbewusst lag ihre ganze Einsamkeit in diesen Worten, und der Mann empfand sie wie einen leisen Vorwurf.

»Nanu, was ist denn hier los? Jane, wie ist es mit dem versprochenen Tanz?«

Ein schlanker junger Mann in einem dunklen Gesellschaftsanzug stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen und sah reichlich verdutzt von einem zum anderen.

Die beiden zuckten zusammen. Ihre Hände lösten sich widerwillig voneinander.

Langsam wandte die Frau sich dem anderen zu.

»Später, Schorsch, im Augenblick habe ich keine Zeit.«

»Das höre ich gerne.«

Der junge Mann war näher gekommen und stand nun dicht bei dem Paar, Graf Holger aus misstrauischen Augen diskret musternd. Dann machte er eine höfliche Verbeugung und stellte sich vor:

»Graf von Hessen.«

In Holgers Gesicht zuckte es unterdrückt auf. Eine Ahnung hatte ihm gleich gesagt, dass der Mann nur dieser Schorsch sein konnte, von dem seine Schwester gesprochen hatte.

So also sah der ständige Begleiter und Vetter seiner Frau aus.

Er musste sich eingestehen, dass Graf von Hessen ein hübscher Mann war. Zwar war sein Gesicht nichtssagend und trug keine markanten Merkmale. Aber im großen und ganzen war er genau der Typ, der durch seine charmante, immer fröhliche Art einer Frau sehr gefährlich werden konnte, besonders, wenn sie sich so verlassen fühlte wie Jane in den vergangenen Monaten.

Nichts in Holgers Miene verriet, dass er den Namen schon gehört hatte. Er neigte stolz den Kopf.

»Graf Osterburg«, gab er kühl zurück und wandte sich dann brüsk seiner Frau zu.

Graf Hessen starrte ihn wie aus allen Wolken gefallen an. Aber dann hatte er seine Verblüffung überwunden. Ehrlich erfreut reichte er dem anderen die Hand.

»Nun lerne ich doch endlich den vielgepriesenen Gatten Janes kennen. Nach ihren Schilderungen müssen Sie ja ein Musterexemplar von einem Mann sein.«

Es klang so drollig, dass selbst Holger lachen musste. Sein Misstrauen schwand dahin wie der Schnee in der Sonne.

Nein, dieser Mann schien nichts zu verschweigen, oder er musste ein guter Schauspieler sein.

»Schorsch, sei nicht so vorlaut«, sagte Jane, während sie den Vetter vorwurfsvoll ansah.

Musste er verraten, dass sie oft von Holger gesprochen hatte? Was ging es diesen Mann an, der sich doch aus ihr nichts machte, dem sie gleichgültig war?

Sie fühlte, wie der Gatte ihre Hand drückte.

»So hast du mich nicht vergessen, Jane?«, fragte er verhalten.

Sie sah ihn forschend an, dann warf sie den Kopf zurück.

»Dafür haben schon meine lieben Mitmenschen gesorgt, dass ich immer wieder an dich erinnert wurde«, gab sie bitter auflachend zurück.

Er zuckte unmerklich zusammen, aber ehe er noch etwas erwidern konnte, winkte die Tante ihnen zu, doch endlich in den Festsaal zurückzukommen.

»Wir sprechen später darüber«, sagte er nur für sie verständlich.

»Ich wüsste nicht, was es darüber zu sprechen gibt, Holger.«

Stolz hob sie den Kopf, während sie an seiner Seite den Saal betrat, und wie heimlicher Spott lag es um ihren brennend roten Mund, als sie die verblüfften Gesichter der anwesenden Gäste sah.

Nun würde wohl wieder ein Geraune und Getuschel unter den anwesenden Verwandten einsetzen, die sich alle sehr darüber gewundert hatten, dass ihr Gatte sie schon so kurz nach ihrer Hochzeit allein gelassen hatte.

Nachdem die erste stürmische Begrüßung vorüber war, ging jeder wieder seinem Vergnügen nach. Jane wurde von Holgers Seite weggeholt, und sie kamen kaum dazu, ein paar Worte miteinander zu sprechen.

Graf von Hessen hielt es auch jetzt noch für selbstverständlich, dass er immer in der Nähe der jungen Frau war und sie völlig mit Beschlag belegte.

Jane schien nicht zu bemerken, dass das Gesicht ihres Gatten sich verfinstert hatte und es ab und zu unterdrückt in seinen dunklen Augen aufzuckte.

