Читать книгу Der neue Dr. Laurin Box 2 – Arztroman - Viola Maybach - Страница 6
Оглавление»Oh, Entschuldigung«, sagte Antonia Laurin, als sie das Büro ihres Mannes in der Kayser-Klinik betrat und sah, dass er nicht allein war. »Dein Vorzimmer war leer, ich ahnte nicht, dass du noch Besuch hast.«
Leon Laurin sprang auf, die Frau, mit der er sich bei Antonias Eintreten unterhalten hatte, blieb lächelnd sitzen. Sie war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt. Antonia schätzte, dass sie über fünfzig war. Sie hatte ein schmales, apartes Gesicht, in ihre schwarzen Haare hatte sich eine einzelne weiße Strähne gemischt, vorne, über der Stirn. Auch ihre Augen waren beinahe schwarz und jetzt forschend auf Antonia gerichtet.
»Es passt sehr gut, dass du kommst, so kann ich dich gleich mit einer neuen Kollegin bekanntmachen«, sagte Leon Laurin. »Frau Erdem, das ist meine Frau Antonia.«
Nun erhob sich die Frau doch und reichte Antonia die Hand. »Ich bin Linda Erdem«, sagte sie mit angenehm dunkler, weicher Stimme. »Ich werde zunächst für ein halbes Jahr als Neurochirurgin hier an der Klinik arbeiten.«
»Für ein halbes Jahr?«, fragte Antonia. »Soll das die Probezeit sein oder wie ist das zu verstehen?« Sie hatte die Frage an ihren Mann gerichtet, doch der wies auf Dr. Erdem, als sei sie es, die sie beantworten müsse.
»Ich kann mich im Augenblick nicht länger festlegen«, erwiderte Linda Erdem denn auch. »Mein Mann ist vor knapp zwei Jahren gestorben, jetzt sind meine Kinder aus dem Haus, ich muss mich neu orientieren, weiß aber noch nicht genau, wohin die Reise gehen soll. Eigentlich wollte ich nach Afrika, wenigstens für ein Jahr, aber nun habe ich das Gefühl, dass es für eine solche Entscheidung zu früh ist. So lange ich keine klaren Vorstellungen davon habe, was ich mit meinem zukünftigen Leben anfangen will, halte ich es für das Beste, einfach weiter zu arbeiten, aber an neuer Stelle.«
»Wir kennen uns von früher«, sagte Leon. »Lindas Bruder und ich hatten während des Studiums miteinander zu tun, ich kannte auch ihren Mann. Und taucht sie plötzlich hier auf und fragt mich, ob sie hier arbeiten kann. Ich dachte zuerst, sie macht einen Scherz. Abgesehen davon, dass ich sie auf den ersten Blick nicht einmal erkannt habe.«
»Es ist ja auch schon sehr lange her, seit wir uns zuletzt gesehen haben.« Linda Erdem wandte sich Antonia zu. »Ich habe bald nach der Geburt meines jüngsten Kindes wieder angefangen zu arbeiten. Das war hart, aber heute bin ich froh darüber. Ich weiß nicht, wie ich nach dem Tod meines Mannes zurechtgekommen wäre ohne die Arbeit. Sie und die Kinder haben mich gezwungen, weiter zu funktionieren.«
»Sie sind für meinen Mann und die Klinik ein Geschenk des Himmels«, sagte Antonia. »Erst kürzlich hat er endlich einen Unfallchirurgen für die Notaufnahme gefunden. Sie ahnen nicht, wie lange er gesucht hat.«
»Doch, das ahne ich schon. Als ich an meiner bisherigen Klinik gekündigt habe, wollten sie mir mein Gehalt beinahe verdoppeln, nur damit ich blieb. Aber es ging nicht, ich brauche eine neue Umgebung, neue Herausforderungen. Nur, wie gesagt, für längere Zeit festlegen möchte ich mich noch nicht. Wenn es mich in einem halben Jahr nach Afrika zieht, werde ich gehen.«
»Das ist der einzige Punkt, mit dem ich nicht ganz zufrieden bin«, gestand Leon. »Ich plane gerne langfristig, und die Vorstellung, in einem halben Jahr erneut auf die Suche gehen zu müssen, behagt mir nicht sonderlich. Aber ich bin trotzdem froh, dass du bei uns nachgefragt hast, Linda. Du hättest dir ja auch wieder eine große Universitätsklinik aussuchen können.«
»Vielen Dank, da war ich nun lange genug«, bemerkte Linda Erdem trocken. Sie lächelte Antonia an. »Ich habe gehört, dass Sie noch einmal in den Beruf eingestiegen sind und praktisch die Klinik hier um eine Kinderarztpraxis erweitern. Das gefällt mir, das ist ein sehr guter Ansatz.«
»Mir gefällt es auch, aber wir stehen ja noch ganz am Anfang, noch weiß ich nicht, ob es wirklich eine gute Idee war. Ich wollte es nur sehr, sehr gern.«
»Wenn die innere Stimme ruft, sollte man ihr folgen. Und ich verabschiede mich jetzt. Es war schön, Sie kennenzulernen, Frau Laurin.«
»Kinder, Kinder«, sagte Leon, »nun mal nicht so steif. Wir sind schließlich alte Bekannte, Linda, da wirst du dich doch mit meiner Frau duzen können?«
Beide Frauen lachten. »Von mir aus gern«, sagte Antonia, Linda nickte nur.
»Bis morgen also«, sagte sie dann und verabschiedete sich.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du ihren Bruder jemals erwähnt hast«, sagte Antonia, als sie gegangen war.
»Abdul Özer«, erwiderte Leon. »Er hatte es richtig schwer an der Uni. Zwar war er hier aufgewachsen, aber seine Eltern sprachen schlecht Deutsch, sie konnten ihm und Linda in der Schule nicht helfen. Aber beide Kinder waren hochbegabt, sie haben Stipendien bekommen und konnten so studieren.«
»Abdul Özer«, wiederholte Antonia nachdenklich. »Der bekannte Krebsforscher?«
»Der bekannte Krebsforscher«, bestätigte Leon. »Wir haben uns aus den Augen verloren, weil er zwischendurch auch länger in den USA war. Und von Linda habe ich dann auch nichts mehr gehört. Ich glaube, sie hatte es nicht ganz leicht in ihrer Ehe, sie hat das eben in unserem Gespräch nur angedeutet. Aber das geht mich ja auch nichts an. Wie du schon gesagt hast: Sie ist für uns ein Geschenk des Himmels. Ein halbes Jahr ist nicht viel, aber immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass es ihr bei uns so gut gefällt, dass sie bleibt.«
»Sie war vorher nicht in München?«
»Nein, die Familie hat in Heidelberg gelebt, auch ihr Bruder ist jetzt dort und forscht weiter.«
»Dann wirst du den Kontakt zu ihm also auch wieder aufnehmen können.«
»Mal sehen, eins nach dem anderen. Wollen wir gehen?«
»Und zwar zügig, du weißt, dass wir noch eine Verabredung haben.«
Er sah sie verdutzt an. »Mit wem denn?«
»Mit dem jungen Mann, den unsere Kinder sich als Haushälter wünschen. Leon, das kannst du doch nicht vergessen haben!«
»Doch«, gestand er. »Heute Morgen wusste ich es noch, aber Lindas überraschendes Auftauchen hat alles durcheinandergebracht. Wieviel Zeit haben wir noch?«
»Eine Stunde.«
»Dann mal los. Und wie verhalten wir uns?«
»Wir sehen ihn uns unvoreingenommen an. Er ist offenbar nett, sonst wären sich die Kinder nicht so einig in ihrem Wunsch, ihn einzustellen. Und er kann kochen, das hat er bewiesen. Zwei Pluspunkte.«
»Minuspunkte: Er ist erst zweiundzwanzig und hat keinerlei Referenzen.«
»Pluspunkt: Er kümmert sich seit dem Tod seiner Eltern um die beiden jüngeren Schwestern und hat das bis jetzt offenbar gut hinbekommen.«
»Minuspunkt: Er muss sich auch weiterhin um sie kümmern, wird also nur stundenweise arbeiten können.«
Sie sahen einander an und brachen gleichzeitig in Gelächter aus. »Wir werden sehen«, seufzte Leon. »Und was gibt es sonst Neues?«
»Am Montag eröffnen wir offiziell, aber es kommen schon Patienten. Offenbar hat sich herumgesprochen, dass wir nach dem Busunglück viele der verletzten Kinder behandelt haben. Jedenfalls haben uns schon mehrere Eltern darauf angesprochen und gesagt, dass sie so von der neuen Praxis gehört haben. Und wir haben ja auch Anzeigen aufgegeben. Noch ist es einigermaßen ruhig, aber wir haben trotzdem zu tun, Carolin vor allem, die sich noch in die Computerprogramme einarbeiten muss, mit denen wir arbeiten wollen. Maxi und ich nutzen die Zeit, wenn keine Patienten da sind, um uns besser kennenzulernen, und ich vertiefe mich auch immer mal wieder in Fachliteratur. Alles Amtliche ist jedenfalls erledigt, jetzt muss nur noch die Praxis richtig ins Laufen kommen.«
»Und unser Haushalt«, murmelte Leon, als sie die Klinik verließen. »Weißt du, was mir vorher nicht klar war?«
»Wie sehr ich euch verwöhnt habe?«
Antonia hatte einen Scherz machen wollen, aber ihr Mann reagierte ganz ernst darauf. »Ja«, gestand er. »Ich hatte keine Ahnung, wie sehr wir alle daran gewöhnt sind, dass du unseren Alltag organisierst. Die wenigen Male, als du morgens nicht da warst, ist ja sofort Chaos ausgebrochen. Dabei dachte ich, dass unsere Kinder ziemlich selbstständig sind.«
»Das sind sie ja auch, nur nicht in allen Bereichen. Da, wo es unbequem ist, stellt man sich gern mal dumm an, damit jemand anders sich erbarmt und das erledigt, was einem selbst lästig ist.«
»So siehst du das?«
»Jawohl, so sehe ich das! Und ich bin sehr gespannt darauf, wohin die Reise geht, das muss ich schon sagen.«
Leon seufzte wieder, sagte aber nichts mehr. Er selbst hatte es ja auch genossen, dass Antonia immer zu Hause gewesen war und alles erledigt hatte, was er selbst als lästig empfand …
*
Selina Özer fiel ihrer Tante um den Hals. »Du bleibst also wirklich in München? Die Entscheidung ist gefallen? Ich habe es bis jetzt nicht glauben können, dass du das durchziehst.«
Linda Erdem lächelte. »Wie das klingt: ›durchziehen‹! Ich war einfach nicht sicher, wie gut sich Leon Laurin an mich erinnern würde. Und ich konnte ja nicht damit rechnen, dass er für eine Neurochirurgin Verwendung haben würde.«
»Du warst also zur richtigen Zeit am richtigen Ort«, stellte Selina zufrieden fest.
»Ja, so könnte man es ausdrücken. Nun muss ich sehen, wo ich in den nächsten Monaten bleibe. So lange kannst du mich nicht bei dir aufnehmen, und für einen so langen Zeitraum kommt ein Hotel auch nicht infrage.«
»Wieso in den nächsten Monaten? Was ist denn danach?«
Linda ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich habe noch keine festen Pläne für die Zukunft, Kind. Das Einzige, was ich sicher weiß: Ich muss arbeiten, meine Tage brauchen eine Struktur, denn sonst werde ich verrückt. Und ich brauchte einen Neuanfang, weit weg von dem leeren Haus, in dem ich in den letzten Monaten ganz allein gelebt habe. Deshalb bin ich hier. Aber das gilt für den Augenblick. Wie es in ein paar Monaten aussieht, wenn ich innerlich zur Ruhe gekommen bin, weiß ich jetzt noch nicht.«
»Ich hatte angenommen, du würdest nach Afrika gehen, sobald du keine familiären Verpflichtungen mehr hast, davon hast du so oft gesprochen.«
»Vielleicht mache ich das ja noch. Wie gesagt, die Entscheidung für die Kayser-Klinik in München ist keine Entscheidung für mein gesamtes weiteres Berufsleben.«
»Du kannst gern hier bei mir bleiben, bis du etwas klarer siehst«, bot Selina an.
Linda betrachtete ihre hübsche Nichte, die ihr immer besonders nah gewesen war. Selinas Offenheit, ihr Temperament und ihre Begeisterungsfähigkeit erinnerten sie an sich selbst als junge Frau. Das Leben lag noch vor ihr, und sie war bereit, es auszukosten.
»Ich danke dir für das Angebot, aber es wäre für uns beide nicht gut. Wir haben unterschiedliche Lebensrhythmen, wir würden uns bald schrecklich gegenseitig auf die Nerven gehen. Das möchte ich lieber vermeiden. Ich sehe mal, ob ich eine möblierte Wohnung finde. Manchmal gehen Leute ja nur für eine begrenzte Zeit weg. Das wäre für mich ideal.«
»Und was ist mit deinem Haus in Heidelberg? Deinen Möbeln, deinem ganzen Hausstand?«
»Eine Freundin von mir ist mit ihren beiden Kindern eingezogen. Sie suchte sowieso gerade eine Wohnung, das hat sich also günstig ergeben. Sie wird dortbleiben, bis ich eine Entscheidung gefällt habe, wie es mit mir weitergehen soll.«
Eine Weile blieb es still, bis Selina sagte: »Ich hoffe, du bleibst in München!«
*
»Wieso bist du auf, Mama?«, fragte Miro Flossbach erschrocken, als er nach Hause kam und seine Mutter in der Küche sitzen sah. Sie trug einen verschlissenen Morgenmantel, die Haare hingen ihr ungewaschen bis auf die Schultern, ihr Gesicht war bleich, unter den Augen lagen dunkle Schatten.
»Du sollst doch im Bett bleiben, hat der Arzt gesagt. Mit einer Grippe ist nicht zu spaßen. Leg dich wieder hin, bitte.«
Anke Flossbach lächelte müde. »Ich habe jetzt zwei Wochen lang nur im Bett gelegen, Miro, ich muss wieder auf die Beine kommen! Und wenn ich noch länger krankgeschrieben bin, verliere ich meinen Job, du weißt doch, wie das heute zugeht.«
Anke war Kassiererin in einem Supermarkt. Früher hatte ihr die Arbeit Spaß gemacht, aber je älter sie wurde, desto mehr litt sie unter dem Stress. Sie mussten schnell sein, durften keine Fehler machen und sich natürlich niemals aus der Ruhe bringen lassen, wenn ein Kunde anfing zu pöbeln. Früher war das nur selten vorgekommen, mittlerweile passierte es häufiger. Kurz bevor sie krank geworden war, hatte es noch einen sehr unangenehmen Zwischenfall mit einem Mann gegeben, der ausgerastet war, weil eine alte Frau in ihrem Portemonnaie zu lange nach Kleingeld gesucht hatte.
Auch ihr Mann Rainer hatte einen anstrengenden Job: Er war LKW-Fahrer. Zwar verdiente er gutes Geld, aber die Touren wurden immer länger und anstrengender, und sicher war sein Job auch nicht. Dazu kam der immer wahnwitziger werdende Verkehr und der ständige Druck, die Waren rechtzeitig zu liefern. Nicht selten schlief er zu wenig, um die Zeit wieder aufzuholen, die er durch einen Stau oder längere Kontrollen an den Grenzstationen verloren hatte.
Ihre Kinder sollten es einmal besser haben, das war ihr erklärtes Ziel. Miro war der Erste in der Familie, der studierte: Maschinenbau. Und auch die kleine Flora, die Nachzüglerin, die sie vierzehn Jahre nach ihrem Sohn bekommen hatten, war eine gute Schülerin. Aber sie hatte auch ihren Mädchentraum gehabt, und der war es gewesen, eine Ballettschule zu besuchen. Diesen Wunsch hatten ihr die Eltern nun endlich erfüllt, allen zusätzlichen Kosten zum Trotz. Flora war selig – und offenbar sehr begabt.
»So schnell verlierst du deinen Job nicht«, widersprach Mira, als er sich auf einem Stuhl niederließ. »Du warst noch nie krank, Mama, also kurier dich bitte richtig aus, sonst liegst du gleich wieder auf der Nase.«
Sie sah ihn ängstlich an. »Aber du hast Flora jetzt schon zwei Mal zur Ballettstunde gebracht und wieder abgeholt. Ich weiß doch, dass du eigentlich lernen müsstest. Deshalb dachte ich, ich übernehme das am Donnerstag wieder.«
»Ich schaffe das schon, mach dir mal um mich keine Sorgen«, sagte Miro. »Das Wichtigste ist, dass du wieder auf die Beine kommst, also tu mir den Gefallen und leg dich wieder hin.«
»Koch uns einen Tee, ja?«, bat Anke. »Ich würde gerne noch einen Moment hier sitzen bleiben.«
Miro setzte also Teewasser auf. Ihm selbst ging es auch nicht besonders gut, er fühlte sich seltsam schlapp und bekam neuerdings immer mal wieder Kopfschmerzen. Er konnte nur hoffen, dass seine Mutter ihn nicht angesteckt hatte. Eine Grippe konnte er zurzeit überhaupt nicht gebrauchen.
Das Studium machte ihm Spaß, dennoch fühlte er sich an der Universität nicht rundum wohl. Es war eine Welt, in die er eigentlich nicht gehörte, so empfand er es. Er war mit Eltern groß geworden, die keine Bücher lasen, die immer dort einkauften, wo es gerade am preisgünstigsten war, weil sie jeden Euro, den sie mühsam verdient hatten, mehrmals umdrehten, bevor sie ihn ausgaben. Eltern, die beide seit Jahren davon träumten, sich einmal einen günstigen Urlaub auf Mallorca leisten zu können, wo sie zwei Wochen lang nichts anderes tun wollten als schlafen, gut essen, schwimmen und in der Sonne liegen. Es war nicht absehbar, wann sie sich diesen Urlaub würden leisten können.
Sie waren die besten Eltern der Welt, davon war er überzeugt. Sie stritten sich kaum jemals, waren liebevoll zu ihren beiden Kindern, und sie hatten, als er noch ein Einzelkind gewesen war, alles getan, um ihm möglichst viele seiner Wünsche zu erfüllen. Er wusste, wie stolz sie darauf waren, dass er jetzt ein Student war. Und dass Flora die Beste in ihrer Ballettschule war.
Er holte zwei Becher aus dem Schrank, dazu die Zuckerdose und etwas Milch, stellte alles auf den Tisch und brühte den Tee auf. Sein Vater war Kaffeetrinker, aber seine Mutter stammte aus Ostfriesland, dort wurde Tee getrunken. Miro trank auch lieber Tee.
Er schenkte ein, nachdem er Kandis in die Becher gegeben hatte. Dann kam das Wölkchen Milch dazu.
»Das tut gut«, sagte seine Mutter nach dem ersten Schluck. »Ob du es glaubst oder nicht: Ich fühle mich schon besser.«
»Leg dich doch mal in die Badewanne«, schlug Miro vor. »Wasch dir die Haare, creme dich hinterher ein. Früher hast du immer gesagt, nach einem schönen Bad fühlst du dich wie neugeboren.«
»Gar nicht schlecht, die Idee. Ich fühle mich so verklebt und … irgendwie alt und hässlich.«
»Ich lass dir das Bad ein«, beschloss Miro, sprang erneut auf und eilte ins Bad.
Als er zu seiner Mutter zurückkehrte, lächelte sie ihn an. »Du bist ein guter Junge«, sagte sie.