*

Es wurde sehr spät, bis die Gäste endlich das Haus verlassen hatten. Einige blieben und suchten nach müdem Gutenachtgruß die Gästezimmer auf.

Übrig blieben am Schluss nur noch Tante Inez, Onkel Gerald, Schorsch und das junge Paar.

Jane war auf die Terrasse gegangen und lehnte sich träumend an einen der Marmorpfeiler. Graf Schorsch war neben sie getreten und schien eifrig auf sie einzusprechen. Holger bemerkte es an den nervösen Bewegungen, die er immer wieder mit seinen Händen ausführte, die auf eine gewisse Erregung schließen ließen.

Er wusste selbst nicht, warum es ihn so ergrimmte. Schließlich war er ihr Vetter, und es war doch wirklich nichts dabei, wenn er sich so um Jane bemühte. Sie konnten ja gute Freunde sein.

Aber da war die versteckte Mahnung in den vorsichtigen Worten seiner Schwester. Sie ließ ihn das Ganze in einem völlig anderen Licht erscheinen.

Jane war jung und in den letzten Monaten zu einer sehr schönen attraktiven Frau geworden, die einen Mann schon um den Verstand bringen konnte. Kein Wunder also, wenn dieser Graf von Hessen, der täglich und stündlich mit ihr zusammen war, förmlich lichterloh brannte und nichts unversucht lassen würde, sie zu erringen.

Nun wandte die junge Frau sich ab und trat ins Zimmer zurück. In ihren dunklen Augen lag ein fieberhaftes Flackern.

»Ich denke, es ist langsam Zeit, Kinder. Wir wollen schlafen gehen«, meinte Tante Inez gähnend und stand schwerfällig auf. »Oje, ich bin wie gerädert. Siehst auch ganz müde aus, Papa«, meinte sie zärtlich zu dem Gatten und strich ihm über das weiße Haar. »Aber schön war es doch, nicht wahr, Alterchen? Habe mich direkt noch einmal so richtig wohl unter all dem jungen Gemüse gefühlt. Und dass Holger noch gekommen ist, das war wirklich die allerschönste Überraschung.«

Wie verliebt sah sie den stattlichen jungen Mann an, für den sie schon immer eine besondere Schwäche gehabt hatte.

»Hast bisher zwar noch nicht viel von deinem Frauchen gehabt, Junge. Aber das könnt ihr ja jetzt nachholen.«

Sie lachte vergnügt, als sie dann verschmitzt fortfuhr: »Musst schon dein Zimmer mit deinem Liebsten teilen, Jane. Unsere Gästezimmer sind alle besetzt. Aber dein Bett ist ja breit genug.«

Jane fühlte, wie ihr langsam die Farbe aus den Wangen wich. Entsetzt starrte sie die lachende Tante an. Schon hatte sie den Mund zu einer heftigen Erwiderung geöffnet, als sie dem seltsam forschenden Blick ihres Vetters begegnete.

Nein, sollte sie sich eine Blöße geben? Hatte sie Schorsch gegenüber nicht immer betont, dass sie sehr glücklich mit Holger war, dass er sie liebte, so liebte wie sie ihn?

Würde Schorsch ihr Lügengewebe nicht mit einem einzigen Blick durchschauen, wenn sie sich eine Blöße gab und verriet, wie entsetzlich der Gedanke für sie war, in einem Zimmer mit dem Gatten zu übernachten?

Erregt grub sie ihre weißen Zähne in die blutroten Lippen, aber sie sagte kein Wort, obwohl es in ihr stürmte und gärte.

Holger saß da und sah sie unverwandt an.

Er ahnte, was in ihr vor sich ging, und eine ihm selbst fremde Erregung griff zu ihm über.

Als er seinen Arm um die zarte, leicht widerstrebende Gestalt legte, da lag etwas so Herrisches, Besitzergreifendes in dieser Bewegung, dass Jane beklommen den blonden Kopf senkte und ein seltsames Gefühl sie unfähig machte, sich diesen zupackenden Händen zu entwinden.

Eine unerträgliche Spannung lag zwischen dem jungen Paar, als sie ihr gemeinsames Zimmer betreten hatten und sich fragend ansahen.

Der Mann erkannte die Angst in den großen dunklen Augen seiner jungen Frau, sah die mädchenhafte Scheu, mit der sie zögerte, sich zu entkleiden, und trat mit einem verstehenden Lächeln auf den Balkon.

Erst als er merkte, dass sie im Bett war, kam er ins Zimmer zurück.