»Ich bin kein Junge mehr, Mama.«
»Weiß ich, aber mein Junge bist du auch noch, wenn du mal so alt bist wie ich jetzt.«
»Wo ist Flo eigentlich?«
»Bei ihrer neuen Freundin, wo sonst?«
»Ida?«
Anke nickte. »Deren Papa ist Professor, aber ich muss sagen, dass Ida total nett ist, kein bisschen eingebildet. Die hat auch nicht komisch geguckt, als sie gehört hat, dass ich im Supermarkt an der Kasse sitze. Das ist nicht bei allen so, die ihre Kinder in diese Ballettschule schicken. Ich bin froh, dass Flo in Ida eine Freundin gefunden hat, die sie auch verteidigt, wenn die anderen blöd reden.«
»Machen sie das denn?«
»Ach, Junge«, sagte Anke, »du weißt doch, wie Kinder sind. Die lernen schon früh, was zählt im Leben – dicke Autos, viel Geld, Markenkleidung und Eltern, die tolle Jobs haben. Da hat unsere Kleine wenig zu bieten.«
»Sie ist ein tolles Mädchen, und das hat sie euch zu verdanken«, sagte Miro. »Und jetzt verzieh dich ins Bad, Mama. Kommt Papa heute noch?«
»Er will es versuchen, es kann aber spät werden.«
»Ich muss noch ein Referat schreiben, ich setze mich dann mal dran.«
»Danke für das Bad. Und den Tee.«
Anke stand langsam auf, musste sich aber noch einmal an der Tischkante abstützen.
»Ich sehe gleich noch mal nach dir. Das Wasser ist nicht sehr heiß, damit du mir nicht schlapp machst.«
Anke mühte sich ein Lächeln ab. »Schlapp bin ich doch schon!«
Als sie gegangen war, räumte Miro das Teegeschirr weg, dann setzte er sich in das kleine Zimmer, das er für sich allein hatte. Es würde Floras Zimmer werden, sobald er sein Studium beendet hatte und sich eine eigene Wohnung leisten konnte. Aber Flora beteuerte ihm immer wieder, es mache ihr nichts aus, im Wohnzimmer auf dem Sofa zu schlafen. »Ich will nicht, dass du ausziehst, Miro. Ich will gerne ein eigenes Zimmer haben, aber wenn du dafür ausziehen musst, schlafe ich lieber weiter auf dem Sofa.«
Er setzte sich an seinen Laptop und las, was er zuletzt geschrieben hatte. Nach einer Viertelstunde klopfte er an die Badezimmertür, um sich zu vergewissern, dass mit seiner Mutter alles in Ordnung war.
Sie öffnete sie von innen, in ein großes Handtuch gehüllt, die Haare noch feucht. Ihre Wangen waren rosig, sie sah viel besser aus. »Das hat gutgetan, danke, mein Großer.« Sie küsste ihn auf beide Wangen. »Ich lege mich gleich wieder hin, ich glaube, ich schlafe noch eine Runde, jetzt bin ich richtig schön müde.«
Froh über ihre Worte kehrte er in sein Zimmer zurück. Bald darauf hörte er, wie seine Mutter das Bad verließ und ins Schlafzimmer ging. Dann war nichts mehr zu hören.
Er fing an zu schreiben.
*
»Du hast die Kinder überzeugt, was soll denn da jetzt noch schiefgehen?«, fragte Lili Daume, als sie das Gesicht ihres großen Bruders sah, der vor dem Spiegel stand und sich anstarrte, als hätte er sich noch nie zuvor gesehen. »Ich verstehe nicht, wieso du dich so aufregst. Der Käse ist doch im Grunde längst gegessen.«
»Das glaube ich eben nicht. Die beiden sind Ärzte, Lili«, erwiderte Simon. »Herr Dr. Laurin leitet die Kayser-Klinik, Frau Dr. Laurin hat eine eigene Kinderarztpraxis. Das Haus ist riesig, es kam mir wie ein Palast vor, verglichen mit unserer Wohnung.«
»Verglichen mit unserer Wohnung könnte man viele Häuser als Paläste bezeichnen«, erwiderte Lili trocken. »Na, und?«
»Der Garten ist eher ein Park. Sie haben schöne Möbel, alte und neue, an den Wänden hängen richtige Bilder, keine Plakate wie bei uns. Sie haben ein Zimmer, das aussieht wie eine Bibliothek, so viele Bücher stehen da in den Regalen. Es ist einfach so …« Er unterbrach sich für mehrere Sekunden, bevor weitersprach. »Es ist so, dass ich ein solches Haus noch nie zuvor von innen gesehen habe. Das schüchtert mich ein. Ich weiß nicht, ob ich dem gewachsen bin. Ich bin eigentlich schon selbstbewusst, glaube ich, aber so eine Umgebung, ich weiß nicht, ob ich da arbeiten kann.«
»Klar kannst du«, sagte Lili ungerührt. »Du bist unser großer Bruder, du kannst alles. Du konntest sogar ein Menü zaubern, das die Eltern aus den Socken gehauen hat. Schon vergessen? Und vier Teenager zu beeindrucken ist auch nicht so einfach, aber du hast es geschafft.«
»Es war einfach, weil die ganz normal mit mir umgegangen sind. Bei den Eltern wird das anders sein. Ich sehe mich schon in deren elegantem Wohnzimmer sitzen und herumstottern, weil mich zwei solche Respektspersonen so einschüchtern, dass ich keinen ganzen Satz herausbringe. Du kannst das einfach nicht beurteilen, weil du noch nicht dort gewesen bist. Glaub mir, es ist der Hammer!«
Die zwölfjährige Lisa erschien an der Tür, ihre jüngste Schwester. Lisa hatte Simon nach dem Tod ihrer Eltern die meisten Sorgen bereitet. Sie war in der Schule nicht mehr mitgekommen, schüchtern und völlig verängstigt gewesen. Erst seit sie wussten, dass sie eine Lese-Rechtschreibschwäche hatte und seit er sie mehrmals zu einer Psychologin begleitet hatte, wachte sie nachts nicht mehr schreiend auf oder weinte vor Angst, wenn sie mal für kurze Zeit allein bleiben sollte. Und sie geriet nicht mehr ständig in Panik, weil sie glaubte, auch Simon und Lili würden sterben und sie ganz allein auf dieser Welt zurücklassen.
Sie ging auf ihren großen Bruder zu und umarmte ihn. »Die nehmen dich«, sagte sie ganz ruhig. »Wenn sie dich sehen und mit dir reden, nehmen sie dich. Zwei Ärzte sind nämlich bestimmt nicht blöd, und deshalb erkennen sie auch, wie toll du bist.«
Lili grinste über das ganze Gesicht. »Bravo, Lisa, besser hätte ich es auch nicht sagen können. Und jetzt hau ab, Simon, wenn du nämlich noch lange vor dem Spiegel stehst und dich anstarrst wie ein Gespenst, machst du dich nur noch mehr verrückt, das bringt nichts. Und sag den Laurins, wenn sie dich nicht nehmen, bekommen sie es mit zwei wütenden Schwestern zu tun.«
Simon konnte nicht anders, er musste lachen, aller Anspannung zum Trotz. »Dann macht’s mal gut, ihr beiden«, sagte er, umarmte seine Schwestern noch einmal und verließ die Wohnung. Letzten Endes: Was konnte schon passieren? Wenn sie ihm den Job nicht gaben, würde er doch sogar erleichtert sein, weil ihn das Haus so eingeschüchtert hatte. Oder etwa nicht?
»Nein, eher nicht«, murmelte er.
Er gab es ungern zu, aber seit er in dieser fantastisch ausgestatteten und sehr aufgeräumten Küche sein erstes Menü für die Familie gekocht hatte, wollte er den Job unbedingt haben, obwohl er sich eingeschüchtert und ein bisschen ängstlich fühlte.
Also: Auf in den Kampf!
*
»Schläft Mama?«, fragte Flora, als sie nach Hause kam und leise Miros Zimmer betrat. »Ich habe ins Schlafzimmer geguckt, aber sie hat nichts davon gemerkt.«
»Hallo, Flo. Ja, sie schläft, sie hat ein Bad genommen, danach ging es ihr ein bisschen besser. Wie war’s bei deiner Freundin?«
Flora strahlte. »Ganz toll. Zuerst haben wir gespielt, aber dann haben wir die Schritte geübt, die wir neu gelernt haben. Willst du mal sehen?«
»Unbedingt.«
Flora stellte sich in Positur, ganz aufrecht, den Kopf erhoben. Sie war ein zartes Kind mit feinen Gesichtszügen und großen blauen Augen. Ihre schönen Haare hatte sie, wie beim Ballett üblich, streng zurückgebunden und zu einem Knoten geschlungen. Normalerweise trug sie ihre blonden Locken offen.
In einer anmutigen Geste hob sie die Arme, und dann vollführte sie mit großem Ernst einige Schritte, die irgendwie lustig aussahen, aber er hütete sich, das laut zu sagen. Wenn es ums Ballett ging, war Flora empfindlich.
»Sieht sehr elegant aus«, bemerkte er, als sie ihn auffordernd ansah.
»Das waren Katzenschritte«, sagte sie. »Auf Französisch heißt das ›pas de chat‹, das spricht man ›padöscha‹ aus. Wusstest du das?«
»Ja, ich glaube, das habe ich mal gelernt«, sagte Miro.
»Schön, nicht? Wenn man Musik dazu hört, ist es noch schöner.«
»Ich hoffe, ich darf irgendwann mal bei euch in der Schule zugucken, wenn ihr übt«, sagte er. »Als ich dich letztes Mal abgeholt habe, war die Tür zur, und ich habe mich nicht getraut, sie zu öffnen. Die anderen, die da waren, um ihre Kinder abzuholen, haben sich auch nicht getraut.«
»Du wärst sonst auch ausgeschimpft worden«, erklärte Flora. »Wir müssen uns nämlich immer ganz stark konzentrieren, weil wir sonst keine Fortschritte machen.«
»Aber irgendwann kann man euch doch mal tanzen sehen, oder?«
»Oh ja, es wird eine Aufführung geben. Aber da tanze ich wahrscheinlich nur ganz hinten, weil wir ja erst angefangen haben.«
Sie hörten, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Flora rannte in den Flur. »Papa!«
Rainer Flossbach breitete beide Arme auf und fing seine kleine Tochter auf. Anke und er waren zuerst bestürzt gewesen über die späte, unerwartete Schwangerschaft, aber wie froh waren sie jetzt über dieses Kind! Flora hatte zwar alle Planungen über den Haufen geworfen, aber es gab keinen Tag, an dem Anke und er nicht dankbar für ihre Tochter waren – vor allem jetzt, da Miro nicht mehr lange bei ihnen sein würde.
»Schläft Mama?«
»Sie hat gebadet und war danach müde, hat Miro gesagt. Da hat sie sich noch mal hingelegt.«
»Müde bin ich auch«, gestand Rainer, »leider muss ich morgen schon wieder los. Aber nach der nächsten Tour habe ich eine ganze Woche frei und kann mich mal richtig ausschlafen. Und nachmittags können wir zusammen etwas unternehmen.«
Auch Miro kam jetzt in den Flur. »Hallo, Papa, das ist ja toll, dass du schon da bist.«
Er umarmte seinen Vater.
»Ja, das ist schön, aber der Preis dafür ist hoch: Die haben mir für morgen noch eine Tour aufgedrückt. Ich dachte ja eigentlich, ich hätte morgen schon frei, aber ein Kollege ist krank geworden, ich konnte mich nicht drücken.« Er schnupperte. »Was duftet denn hier so gut?«
»Brathähnchen«, sagte Miro. »Mama hatte auch Lust drauf, da habe ich welche gekauft und in den Backofen geschoben.«
»Ich dusche noch schnell, bevor ich eure Mutter begrüße – ich bin zwölf Stunden durchgefahren, um schneller hier zu sein.«
Rainer verschwand im Bad, und Miro ging in die Küche, um sich ums Essen zu kümmern. Während der Krankheit seiner Mutter war das seine Aufgabe gewesen. Er konnte nur ein paar Gerichte, aber die immerhin ganz gut. Zum Glück war Flora keine anspruchsvolle Esserin, und seine Mutter hatte ohnehin kaum Appetit gehabt. Wenn sich das jetzt wieder änderte, war sie also offenbar doch endlich auf dem Weg der Besserung.
Als Rainer aus dem Bad kam, weckte er seine Frau, und zum ersten Mal seit längerer Zeit saßen sie wieder zu viert am Tisch. Flora erzählte von ihrer Ballettschule, Rainer berichtete von ein paar eher lustigen Begebenheiten von seiner letzten Fahrt, Anke und Miro beschränkten sich mehr oder weniger aufs Zuhören.
Zum ersten Mal bekam Miro Angst vor der Zukunft. Das hier war seine Familie, er fühlte sich geborgen, wenn er mit diesen drei Menschen zusammen war. Aber sobald er sein Studium beendet hatte, würde er nicht mehr hier wohnen, seine Eltern und seine kleine Schwester nicht mehr regelmäßig sehen, sich ein eigenes Leben aufbauen müssen.
Noch konnte er es sich nicht vorstellen.
*
Es war wie beim ersten Mal: Als Simon das Haus sah, drohte ihn der Mut zu verlassen, aber er riss sich zusammen. Seine Schwestern erwarteten von ihm, dass er es schaffte, nach den Kindern auch die Eltern Laurin von sich und seinen Fähigkeiten zu überzeugen, und er fand, er war es Lisa und Lili schuldig, sich zumindest anzustrengen. Wenn es dann trotzdem nicht klappte, konnte er zumindest sagen, dass er sich Mühe gegeben hatte.
Ihm fiel ein, dass er die ›Zeugnisse‹, die seine Schwestern ihm geschrieben hatten, bei seinem ersten Besuch in diesem Haus gar nicht vorgelegt hatte. Es war ihm überflüssig erschienen, sie den vier Teenagern zu zeigen, denn die hatten ihn ja ohnehin schon mit offenen Armen empfangen. Mit ihnen war das eigentlich gar keine Prüfungssituation gewesen, das würde heute anders sein. Er hatte sich noch nicht entschieden, wie er dieses Mal mit den Schreiben seiner Schwestern verfahren würde.
Wie bei seinem ersten Besuch wurde die Haustür von Kyra geöffnet, die ihn auch heute wieder schüchtern anlächelte. »Da bist du ja«, sagte sie, und es klang so erleichtert, als hätte sie Zweifel an seinem Kommen gehabt.
»Ja, natürlich bin ich da, wir sind doch verabredet.«
»Ja, aber Kaja meinte, du kriegst vielleicht Angst und kommst nicht.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck und deutete ihn richtig.
Ihre nächste Geste rührte ihn: Sie griff nach seiner Hand. »Komm«, sagte sie. »Meine Eltern sind nett. Wenn sie dich erst sehen, vergessen sie, was sie vorher gedacht haben.«
»Was haben sie denn gedacht? Dass ich zu jung und den Aufgaben hier nicht gewachsen bin?«
»Klar denken sie das. Das würdest du auch denken, wenn du an ihrer Stelle wärst, oder?«
Das ließ sich kaum bestreiten.
Kyra ließ seine Hand los. »Sie wollen allein mit dir reden«, sagte sie. »Wir dürfen nicht dabei sein, aber wir sind alle in der Nähe.«
Auch ihre Worte rührten ihn, aber er kam nicht mehr dazu, etwas zu erwidern, denn ein gutaussehender Mann erschien an der Wohnzimmertür, der so jung aussah, dass er eigentlich nicht der Hausherr und Vater von vier Kindern sein konnte, doch Kyra sagte eilig: »Das ist Simon, Papa. Ich habe ihn ganz zufällig kommen sehen.« Und weg war sie.
»Guten Tag, Herr Dr. Laurin«, sagte Simon höflich.
»Den Doktor lassen Sie in diesem Haus ruhig weg, wir sind ja privat hier. Kommen Sie herein, Herr Daume, meine Frau und ich haben in den letzten Tagen sehr viel über Sie gehört.«
Simon folgte Leon Laurin ins Wohnzimmer und musste erneut schlucken. Antonia Laurin war eine ausgesprochen schöne Frau mit klugen Augen, die ihn jetzt so forschend musterten wie zuvor die Augen ihres Mannes.
»Simon Daume«, sagte er. »Guten Tag, Frau Doktor … äh, Frau Laurin. Ihr Mann meinte, ich soll die Titel hier im Haus weglassen.«
»Ja, das sollen Sie ganz sicher. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Sie behandelten ihn wie einen Gast, fiel ihm auf, boten ihm etwas zu trinken an, machten ein paar Bemerkungen über das Wetter und den Verkehr, aber dann merkte er plötzlich, dass sie längst nicht mehr über Belanglosigkeiten sprachen, sondern über ihn und seine Schwestern und das Leben, das sie seit dem Tod ihrer Eltern führten. Er war verwirrt, denn er hatte gar nicht bemerkt, an welcher Stelle das Gespräch eine so persönliche Wendung genommen hatte.
»Wo wollen Sie die Zeit für unsere Familie hernehmen?«, fragte Antonia Laurin in diesem Moment. »Sie haben selbst eine Familie, um die Sie sich kümmern müssen.«
»Lili ist sechzehn und sehr selbstständig, sie hat einen Job als Babysitter. Um Lisa müssen wir uns kümmern, weil sie immer noch Angst hat, nach unseren Eltern auch uns noch zu verlieren. Aber sie geht zu einer Psychologin, und seit wir wissen, dass sie eine Lese-Rechtschreibschwäche hat, ist es auch in der Schule wieder besser geworden. Ich kann jedenfalls vormittags hier sein, den Haushalt machen, kochen und hinterher die Küche wieder in Ordnung bringen. Ich kann nicht bis abends bleiben, falls das Ihre Frage war, dann bleibt mir zu wenig Zeit, das stimmt schon. Aber ich kann morgens unsere Einkäufe erledigen und was sonst noch so anfällt, dann hierherkommen und bis zum frühen Nachmittag bleiben, wenn das für Sie in Ordnung ist.«
Ein kurzes Schweigen antwortete ihm, bevor sich Leon Laurin räusperte und sagte: »Früher haben unsere Haushälterinnen hier im Haus gewohnt.«
»Hier im Haus?«, fragte Simon verblüfft. »Also, tut mir leid, aber das geht für mich auf keinen Fall. Und ich muss Ihnen noch etwas sagen: Ich bin nicht auf der Suche nach einer Lebensstellung. Sobald Lisa mit der Schule fertig ist und eine Ausbildung oder ein Studium beginnt, werde ich Koch. Ich will eines Tages ein eigenes Restaurant aufmachen, dafür brauche ich eine richtig gute Ausbildung. Ich hatte schon einen Ausbildungsplatz, aber dann … also dann sind eben kurz nacheinander unsere Eltern gestorben, also konnte ich das damals nicht machen. Aber ich hole das nach, auf jeden Fall. Ich fange dann eben etwas später an.«
»Dass Sie kochen können, wissen wir ja schon«, sagte Antonia mit einem Lächeln. »Wir sind aus allen Wolken gefallen, als unsere Kinder uns dieses Menü vorgesetzt haben. Zuerst haben wir ihnen die Geschichte, die sie uns dann erzählt haben, nicht glauben wollen.«
»Na ja, es war nicht perfekt, ich hatte ja nicht so viel Zeit«, sagte Simon. »Aber das Kochen ist jedenfalls mein geringstes Problem.«
»Was ist denn ein Problem?«, fragte Leon. »Das Putzen?«
»Putzen? Überhaupt nicht«, antwortete Simon erstaunt. »Ich kaufe auch gerne ein. Haushalt ist für mich eigentlich überhaupt kein Problem, wenn alles gut organisiert ist. Bei uns zu Hause ist das so. Wir packen alle an, weil es sonst nicht geht, ich habe ja auch bisher schon einen Job gehabt.« Er grinste ein wenig schief. »Das soll jetzt keine Kritik sein, aber ich glaube, bei Ihnen läuft das anders, oder? Sie, Frau Laurin, managen das hier bislang mehr oder weniger allein.«
»Also …«, begann Leon, verstummte aber gleich wieder, als ihm aufging, dass der junge Mann Recht hatte.