Jane kniff ganz fest die Augen zu und stellte sich schlafend. Obwohl er an dem nervösen Zucken ihrer langen Wimpern merkte, dass sie nicht schlief, sagte er nichts.

Jane lag zeitweise mit angehaltenem Atem an seiner Seite. Ihre ganze unerfüllte Liebe, ihre brennende Sehnsucht gehörte dem Mann, der so lange fern von ihr gewesen war.

Seine Hand tastete langsam zu ihr hinüber. Sie lag wie erstarrt und hielt wieder den Atem an.

Sie wehrte sich auch nicht, als er sie zärtlich, aber unwiderstehlich an sich zog und ihren Kopf an seine Brust bettete.

»Jane, ich hab’ dich lieb«, sagte er in die atemlose Stille hinein, und eine warme Zärtlichkeit lag in seiner dunklen Stimme.

Ein Beben überlief die schlanke Gestalt. Er fühlte, wie sie sich an ihn schmiegte, und ein seliges Glück erfüllte sein Herz.

Jäh versank alles um ihn – das Einzige, was blieb, war die zarte biegsame Gestalt in seinen Armen, die warmen jungen Lippen, die sich ihm willig boten.

*

In dieser Nacht erfüllte sich Janes brennende Sehnsucht. Was sie sich in vielen einsamen Stunden schmerzlich erträumt hatte, wurde blutvolle Gegenwart, und alles Leid versank, als wäre es nie gewesen.

Seit dieser Nacht war ein inniges Glück zwischen dem jungen Paar. Holger liebte seine junge Frau mit einer ungewöhnlichen Zärtlichkeit.

Es war nicht die heiße leidenschaftliche Liebe, die ihn einmal mit Phyllis verbunden hatte. Aber sie brannte wie eine stetige Flamme.

Jane dagegen liebte den Gatten mit einer Ausschließlichkeit, die den Mann manchmal erschütterte. Er war ihre Welt, der Inbegriff ihres jungen Lebens, in dem nichts anderes Raum hatte.

Wie stolz und glücklich war die junge Frau, als sie ihm einen Sohn schenken konnte. Mit seligen Augen reichte sie ihm das quäkende kleine Bündel, das er kaum anzufassen wagte.

»Dein Sohn, Holger«, flüsterte sie, noch von der Not der vorangegangenen Stunden erschöpft.

Er aber beugte sich zu ihr hinunter, nahm Frau und Kind zärtlich in seine Arme und sagte innig:

»Unser Sohn, kleine Frau, das Pfand unserer Liebe.« Andächtig küsste er die feuchten Augen, und in diesem Moment hatte er seine erste große Liebe völlig vergessen.

*

Weihnachten stand vor der Tür. Draußen stürmte und schneite es schon seit Tagen ununterbrochen. Der See, der die Wasserburg umschloss, war zugefroren.

Die kleine Baroneß Ille und ihr Bruder waren fast den ganzen Tag draußen. Sie fanden das Leben einfach himmlisch, seitdem Tante Phyllis ihre Mutti geworden war und es für richtig hielt, die Kinder nicht von den gleichaltrigen Spielgefährten zurückzuhalten. Zwar wählte sie sehr sorgsam den Umgang der Kinder aus, aber es war bezeichnend für ihre Einstellung, dass die Tochter des Dorfschneiders und der Sohn des Schusters liebe Gäste auf Meeresbucht geworden waren.

Die sonst immer etwas blassen Kinder lebten sichtlich auf, und schon bald unterschieden sie sich kaum noch von den pausbackigen Dorfkindern, so gesund und blühend sahen sie aus, und die übermütige Lebensfreude funkelte aus ihren Augen.

Phyllis hatte den ganzen Tag alle Hände voll zu tun. Mit der alten Köchin hatte sie Freundschaft geschlossen. Die Frau, die am Anfang einen stillen Grimm gegen die Neue in sich getragen hatte, weil sie fürchtete, sich nun in ihrem ureigensten Bereich einem fremden Willen beugen zu müssen, hatte sehr bald erfreut eingesehen, dass Phyllis gar nicht daran dachte, ihre Rechte zu schmälern. Im Gegenteil, die junge Burgherrin ließ sich von der erfahrenen Köchin beraten und in die Geheimnisse der herrschaftlichen Küche einführen.

Seitdem der Burgherr auf Reisen gegangen war, kamen ab und zu aus der Nachbarschaft Gäste, die versuchten, die junge Frau aus ihrer Einsamkeit zu locken und in das gesellschaftliche Leben zu ziehen.