»Ja«, sagte denn auch Antonia. »So ist das. Früher hatten wir Haushälterinnen, aber es wurde immer schwieriger, Frauen zu finden, die zu uns passen und die wir gerne um uns haben. Also habe ich es schließlich selbst übernommen. Ich fürchte, ich habe meine Familie verwöhnt.«
Simon nickte. »Ich kann natürlich in einem so großen Haushalt in, sagen wir mal, fünf Stunden täglich, nicht alles machen. Betten machen oder frisch beziehen zum Beispiel – meine Schwestern machen das selbst, das ist schließlich keine Kunst. Den Frühstückstisch abräumen, alles zurück in den Kühlschrank, das Geschirr in die Spülmaschine, solche Sachen. Wenn Sie für so etwas eine Haushälterin brauchen, bin ich der Falsche. Wenn ich einkaufen, kochen, putzen und vielleicht auch noch mal den Rasen mähen soll, müssen solche Sachen von Ihren Kindern übernommen werden, anders geht es nicht. Die sind ja auch aus dem Kleinkindalter heraus, da sollte das eigentlich kein Problem sein.«
»Ich muss schon sagen«, brachte Leon endlich heraus, »dieses Gespräch verläuft anders, als ich dachte.«
»Weil ich sage, was ich mir vorstelle?«, fragte Simon. »Aber das muss ich doch, sonst klappt das nie im Leben. Wenn ich Ihnen jetzt erzähle, dass ich alles mache und das spielend in fünf Stunden schaffe, werfen Sie mich nach spätestens zwei Wochen raus, weil Sie feststellen, dass ich Ihnen etwas vorgemacht habe. Ich verlange ja auch nicht, dass Sie mich bezahlen wie eine Frau, die ausgebildete Hauswirtschafterin ist.«
Zu Simons Erstaunen fing Antonia Laurin an zu lachen. Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte aus vollem Hals. Ihr Mann betrachtete sie zuerst fast ein wenig ärgerlich, aber dann lachte auch er. Simon wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er konnte nicht mitlachen, weil er nicht verstand, was die beiden so lustig fanden.
Endlich beruhigten sie sich wieder. »Wir rufen jetzt unsere Kinder, Herr Daume, und dann wiederholen Sie bitte, was Sie eben gesagt haben. Wir beide sind bereit, es mit Ihnen zu versuchen. Die Frage ist, ob unsere Kinder es unter den von Ihnen genannten Bedingungen auch sind.«
»Sie wollen mich nehmen?« Simon traute seinen Ohren nicht.
»Haben Sie das nicht erwartet?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich entspreche ja überhaupt nicht dem, was Sie suchen. Schließlich habe ich die Anzeige gelesen. Ich habe das falsche Alter, das falsche Geschlecht, die falsche Vorgeschichte – und ich stelle auch noch Bedingungen. Außerdem habe ich nicht einmal Zeugnisse.«
»Das stimmt«, sagte Leon. »Aber wieso haben Sie dann eigentlich diese Aktenmappe dabei?«
»Meine Schwestern haben mir Zeugnisse geschrieben. Es war Lilis Idee, schätze ich. Jedenfalls waren sie der Ansicht, sie müssten mich so richtig anpreisen, falls jemand ein Zeugnis verlangt. Vorsichtshalber habe ich sie mitgebracht. Ihre Kinder haben neulich zum Glück keine Zeugnisse sehen wollen. Ich war einigermaßen erleichtert deswegen.«
»Mhm«, machte Antonia, »ich würde schon gern wissen, was Ihre Schwestern geschrieben haben. Das interessiert mich. Würden Sie es mir zeigen?«
Simon nickte ergeben. »Sie haben ein Recht darauf, schätze ich«, sagte er und reichte ihr die beiden Blätter.
Sie las das erste Blatt, reichte es an ihren Mann weiter und las das zweite Blatt, bevor sie ihm auch dieses gab. Als sie Simon ansah, waren ihre Augen feucht.
Leon musste sich räuspern, als er Simon beide Schreiben zurückgab. »Ich schätze«, sagte er, »es wird für uns alle eine Herausforderung.«
Er sprang auf und rief nach den Kindern, die so schnell hereinkamen, dass Simon annahm, dass sie direkt hinter der Tür gelauert hatten.
»Herr Daume hat euch etwas zu sagen.«
»Jetzt sag bloß, du hast es dir anders überlegt!«, rief Kevin.
»Nein, nein, darum geht es nicht. Also, es ist so …« Simon holte tief Luft, dann wiederholte er, was Leon Laurin ›seine Bedingungen‹ genannt hatte. Er schloss mit den Worten: »Ich weiß, dass das für euch eine Umstellung ist, weil eure Mutter euch … ein bisschen verwöhnt hat, aber anders wird es nicht funktionieren. Ich kann nicht hier wohnen und den ganzen Tag hier verbringen. Und über die Wochenenden haben wir noch gar nicht gesprochen.«
»Da bin ich ja zu Hause«, warf Antonia schnell ein. »An den Wochenenden haben Sie sowieso frei.«
»Ich kann mein Bett selbst machen«, sagte Kyra. »Mir macht das nichts aus. Und wenn wir nach dem Frühstück alle mit anpacken …«
»Ist doch klar«, sagte Kevin, »dass du nicht alles machen kannst. Von mir aus kein Problem.«
»Dito«, sagte Konstantin.
Allein Kajas Gesicht wirkte umwölkt. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen einzutreffen, aber sie wollte auch nicht als die verwöhnte Tochter dastehen, die nicht bereit war, ihren Teil zu einem funktionierenden Familienleben beizutragen, und so sagte sie mit leicht gequälter Stimme: »Es ist ja nicht so, als hätte ich noch nie im Leben ein Bett bezogen.«
»Na ja«, sagte Simon, »das allein ist es nicht. Ich fürchte, ihr müsst euch insgesamt umstellen. Ich bin Teamarbeit gewöhnt, weil wir das zuhause so machen, meine Schwestern und ich. Und das bedeutet auch, dass man miteinander redet über die Dinge, die nicht so gut funktionieren. Die Frage ist«, er wandte sich an Antonia und Leon, »ob ich hier ein Hausangestellter sein soll, der seine Arbeit macht, aber ansonsten besser den Mund hält. Das kann ich nämlich schlecht. Wenn mir etwas auffällt, was nicht gut läuft, würde ich das gerne ansprechen.«
»Wir reden hier dauernd über Dinge, die nicht gut laufen«, erklärte Konstantin. »Da brauchst du gar keine Angst zu haben.«
Simons Blick streifte Kaja, aber er sagte nichts weiter, sondern nickte nur.
»Also, alle einverstanden, dass wir es mit Herrn Daume versuchen?«, fragte Antonia. »Und Sie, Herr Daume, sind auch bereit dazu?«
»Wenn Sie mich aber bitte Simon nennen würden? Sie können mich gerne siezen, aber wenn ich ›Herr Daume‹ höre, habe ich immer das Gefühl, dass von meinem Vater die Rede ist.«
»In Ordnung. Dann müssen wir nur noch übers Geld reden.«
Das erwies sich als geringstes Problem, denn Simon hatte mit deutlich weniger Gehalt gerechnet, als sie ihm anboten, und sagte das auch offen. Sie einigten sich auf fünfundzwanzig Stunden pro Woche, und er würde so viel verdienen, dass seine Schwestern und er zum ersten Mal seit dem Tod ihrer Eltern genug Geld haben würden.
Als er auf dem Heimweg war, fühlte er sich wie betäubt. Er hatte eine Arbeitsstelle, eine richtige Arbeitsstelle – und er hatte sogar Lust darauf! Er würde in dieser großartig ausgestatteten Küche für eine sechsköpfige Familie kochen müssen, die anspruchsvoll war. Konnte es eine bessere Vorbereitung auf seinen zukünftigen Beruf geben?
Er würde sich neue Gerichte ausdenken, während er putzte und aufräumte, und er würde …
Sein Handy meldete sich, Lili war dran. »Ist es so schlecht gelaufen?«, fragte sie nervös. »Wir warten und warten, Lisa und ich, und du meldest dich nicht.«
»Ich habe den Job«, sagte Simon. »Bin gleich zuhause und erzähle euch alles.«
Er sah erst jetzt, wie spät es geworden war und rannte los.
*
»Ein bemerkenswerter junger Mann«, stellte Leon fest, als Antonia und er später am Abend noch einen Spaziergang machten. »Dieses ruhige und selbstbewusste Auftreten! Und wie klar er sagen konnte, was er sich vorstellt. Ich muss sagen, ich war sehr beeindruckt. Wenn er nur halb so gut arbeitet wie er auftritt …«
»Ich war auch beeindruckt«, gestand Antonia. »Aber freuen wir uns nicht zu früh, Leon. Ich rechne mit Konflikten – nicht mit uns, aber mit den Kindern. Zumindest mit Kaja. Es hat ihr von Anfang an nicht gepasst, dass ich wieder arbeiten will, und es passt ihr immer noch nicht. Simon ist nicht viel älter als sie, sie wird sich von ihm nichts sagen lassen, sondern ihn als Angestellten behandeln. Und er wird sich das nicht gefallen lassen.«
»Abwarten«, sagte Leon ruhig. »Er hat seine Bedingungen genannt, diese Bedingungen sind akzeptiert worden, von allen, auch von Kaja. Also sehen wir mal, wie es läuft. Es kann ja auch sein, dass er nur gut kochen kann, aber mit dem Haushalt völlig überfordert ist.«
»Glaubst du das?«
Er dachte nach, schüttelte aber schließlich den Kopf. »Nein, eigentlich denke ich, dass er seine Arbeit hier ziemlich bald gut im Griff hat.«
»Das denke ich auch. Er kann offenbar einschätzen, was er leisten kann und was nicht.« Antonia griff nach Leons Hand. »Stell dir das mal vor, er war zwanzig, als seine Eltern gestorben sind – und hat da schon die Verantwortung für zwei jüngere Schwestern übernehmen müssen.«
»Nicht nur das, er hat ja auch seine eigene Zukunftsplanung zurückgestellt zugunsten seiner Schwestern. Das hätte nicht jeder getan.«
»Ich hoffe, das geht gut«, sagte Antonia. »Er ist mir sympathisch, ich hatte vom ersten Moment an ein gutes Gefühl. Er macht bestimmt Fehler, und vor allem am Anfang läuft das wahrscheinlich nicht reibungslos, aber ich wünsche mir sehr, dass er bei uns bleibt. Und noch mehr wünsche ich mir, dass Kaja nicht versucht, ihm Steine in den Weg zu legen.«
»Warum sollte sie das tun? Sie war doch eigentlich die treibende Kraft bei seiner Einstellung. Schließlich hat sie ihn zu diesem Vorstellungsgespräch eingeladen, da wird sie schon wollen, dass es gut läuft.«
»Kaja ist im Augenblick ein Mensch voller Widersprüche, deshalb bin ich mir da nicht so sicher.«
Sie machten sich auf den Heimweg.
»In ein paar Monaten wissen wir mehr, auch, wie es mit Linda in der Klinik läuft«, sagte Leon. »Spannende Zeiten, Antonia.«
*
»Du musst dir keine Sorgen machen, Rainer«, sagte Anke am nächsten Morgen, »es geht mir schon viel besser, wirklich. Ich kann bestimmt bald wieder arbeiten.«
»Ich war so froh über die bevorstehende freie Woche«, erwiderte er, während er sich anzog. »Und jetzt muss ich schon wieder los, nach einer einzigen Nacht zu Hause.«
»Wenn sie dir nach dieser Tour wieder etwas aufs Auge drücken wollen, dann weigerst du dich. Es gibt schließlich gesetzliche Regelungen.«
»Die sind meinem Chef ziemlich egal«, brummte Rainer. »Und ehrlich gesagt, ich kann ihn verstehen. Dem steht das Wasser bis zum Hals. Er hat nicht mehr viele Fahrer, auf die er sich wirklich verlassen kann. Und er braucht neue Wagen, die kosten viel Geld. Weil es aber so viel Billig-Konkurrenz gibt, verdient er weniger. Der hat einfach nicht genug übrig, um ordentlich in sein Geschäft zu investieren, die goldenen Zeiten sind vorüber.«
»Das heißt, dein Job ist auch nicht mehr sicher«, erwiderte sie.
»Ich denke sowieso schon seit einiger Zeit darüber nach, umzusatteln. Ich habe Miros halbes Leben versäumt, weil ich so selten zuhause war, und jetzt geht es mir mit Flora wieder so.«
»Aber was willst du denn stattdessen machen?«
»Ich habe schließlich mal Automechaniker gelernt. Ein Kumpel von mir arbeitet jetzt in einer Werkstatt und ist ganz begeistert. Geregelte Arbeitszeit, gute Bezahlung, nette Kollegen. Er sagt, die suchen einen Mechaniker.«
»Aber wahrscheinlich einen jungen, oder?«
»Kann sein, aber ich werde da auf jeden Fall mal nachfragen, ob ich eine Chance hätte. Dann hat mein Chef einen zuverlässigen Fahrer weniger.«
Anke trank eine Tasse Tee, während ihr Mann frühstückte. Seit dem vergangenen Tag hatte sie das Gefühl, dass es endlich aufwärts ging mit ihrer Gesundheit. Nicht, dass sie sich in den Supermarkt zurücksehnte, aber sich wieder einmal gesund und tatkräftig zu fühlen und weder Kopf- noch Gliederschmerzen zu haben, war eine berauschende Vorstellung.
Rainer umarmte sie liebevoll zum Abschied. »Grüß die Kinder von mir«, sagte er, »und pass auf dich auf, ja?«
»Das muss ich eher zu dir sagen. Mir passiert ja nichts, wenn ich nur zu Hause bin und im Bett liege.«
»Ich passe auf«, versicherte er, drückte sie noch einmal an sich und verließ die Wohnung.
Anke warf einen Blick auf die Uhr. Es war sechs, Flora musste in einer knappen Stunde aufstehen. Miro hatte erst später seine erste Vorlesung. Genug Zeit also, noch eine Tasse Tee zu trinken. Hunger hatte sie nicht, sie würde später versuchen, etwas zu essen, damit sie nicht noch weiter abnahm. Sie musste ja endlich wieder zu Kräften kommen.
*
Als seine zweite Vorlesung an diesem Vormittag zu Ende war und sich der Hörsaal zügig leerte, blieb Miro noch einen Moment sitzen. Er hatte wieder diese unangenehmen Kopfschmerzen bekommen, die ihn seit ein paar Wochen in unregelmäßigen Abständen quälten. Wenn das nicht von selbst wieder aufhörte, würde er doch einmal einen Arzt aufsuchen müssen. Er hatte früher nie Kopfschmerzen gehabt und die Menschen, die darunter litten, immer bedauert. Heute war es so schlimm, dass er mitten in der Vorlesung plötzlich nicht mehr richtig hatte sehen können. Bislang hatte er versucht, sich von den Kopfschmerzen nicht sonderlich beeindrucken zu lassen, aber nun musste er sich eingestehen, dass er allmählich anfing, sich Sorgen zu machen.
Normalerweise hätte er seine Mutter um Rat gefragt, doch die schlug sich nun schon so lange mit ihrer Grippe herum, dass er sie mit seinen Sorgen nicht noch zusätzlich belasten wollte. Und sein Vater war ja leider schon wieder unterwegs. Aber der hätte ihm bestimmt gesagt, er solle einen Arzt aufsuchen, was ja vermutlich auch vernünftig war.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte eine Stimme neben ihm.
Er sah auf und begegnete dem fragenden Blick eines anderen Studenten, den er nur vom Sehen kannte. Ein untersetzter Dunkelhaariger mit grauen Augen. Sie hatten sich schon einige Mal zugenickt, aber noch nie miteinander gesprochen.
Hastig erhob er sich. »Ja, klar, ich habe nur nachgedacht.«
»Das glaube ich dir nicht«, erwiderte der andere. »Du siehst aus, als hättest du Schmerzen.«
Miro sah keinen Sinn darin, weiter so zu tun, als fehlte ihm nichts, und so gestand er: »Kopfschmerzen. Das ist neu für mich, die hatte ich früher nie. Ich habe überlegt, ob ich mal zum Arzt gehe.«
»Tu das. Und nimm das hier, das ist eine Schmerztablette.«
»Danke. Ich … nehme eigentlich nie Medikamente.«
»Eine Schmerztablette wird dich nicht umbringen. Ich bin übrigens Fritz Malchow.«
»Miro Flossbach. Danke für die Tablette, Fritz.«
»Du musst Wasser dazu trinken. Gehst du zum Essen auch in die Mensa?«
Miro nickte. Seine Mutter hatte versprochen, etwas für Flora zu kochen, so konnte er an der Uni bleiben, das war für ihn praktischer, als zwischendurch nach Hause zurückzukehren.
»Dann können wir zusammen essen, wenn’s dir recht ist«, sagte Fritz.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu den Waschräumen, wo Miro die Tablette nahm und mit ordentlich Wasser hinunterspülte.
Fritz und er stellten während des Essens fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten hatten. Nach einer Viertelstunde waren Miros Kopfschmerzen verschwunden, und ab da genoss er das Essen noch mehr.
Als sie die Mensa verließen, hatten jeder von ihnen das Gefühl, einen neuen Freund gefunden zu haben.
*
»Es läuft langsam an«, stellte Maxi Böhler fest, als sich die Sprechstunde in der neuen Kinderarztpraxis dem Ende zuneigte.
»Zum Glück«, sagte Antonia erleichtert. »Nicht auszudenken, wenn das ein Flop würde. Ich habe mir so viel anhören müssen wegen meiner Idee, noch einmal in den Beruf einzusteigen, dass ich es nur schwer ertragen würde, wenn meine Kritiker am Ende mit Recht sagen könnten: Wir haben doch gleich gewusst, dass es nicht funktioniert.«
»Natürlich funktioniert das. Sag mal, wann fängt euer neuer Haushälter an?«
»Am Montag.«
»Ich bin gespannt.«
»Das sind wir alle, wie du dir bestimmt vorstellen kannst. Maxi, ich muss los, Kyra hat heute wieder früher Schluss, ich mag sie nicht so lange allein lassen.«
»Dann zisch ab«, sagte Maxi. »Ich bleibe noch etwas, ich kann dann abschließen.«
»Danke, bis morgen.«
Antonia beeilte sich, aber als sie sich ihrem Haus näherte und den großen Wagen sah, der direkt davor parkte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Wie lange herrschte jetzt schon Funkstille zwischen ihr und ihrem Vater? Seit jenem unangenehmen Besuch, den Leon und sie ihm und seiner zweiten Frau Teresa abgestattet hatten und bei dem Antonias Pläne zur Sprache gekommen waren.
Ihr Vater war außer sich gewesen über ihre ›Verantwortungslosigkeit‹ – in seinen Augen hatte sie die Absicht, ihre Kinder im Stich zu lassen und gewissermaßen den Ehemann gleich dazu. Es war zu einem heftigen Streit gekommen. Zwar hatte Teresa mehrmals versucht zu vermitteln, aber ein durchschlagender Erfolg war ausgeblieben.
Und jetzt war ihr Vater bei ihnen zu Besuch? Mitten am Nachmittag und ohne Ankündigung? Er musste Kyra allein angetroffen haben, das war bestimmt wieder Wasser auf seine Mühlen gewesen. Voll böser Vorahnungen öffnete sie die Haustür.
Sie hörte die erhobene Stimme ihres Vaters bis hierher.