Ganz wohl war ihr dabei freilich nicht zumute. Sie kannte doch Axels Einstellung und wusste, dass er davon nichts wissen wollte. Aber sie konnte und durfte die nachbarlichen Beziehungen nicht durch Unhöflichkeit trüben. Es lag ihrem freundlichen Wesen nicht, bewusst jemanden zu kränken.

In den letzten Wochen hatte sie genug zu tun, um alles für Weihnachten zu richten. Da waren die eigenen Leute, die Knechte und Mägde, denen sie eine Freude machen wollte. In diesem Jahr sollte Weihnachten ganz besonders hübsch für alle werden.

Die Armen im Dorf galt es zu beschenken, und da sie darauf bedacht war, neben den praktischen Dingen auch noch Freude zu verschenken, so kostete es ganz besondere Mühe, die geheimen Wünsche aller herauszufinden.

Es machte Phyllis unsagbare Freude. Die Knechte und Mägde beteiligten sich in ihren Freistunden freiwillig und gingen ihr zur Hand.

Dann herrschte ein Singen und Lachen in der großen Küche, und die Stunden flogen dahin, ohne dass es den Leuten bewusst wurde.

Während die Frauen nähten und strickten, bastelten die Knechte Spielzeug für die Kinder, und jedes Stück, das unter ihren Händen entstanden war, rief neue Begeisterung hervor und ließ die Augen aufleuchten. Ein Lob aus dem Mund der jungen Herrin war der schönste Lohn.

Obwohl die Frau still und ernst war, ging von ihr doch eine solche Wärme aus, dass man ihr einfach gut sein musste, ob man wollte oder nicht. Sie wurde mit dem rauesten Gesellen fertig, und oft genügte ein ernster Blick aus ihren schönen Augen, um jeden Widerstand zu brechen.

Jeder Befehl, den sie erteilte, klang wie eine Bitte, und alle eilten, ihn auszuführen, um sie nicht zu enttäuschen.

*

So fand Axel von Lassberg sein Haus bestens bestellt, als er nach vier Monaten Abwesenheit gesund und dunkelbraun gebrannt heimkam.

Es war schon spät, als er auf der Burg eintraf. Seine freudige Erwartung bekam einen Dämpfer, als er erkannte, dass die Fenster im Herrenhaus bereits alle dunkel waren.

Nur aus den großen Fenstern der Küche, die im Erdgeschoß lag, leuchtete Licht in die Nacht hinein.

Wenigstens einer noch wach, der ihn willkommen heißen konnte, durchfuhr es ihn mit leichter Bitterkeit.

Wie oft hatte er in den vergangenen Monaten an eine schöne Frau denken müssen. Wie oft hatte er im Traum seine Hände ausgestreckt, um sie in heißer Sehnsucht in das lange nachtschwarze Haar zu graben. Und wenn er dann erwachte, wenn er erkannte, dass er allein war, dann hatte er mit offenen Augen auf seinem Lager gelegen und sich mit einem verträumten Lächeln seine Heimkehr ausgemalt.

Der Mann wischte sich über die Augen und lächelte grimmig.

Er war ein Träumer. Wann endlich würde er es lernen, einzusehen, dass die nackte Wirklichkeit anders aussah? Wann endlich würde dieses törichte Herz begreifen, dass es keine Wünsche mehr zu haben hatte, sondern sich damit abfinden musste, einsam zu sein?

Mit harten Schritten betrat der heimkehrende Burgherr sein Haus und ging durch die große Halle.

Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Seine Augenbrauen zogen sich verwundert in die Höhe.

Deutlich hörte er das fröhliche Lachen, das aus der Küche kam. Dazwischen klangen immer wieder Stimmen auf, die sehr angeregt zu sein schienen.

Nanu, da schienen aber noch mehr Leute zu sein. Was sie wohl um diese Zeit noch in der Küche trieben? Welche Unsitten waren denn hier eingerissen?

Ohne lange zu überlegen, ging er bis zum Ende des Ganges, an dem die Küche lag.

Ohne anzuklopfen öffnete er die Tür und verharrte.

Das Bild, das sich ihm bot, war auch wirklich so verblüffend, dass es dem sonst so überlegenen Mann die Sprache verschlug.

Die weiträumige Küche war zur Werkstatt geworden. Knechte und Mägde saßen einträchtig zusammen und schienen eifrig beschäftigt zu sein.

Neben ihnen auf dem Boden türmten sich die Kisten und Pakete, mit denen zwei Mägde beschäftigt waren, sie zu verschnüren.