»Sag mir sofort, dass das nur ein dummer Scherz ist, Kyra! Ich kann nicht glauben, dass das, was du mir eben erzählt hast, stimmt.«
»Aber wieso denn, Opa? Das ist doch eine super Lösung, nachdem wir so lange …«
Antonia öffnete die Wohnzimmertür, blieb aber in der Öffnung stehen. »Welch unerwarteter Besuch«, sagte sie kühl.
»Mami!« Kyra stürzte auf sie zu und umarmte sie. »Opa ist zufällig vorbeigekommen, und ich habe ihm von Simon erzählt.«
Ach, daher wehte der Wind, sie hätte es eigentlich wissen müssen!
Ihr Vater stand hoch aufgerichtet im Zimmer, den Blick anklagend auf seine Tochter gerichtet. »Zuerst entschließt du dich, ohne Not wieder zu arbeiten, obwohl du weiß Gott zu Hause genug zu tun hättest – und jetzt erfahre ich außerdem noch, dass du einen unerfahrenen jungen Mann ohne jegliche Referenzen einstellen willst, damit er sich hier um den Haushalt und die Kinder kümmert? Ich muss sagen, dass ich allmählich an deinem Verstand zweifele, Antonia.«
»Kyra, würdest du uns bitte allein lassen?«, bat Antonia, und sie wunderte sich selbst darüber, dass ihre Stimme bei diesen Worten beinahe normal klang. »Und mach bitte die Tür hinter dir zu.«
Kyra verschwand ohne Widerrede – und so schnell, dass es einer Flucht gleichkam.
»Wieso schickst du sie weg? Darf sie nicht hören, wie ihr Großvater ihre Mutter kritisiert?«
»Eher sollte sie nicht unbedingt hören, was ihre Mutter ihrem Großvater zu sagen hat«, versetzte Antonia kühl. »Du hast deine Meinung gesagt, ich habe sie zur Kenntnis genommen, und mehr möchte ich dazu von dir nicht hören. Ich bin erwachsen, ich treffe meine eigenen Entscheidungen und wenn sie dir nicht passen, tut es mir leid, aber ich werde sie deshalb nicht zurücknehmen. Wenn das alles war, was du mir mitzuteilen hattest, sehe ich unser Gespräch hiermit als beendet an. Ich hatte einen anstrengenden Tag und würde mich jetzt gern mit meiner jüngsten Tochter unterhalten.«
Ihr Vater erstarrte bei diesen Worten. »Du weist mir die Tür?«, fragte er.
»Ich sagte, wenn du mir außer Kritik an meinen Entscheidungen nichts mitzuteilen hast, sehe ich keinen Sinn darin, unser Gespräch fortzusetzen. Das ist ein Unterschied.«
Professor Dr. Joachim Kayser stand noch sekundenlang unbeweglich an derselben Stelle, dann eilte er mit langen Schritten zur Tür, riss sie auf und verließ gleich darauf das Haus.
Antonia merkte erst jetzt, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie hätte gern geweint, hielt die Tränen aber zurück. Schon oft hatte sie mit ihrem Vater gestritten, aber noch nie zuvor so wie heute. Sie hatte diesen Streit nicht gewollt, aber sie war ihm auch nicht ausgewichen. Vielleicht musste es ein- für allemal geklärt werden, dass sie sich von ihrem Vater nicht mehr maßregeln lassen würde. Er war ein Mann alter Schule, sein Weltbild hatte nicht Schritt gehalten mit den Entwicklungen der letzten fünfzig Jahre. Aber das war nicht ihr Problem, es war seins. Teresa war nicht viel jünger als er, doch sie verharrte deutlich weniger in der vermeintlich ›guten alten Zeit‹. Sie wollte wahrhaftig nicht im Streit mit ihrem Vater leben, aber sie wollte sich in Zukunft auch nicht bei jedem Treffen von ihm kritisieren lassen dafür, dass sie sich für ein Leben entschieden hatte, das ihm nicht gefiel.
Kyra erschien an der Tür, sah die verkrampfte Haltung ihrer Mutter und kam sofort auf sie zu, um sie zu umarmen. »Ich wusste nicht, dass er so böse werden würde, sonst hätte ich ihm bestimmt nichts von Simon erzählt, Mami«, sagte sie.
»Du hast alles richtig gemacht. Es liegt an ihm, Kyra. Er will einfach nicht wahrhaben, dass die Welt sich weiterdreht. Er war immer ›der Herr Professor‹, und alles geschah so, wie er es haben wollte. Davon verabschiedet man sich nicht so leicht.«
»Redest du jetzt nie wieder mit ihm?«
»Wir brauchen wohl beide etwas Zeit«, erwiderte Antonia ausweichend. »Und Teresa ist ja auch noch da. Ich nehme an, dass sie hinter seinem heutigen Besuch steckt. Wahrscheinlich wollte er sich mit mir versöhnen, aber dazu ist es ja nicht gekommen.«
»Das war meine Schuld, tut mir leid, Mami.«
»Es muss dir nicht leidtun, wie gesagt, du hast nichts falsch gemacht.«
»Du warst ganz schön böse zu ihm.«
»Du hast also gelauscht?«
Kyra nickte. »Klar, was dachtest du denn? Ich wusste gar nicht, dass du so reden kannst – so … so kalt und streng.«
»Ich wollte das eigentlich nicht, aber er hat mich richtig wütend gemacht. Meine Güte, ich bin Mitte vierzig, und er meint immer noch, er kann mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Das ist doch nicht zu fassen!« Antonia fuhr Kyra liebevoll durch die Haare. »Versprich mir, mich an diese Situation zu erinnern, wenn du so alt bist wie ich jetzt und ich versuche, dir immer noch Vorschriften zu machen.«
Kyra kicherte. »Ich weiß nicht, ob ich mich dann noch daran erinnere, Mami. Das sind noch über dreißig Jahre.«
»Da hast du auch wieder Recht, und so lange sollte man sich an unangenehme Situationen überhaupt nicht erinnern, das würde einem nur das Leben vergiften.«
»Kann ich den anderen von Opas Besuch erzählen?«
»Was machst du, wenn ich jetzt ›nein‹ sage?«
Kyra seufzte. »Dann würde ich es vielleicht nur Kevin erzählen.«
Antonia musste lachen, und damit fiel der erste Teil der Anspannung von ihr ab. Der zweite folgte, als Kyra und sie in der Küche einen Saft tranken, wobei Kyra ihr erzählte, wie ihr allerbester Freund Peter Stadler heute den Mathematiklehrer beeindruckt hatte.
Danach machten sie sich gemeinsam an die Vorbereitungen fürs Abendessen, und dabei entspannte sich Antonia vollends.
Irgendwann würden ihr Vater und sie wieder zusammenfinden, daran zweifelte sie nicht. Aber noch nicht gleich. Zu groß war ihr Zorn auf ihn, als dass sie ihm seine Kritik sofort hätte verzeihen können.
*
»Heute hole ich Flo noch einmal ab, Mama, nächste Woche bist du dann wieder dran«, sagte Miro.
Anke nickte. »Ist gut. Es wird ja jeden Tag besser. Der Doktor meint auch, dass ich bald wieder arbeiten kann. Sogar mein Appetit kehrt allmählich zurück.«
»Ich gehe dann mal los«, sagte Miro.
Anke drückte ihren Großen an sich. »Danke«, sagte sie leise. »Was würde ich nur ohne dich machen?«
»Ach, Mama! Heute Abend bin ich übrigens mit Fritz verabredet, hatte ich dir das schon gesagt?«
»Ja, hattest du. Schön, dass du einen Freund gefunden hast.«
»Du lernst ihn bald kennen.« Miro rannte los. Vielleicht gelang es ihm ja heute, vor Ende des Ballettunterrichts einen Blick in den Saal zu werfen? Er war nun einmal neugierig, wie Flora aussah, wenn sie in einer größeren Gruppe ihre Tanzschritte übte. Er sah sie ja immer nur in der Wohnung, wenn sie ihm mit glühenden Wangen vorführte, was sie gelernt hatte. Aber wie sah das aus, wenn sich ein Dutzend kleine Mädchen und vielleicht halb so viele kleine Jungs abmühten, den Forderungen des Tanzlehrers zu genügen?
Aber als er die Ballettschule erreichte, sah er gleich, dass er zu spät gekommen war, denn die ersten Kinder verließen bereits das Gebäude. Er würde sich also noch gedulden müssen.
Flora kam ziemlich spät, natürlich mit ihrer Freundin Ida. Die beiden waren in ein so angeregtes Gespräch vertieft, dass Flora ihren Bruder erst bemerkte, als er ihren Namen rief. Im selben Moment wurde auch Ida gerufen, deren Mutter in einem großen Wagen auf sie wartete.
»Wir fahren zu meiner Oma«, sagte Ida, »bis morgen, Flora. Hallo, Miro!« Sie winkte, während sie an ihm vorbeirannte und gleich darauf in den Wagen ihrer Mutter stieg.
»Na, wie was habt ihr heute gelernt?«, fragte Miro.
Flora stieß einen langen Seufzer aus. »Pliés«, sagte sie. »Weißt du, was das ist?«
Miro kramte sein Schulfranzösisch hervor. »Verbeugungen vielleicht?«
»Ja, so ähnlich. Ich zeige dir nachher, wie das geht. Ich würde mich so gern mal drehen, das heißt ›Pirouette‹, aber so weit sind wir noch nicht, sagt Herr von Braun.«
Den Namen ihres Ballettlehrers sprach Flora beinahe mit Ehrfurcht aus. Er war nicht direkt ein Star gewesen, aber doch ein bekannter Tänzer. Flora war stolz darauf, seine Schülerin zu sein. Seine Tanzschule hatte einen sehr guten Ruf, weit über die Stadt hinaus.
Flora hüpfte neben Miro her und berichtete ihm haarklein, wie die Stunde abgelaufen war. Er kannte das schon und hörte ihr geduldig zu. Er verstand noch immer nicht, was sie am Ballett so großartig fand, aber er hoffte, er würde es mit der Zeit herausfinden.
An der Ampel blieben sie stehen. Der Verkehr brauste an ihnen vorbei, unwillkürlich zog Miro seine kleine Schwester ein Stück vom Rand des Gehwegs zurück.
»Du brauchst keine Angst zu haben, ich gehe nicht bei Rot über die Straße. Weißt du, was wir in der Schule gelernt haben? ›Rotgänger, Totgänger‹. Kennst du das nicht?«
»Doch, ich glaube, das hast du mir schon mal erzählt.«
»Grün!«, rief Flora. »Los geht’s.«
Sie hüpfte jetzt vor ihm her, machte sich einen Spaß daraus, die Straße schneller zu überqueren als er. In diesem Augenblick zischte ein einsamer Fahrradfahrer auf einem Sportrad von links über die Kreuzung. Er fuhr weit vornübergebeugt, in ziemlich hohem Tempo. Als er das kleine Mädchen sah, versuchte er zwar noch zu bremsen und auszuweichen, aber es war zu spät. Er riss Flora zu Boden und schleifte sie noch einige Meter mit sich, bevor er selbst zu Fall kam. In hohem Bogen flog er über den Lenker auf die Straße.
Miro war in der nächsten Sekunde bei seiner kleinen Schwester. Floras Gesicht war blutüberströmt, oben an ihrer Stirn sah er eine klaffende Wunde. Auch Arme und Beine waren aufgeschrammt, aber das sah er nicht, er sah nur die Wunde am Kopf und das viele Blut. »Flora!«, rief er. »Flora, kannst du mich hören?«
Es dauerte ein bisschen, aber dann flatterten ihre Lider und sie öffnete die Augen. Wie klein sie in diesem Moment aussah – und wie blass sie war! »Flora!«
Jemand beugte sich zu ihnen hinunter, ein älterer Mann. »In der Querstraße da drüben ist eine Kinderarztpraxis, die ist an die Kayser-Klinik angeschlossen«, sagte er, »die haben neulich bei dem großen Busunglück schon erste Hilfe geleistet. Nehmen Sie die Kleine auf den Arm und bringen Sie sie dorthin, zur Not bringen die sie dann in die Klinik. Das geht schneller, als wenn Sie jetzt auf den Krankenwagen warten. Der Typ, der die Kleine umgefahren hat, ist bewusstlos, der läuft nicht weg. Die Polizei ist auch schon verständigt.«
»Danke«, stammelte Miro.
Der Mann half ihm, Flora aufzuheben. »Aber sagen Sie mir noch Ihren Namen«, bat er.
Miro diktierte ihm Namen und Telefonnummer, dann rannte er mit seiner blutenden kleinen Schwester über die Straße, auf der der Verkehr weitgehend zum Erliegen gekommen war.
Floras Augen waren wieder geschlossen.
*
»Was ist denn da los?« Carolin Suder, die junge Studentin, die Antonia und Maxi für die Praxisorganisation eingestellt hatten – eine ausgebildete Sprechstundenhilfe hatten sie bislang nicht finden können –, war aufgestanden und spähte hinüber auf die Kreuzung, an der sich ein kleiner Menschenauflauf gebildet hatte. Sie sah ein Fahrrad am Boden liegen und einen Mann heftig gestikulieren. Zeigte er nicht sogar hierher, zur Praxis?
»Da könnte sich ein Unfall ereignet haben«, sagte sie zu Antonia, nachdem diese eine kleine Patientin und ihre Mutter verabschiedet hatte. Seit die Praxis offiziell eröffnet worden war, hatten sich jeden Tag mehr Patienten eingefunden. Häufig bekamen sie zu hören: »Endlich eine Kinderarztpraxis in der Nähe!« In der Tat hatten sie für die nächste Woche bereits einen gut gefüllten Terminkalender.
Nun spähte auch Antonia hinaus. Als sie sah, dass ein junger Mann mit einem Mädchen auf den Armen direkt auf die Praxis zulief, öffnete sie die Tür.
»Brauchen Sie Hilfe?«, rief sie dem Mann entgegen.
»Ja, meine Schwester ist angefahren worden. Ich … ich glaube, es geht ihr schlecht. Sind Sie Ärztin?«
»Ja, bitte, kommen Sie.«
Die Kleine gab keinen Ton von sich und sah auf den ersten Blick erschreckend aus, denn Blut lief ihr über das Gesicht, aus einer schlimm aussehenden Kopfwunde. Hände und Knie bluteten ebenfalls, und das Kind schien bewusstlos zu sein.
Antonia dirigierte den jungen Mann in ihr Sprechzimmer und bat Maxi, die gerade niemanden behandelte, das Mädchen mit ihr zusammen zu untersuchen.
»Wie heißt denn Ihre Schwester, Herr …?«
»Flora. Ich bin Miro Flossbach.«
»Wie alt ist Flora?«
»Sieben.«
»Und wie ist das passiert?«
»Wir wollten die Straße überqueren, wir hatten grün. Da kam dieser Radfahrer angeschossen, der hat mit uns überhaupt nicht gerechnet, dabei hatte er rot, aber er hat nicht mal geguckt. Er ist voll in Flora reingefahren, hat sie umgerissen, ist selbst natürlich auch böse gestürzt. Jemand hat mir gesagt, ich soll zu Ihnen gehen und nicht auf den Krankenwagen warten. War das richtig? Ich … ich war so durcheinander, ich wusste im ersten Moment überhaupt nicht, was ich tun sollte.«
Bevor Antonia etwas erwidern konnte, schlug das Mädchen die Augen auf. Als es die zwei fremden Frauen sah, fing es an zu weinen.
»Flo, ich bin hier!«, sagte ihr Bruder schnell. »Ein Radfahrer hat dich angefahren, aber hier sind zwei Ärztinnen, die dir helfen werden.
Aber die Kleine weinte weiter. »Es tut so weh«, schluchzte sie. »Mein Kopf … Und ich kann nichts sehen.«
Antonia und Maxi verständigten sich mit einem Blick.
»Flora«, sagte Antonia, »ich bin Frau Dr. Laurin, das ist meine Kollegin, Frau Dr. Böhler. Du hast Blut im Gesicht, das wischen wir dir jetzt ab, dann kannst du wieder sehen. Und danach gucken wir uns deine Verletzung an, du hast dir nämlich den Kopf aufgeschlagen. Aber es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Sag uns doch, während wir das Blut abwischen, wo es dir weh tut.«
Ihr ruhiger Tonfall wirkte Wunder. Floras Tränen versiegten, zumal ihr Bruder ihre Hand hielt, und berichtete genau, wo sie Schmerzen hatte.
Maxi, die immer wieder auch einen Blick auf Miro Flossbach warf, fragte nach einer Weile: »Darf dein Bruder dich mal kurz alleinlassen, Flora? Er hat nämlich einen tüchtigen Schrecken bekommen und sollte ein Glas Wasser trinken.«
»Nicht nötig!«, wehrte Miro ab, dabei waren seine Knie weich wie Pudding. Er hätte gern nicht nur ein Glas Wasser getrunken, sondern sich auch einen Moment hingesetzt, um tief durchzuatmen und den Schrecken zu verdauen. Er hatte Flora doch extra abgeholt, um auf sie aufzupassen – und dann geschah so etwas! Was würde seine Mutter sagen, wenn sie es erfuhr?
»Lassen Sie sich von Carolin ein Glas Wasser geben«, riet Maxi.
»Ich denke auch, es wäre besser für Sie«, sagte Antonia. »Flora schafft es auch ein paar Minuten ohne Sie, oder, Flora? Du bist doch schon ein ziemlich großes Mädchen. Dein Bruder muss mal kurz verschnaufen.«
Flora, die wieder freie Sicht hatte und allmählich begann, sich bei den zwei netten Ärztinnen, die sich um sie kümmerten, wohlzufühlen, sagte: »Geh ruhig, Miro.«
Er biss sich auf die Lippen. »Ich muss auch Mama anrufen«, sagte er zu seiner Schwester, »die wird sich sonst fragen, wo wir bleiben und sich aufregen.«
»Zuerst das Wasser.« Maxi wurde energisch. »Wir kommen hier für kurze Zeit auch ohne Sie klar.«
Flora bekam eine kleine Spritze zur örtlichen Betäubung, bevor Antonia die Kopfwunde versorgte.
Maxi untersuchte derweil die Schrammen und Prellungen an Armen und Beinen.
Als Miro das Zimmer verlassen hatte, fragte Antonia: »Hast du Angst vor Krankenhäusern, Flora?«
»Ich war noch nie in einem«, antwortete das Mädchen. »Ist es da schlimm?«
»Überhaupt nicht. Ich denke, wir sollten eine Aufnahme von deinem Kopf machen lassen, um ganz sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist. Es könnte sein, dass du eine Gehirnerschütterung hast.«
»Ich habe den gar nicht gesehen, den Radfahrer«, erklärte Flora. »Der kam so schnell angezischt …«
»Wo warst du denn vorher? Hat dein Bruder dich von der Schule abgeholt?«
»Von der Ballettschule«, sagte Flora, und damit war das richtige Thema gefunden, um sie von allem, was jetzt noch mit ihr geschah, abzulenken. Sie informierte Antonia und Maxi ausführlich über die Schritte, die sie an diesem Tag gelernt hatte, und die beiden hatten keinerlei Probleme mehr, ihre Wunden zu behandeln. Flora gab keinen Klagelaut mehr von sich. Kam ihr Redefluss doch einmal kurz ins Stocken, beeilte sich eine der beiden Frauen, ihr die nächste Frage zu stellen.
Selten hatten sie so ungehindert arbeiten können.
*
»Geht’s wieder?«, fragte Carolin, nachdem Miro Flossbach das Glas Wasser in einem Zug geleert hatte.
»Ja, danke«, antwortete er. »Ich habe bloß schon wieder solche Kopfschmerzen.«
Sie bemerkte, dass er blinzelte, als könnte er nicht richtig sehen.
»Wieder? Haben Sie die öfter?«
»In letzter Zeit, ja. Ich weiß nicht, wieso, früher wusste ich nicht einmal, was Kopfschmerzen sind. Aber jetzt, seit einiger Zeit. Oh … ich … ich glaube, ich muss mich kurz setzen.« Sein Blick wurde starr, seine Körperhaltung wirkte mit einem Mal verkrampft.