Und dann sah er sie – schmal, feingliedrig, mit dem langen seidigen Haar, das auf ihre Schultern fiel, den glücklich leuchtenden Augen und dem Mund.

Genauso, wie sie ihm immer wieder in seinen Träumen erschienen war, greifbar nahe und doch unendlich fern.

Niemand hatte seinen Eintritt bisher bemerkt.

So hatte er Muße, das sonderbare, ihm noch immer unverständliche Treiben zu beobachten.

»Hans, du warst doch heute im Dorf. Was macht der Junge vom Schmied, geht es ihm schon wieder besser?«, wandte sich in diesem Augenblick die junge Frau an einen der Knechte, der gerade einem Holzpferdchen den letzten Schliff gab.

»Er ist über den Damm, so hat der Schmied mir gesagt, Frau Baronin. Er dankt auch schön für die Bücher. Der Peter hat sich sehr darüber gefreut.«

»Fein, dann wird er ja Weihnachten wieder aufstehen dürfen. Wäre doch keine rechte Freude für den Buben, wenn er das Fest im Bett zubringen müsste.«

In diesem Augenblick schrie jemand erschrocken auf. Alle Köpfe flogen erschrocken herum, und alle wussten, wem der Ausruf gegolten hatte.

Betreten starrten sie auf den hochgewachsenen Mann, der unbeweglich an der Tür stand und mit staunenden Augen um sich sah.

Phyllis erging es nicht anders. Sie hatte zwar gewusst, dass der Gatte in nächster Zeit zurückkommen würde, aber wann es war, hatte sie nicht geahnt. Dass er nun völlig unerwartet und so spät ankam, verwirrte sie einen Moment und machte sie unsicher und verlegen.

»Du?«, stammelte sie und hatte etwas hilflos Rührendes in ihren großen Augen.

»Ich sehe, meine Überraschung ist mir gelungen«, fasste er sich schnell, indem er in die Küche trat.

»Ich hatte gedacht, das ganze Haus im tiefen Schlaf vorzufinden. Aber wie ich feststellen muss, scheinen hier Heinzelmännchen am Werk zu sein, die nur in der Nacht lebendig werden. Darf man wissen, was hier eigentlich gespielt wird?«

Sein leicht sarkastischer Ton rief bei dem Gesinde eine unruhige Betroffenheit hervor. Nun war sie wieder da, die alte Furcht vor dem strengen Schlossherrn, die alle Freude vertrieb.

Phyllis hatte ihren ersten Schock schon wieder überwunden. Ehrliche Freude leuchtete nun aus ihren blauen Augen.

»Wir wollen dem Christkindchen ein wenig helfen, Axel.« Sie lachte fröhlich, und alle Unsicherheit war von ihr abgefallen, die sein jähes Erscheinen ausgelöst hatte.

»Christkind – soll das heißen, dass ihr hier den Weihnachtsmann spielt?«, fragte er ungläubig.

»Ja, Axel. Schau dich nur einmal um. Alles, was du hier siehst, ist selbst angefertigt. Selbst die Spielsachen. Manche Stunde Arbeit steckt darin und manche geopferte Nachtruhe. Aber es hat uns allen Freude gemacht, nicht wahr?«, wandte sie sich mit leuchtenden Augen an die anderen, die ihr eifrig zustimmten.

Er schüttelte noch immer verblüfft den Kopf.

»Aber wozu denn diese Mühe, Phyllis? Eine einzige Zeile von dir, und ich hätte dir jede gewünschte Summe dafür zur Verfügung gestellt.«

Sie lachte verhalten.

»Nein, Axel, dann hätte es uns nur noch die halbe Freude gemacht.« Sie wandte sich den wartenden Mägden und Knechten zu.

»Machen wir Schluss für heute. Packt alles zusammen. Den Rest machen wir morgen Abend. Hans, du kannst morgen früh gleich damit beginnen, den Spielsachen schon den ersten Anstrich zu geben, sonst schaffen wir es nicht mehr. Am besten ist, wir räumen den kleinen Schuppen dafür aus, da kann es dann ungestört trocknen.«

»Wird gemacht, Frau Baronin, gleich morgen früh gehe ich an die Arbeit.«

Phyllis nickte und wandte sich dann an den Gatten:

»Wollen wir nach oben gehen, Axel?« Als der Mann nickte, bat sie die Köchin: »Bitte, Marie, richte doch ein Abendbrot für den Herrn Baron und etwas Tee.«

»Jawohl, Frau Baronin«, gab sie eilfertig zurück und machte sich gleich an die Arbeit.

Eine seltsame Spannung stand zwischen ihnen, als sie in ihren Räumen angekommen waren.

Phyllis fühlte sich durch die unerwartete Gegenwart des Mannes irgendwie beengt und fand nicht so leicht ihren freien unbeschwerten Ton zurück.

Wie ganz anders sie ist, wenn sie mit mir zusammen ist, dachte der Mann bitter, der vergebens nach dem warmen Ton in ihrer Stimme suchte, in dem sie sich mit den Leuten unterhalten hatte.

Phyllis aber hatte ihre erste Verwirrung nun überwunden. Sie wandte sich ihm zu, und nun war ein warmes Licht in ihren schönen Augen, als sie ihm freimütig ihre Hand reichte.

»Zuerst einmal willkommen in der Heimat, Axel.«

Seine hellen Augen nahmen eine seltsame Färbung an, wie immer, wenn ihn etwas stark erregte.

Verwirrt wich sie seinem lodernden Blick aus.

»Warum hast du mir nicht mitgeteilt, dass du heute zurückkommst, Axel? Ich hätte dich doch etwas festlicher empfangen.«

»Vielleicht wollte ich dich überraschen, Phyllis, um zu sehen, ob du dich ein wenig freust über meine Heimkehr«, gab er bedächtig zurück und ließ ihren Blick nicht los.

Eine heiße Lohe stieg ihr bis in die Stirn unter diesem seltsam zwingenden Blick, der sie beunruhigte und verwirrte.

»Warum wohl sollte ich mich nicht freuen?« Sie zwang sich zur Ruhe. »Schließlich bist du doch Hausherr. Besonders die Kinder werden glücklich sein, denn sie haben dich sehr vermisst.«

»Mit anderen Worten, der Hausherr und Vater ist herzlich willkommen, Phyllis, nicht wahr?«

Seine beißende Stimme traf sie wie eine Anklage. Sie stand wie ein kleines gescholtenes Mädchen vor ihm.

»Ich – ich weiß nicht, was du damit sagen willst, Axel«, erwiderte sie unsicher, »und warum du einen solchen Ton anschlägst.«

»Entschuldige, Phyllis«, bat er rau und wandte sich ab, weil ihr Anblick sein sonst so kühles Herz mit einer heißen Glut anfüllte, dass er schwer um seine Beherrschung rang.

Marie trat ein und brachte ein Tablett mit kaltem Bratfleisch und Brot. Würzig duftete der Tee in der Kanne und durchzog das Zimmer mit einem angenehmen Duft.

»Lassen Sie nur, Marie, das mache ich schon selbst«, wehrte Phyllis ab, als die Köchin den Herrn bedienen wollte. »Sie können schlafen gehen. Gute Nacht.«

Dann waren die Gatten allein.

Mit einem tiefen Seufzer lehnte er sich zurück und schlug die Beine lässig übereinander.

»Wie ist es dir ergangen, Phyllis? Ich hoffe, es gab keine Schwierigkeiten?«, brach er das Schweigen.

Sie winkte schnell ab.

»O nein, ich habe mich gut zurechtgefunden. Die Kinder sind artig, und wir verstehen uns wunderbar.«

Ihr Gesicht hatte sich vor Eifer gerötet, und es sah nicht mehr so herb und unnahbar aus, wie er es in Erinnerung hatte.

»So hast du bisher noch keinen Augenblick bereut, meine Frau geworden zu sein, Phyllis?«, fragte er mit sonderbarer Betonung.

Ihre Augen weiteten sich, wirkten ganz dunkel. Dann schüttelte sie nachdrücklich den Kopf.

»Nein, Axel, warum sollte ich? Alle sind sehr nett zu mir, und keiner hat es mich fühlen lassen, dass ich doch aus ganz anderen Kreisen komme.«

Er zuckte leicht zusammen. Misstrauisch blitzte es in seinen Augen auf: »Wer hat es dich nicht fühlen lassen?«

»Unsere Nachbarn, sie haben mich wiederholt eingeladen.«

»Und du bist gegangen?« Obwohl seine Stimme beherrscht klang, schien es ihr doch, als wäre er verärgert.

Sie nickte.

»Warum sollte ich die gebotene Freundschaft abweisen, Axel? Sie waren sehr nett, und es wäre mehr als unhöflich gewesen, abzulehnen.«

»Warum?«, fragte er scharf. »Ich brauche diese Menschen nicht und lege keinen Wert auf ihre Freundschaft.«

Nun wurde es Phyllis aber doch zu bunt.