Carolin verließ eilig ihren Platz hinter dem Empfangstresen, ergriff seinen Arm und führte ihn zu einem Stuhl. Sanft drückte sie ihn darauf nieder.
Doch sein Blick blieb starr, er fing an zu zittern, zuerst nur leicht, dann wurde das Zittern stärker, die Arme und Beine begannen unkontrolliert zu zucken, schließlich zuckte der ganze Körper. Miro Flossbachs Augen verdrehten sich, er warf den Kopf nach hinten, sein Körper wand sich unter Krämpfen.
Carolin behielt die Nerven. Sie zog ihn vom Stuhl, ließ ihn auf die Erde gleiten, rannte zurück zum Tresen, schnappte sich ein Buch, das dort lag und eilte zurück zu dem jungen Mann. Als er den Mund aufriss, schob sie ihm das Buch zwischen die Zähne und drehte ihn in die Seitenlage. Dann erst lief sie zum Sprechzimmer und öffnete die Tür.
»Ich brauche Hilfe!«, sagte sie.
Ihr Tonfall war so, dass beide Ärztinnen sofort den Blick hoben.
»Geh«, sagte Maxi leise, »ich schaffe den Rest hier auch allein.«
Antonia folgte Carolin eilig aus dem Sprechzimmer, dessen Tür Carolin wieder schloss. »Ein Krampfanfall«, sagte sie.
Antonia sah das Buch zwischen den Zähnen des jungen Mannes, den Carolin außerdem in die stabile Seitenlage gebracht hatte. Er zuckte noch immer.
»Er muss sofort in die Klinik, sagen Sie in der Notaufnahme Bescheid, dass er umgehend abgeholt werden muss.«
Carolin hatte das Telefon bereits in der Hand.
Während sie telefonierte, holte Antonia eine Spritze, die sie Miro Flossbach gab. Wenig später hörte der Krampfanfall auf, der Körper des Patienten kam zur Ruhe, er atmete schwer, seine Augen blieben geschlossen.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis zwei Pfleger mit einer fahrbaren Liege erschienen. Behutsam hoben sie Miro Flossbach hoch.
»Seine kleine Schwester ist noch hier«, erklärte Antonia, »sie hatte einen Unfall, deshalb waren die beiden überhaupt hier. Ihr Kopf sollte auch noch untersucht werden, aber deswegen melden wir uns noch einmal. Wir versuchen, die Mutter der beiden zu erreichen. Bitte informieren Sie uns, wie es mit Herrn Flossbach weitergeht.«
Die Männer nickten.
»Er hat über Kopfschmerzen geklagt, die er seit einiger Zeit hat«, setzte Carolin hinzu.
»Gute Arbeit«, sagte Antonia, als die beiden Pfleger mit dem Patienten gegangen waren. »Woher wussten Sie, dass manche Patienten bei einem epileptischen Anfall ihre Zunge durchbeißen – oder sie verschlucken?«
»Ich habe einen Cousin, der früher epileptische Anfälle hatte. Ein paar davon habe ich mitbekommen.«
»Und jetzt hat er keine Anfälle mehr?«
»Er hat sich operieren lassen und hatte Glück. Der Eingriff war erfolgreich. Übrigens kommen gleich noch zwei Mütter mit ihren Kindern – ein bisschen Zeit bleibt aber noch.«
»Ist gut, wir werden nicht mehr lange brauchen, schätze ich.«
Antonia kehrte zu Maxi und der kleinen Flora zurück, die gerade sagte: »Ich werde vielleicht mal berühmt, dann muss meine Mama nicht mehr im Supermarkt an der Kasse sitzen.«
Maxi warf Antonia einen fragenden Blick zu, doch diese schüttelte den Kopf. In Floras Gegenwart konnte sie über Miro Flossbachs Krampfanfall nicht reden. Das musste warten.
*
Anke war auf dem Sofa eingeschlafen, es dauerte eine Weile, bis sie zu sich kam. Es war das Telefon, das sie geweckt hatte. Als sie sich endlich meldete, war sie außer Atem. »Ja, hallo?«
»Frau Flossbach? Anke Flossbach?«, fragte eine fremde Stimme, und sofort beschlich sie ein ungutes Gefühl. Wie lange hatte sie geschlafen? Waren etwa Miro und Flora noch nicht zurück? Ihr Blick irrte zu der Uhr, die neben ihr auf dem niedrigen Tisch stand. So spät schon!
»Ja«, sagte sie. »Ich bin Anke Flossbach. Und wer sind Sie?«
»Dr. Antonia Laurin. Ich bin Kinderärztin. Ihr Sohn hat Ihre Tochter in unsere Praxis gebracht, weil ein Radfahrer sie angefahren hat.«
»Flora?« Ankes Ausruf klang wie ein erstickter Schrei.
»Sie hat eine Wunde am Kopf und ein paar Schrammen, aber sie ist schon wieder ganz munter. Sie müssen sich keine Sorgen machen, wirklich nicht. Wir möchten nebenan in der Kayser-Klinik zur Vorsicht trotzdem ein paar Aufnahmen von ihrem Kopf machen lassen, wenn Sie damit einverstanden sind. Es kann sein, dass sie eine leichte Gehirnerschütterung davongetragen hat und sich ein paar Tage schonen sollte.«
»Ich … ja natürlich, tun Sie, was getan werden muss. Ich … was sagt denn mein Sohn dazu? Er kennt sich mit solchen Sachen viel besser aus als ich. Ich … außerdem war ich ziemlich krank, ich bin immer noch nicht wieder ganz auf den Beinen. Aber Miro …«
»Es gibt noch etwas, das ich mit Ihnen besprechen müsste, Frau Flossbach. Es geht nicht nur um Flora, es geht auch um Ihren Sohn.«
Anke saß längst aufrecht auf dem Sofa, ihr Herz klopft wie wild. »Miro?« Mehr als ein Flüstern brachte sie nicht heraus.
»Ja, es tut mir sehr leid. Er hatte einen Krampfanfall bei uns in der Praxis.«
Anke musste sich zurücklehnen, sie schloss die Augen, vor denen sich alles zu drehen begonnen hatte. »Einen Krampfanfall? Aber wieso denn? Was fehlt ihm?«
»Das wissen wir noch nicht. Er wird bereits in der Kayser-Klinik untersucht, aber es wäre gut, wenn Sie so schnell wie möglich herkommen könnten, auch wegen Flora. Von dem Anfall ihres Bruders hat sie zum Glück nichts mitbekommen.«
Die Ärztin sprach noch weiter, Anke versuchte, ihren Worten zu folgen, aber es fiel ihr schwer. Flora verletzt, Miro krank, Rainer weit weg und sie selbst so matt und elend, dass sie am liebsten wieder auf das Sofa gesunken wäre und weitergeschlafen hätte – was sollte jetzt werden?
»Frau Flossbach? Sind Sie noch da?«
»Ich … ja. Wo ist Ihre Praxis? Ich mache mich sofort auf den Weg.«
*
Als Miro die Augen öffnete, blickte er in fremde Gesichter – zwei Männer betrachteten ihn aufmerksam und, wie ihm schien, ziemlich ernst.
»Herr Flossbach?«, sagte einer von ihnen. »Wie fühlen Sie sich?«
Was für eine merkwürdige Frage von einem Fremden, dachte Miro. »Ich weiß nicht«, antwortete er und merkte, dass er nicht gut sprechen konnte. »Wo bin ich denn hier?«
»In der Kayser-Klinik, Notaufnahme«, sagte der andere Mann. »Ich bin Dr. Laurin und leite diese Klinik, dies ist mein Kollege Dr. Felsenstein, er ist der Chef der Notaufnahme. Wissen Sie, was passiert ist?«
Timo sah ratlos von einem zum anderen. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich bin … doch nicht krank?«
»Sie hatten einen Krampfanfall«, fuhr der Mann fort, der sich als Dr. Laurin vorgestellt hatte. »Ist das vorher schon einmal passiert?«
Miro kniff die Augen zusammen. »Krampfanfall?«, fragte er. Seine Zunge fühlte sich an wie ein Kloß, der für seinen Mund zu groß war. Sie störte ihn beim Sprechen. Aber wieso? Das war doch bisher nicht so gewesen!
»Herr Flossbach? Haben Sie meine Frage verstanden? Hatten Sie vorher schon einmal einen Krampfanfall?«
»Nein«, sagte Miro. »Was ist … ein Krampfanfall?« Er schloss die Augen. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Er wollte nur schlafen.
Offenbar ging sein Wunsch in Erfüllung, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, waren die beiden Fremden, an die er sich freilich nur dunkel erinnerte, weg. Aber er spürte, dass er nicht allein war, und so sagte er: »Hallo?«
Ein weiteres unbekanntes Gesicht erschien vor ihm, dieses Mal gehörte es einer Frau, einer älteren Frau mit einem so freundlichen Lächeln, dass er sich sofort ein wenig besser fühlte. Bevor er ihr eine Frage stellen konnte, sagte sie: »Ich bin Schwester Marie, Herr Flossbach. Ihre Mutter ist auf dem Weg zu Ihnen. Erinnern Sie sich an das, was passiert ist?«
Er sah sie ratlos an, bevor er langsam den Kopf schüttelte. Seine Mutter? Wieso wollte sie herkommen?
Schwester Maries Lächeln verschwand nicht, das beruhigte ihn. »Kein Problem«, sagte sie, »mit der Zeit kehrt die Erinnerung zurück.«
»Woran denn?«, fragte er, und wieder fiel ihm auf, wie groß seine Zunge auf einmal geworden war. Wenn sie nicht wieder schrumpfte, hatte er ein echtes Problem. Mit einer so großen Zunge konnte man nicht normal reden!
Schwester Marie aber schien seine Aussprache nicht seltsam zu finden, sie machte jedenfalls keinerlei Bemerkung darüber. »Ihre kleine Schwester hatte einen Unfall, sie wurde von einem Radfahrer verletzt, der bei Rot über die Kreuzung gerast ist. Wissen Sie das noch?«
So etwas wie ein Erinnerungsfetzen schoss durch sein Gehirn, verschwand aber fast so schnell wieder, wie er aufgetaucht war. »Nicht … genau«, sagte er.
»Sie hat Glück gehabt, allzu viel ist ihr nicht passiert. Sie haben sie in eine Kinderarztpraxis gebracht, und dort hatten Sie eine Art Zusammenbruch.«
Er erinnerte sich an nichts, das sah sie ihm offenbar an.
»Das fällt Ihnen nach und nach bestimmt alles wieder ein. Wir müssen jedenfalls Aufnahmen von Ihrem Kopf machen, um zu wissen, warum Sie diesen Zusammenbruch erlitten haben. Verstehen Sie das?«
»Ja … natürlich.«
»Denken Sie, Sie könnten eine Weile wach bleiben?«
Er nickte stumm, weil er sich nicht traute, ihr zu sagen, dass er nicht begriff, was hier vor sich ging.
»Gut, dann sage ich Bescheid, dass die Aufnahmen jetzt gemacht werden können.«
Er hörte sie mit jemandem reden, sah Leute hereinkommen, spürte, dass er aus dem Zimmer geschoben wurde. Was, um alles in der Welt, hatten sie mit ihm vor?
Aber Schwester Marie hatte ein freundliches Lächeln. Er beschloss, sich darauf zu verlassen, dass sie für ihn nur das Beste wollte.
*
Sie hatten Flora etwas zur Beruhigung gegeben, deshalb schlief sie halb, als ihre Mutter in der Praxis eintraf. Antonia und Maxi behandelten gerade Patienten, so übernahm Carolin es, Anke zu ihrer kleinen Tochter zu führen.
»Schätzchen«, sagte Anke mit Tränen in den Augen.
Flora öffnete schläfrig die Augen. »Mami«, sagte sie ein wenig verwundert. »Wieso bist du denn hier? Wo ist Miro?«
»Drüben, in der Klinik. Er hat sich aufgeregt, weil du den Unfall hattest, deshalb kümmern sich jetzt ein paar Ärzte um ihn.«
Carolin ließ die beiden allein und führte diskret ein paar Gespräche. Antonia erschien wenig später, um Floras Mutter zu begrüßen und sich davon zu überzeugen, dass Carolins Beobachtungen richtig waren: Anke Flossbach war von der gerade erst überstandenen Grippe und dem doppelten Schrecken über das, was ihren Kindern zugestoßen war, so geschwächt, dass man sie in der derzeitigen Situation nicht alleinlassen durfte.
Also rief Carolin in der Klinik an, und sie hatte Glück: Robert Semmler, genannt ›Semmel‹, der beliebte junge Pfleger mit dem heiteren Gemüt, konnte ein paar Minuten erübrigen, um Mutter und Tochter abzuholen und dafür zu sorgen, dass von Floras Kopf ein Computertomogramm erstellt wurde. Außerdem würde er Anke Flossbach zu ihrem Sohn bringen, der diese Prozedur bereits hinter sich hatte, wie er wusste. Miro Flossbachs Aufnahmen wurden gerade von den Ärzten ausgewertet.
»Ich trage die Kleine«, sagte er zu Anke, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Wir können durchs Haus gehen, keine Angst, ich kenne mich hier aus und werde mich nicht verirren. Wir müssen nach oben, in die Radiologie.«
»Alles Gute«, sagte Antonia zum Abschied zu Flora. »Auch für Sie, Frau Flossbach.«
Anke hatte Tränen in den Augen. »Gut ist im Augenblick gar nichts«, sagte sie leise.
Als sie Robert Semmler, der ihre Tochter trug, aus der Praxis gefolgt war, sagte Carolin: »Die arme Frau. Wer weiß, was die drüben bei ihrem Sohn finden.«
Antonia nickte stumm. Sie hatte gerade das Gleiche gedacht.
*
Zum ersten größeren Knall kam es an Simons drittem Tag im Hause Laurin. In der Küche hatte er sich von Anfang an sehr gut zurechtgefunden, das übrige Haus hatte er nach und nach erkundet. In den Zimmern der Kinder, so war es ausgemacht, würde er staubsaugen und staubputzen, aber nicht aufräumen. Und wenn es so unordentlich war, dass er nicht staubsaugen konnte, würde er es sein lassen. Die Bäder sollte er täglich machen, den Flur auch, denn dort wurde der meiste Schmutz ins Haus getragen.
»Und ich lege Ihnen einen Zettel hin, wenn gewaschen werden soll«, hatte Antonia gesagt. »Dann ist die Wäsche schon vorsortiert in der Maschine, die müssen sie nur noch anstellen und die Wäsche hinterher in den Trockner werfen. Um den Rest kümmere ich mich, wenn ich nach Hause komme.«
Was einzukaufen war, schrieb sie ihm ebenfalls auf – nur was er zum Kochen brauchte, musste er selbst auf die Einkaufsliste setzen. Sie gab ihm das Geld im Voraus, er bewahrte die Quittungen auf. Da er zuhause auch so vorging, bereitete ihm das keinerlei Probleme.
An seinem dritten Tag lag ein Zettel in der Küche, er möge alles waschen, was auf Kajas Bett lag. Er warf einen Blick in ihr Zimmer und sah einen großen Haufen schmutziger Wäsche auf dem Bett liegen, der offensichtlich noch sortiert werden musste. Es waren mindestens zwei Maschinen, vielleicht sogar drei. Daraufhin schloss er die Zimmertür wieder. Die Abmachung lautete anders, und er hatte nicht vor, seine Zeit mit Kajas unsortierter schmutziger Wäsche zu verbringen. Er hatte schließlich auch sonst mehr als genug zu tun.
Als sie nach Hause kam, war er noch da, da er für abends ein besonders aufwändiges Menü gekocht hatte. Sie grüßte nur knapp und rauschte an ihm vorbei nach oben. Keine drei Sekunden später war sie wieder unten. »Wieso hast du meine Wäsche nicht gewaschen?«, herrschte sie ihn an.
»Ich wünsche dir auch einen guten Tag, Kaja«, erwiderte er gelassen. »Ich wasche, was vorsortiert in der Maschine ist, mit dem Programm, das mir aufgetragen wird. Ich sortiere auf keinen Fall deine schmutzige Wäsche.«
»Wenn ich nicht wäre, hättest du diese Stelle überhaupt nicht bekommen!«, rief sie, rot vor Zorn.
Das war der Moment, in dem Kevin nach Hause kam und verwundert auf seine ältere Schwester blickte. »Was ist denn los?«, fragte er.
»Er will meine Wäsche nicht waschen! Wenn du mich fragst: Eigentlich will er nur kochen und sich am liebsten um nichts anderes kümmern.«
»Von wem redest du?«, fragte Kevin. »Von Simon, der hier jeden Tag alles saubermacht, alle Einkäufe erledigt und so toll kocht wie im Sternerestaurant? Hast du sie noch alle, Kaja?«
»Das war ja klar, dass du zu ihm halten würdest«, zischte Kaja. »Männer halten ja immer zusammen.«
»Danke, dass du mich gerade zum Mann gemacht hast.« Kevin grinste breit.
Seine Gelassenheit brachte Kaja nur noch mehr auf. »Hör bloß auf, so blöd zu grinsen!«, fuhr sie ihn an. »Und du«, das war jetzt an Simon gerichtet, »bilde dir bloß nicht ein, dass du hier einfach machen kannst, was du willst!«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Kevin nahm das Gespräch entgegen. »Hallo, Mama«, sagte er.
Kaja, die eigentlich wieder nach oben hatte verschwinden wollen, war am Fuß der Treppe stehen geblieben und wartete ab, um den Grund für diesen Anruf zu erfahren. Simon arbeitete unterdessen ruhig weiter. In einer Viertelstunde würde er gehen, aber er musste sich etwas wegen Kaja überlegen. Er hatte nicht die Absicht, sich von einer Sechzehnjährigen mit Pubertätsproblemen schikanieren zu lassen. Sich bei ihren Eltern über sie zu beschweren, kam natürlich nicht in Frage, er hatte nicht vor, als jemand dazustehen, der Hilfe brauchte, um sich durchzusetzen. Er musste einen anderen Weg finden, hatte aber noch keine Ahnung, wie der aussehen könnte.
Er hörte Kevin sagen: »Aber Simon hat heute was ganz besonders Tolles gekocht …« Pause. »Ach so, ja, dann ist es ja gut, dann essen wir nur etwas später. Bis dann.« Er drehte sich um und erklärte: »Mama und Papa kommen etwas später, aber nicht viel.«
»Mal wieder!«, schimpfte Kaja. »Die Wäsche wird nicht gewaschen, niemand ist zu Hause, wenn man kommt, pünktlich gegessen wird auch nicht …«
»Pünktliches Essen war dir doch bisher noch nie wichtig«, sagte Kevin. »Jedenfalls nicht, als du noch dauernd telefonieren musstest und eigentlich gar keine Zeit hattest, dich mit uns an einen Tisch zu setzen.«
»Weißt du was, Kevin? Halt ab und zu einfach mal die Klappe!«
Nach diesen Worten verschwand Kaja mit rotem Gesicht endlich nach oben, wo sie mit Schwung ihre Zimmertür hinter sich zuknallte.