»Aber ich, Axel«, fauchte sie zurück. »Ich besitze nicht deine Eiseskälte. Ich brauche Menschen, um leben zu können. Freunde, mit denen ich sprechen kann. Ich fühle mich noch zu jung, um immer allein zu sein.«

»Ach so.« Er betrachtete sie mit einem verzerrten Lächeln.

»Ist der Ausdruck allein nicht fehl am Platz, Phyllis? Schließlich hast du Kinder, und – ja – ich bin ja auch noch da.«

»Ja, jetzt bist du da, Axel. Aber in all den Monaten war ich mit den Kindern allein.«

Etwas in dem herben Ton machte ihn stutzig, zwang ihn, eine Hand nach ihr auszustrecken und sie langsam zu sich heranzuziehen.

»Sieh mich an, Phyllis!«, forderte er rau. »Hast du mich vermisst?«

Sie versuchte sich seinen Händen zu entziehen. Ihre Augen wichen seinem brennenden Blick aus, während ihr zuckender Mund verzweifelt nach Worten suchte.

»Phyllis«, sagte er schwerfällig. »Keine billigen Ausreden – ich bitte dich. Ich will die Wahrheit hören, die reine Wahrheit, sie ist immer richtig, auch wenn sie schmerzt. Schrei mir entgegen, was du denkst, und wenn es noch so brutal ist, verletze mich bis aufs Blut, aber belüge mich niemals. Ich könnte es nicht ertragen.«

Fassungslos starrte sie ihn an. Dann schüttelte sie benommen den Kopf.

»Ich lüge nicht, Axel«, sagte sie hochmütig und wollte sich mit einem schroffen Ruck von ihm losreißen.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet, Phyllis«, stellte er schon wieder völlig ruhig fest.

»Ich weiß nicht, was diese Frage soll, Axel. Selbst wenn ich dich vermisst hätte, wäre ich allein gewesen.«

Verärgert ließ er sie los.

»Phyllis.«

Eine leichte Zornesröte wurde unter seiner braunen Haut sichtbar.

Er trat auf sie zu und zog sie hart zu sich herum, dann fragte er mit einem neuen Klang von Wildheit in der Stimme:

»Wie stellst du dir das in Zukunft zwischen uns vor? Vergiss nicht, wir sind Mann und Frau und haben uns das Wort gegeben.«

Ihr Blick hing unwillkürlich wie fasziniert an seinem braunen Gesicht. Langsam wich jeder Tropfen Blut aus ihren Wangen.

Er wurde ruhiger.

»Phyllis, wir wollen endlich Klarheit zwischen uns schaffen. Ich habe dir gesagt, dass ich dir eine Lüge niemals verzeihen kann. Ich verlange jetzt eine offene Antwort von dir. Als ich dich bat, meine Frau zu werden, tat ich es in erster Linie, um meinen Kindern eine gute Mutter zu geben. Aber es war nicht der einzige Grund, nur habe ich ihn dir noch verschwiegen, weil ich dir Zeit geben wollte, dich daran zu gewöhnen, meine Frau zu sein. Aber jetzt sollst du es wissen, Phyllis …«

Keuchend rang er nach Luft. Wie ein Peitschenhieb klang es, als er schroff schloss:

»Ich liebe dich.«

Er hatte sie bei seinen letzten Worten losgelassen und ging zum Fenster.

»Du wirst dich jetzt fragen, warum ich nie davon gesprochen habe, Phyllis«, fuhr er mit abgewandtem Gesicht fort. Schwer stützte er sich auf das Fensterbrett.

»Es war mir einfach unmöglich. Ich habe mich gegen dieses Gefühl gesträubt, weil ich mich nicht noch einmal von einer Frau beherrschen lassen wollte. Als ich dich fragte, ob du meine Frau werden wolltest, da war ich fest entschlossen fortzufahren, um diese Liebe aus meinem Herzen zu reißen. Ich glaubte, die Kraft in mir zu haben.«

Es war erdrückend still nach seinen Worten. Dann klang ihre atemlose Stimme auf:

»Und – ist es dir gelungen?«

Fast schwerfällig wandte er ihr sein kantiges Gesicht zu. Knirschend mahlten seine Zähne aufeinander, dann sagte er heiser, es klang wie ein dumpfes Stöhnen:

»Was willst du hören, Phyllis? Fürchtest du nicht die Folgen, wenn ich dir jetzt antworte und damit die unsichtbaren Schranken, die noch zwischen uns aufgerichtet sind, niederreiße? Zwinge mich nicht, mein sehnsüchtiges Denken und Fühlen auszusprechen, es könnte sein, dass ich nicht mehr die Kraft fände, so ruhig vor dir zu stehen.«

Der Duft aus ihrem schimmernden Haar stieg zu ihm auf. Er wollte zurückweichen, um dem Zauber ihrer Nähe zu entfliehen, aber er konnte es nicht. Etwas war stärker als sein Wille, bannte ihn an seinen Platz.