Kevin stieß die Luft aus. »Tut mir leid, dass sie ihre Stinklaune heute an dir ausgelassen hat, Simon. Früher war sie eine tolle große Schwester, aber seit einem halben Jahr ist sie unausstehlich.«
Da Simon nichts erwiderte, fragte er beunruhigt: »Du kündigst doch jetzt nicht gleich wieder, oder? Ihretwegen, meine ich?«
Nachdem er den Herd abgewischt und sich noch einmal vergewissert hatte, dass alles wieder an seinem Platz war, drehte sich Simon mit einem Lächeln zu Kevin um. »So schnell lasse ich mich nicht vertreiben, keine Sorge.«
»Aber sie nervt dich, oder?«
Simon sah Kevin nachdenklich an. Es gab nicht viele Dreizehnjährige, die so nett waren wie dieser Junge. Kevin kam ihm oft vor wie der Ruhepol in dieser quirligen Familie, obwohl auch Kyra zum Beispiel eher ruhig war. Aber Kevin war ein Junge, der sich nicht beirren ließ. Er wusste, was er wollte und was er konnte, und so handelte er auch. Außerdem schien er von Stimmungsschwankungen weitgehend verschont zu bleiben. Kyra dagegen ließ sich leichter verunsichern und man merkte ihr sofort an, wenn sie ein Problem hatte. Und Konstantin, Kajas Zwillingsbruder, schlug sich offenbar mit ganz eigenen Problemen herum. Er wirkte jedenfalls deutlich angespannter als sein jüngerer Bruder.
»Noch nicht«, sagte er schließlich. »Vergiss nicht, Lili ist auch sechzehn, ich habe also Erfahrung im Umgang mit Mädchen in diesem Alter.«
»Aber Lili ist bestimmt nicht so zickig wie Kaja gerade, oder?«
»Nein, das ist sie wirklich nicht, wir können uns das aber auch nicht leisten, Kevin. Wir müssen als Team funktionieren, sonst gehen wir unter. Als unsere Eltern beide tot waren, wollte uns das Sozialamt trennen und auf verschiedene Familien verteilen. Ich habe ziemlich kämpfen müssen, bis sie zugelassen haben, dass ich als Zwanzigjähriger mich um meine beiden jüngeren Schwestern kümmern darf. Was meinst du, was passiert wäre, wenn sie den Eindruck gehabt hätten, dass Lili Pubertätsprobleme hat, mit denen ich nicht fertig werde?«
Kevin dachte über diese Worte länger nach. »Uns geht es vielleicht zu gut«, sagte er.
»Das wäre möglich«, erwiderte Simon mit einem Lächeln. »Und jetzt verschwinde ich, eigentlich sollte ich schon längst zu Hause sein.«
»Du hast Überstunden gemacht. Kriegst du die eigentlich bezahlt?«
Simon winkte ab. »Ich bekomme hier so viel Geld, dass ein paar Überstunden immer drin sind, mach dir mal darum keine Sorgen.«
Kevin begleitete ihn zur Tür. »Sorgen mache ich mir, dass Kaja es vielleicht doch schafft, dich zu vergraulen.«
»Na ja, wenn sie es wirklich drauf anlegt …« Als Simon Kevins Gesicht sah, lachte er. »War nur Spaß, Kevin. Bis morgen.«
Aber Kajas Verhalten beschäftigte ihn dann doch länger, als ihm lieb war. Er musste damit umgehen, und er wusste noch nicht, wie. Das beunruhigte ihn. Er brauchte einen Plan.
*
Es herrschte Schweigen, als die Aufnahmen ausgewertet waren: Timo Flossbach hatte einen gutartigen Hirntumor, der sich in den vergangenen Wochen durch immer häufiger auftretende Kopfschmerzen, beginnende Sehstörungen und den heutigen Krampfanfall bemerkbar gemacht hatte.
Es war Leon, der das Schweigen schließlich als Erster brach. »Ich bin kein Neurochirurg, aber dass das schwierig zu operieren ist, kann ich sehen.«
Linda Erdem nickte. »Es ist schwierig, und es eilt. Der Tumor drückt bereits auf den Sehnerv, und der Krampfanfall war ein mehr als deutliches Zeichen. Wenn wir weitere Anfälle verhindern wollen, müssen wir schnell handeln. Und der Patient hat noch keine Ahnung, was auf ihn zukommt. Es wird ein Schock für ihn sein.«
Sie hatten Anke Flossbach und ihre kleine Tochter mit einem Krankentransport nach Hause geschickt. Zuerst hatte Anke bei ihrem Sohn bleiben wollen, dann aber eingesehen, dass sie zurzeit nichts für ihn tun konnte. Flora sollte ein paar Tage Ruhe halten, dann durfte sie wieder zur Schule gehen. Ihrer Mutter hatten sie neben einer Aufbau- auch eine Beruhigungsspritze gegeben, damit sie nach diesem Tag wenigstens schlafen konnte. Hoffentlich nahm sie den Rat an, sich eine weitere Woche krankschreiben zu lassen.
Floras Bruder hatten sie in der Klinik behalten, er war nach seinem heftigen epileptischen Anfall so geschwächt, dass sie es für besser hielten, wenn er unter ärztlicher Aufsicht blieb. Er war wieder einigermaßen klar im Kopf, hatte aber nach wie vor Erinnerungslücken und Schwierigkeiten, klar zu artikulieren. Außerdem waren seine Bewegungen verlangsamt. Er hatte ein paar Schritte durchs Zimmer gemacht, sich aber überall abstützen müssen. All das würde sich in den nächsten Tagen normalisieren, aber sie wollten ihn möglichst operieren, bevor er einen weiteren, womöglich noch schwereren Anfall bekam.
Mit seiner Mutter hatten sie vereinbart, dass diese am nächsten Morgen anrufen sollte, um zu erfahren, was die radiologischen Untersuchungen ergeben hatten. Sie und die kleine Flora waren nur kurz bei ihm gewesen, er hatte geschlafen, sie hatten ihn nicht wecken wollen.
»Aber du wirst es versuchen, Linda?«, fragte Leon in die anhaltende Stille hinein.
Sie wandte sich ihm zu. »Natürlich«, antwortete sie. »Aber ich brauche einen Tag, um mir zu überlegen, wie ich am besten vorgehe.« Sie atmete tief durch. »Für meine erste Operation an dieser Klinik hätte ich mir eine etwas einfachere Aufgabe gewünscht, muss ich gestehen. Normalerweise suche ich die Herausforderung, aber in diesem Fall hätte ich lieber darauf verzichtet.«
»Wollen wir das morgige Gespräch mit Frau Flossbach und ihrem Sohn gemeinsam führen? Oder wärst du dabei lieber allein?«
»Es wäre gut, wenn wir es gemeinsam führten«, sagte Linda nach kurzem Überlegen. »Danke für das Angebot, Leon.«
Sie einigten sich auf eine Zeit und gingen wenig später auseinander.
*
Als Miro sein Handy hörte, schloss er die Augen. Er wollte nur seine Ruhe haben. Schwester Marie hatte ihm erzählt, dass seine Mutter und seine Schwester bei ihm gewesen waren, aber davon hatte er nichts mitbekommen. Immerhin funktionierte sein Kopf wieder einigermaßen. Er hatte begriffen, wo er war – und warum.
Er hatte Schwester Marie von seinen Kopfschmerzen erzählt, sie meinte, der Krampfanfall, den er in der Praxis von Frau Dr. Laurin erlitten hatte, könnte vielleicht damit zusammenhängen.
Sein Handy meldete sich wieder, im selben Moment kam Schwester Marie herein. Als sie seinen Gesichtsausdruck sah, lächelte sie. »Warum stellen Sie es nicht aus, wenn es Sie nervt?«, fragte sie.
»Ich hatte es völlig vergessen. Es hat sich eben zum ersten Mal gemeldet.« Nach einer kurzen Pause fragte er: »Könnten Sie mal nachsehen? Jemand hat mir eine Nachricht geschickt. Das Handy muss irgendwo in einer Tasche sein.«
Sie fand das Handy schnell und reichte es ihm. Er sah, dass die Nachricht von Fritz stammte. Er hatte geschrieben: »Wo bleibst du denn? Ich warte seit einer halben Stunde!«
»Oh je«, murmelte er. »Ich war heute Abend mit einem Freund verabredet. Aber ich glaube, ich schaffe es nicht, ihm eine Antwort zu schreiben. Meine Finger fühlen sich jetzt so an wie vorhin meine Zunge, irgendwie unbeholfen und zu groß.«
»Ich kann das für Sie machen, wenn Sie mir sagen, was ich schreiben soll.«
Miro nickte dankbar und diktierte ihr: »Bin im Krankenhaus, kleiner Unfall, melde mich morgen.«
Fritz schrieb ›gute Besserung‹ zurück, und danach schaltete Miro das Handy aus.
»Sonst noch Wünsche?«, fragte Marie.
»Nein, vielen Dank, Schwester Marie. Jetzt will ich eigentlich nur noch schlafen.«
»Ich sehe noch einmal nach Ihnen, bevor mein Dienst zu Ende ist«, versprach sie, bevor sie sich zurückzog.
Eigentlich hatte Miro noch über diesen seltsamen Tag nachdenken wollen, denn seine Erinnerungen waren nach wie vor lückenhaft. Einiges war ihm wieder eingefallen, anderes nicht. Aber er war dann doch zu müde und schlief einfach ein.
*
»Ich finde das so toll, Tante Linda, dass wir jetzt beide in München wohnen«, sagte Selina Özer.
Linda strich ihrer Nichte über die schönen dunklen Haare. »Ich finde es auch schön, aber ich lege mich trotzdem nicht fest. Vielleicht ist nach einem halben Jahr Schluss, und ich ziehe weiter.«
»Aber es gefällt dir doch an der Kayser-Klinik, oder nicht?«
»Ich bin ja erst seit ein paar Tagen dort, wie soll ich da schon beurteilen, ob es mir gefällt oder nicht? Außerdem hatte ich heute meinen ersten schweren Fall und damit den ersten Patienten, den ich hier in München operieren werde. Keine schöne Geschichte.«
»Erzähl.«
»Es gibt nicht viel zu erzählen. Ein junger Mann mit einem Hirntumor, der noch nichts davon weiß. Morgen werden wir ihn und seine Familie informieren. Er hatte einen Krampfanfall, den ersten – so ist er in der Klinik gelandet. Mein Kollege von der Notaufnahme und Dr. Laurin, mein alter Freund, hatten die richtige Eingebung und haben ihn, sobald das möglich war, in die Radiologie geschickt. Danach haben sie mich hinzugezogen.«
»Aber du kannst ihn operieren, oder nicht? Du hast meine beste Freundin gerettet, damals. Ich weiß noch, dass ich dachte, wenn sie sterben muss, sterbe ich auch. Aber sie ist am Leben geblieben und immer noch meine beste Freundin. Wir reden oft von dir. Sie sagt immer, der Tag, an dem du sie operiert hast, ist ihr zweiter Geburtstag geworden. Wir feiern ihn jedes Jahr.«
»Ach, Kind. Dieser Fall hier ist schwierig, da bin ich nicht so zuversichtlich wie ich es damals bei deiner Freundin war.«
»Wenn jemand den Mann retten kann, dann bist du das. Du hast schon so viele Menschen gerettet.«
»Ja, aber einige Patienten habe ich auch verloren«, sagte Linda ruhig. »Der Tumor sitzt ungünstig, es wird eine perfekte Operation werden müssen, damit ich ihn vollständig entfernen kann. Und perfekte Operationen sind selten, leider. Es gibt immer Kleinigkeiten, die nicht so klappen, wie man es sich wünscht. In diesem Fall kann eine solche Kleinigkeit über Gelingen oder Misslingen entscheiden.« Sie machte eine Pause, bevor sie fortfuhr. »Der Mann ist noch sehr jung, er hat den größten Teil seines Lebens noch vor sich. Das erhöht den Druck. Wenn ich nur an das Gespräch denke, das wir morgen führen müssen, läuft mir ein Schauder über den Rücken.«
»Ich habe eine Idee«, sagte Selina. »Morgen hole ich dich in der Klinik ab und lade dich in ein schönes Lokal zum Essen ein – und ich verspreche dir, dich auf andere Gedanken zu bringen. Du weißt, wenn ich es darauf anlege, schaffe ich das auf jeden Fall.«
Linda betrachtete ihre attraktive, vor Lebenslust strahlende junge Nichte und lächelte unwillkürlich. Selina war das einzige Kind ihres Bruders Özer – ihr Patenkind, das sie vom ersten Tag an ins Herz geschlossen hatte. Selina war eigenwillig und stur, sie ließ sich nur ungern etwas sagen. Und sie war wählerisch, bislang war es keinem Mann gelungen, sie zu erobern. Ein paar Flirts hier und da hatte es gegeben, aber nichts Ernstes, bislang. Jedenfalls nicht, soweit sie wusste.
»Danke, ich nehme deine Einladung gerne an«, erwiderte sie. »Ich glaube, das ist eine ausgezeichnete Idee, denn ich schätze, Ablenkung werde ich nach dem morgen Tag dringend brauchen.«
Selina sprang auf, küsste sie auf beide Wangen und verabschiedete sich. »Ich komme dann am späten Nachmittag in die Klinik und hole dich ab«, versprach sie.
»Lieber nicht. Es kann sein, dass du warten müsstest.«
Selina winkte ab. »Das macht mir nichts, ich kann ja meine Arbeit überallhin mitnehmen, das weißt du doch, Tante Linda.«
Und weg war sie. Selina war bei einer Filmproduktionsfirma dafür zuständig, geeignete Drehorte zu finden. Deshalb war sie viel unterwegs, auch im Internet, wo sie sich Fotos und Filme ansah, um herauszufinden, ob irgendwo der Ort gezeigt wurde, nach dem sie gerade auf der Suche war. Sie wollte das nicht für immer machen, aber im Augenblick schien es die richtige Aufgabe für sie zu sein.
Als sie gegangen war, fiel Lindas Blick zufällig in den Spiegel, der in ihrem Flur hing. Sie lächelte immer noch – so war es meistens, wenn sie mit Selina zusammen gewesen war.
Es würde ein schweres Gespräch werden, das sie morgen mit Miro Flossbach und seiner Mutter führen musste. Aber sie würde mit Selina später darüber reden können, und das würde die Schwere ein wenig mildern.
*
»Alles in Ordnung bei euch, Schatz?«, fragte Rainer.
Anke schluckte. Es fiel ihr schwer zu antworten. Sie hatte überlegt, ob sie Rainer anschwindeln sollte, um ihn nicht zu beunruhigen. Am Ende fuhr er unkonzentriert und baute zu allem Überfluss auch noch einen Unfall. Aber sie konnte ihn nicht anlügen, und so brachte sie mit vielen Unterbrechungen unter Tränen endlich die ganze Geschichte heraus. So wirr redete sie, dass er immer wieder nachfragen musste, aber er tat es ruhig, ohne ungeduldig zu werden.
Als sie geendet hatte, herrschte ungefähr drei Sekunden lang absolute Stille, dann sagte Rainer: »Ich komme zurück. Ich rufe den Chef an und sage ihm, was passiert ist. Er soll jemanden herschicken, ich bin schließlich nur vierhundert Kilometer von München entfernt. Wenn er mir droht, kündige ich fristlos. Ich werde bei euch sein morgen früh, bei dem Gespräch.«
»Aber wie willst du denn so schnell herkommen?«, fragte Anke ängstlich. »Es bleiben ja nur noch etwas mehr als dreizehn Stunden.«
»Ich werde die Bahn nehmen«, antwortete er trocken. »Ich habe ein paar Kumpels hier, von denen wird mich einer zu einem Bahnhof fahren, und dann bin ich pünktlich bei dir, verlass dich drauf. Ich muss noch ein bisschen organisieren und vor allem mit dem Chef reden, aber mehr als eine Stunde brauche ich nicht, bis ich hier abreisen kann. Versuch zu schlafen, Anke.«
»Schlafen? Kein Gedanke daran«, sagte sie.
»Und Flo?«
»Die schläft längst, sie hat einen tüchtigen Schrecken bekommen, das vor allem, und die Wunde am Kopf sah zuerst wohl schlimm aus, aber die Ärzte haben mir versichert, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Ich habe vor allem Angst um Miro, du weißt schon, wegen damals.«
»Daran habe ich auch gerade gedacht, aber das ist so lange her … Meinst du, er erinnert sich überhaupt noch daran?«
»Ich weiß es nicht, erwähnt hat er es jedenfalls nie wieder.«
»Wir reden weiter, wenn ich in München bin, ich beeile mich jetzt besser, Anke.«
»Versprich mir, dass du vorsichtig bist, auch wenn du mit deinem Chef redest!«
Rainer gab ein etwas böse klingendes Lachen von sich, bevor er seiner Frau noch einen Luftkuss schickte und das Gespräch beendete.
Anke legte das Telefon vor sich auf den Tisch. Ganz allmählich merkte sie, wie eine große Last von ihr abfiel. Ihr Mann würde kommen, Miro und sie würden das Gespräch mit den Ärzten nicht allein führen müssen. Sie legte den Kopf auf ihre Hände, die vor ihr auf dem Tisch lagen und vergoss ein paar Tränen der Erleichterung.
*
Kaja erschien mit verschlossenem Gesicht und fest zusammengepressten Lippen zum Abendessen. Es gab das dreigängige Menü, das Simon präzise vorbereitet hatte, und schon nach der Vorspeise – einer pikanten Fischsuppe – herrschte gelöste Stimmung am Tisch.
»Mama, du kochst auch gut«, sagte Konstantin, »aber, ehrlich gesagt …«
»Simon kocht besser«, beendete Antonia seinen Satz mit einem kleinen Lachen. »Ich habe bisher noch niemanden kennengelernt, der sich mit ihm messen könnte. Er muss ein Ausnahmetalent sein.«
Die anderen stimmten ihr zu, alle genossen das Essen – nur Kaja nicht, die steif wie ein Stock auf ihrem Platz saß und die Fischsuppe ohne erkennbare Freude in sich hineinlöffelte.
Aber weder Antonia noch Leon taten ihr den Gefallen, sich nach der Ursache für ihre schlechte Laune zu erkundigen, denn die war ja längst nichts Außergewöhnliches mehr. Kaja fand schließlich jeden Tag einen anderen Grund, um mit der Welt im Allgemeinen und ihrer Familie im Besonderen zu hadern.
Es war Kevin, der das Thema schließlich ansprach. »Kaja ist sauer, weil Simon ihre Wäsche nicht gewaschen hat«, sagte er. »Sie hat sie ihm in einem großen Haufen auf ihr Bett geschmissen und dachte, er würde sich hinstellen, sie sortieren und waschen.«
Sofort fuhr Kaja die Krallen aus. »Was mischst du dich da ein?«, fuhr sie ihren jüngeren Bruder an. »Das geht dich überhaupt nichts an!«
»Ich mische mich ein«, antwortete Kevin ganz ruhig, »weil ich möchte, dass Simon so lange hier bleibt wie irgend möglich. Er ist nett, er putzt wie ein Weltmeister, und er kocht wie jemand, der später mal ein berühmter Sternekoch wird. Aber wenn er so behandelt wird, wie du ihn heute behandelt hast, bleibt er garantiert nicht, weil er das nämlich nicht nötig hat.«
»Moment, Moment«, sagte Antonia. »Was soll das heißen? Wie hast du Kevin behandelt, Kaja?«
Kaja schoss feuerspeiende Blicke auf ihren Bruder ab, bevor sie mürrisch antwortete: »Ich habe ihn überhaupt nicht ›behandelt‹, wie Kevin das nennt. Ich habe ihm gesagt, dass es mir nicht passt, dass er meine Wäsche nicht gewaschen hat. Er hat in meinem Zimmer überhaupt nichts gemacht, es war überall staubig.«
»Er saugt nicht, wenn alles auf dem Boden liegt«, bemerkte Kyra. »Da wäre er ja auch schön blöd.«
»Natürlich, du schlägst dich mal wieder auf Kevins Seite«, sagte Kaja. »Hätte ich mir ja denken können. Mir geht dieses dauernde Schwärmen davon, wie toll Simon ist, total auf den Geist.«
»Und uns geht deine ewige schlechte Laune auf den Geist«, bemerkte Leon. »Mit dir kann man keine vernünftige Unterhaltung mehr führen, Kaja, du wirst immer gleich ausfällig. Wenn man dich kritisiert, bist du beleidigt, aber du bist auch beleidigt, wenn man dich in Ruhe lässt. Niemand kann es dir mehr recht machen. Fällt dir nicht langsam auf, dass du die Einzige bist, die in letzter Zeit ständig für schlechte Stimmung sorgt? Früher haben wir Probleme gemeinsam besprochen, aber diese Zeit ist offenbar vorüber. Simon ist jetzt bei uns für den Haushalt zuständig, aber er ist nicht dein Dienstmädchen. Und von ihm zu verlangen, dass er deine schmutzige Wäsche sortiert, ist einfach ungehörig. Mit etwas Nachdenken hättest du darauf auch selbst kommen können.«
Kaja sprang auf. »Ja, ja!«, schrie sie. »Hackt nur alle weiter auf mir rum, das ist ja neuerdings eure Lieblingsbeschäftigung. Ihr alle gegen mich, das ist einfach unfair. Ich hasse euch!«
Nach diesen Worten rannte sie, nicht zum ersten Mal, aus dem Zimmer. Ihre Familie wusste also aus Erfahrung, dass sie nicht an den Tisch zurückkehren würde.
Kevin wandte sich an Konstantin. Seine Zwillingsschwester und er waren bis vor wenigen Monaten ein Herz und Seele gewesen. Nichts hatte sie auseinanderzubringen vermocht. »Was ist eigentlich los mit ihr?«, fragte er. »Weißt du das?«
Konstantin schüttelte den Kopf. »Nein, mit mir redet sie ja auch nicht mehr. Ich weiß nur, dass sie irgendwie … aufgehört hat, an sich zu glauben. Das hat mit diesem blöden Typen angefangen, in den sie mal verliebt war und der dann auch noch andere Freundinnen hatte. Da hat sie einen Knacks gekriegt.«
Konstantin starrte vor sich hin. »Und es wird immer schlimmer, finde ich. Ich dachte, sie kriegt sich schon wieder ein, aber das glaube ich jetzt nicht mehr. Sie steigert sich nur immer weiter in so eine Wut auf die ganze Welt hinein …« Er brach ab, um schließlich mit brüchiger Stimme hinzuzusetzen: »Ich habe schon öfter versucht, mit ihr zu reden, aber sie will nicht. Sie traut mir nicht mehr.«
Kyra stand auf, um die Suppenteller abzuräumen. Kevin half ihr. In der Küche stellte er den Backofen aus. Simon hatte ihm genau erklärt, was zu tun war, damit das Essen so auf den Tisch gebracht werden konnte, wie es geplant war. Es gab Entenbrüste in Orangensauce.
Die gelöste Stimmung war verdorben, auch der köstliche Hauptgang und das anschließende fruchtig-cremige Dessert konnten daran nichts mehr ändern.
Sie waren fast fertig mit dem Essen, als Antonia zögernd fragte: »Ob eine Psychologin ihr helfen könnte?«
»Sie würde freiwillig gar nicht hingehen, Mama«, sagte Kevin, und Konstantin nickte dazu.
»Peter hat neulich gesagt, wir sollen sie einfach in Ruhe lassen«, sagte Kyra überraschend. »Wenn sie schreit, sollen wir sie schreien lassen und wenn sie uns angreift, sollen wir uns das anhören, ihr vielleicht widersprechen, aber mehr nicht. Er meint, sie müsste selbst merken, dass es meistens von ihr ausgeht, wenn wir streiten.« Kyra holte tief Luft. »Also, ich mache das jetzt jedenfalls so. Ich rege mich einfach nicht mehr über sie auf, und ich bin auch nicht mehr traurig, wenn sie gemein zu mir ist.«
»Das mag ja innerhalb der Familie möglich sein«, widersprach Antonia, »aber wenn sie versucht, Simon unter Druck zu setzen, ist das etwas anderes, finde ich.«
»Simon wehrt sich schon«, sagte Kyra. »Der braucht von uns keine Hilfe, der wird auch so mit Kaja fertig.«
Sowohl Antonia als auch Leon blickten erstaunt auf ihre Jüngste, die plötzlich so gelassen über ihre große Schwester reden konnte, die doch vor nicht allzu langer Zeit für Kyra noch ein Quell ständigen Unglücks gewesen war.
»Das stimmt«, kam Kevin ihr zu Hilfe. »Der kann sich wehren, der braucht uns nicht. Und was den Rest betrifft: Peter hat vielleicht Recht, der sieht das klarer als wir, weil er einen Blick von außen hat. Wir lassen sie in Ruhe und sehen mal, was passiert. Wenn es klappt, ist es gut, wenn nicht, müssen wir uns was Neues überlegen.«
»Es kann aber auch sein, dass sie Hilfe braucht«, wandte Antonia ein. »Dass sie mit ihrem Verhalten um Hilfe ruft. Ich möchte mir später keine Vorwürfe machen müssen, dass ich diese Rufe überhört habe. Denn niemand hier ist doch wohl der Ansicht, dass es Kaja gut geht, oder?«
»Es geht ihr bestimmt nicht gut«, sagte Konstantin, »aber es könnte doch sein, dass sie am ehesten Hilfe dabei braucht, ihr zickiges Verhalten wieder aufzugeben, das sie sich angewöhnt hat. Und wenn niemand mehr darauf reagiert, hört sie vielleicht einfach wieder damit auf. Ich sehe das wie Kevin: Einen Versuch ist es wert.«
»Da bin ich aber mal gespannt, was bei diesem Versuch herauskommt«, sagte Leon.
*
Rainer betrat die Wohnung um drei Uhr morgens. Flora und Anke schliefen fest. Leise legte er sich zu Anke ins Bett und da er todmüde war, schlief er sofort ein. Als nach vier Stunden der Wecker klingelte, war er zwar nicht ausgeschlafen, aber er fühlte sich doch einigermaßen erholt.
»Wieso hast du mich denn nicht geweckt, als du gekommen bist?«, fragte Anke.
»Weil du so schön geschlafen hast.« Er gab ihr einen Kuss. »Trotz aller Sorgen: Du siehst besser aus als neulich«, sagte er. »Und was auch geschieht: Wir werden damit fertig, Anke.«
»Wie hat dein Chef reagiert?«
»Ziemlich vernünftig, muss ich sagen. Er hat sofort jemanden losgeschickt, der für mich einspringt. Und ich hatte Glück: Ein Kumpel hat mich mitgenommen, bis München, ich bin also gar nicht mit dem Zug gefahren – und weil die Straßen leer waren, sind wir gut durchgekommen. Er wollte nicht einmal Geld von mir annehmen, nur ein Essen durfte ich ihm spendieren, als wir die halbe Strecke hinter uns hatten.«
Sie hörten Flora rufen, die ja an diesem Tag nicht zur Schule gehen würde. Eine Nachbarin hatte sich bereiterklärt, auf sie aufzupassen, während ihre Eltern in der Klinik waren.
»Papa!« Die Kleine strahlte, als sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihren Vater hereinkommen sah. »Ich habe ein Loch im Kopf!«
Rainer gab ihr einen Kuss. »Ja, das habe ich gehört, deshalb bin ich ja gleich gekommen. Möchtest du Frühstück ans Bett gebracht kriegen?«
»Ja!«, sagte Flora. »Kommt Miro mit euch nach Hause?«
»Das hoffen wir, die Ärzte sagen uns heute, warum er in letzter Zeit manchmal Kopfschmerzen hatte.« Von Miros Krampfanfall wusste Flora noch immer nichts. Solange sie selbst keine Informationen hatten, was zu diesem Anfall geführt hatte, wollten sie mit ihrer kleinen Tochter nicht darüber reden.
Nachdem Flora gefrühstückt und ihrem Papa genau beschrieben hatte, was am vergangenen Tag passiert war, kam die Nachbarin herüber, und Anke und Rainer machten sich auf den Weg zur Kayser-Klinik.
Flora hatte sie beide von dem abgelenkt, was vor ihnen lag, doch jetzt gab es diese Ablenkung nicht mehr, und schon war die Angst wieder da, die Enge in der Brust, die trockene Kehle. Rainer musste seine Frau nur ansehen, um zu wissen, dass sie das Gleiche fühlte wie er. Also griff er griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Sie erwiderte den Druck, schaffte es sogar, ihm kurz zuzulächeln.
*
Linda war das Herz schwer, als sie sich auf den Weg zu Miro Flossbachs Zimmer machte. Situationen wie die, die ihr bevorstand, gehörten zu den schlimmsten im Berufsalltag von Ärzten, und es gab kein Mittel, den Schrecken, den sie gleich verbreiten würde, zu mildern. Sie musste sagen, was zu sagen war.
Sie klopfte kurz, bevor sie das Zimmer betrat. Beide Eltern des jungen Patienten waren da und sahen ihr so voller Hoffnung, vermischt mit Angst, entgegen, dass sie spürte, wie die Last des vor ihr liegenden Gesprächs noch größer wurde. Gleich nach ihr kam Leon, worüber sie froh war.
»Frau Dr. Erdem ist Neurochirurgin«, begann er das Gespräch, »mit ihr zusammen haben wir gestern die Aufnahmen von Ihrem Kopf studiert, Herr Flossbach. Sie wird Ihnen erläutern, was diese Aufnahmen ergeben haben.«
Linda nickte ihm kurz zu, bevor sie mit ruhiger Stimme sagte: »Wir haben gute und leider auch weniger gute Nachrichten für Sie. Der Krampfanfall, den Sie erlitten haben, Herr Flossbach, wurde durch einen Hirntumor hervorgerufen.«
Anke Flossbach stieß einen leisen Schrei aus, ihr Mann streckte sofort den Arm aus und legte ihr eine Hand auf die Schulter, dabei sah er selbst nicht weniger entsetzt aus als seine Frau. Der junge Patient hingegen gab keinen Laut von sich, nur seine Augen verrieten den Schrecken, den er angesichts dieser Nachricht empfand.
»Der Tumor ist auch für die Kopfschmerzen verantwortlich, von denen Sie uns berichtet haben – und für die Sehstörungen. Es ist, und jetzt kommt die gute Nachricht, ein gutartiger Tumor, sehr klar abgegrenzt von seiner Umgebung. Normalerweise lässt sich ein solcher Tumor gut operieren.«
»Normalerweise?« Rainer Flossbach räusperte sich, er war sehr blass, seine Stimme klang zittrig. »Aber nicht in diesem Fall? Wollen Sie das damit sagen?«
»Leider ja.«
Linda führte aus, was der Sitz des Tumors bedeutete und welche Risiken mit einer Operation verbunden waren. »Entscheiden Sie sich aber gegen eine Operation, werden Ihre Beschwerden immer schlimmer werden, und Ihre Chancen auf Heilung sind gleich null.«
»Das heißt«, sagte Rainer Flossbach langsam, »es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera?«
»Ganz so ist es nicht, es kann ja auch alles gut gehen.«
»Aber die Chancen dafür stehen schlecht.«
»Die Möglichkeit, dass die Operation kein Erfolg wird, besteht, das muss ich in aller Deutlichkeit sagen. Ich will Ihnen nichts vormachen, so sieht es leider aus. Andererseits würde ich den Eingriff nicht empfehlen, wenn ich ihn von vornherein für aussichtslos halten würde. Ich glaube, dass ich es schaffen kann, den Tumor vollständig zu entfernen und zwar so, dass nichts in Ihrem Gehirn beschädigt wird. Nur eine Garantie dafür kann und werde ich nicht abgeben.«
Anke und Rainer Flossbach waren so blass geworden, dass Leon aufsprang und zwei Gläser mit Wasser füllte, die er ihnen reichte. »Trinken Sie das, damit Sie uns hier nicht umfallen«, bat er.
Sie dankten ihm, tranken das Wasser, ließen dabei aber ihren Sohn nicht aus den Augen. Auch Linda hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Noch hatte er kein einziges Wort von sich gegeben.
»Es ist dein Leben, Miro, also auch deine Entscheidung«, sagte sein Vater schließlich.
Miro Flossbach schüttelte sehr langsam den Kopf. »Das hat mit Entscheidung nichts zu tun. Ihr wisst, dass ich mich nicht operieren lassen werde. Ich kann das nicht, auf gar keinen Fall.«
Linda beugte sich vor. Hatte sie sich nicht deutlich genug ausgedrückt? Oder zu deutlich? Hatte sie die Gefahren überbetont, dafür aber die Vorteile einer Operation nicht klar genug hervorgehoben? »Was meinen Sie damit, Herr Flossbach? Wenn Sie sich nicht operieren lassen …«
Er unterbrach sie. »Es geht einfach nicht, mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich habe genau verstanden, was Sie gesagt haben, meine Entscheidung hat nichts mit Ihren Worten oder mit Ihnen zu tun, Frau Doktor. Ich lasse mich auf keinen Fall operieren.«
Nicht nur Linda, auch Leon wandte sich den Eltern zu, mit fragend hochgezogenen Augenbrauen, aber Anke und Rainer gaben mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfschütteln zu verstehen, dass sie nicht reden würden, wenn ihr Sohn das nicht wünschte.
Leon sah, dass Linda wie vor den Kopf geschlagen war, weil sie trotz der Worte des Patienten offenbar dachte, seine Ablehnung hätte etwas mit der Art und Weise zu tun, in der sie die möglichen Folgen des Eingriffs erklärt hatte.
Also machte er seinerseits einen Vorstoß. »Herr Flossbach«, begann er, sich an Miro wendend, doch der junge Mann hob abwehrend beide Hände.
»Bitte, ich möchte nicht mehr darüber diskutieren«, sagte er. »Und ich wäre jetzt gern allein. Ganz allein.« Sich an seine Eltern wendend, sagte er: »Bitte, geht nach Hause, ich kann jetzt nicht reden, und ihr könnt mir nicht helfen.«
Linda und Leon fühlten sich so überrumpelt wie offenbar die Eltern ihres Patienten, die sich mit Tränen in den Augen erhoben, aber nicht versuchten, ihren Sohn umzustimmen.
Sie verließen das Zimmer zu viert.
Bevor ihnen die beiden Ärzte weitere Fragen stellen konnten, sagte Rainer Flossbach hastig: »Bitte, wir können nicht mit Ihnen reden, hinter Miros Rücken.«
»Aber was wird denn jetzt mit ihm?«, fragte Anke Flossbach. Ihr liefen Tränen über die Wangen. »Kann er noch hierbleiben? Oder sollen wir auf ihn warten, damit wir ihn mit nach Hause nehmen können? Und was soll dann werden?«
Ihr Mann nahm sie in die Arme, sie fing laut an zu schluchzen.
»Ihr Sohn«, sagte Linda mit erzwungener Ruhe, »sollte auf jeden Fall noch hier in der Klinik bleiben. Halten Sie es für ausgeschossen, dass er seine Meinung doch noch ändert?«
»Ich weiß nicht, wie Sie ihn dazu bringen könnten«, antwortete Rainer Flossbach leise. »Wir werden es auch versuchen, aber nicht jetzt. Wenn er sagt, er will allein sein, ist es besser, ihn erst einmal in Ruhe zu lassen. Und für uns ist es eine Beruhigung, dass er hier in guten Händen ist. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, wissen Sie ja am besten, was Sie tun müssen.« Er hielt seine Frau, die noch immer heftig weinte, fest umschlungen. »Wir fahren jetzt nach Hause, wir haben ja noch ein krankes Kind«, setzte er hinzu. »Aber ich zumindest werde später noch einmal kommen und versuchen, mit Miro zu reden.«
Als beide sich zum Gehen wandten, sahen Linda und Leon ihnen nach. Es kam nicht oft vor, dass der Klinikchef sprachlos war, doch jetzt fehlten ihm die Worte.
Linda brachte es nach längerem Schweigen auf den Punkt: »Schlimmer hätte es nicht kommen können.«
*
»Abtropfen lassen«, sagte Lili, als Simon ihr von dem Zusammenstoß mit Kaja erzählt hatte. »Irgendwann wird es ihr selbst zu blöd, und sie hört damit auf, die Zicke zu spielen. Niemand macht sich gern überall unbeliebt.«
»Möglich, aber ich will nicht ständig auf der Hut sein«, erklärte Simon. »Es ist nämlich so: Ich bin da richtig gerne. Das ist viel Arbeit in dem Haus, aber weil alles so schön ist, macht es Spaß, das in Ordnung zu halten. Und ich ärgere mich, wenn ich merke, dass Kaja das überhaupt nicht zu schätzen weiß. Außerdem stresst es mich, weil ich immer mit dem nächsten Angriff rechne. Ich will meine Ruhe haben, damit ich mich auf meine Arbeit konzentrieren kann.«
»Das verstehe ich«, erklärte Lili, »aber tu trotzdem, was ich dir sage, ich bin schließlich selbst sechzehn, und ich bin ein Mädchen, ich kenne mich da besser aus als du. Lass dich nicht aus der Ruhe bringen, sie wird irgendwann aufgeben. Ich weiß ja nicht, welches Problem sie hat – also, außer dass sie in der Pubertät ist, meine ich, da drehen ja viele durch.«
»Ich weiß, dass ich Glück mit dir habe«, warf Simon rasch ein.
Lili grinste. »Das kannst du laut sagen. Aber vielleicht steht dir so ein Theater mit mir ja auch noch bevor?« Als sie sein Gesicht sah, wurde sie schnell wieder ernst. »Deine Kaja wird noch ein paar Angriffe starten, das ist blöd für dich, aber du kannst dich ja innerlich darauf einstellen. Irgendwann wird es ihr langweilig, und sie hört von selbst auf. Verlass dich auf mich. Und noch etwas: Beklag dich nie, nie, nie bei einem Familienmitglied über sie. Mach das mit ihr allein aus.«
»Ich habe mich ja heute nicht aus der Ruhe bringen lassen, aber es hat nicht viel gefehlt, und ich hätte zurückgeschossen. Das hat mich erschreckt«, gestand Simon.
Jetzt erst merkten sie, dass Lisa an der Tür stand, offenbar hörte sie dem Gespräch schon eine Weile zu. »Hast du auch einen guten Rat für mich?«, erkundigte sich Simon.
»Lilis Rat ist gut«, erklärte Lisa. »Aber frag Kaja doch mal ganz ruhig, was eigentlich mit ihr los ist. Vielleicht sagt sie es dir ja.«
»Wenn ich das richtig mitbekommen habe, hat ein Junge sie blöd behandelt, und das hat sie nicht gut weggesteckt, obwohl sie offenbar selbst schon jede Menge Jungs unglücklich gemacht hat. Sie ist ziemlich hübsch, wahrscheinlich laufen ihr viele nach.«
»Das ist ja noch kein Grund, sich so aufzuführen, wie sie es tut«, meinte Lisa.
»Das sieht ihre Familie auch so.«
»Es hört sich nicht so an, als wäre sie ein Mädchen, mit dem ich gern befreundet wäre«, befand Lili. »Also, hör auf meinen Rat, großer Bruder.« Nach diesen Worten verschwand sie. Da auch Lisa sich wieder verzog, blieb Simon mit seinen Gedanken allein.
Da er keine bessere Idee hatte, würde er auf Lili hören: sich innerlich wappnen, stets auf den nächsten Angriff gefasst sein und unter allen Umständen Ruhe bewahren.
Mal sehen, was ihm das einbrachte.