»Warum willst du Schranken zwischen uns errichten, Axel, warum gibst du deinem Herzen nicht nach?«, kam es kaum hörbar aus dem zuckenden Mund.

Heiß brannte die Schamröte in ihren Wangen, aber stärker als ihre Scham war die Sehnsucht, die unerträgliche Einsamkeit, die sie umgab, an der sie zu ersticken drohte.

Keuchend sog er die Luft ein und stieß sie hörbar wieder aus. Seine geballten Hände spreizten sich und schlossen sich wieder krampfhaft. Ein Zittern überlief die kraftvolle Gestalt, als ob eine alte Eiche bis in ihre Wurzeln erbeben würde.

»Phyllis – weißt du, was du sagst, bist du dir der Folgen bewusst?«, presste er zwischen den Zähnen hervor.

Sie lachte unter Tränen zu ihm auf. In diesem Augenblick war jeder Gedanke an ihre erste große Liebe wie ausgelöscht.

Sie wusste nur, dass alles in ihr sie diesem Mann entgegentrieb, dass sie seine Frau sein wollte, dass sie sich nach seinen Küssen, seinen Zärtlichkeiten sehnte.

»Gehöre ich nicht dir, bin ich nicht deine Frau?«

»Phyllis …« Es war nur ein dumpfer Laut. Dann fühlte sie sich von starken Armen hochgehoben, fühlte schmale Lippen auf ihrem Mund und schloss beseligt die Augen.

Wie eine zerbrechliche Kostbarkeit trug der Mann seine junge Frau ins Schlafzimmer. Nie hätte Phyllis so viel behutsame Zärtlichkeit, so viel verzehrende Leidenschaft hinter dem nach außen hin so hart scheinenden Mann vermutet.

*

Axel von Lassberg lag noch lange wach, während Phyllis in seinen Armen fest eingeschlafen war.

Ihr Kopf ruhte an seiner Brust, und immer wieder glitten seine Finger schmeichelnd durch das weiche Seidengespinst ihres Haares.

Nun war seine Heimkehr doch eine glückliche geworden. Alles Glück der Welt, das er selbst in seinen kühnsten Träumen nicht erhofft hatte, war ihm zuteil geworden. Seine sonst so kühlen Augen leuchteten in einer unsagbaren Zärtlichkeit.

Ich liebe dich, Phyllis! Nie mehr habe ich geglaubt, mein Herz noch einmal so bedingungslos einer Frau zu eigen geben zu können wie dir, kleine geliebte Frau.

Sein Herz sprach mit der Geliebten, während seine Lippen immer wieder das weiche Haar kosten.

Noch nie hatte der stolze harte Mann sich so ausschließlich einem Gefühl hingegeben, wie seiner Liebe zu der jungen Frau, die in seinen Armen lag, ein glückliches Lächeln um den blutroten Mund, der noch von seinen Küssen glühte.

Sein Herz sang nur eine einzige Melodie, und alles andere erschien dagegen klein und nichtig:

»Ich liebe dich.«

Als wenn Phyllis es gehört hätte, öffnete sie ihre Augen.

Der Mann hob ihr Gesicht zu sich auf.

»Ich liebe dich, Phyllis, liebe dich mehr als alles auf der Welt.«

Es war das zweite Mal, dass dieser harte Mund diese Worte aussprach, und für die junge Frau bargen sie das höchste Glück.

»Ich liebe dich, Axel.« Es klang wie ein Schwur.

Eine Hand stahl sich in die seine. Seine Blicke versanken in die blauen Sterne, die voll zu ihm aufgeschlagen waren.

Dann glitt ein unsagbar weiches Lächeln um seinen schmalen Mund. Seine Stimme war ruhig und fest, als er sagte:

»Jetzt sind wir daheim, geliebte Frau.«

Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter und schloss die Augen.

Fürstenkrone Box 16 – Adelsroman

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