*
Als Selina die Kayser-Klinik betrat und ihrer Tante eine Nachricht schrieb, sie werde im Café etwas trinken, schrieb diese zurück, sie brauche noch eine halbe Stunde – und setzte hinzu: »Ich habe dich gewarnt!«
Selina grinste nur und betrat das Café der Klinik, das sehr schön war. Ihr blick fiel auf einen jungen Mann, der mit starrem Blick aus dem Fenster sah. Er musste etwa so alt sein wie sie selbst. Einer plötzlichen Eingebung folgend ging sie auf ihn zu und fragte: »Kann ich mich zu dir setzen? Du siehst so aus, als könntest du eine kleine Aufmunterung gebrauchen.«
Er wandte ihr so langsam den Kopf zu, als bereitete ihm diese kleine Bewegung die größten Schwierigkeiten. Dann sagte er: »Ich habe heute Morgen erfahren, dass ich einen Hirntumor habe, der nur schwer zu operieren ist. Aber das spielt eigentlich keine Rolle, weil ich mich sowieso nicht operieren lasse. Ich werde also blind werden, unter unerträglichen Kopfschmerzen leiden und eines Tages an einem epileptischen Anfall sterben. Der Tumor wächst nämlich schnell. Da kann man hoffen, dass es kein allzu langes Leiden wird.«
Das alles sagte er ohne dramatischen Unterton und ohne jegliche Einleitung oder Vorbereitung. Selina ließ sich langsam auf den Stuhl neben ihm sinken. Ihr Mund war trocken geworden während seiner kurzen Rede. Er musste der Patient sein, von dem ihre Tante ihr am Tag zuvor erzählt hatte. Sie hatte nicht angenommen, dass von jemandem in ihrem Alter die Rede gewesen war, sie hatte eher an jemanden von Ende zwanzig, Anfang dreißig gedacht – da war man ja auch noch ›sehr jung‹, wie Tante Linda gesagt hatte. Wie würde sie sich fühlen mit so einer Diagnose? Sie konnte es sich nicht einmal vorstellen.
»Wieso willst du dich nicht operieren lassen?«, fragte sie. »Stehen die Chancen auf Erfolg so schlecht?«
»Die Ärztin meint, sie könnte es schaffen, aber darum geht es nicht. Ich lege mich nie wieder auf einen Operationstisch.«
»Nie wieder? Was ist denn passiert?«
Er wandte sich endgültig vom Fenster ab und ihr zu. Sein Gesicht gefiel ihr, vor allem seine blauen Augen, trotz ihres traurigen Blicks. Sie hätte ihn gern lachen oder wenigstens lächeln sehen. Er hatte auch einen schönen Mund – und dichte blonde Haare. Eine vorwitzige Locke fiel ihm in die Stirn. Er sah sehr jung und sehr verletzlich aus.
»Ich habe die Geschichte noch niemandem erzählt«, sagte er.
»Du musst sie mir auch nicht erzählen, wenn du nicht willst.«
Sein Blick veränderte sich. Jetzt erst schien er sie richtig zu sehen. »Du bist sehr hübsch«, sagte er leise.
»Was hat das damit zu tun?«
»Nichts. Alles. Noch kann ich dich sehen, deine schwarzen Haare, die dunklen Augen, dein schönes Lächeln. Aber das wird bald vorbei sein.«
»Erzähl mir deine Geschichte«, bat Selina.
»Erst musst du mir deinen Namen sagen. Ich kann einer fremden Person nicht erzählen, was damals geschehen ist.«
»Selina.«
Er wiederholte ihren Namen. »Das klingt schön«, sagte er. »Ich bin Miro.«
»Das klingt auch schön.«
Er nickte. »Ich war acht«, sagte er dann, »als ich eines Tages ziemlich überstürzt ins Krankenhaus musste – mein Blinddarm hatte sich entzündet, der Kinderarzt hatte meine Bauchschmerzen für eine harmlose Magenverstimmung gehalten. Es eilte, die Ärzte hatten Angst, dass es zu einem Durchbruch kommen könnte. Das ist offenbar sehr gefährlich, weil sich dann Eiter in den Bauchraum ergießt. Noch heute sterben Menschen, weil ihre Blinddarmentzündung zu spät erkannt wird.«
Er machte eine Pause, Selina drängte ihn nicht. Sie hoffte nur, dass ihre Tante nicht auftauchte, bevor sie das Ende dieser Geschichte gehört hatte.
»Ich wurde also ziemlich schnell in einen Operationssaal gebracht, bekam eine Narkose – und dann merkte ich irgendwann, dass etwas nicht stimmte. Ich bin aufgewacht, während der Operation. Die Narkose war nicht stark genug gewesen. Sie hatten es so eilig gehabt, dass ein Fehler passiert war.«
Selina stockte der Atem. »Du bist während der Operation aufgewacht?«
»Ja. Zuerst war das nicht so schlimm, aber dann, mit einem Schlag, spürte ich wahnsinnige Schmerzen. Das war so schlimm, dass ich angefangen habe zu brüllen. Du kannst dir vorstellen, was für ein Chaos da ausgebrochen ist. Es hat insgesamt nicht sehr lange gedauert, bis sie mich wieder eingeschläfert hatten, und sie haben hinterher tatsächlich versucht, mir einzureden, dass ich mir das nur eingebildet habe. Aber eine OP-Schwester hat die Vertuschungsversuche nicht mitgemacht und vor Gericht ausgesagt. Das Krankenhaus ist verklagt worden, sie mussten Schadenersatz leisten. Seit damals ist mir klar, dass ich mich nie mehr operieren lassen werde.«
»Hast du das mal einem Psychologen erzählt?«
»Ja, als Kind habe ich mehrmals mit einem geredet, aber viel genützt hat es nicht.«
»Aber jetzt geht es um dein Leben«, sagte Selina. »Wer sollte dich operieren?«
»Dr. Erdem. Sie ist sehr nett, ich mochte sie sofort. Sie hat überhaupt nicht versucht, mir und meinen Eltern etwas vorzumachen. Es hat mir richtig leidgetan, dass sie dachte, es sei ihre Schuld, dass ich mich nicht operieren lassen will. Aber ich konnte es ihr nicht sagen.«
»Komischer Zufall«, sagte Selina. »Sie ist meine Tante, ich bin mit ihr verabredet, wir wollen zusammen essen gehen.«
»Hat sie dich geschickt, damit du mich bearbeitest?«
»Spinnst du? Woher sollte sie denn wissen, dass du hier bist?«
Miro antwortete nicht.
»Darf ich dir jetzt auch eine Geschichte erzählen?«, fragte Selina.
Er nickte stumm.
»Meine beste Freundin in der Grundschule hieß Annika. Sie war neun, als die Ärzte bei ihr einen Hirntumor entdeckt haben, der als kaum zu operieren galt. Mehrere Spezialisten lehnten den Eingriff ab – die Erfolgschancen waren zu gering, und sie wollten sich ihren guten Ruf nicht verderben. Ich bin weinend zu meiner Tante Linda gelaufen und habe ihr gesagt, dass sie Annika retten muss, weil ich sonst mit meiner Freundin zusammen sterben würde.«
Selina machte eine Pause, in der sie versonnen aus dem Fenster sah. »Wir waren neun, wie gesagt, und natürlich hatten wir uns ewige Freundschaft geschworen. Nichts im Leben würde uns jemals trennen können. Meine Tante sah sich die Aufnahmen an, sie studierte sie mehrere Tage lang, und dann sagte sie, sie sei bereit Annika zu operieren. Es war wie bei dir: Eine Operation war ihre einzige Chance, gesund zu werden. Es gab keine Garantie für gutes Gelingen, aber es gab eine Chance.«
Als sie erneut schwieg, sagte Miro: »Ich nehme an, es ist gut gegangen – sonst hättest du mir die Geschichte wohl kaum erzählt.«
»Ja, es ist gut gegangen, und Annika ist immer noch meine beste Freundin. Sie hatte panische Angst vor der OP, aber ich hatte ihr versprochen, die ganze Zeit in der Nähe zu bleiben und an sie zu denken. Ich war auch bei ihr, als sie aufgewacht ist. Das vergesse ich nie: Wie sie die Augen aufgeschlagen und zuerst ein bisschen verwirrt geguckt hat. Und dann hat sie meinen Namen gesagt. Wir sind Schwestern, für immer.«
»Aber sie war nicht während der Operation aufgewacht und hat gebrüllt vor Schmerzen.«
»Nein, aber sie war erst neun und wusste schon, dass es im Operationssaal um ihr Leben oder ihren Tod gehen würde. Sie hatte wahnsinnige Angst, hat sie aber überwunden.«
»Ich wüsste gar nicht, wie ich meine Angst überwinden sollte. Ich muss mir die Situation nur vorstellen, schon bricht mir der Schweiß aus und ich bekomme Herzrasen.«
Sie griff über den Tisch hinweg nach seiner Hand. »Du wirst sterben ohne Operation«, sagte sie ganz ruhig. »Vor einer halben Stunde kannte ich dich noch nicht, aber jetzt weiß ich: Ich will nicht, dass du stirbst. Ich würde dich gern näher kennenlernen, aber dazu müsstest du am Leben bleiben.«
Er hielt ihre Hand fest. »Du kannst ziemlich überzeugend sein, Selina. Aber ich …«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Wenn du jetzt sagst, dass du mich nicht näher kennenlernen möchtest, glaube ich dir nicht.«
Daraufhin blieb er stumm. Sie sahen einander in die Augen, auch sie sagte nichts mehr. Sie konnte sich gut mit Blicken ausdrücken, und sie sah, dass er sie verstand.
Irgendwann löste sie ihre Hand aus seiner.
»Meine Tante wird bald hier sein. Wenn du nicht willst, dass sie uns zusammen sieht – oder wenn du ihr nicht begegnen willst, sollte ich lieber gehen und sie draußen abfangen.«
Miro griff erneut nach ihrer Hand und hielt sie noch fester als zuvor. »Wir bleiben«, sagte er.
*
»Wir müssen noch einmal mit ihm reden«, sagte Rainer. »Natürlich muss er sich operieren lassen, das ist seine einzige Chance, wieder gesund zu werden.«
Anke sagte nichts, sie weinte schon wieder. Im Grunde hatte sie nicht aufgehört zu weinen, seit sie die Kayser-Klinik verlassen hatten, so dass jetzt auch Flora mitbekommen hatte, dass etwas nicht stimmte. Aber mit ihr mussten sie ohnehin reden, es hatte ja keinen Sinn, ihr weiterhin zu verschweigen, dass Miro krank war, schwer krank.
Als das Telefon klingelte, wollten sie es zuerst klingeln lassen, bis Rainer sah, wer der Anrufer war. Hastig nahm er das Gespräch entgegen. »Miro?«, rief er. »Soll ich dich abholen? Wie bitte?«
Nach diesen Worten blieb es still. So lange, dass Anke schließlich aufhörte zu weinen und mit angehaltenem Atem ihren Mann beobachtete, der abwechselnd rot und blass wurde und schließlich stammelte. »Ja, gut, ja, natürlich … wir sind gleich da.«
»Was ist denn?«, fragte Anke ängstlich.
»Er lässt sich operieren. Sie haben den Eingriff für morgen früh angesetzt. Sie bereiten ihn jetzt darauf vor, aber er möchte, dass wir noch einmal bei ihm vorbeikommen, wenn es geht, mit Flora.«
»Aber wieso …?« Anke konnte es noch immer nicht glauben.
»Frag mich nicht. Er war ziemlich durcheinander und so hat er auch geredet. Nur eins glaube ich verstanden zu haben: Er hat eine junge Frau kennengelernt und sich lange mit ihr unterhalten. Offenbar hat sie ihn so beeindruckt, dass er daraufhin seine Meinung geändert hat.«
Flora erschien an der Tür, sie war im Bad gewesen, ansonsten war sie brav im Bett geblieben. Mit großen Augen sah sie von ihrer Mutter zu ihrem Vater und wieder zurück. »Was ist mit Miro?«, fragte sie mit ganz dünnem Stimmchen.
»Wir fahren jetzt zu ihm in die Klinik, mit dir«, antwortete Rainer. »Er muss operiert werden, Flora, und er möchte uns vorher noch einmal sehen.«
Sie nahmen ein Taxi zur Klinik, und auf dem Weg dorthin erzählten sie Flora, was sie unbedingt wissen musste. Sie versuchten, ihr keine Angst zu machen, aber sie beschönigten die Situation auch nicht. Es gab Grund genug, Angst um Miro zu haben, und es hatte ja wenig Sinn, Flora in Sicherheit zu wiegen, wenn es diese Sicherheit nicht gab.
Er war nicht allein, als sie sein Zimmer betraten: Eine bemerkenswert hübsche junge Frau war bei ihm, die Frau Dr. Erdem ähnlich sah. Sie stellte sich als Selina Özer vor, Linda Erdems Nichte. Von dem Gespräch, das Miro und sie zuvor geführt hatten, berichteten dann beide.
Selina hatte ein feines Gespür für die Situation, und so schlug sie vor, mit Flora ins Café der Klinik zu gehen und dort Getränke für alle zu holen – außer für Miro, denn er sollte vor der Operation nichts mehr zu sich nehmen.
Flora war bereit, ihr zu folgen, und Anke und Rainer dankten ihr mit Blicken, dass sie ihnen auf diese Weise noch ein Gespräch allein mit ihrem Sohn ermöglichte.
*
Eckart Sternberg würde Linda bei der Operation assistieren, Leon würde ebenfalls im Operationssaal anwesend sein – er war ja noch immer begierig, dazuzulernen – jedoch keine Funktion übernehmen.
»Geh nach Hause, Linda«, sagte er jetzt, nachdem sie alles durchgesprochen hatten. Mit einer so schnellen Sinnesänderung des jungen Patienten hatte niemand gerechnet, dennoch wollten sie den Eingriff so früh wie möglich durchführen. Sie hatten zunächst erwogen, den Tumor mit Hilfe von Medikamenten zum Schrumpfen zu bringen, sich dann jedoch gegen diese Möglichkeit entschieden. »Ruh dich aus, damit du morgen fit bist.«
»Keine Sorge«, erwiderte sie, »ich werde fit sein, aber Ruhe werde ich heute Nacht nicht finden, das weiß ich aus Erfahrung. Ich kenne die Aufnahmen auswendig, dennoch werde ich sie noch länger studieren, ich will sicher sein, dass ich den richtigen Weg wähle für diesen Eingriff.«
»Würde es Ihnen helfen, noch einmal darüber zu reden?«, fragte Eckart. »Mir noch einmal zu erklären, wie genau Sie vorgehen wollen?«
»Gute Idee«, sagte sie. »Also, wir fangen hier an …«
Sowohl Leon als auch Eckart lauschten ihr aufmerksam. Sobald ihnen etwas unklar war, stellten sie Fragen, und sie merkten bald, wie sicher Linda Erdem war, wie genau sie sich den Ablauf des Eingriffs überlegt hatte.
Als sie schwieg, lächelte sie und sagte dann: »Danke, das war sehr hilfreich für mich. Meine letzten Zweifel sind ausgeräumt. Wir sehen uns morgen früh um sieben im OP.«
Als sie gegangen war, sagte Eckart nur ein Wort: »Sehr beeindruckend, die neue Kollegin!«
*
»Wir fahren jetzt nach Hause, Miro«, sagte Rainer. »Flora schläft schon, und du hast einen langen und schweren Tag vor dir. Oder möchtest du, dass einer von uns bei dir bleibt?«
»Auf keinen Fall«, sagte Miro. »Die Ärzte wissen ja jetzt, was mit mir los ist, sie haben gesagt, sie geben mir ein Schlafmittel, damit ich Ruhe finde. Und morgen bekomme ich auch gleich etwas, damit erst gar keine Panik aufkommen kann. Denkt an mich – und kommt morgen nicht zu früh her, ich werde ja wahrscheinlich erst gegen Abend wach.«
Sie küssten ihn, Anke streichelte sein Gesicht, sagte aber nichts mehr. Rainer trug Flora aus dem Zimmer. An der Tür drehten sie sich noch einmal zu ihrem Sohn um, dann gingen sie.
Wenig später wurde die Tür erneut geöffnet, und Selina erschien. »Ich wollte dir noch eine gute Nacht wünschen«, sagte sie, »bevor sie dir gleich dein Schlafmittel geben.«
»Ich hatte gehofft, dich noch einmal zu sehen«, gestand er. »Danke für alles, Selina.«
»Oh, ich verfolge meine eigenen egoistischen Pläne«, erklärte sie. »Weißt du, ich bin anfällig für schöne blaue Augen und lockige blonde Haare – und wenn ich dann noch eine so anrührende Geschichte erzählt bekomme, kann ich einfach nicht widerstehen. Also mach meiner Tante die Arbeit leicht, denk, bevor sie dich in Narkose versetzen, an etwas Schönes.«
»An dich zum Beispiel?«
Ihr Lächeln war strahlend. »An mich zum Beispiel. Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich dich unbedingt besser kennenlernen will, und das geht natürlich nur, wenn du wieder aufwachst und mich erkennst.«
Er wollte etwas erwidern, doch daran hinderte sie ihn, indem sie ihm den Mund mit ihren weichen Lippen verschloss. Er vergaß seine Panik vor der Operation, seinen Tumor, alles, was ihm das Herz beschwerte und reagierte wie wohl jeder Mann an seiner Stelle reagiert hätte: Er schloss seine Arme um diese schöne junge Frau, die so unvermutet in sein Leben getreten war, und erwiderte ihren Kuss.
Als sie sich voneinander lösten, glänzten Selinas Augen. »Das war doch mal eine Ansage«, flüsterte sie. »Du und ich, wir werden noch viel miteinander erleben.«
Er zog sie noch einmal an sich, denn ganz flüchtig hatte sich doch wieder dieser eine Gedanke eingeschlichen, den er schon beim Besuch seiner Eltern und seiner kleinen Schwester beharrlich zu verdrängen versucht hatte: Vielleicht ist es das letzte Mal, also nutze die Zeit …
*
Als Linda die Wohnung betrat, war es nach Mitternacht. Sie würde ein paar Stunden schlafen und spätestens um fünf wieder aufstehen, das wusste sie bereits. Vor einer solchen Operation stand sie unter starker Anspannung, aber sie war ein Mensch, der auf diese Art von Stress mit erhöhter Konzentration und Leistungsfähigkeit reagierte. Das war schon immer so gewesen, auch während des Studiums, bei Prüfungen. Wo andere unter dem Druck zusammengebrochen waren, war sie stärker geworden. Wenn sie herausgefordert wurde, schwang sie sich zu Höchstleistungen auf.
Zu ihrem Erstaunen schlief Selina nicht, sondern saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen. Sie sah sehr jung und sehr verletzlich aus und hörte Musik, sodass sie die Heimkehr ihrer Tante nicht sofort mitbekam. Als sie die Augen öffnete und Linda an der Tür stehen sah, schaltete sie die Musik aus.
»Da bist du ja endlich.«
»Ja, jetzt fühle ich mich ausreichend vorbereitet. Wenn ich jetzt noch ein paar Stunden schlafe, ist von meiner Seite aus alles gut.«
»Ich habe mich in ihn verliebt, Tante Linda.«
»Das dachte ich mir schon, als ich euch im Café sitzen sah. Das muss ja sehr schnell gegangen sein.«
»Blitzschnell, ja. Ich weiß gar nicht genau, warum ich mich zu ihm gesetzt habe. Er wirkte so … verloren. Ich habe ihn angesprochen, und dann hat er mir gesagt, was mit ihm los ist und hat mir seine Geschichte erzählt. Währenddessen habe ich ihn angesehen und konnte plötzlich nicht mehr wegsehen. Ich wollte nur noch bei ihm sein. So etwas ist mir vorher noch nie passiert.« Selina unterbrach sich. »Ist das ein Problem für dich? Verstärkt das den Druck?«
Linda setzte sich zu ihr. »Vielleicht, aber das ist nicht schlimm. Du weißt, ich kann Druck gut aushalten.«
»Ich habe Angst um ihn«, gestand Selina. »Ich habe ihn ja gerade erst gefunden. Die Vorstellung, ihn gleich wieder zu verlieren, ist schrecklich.«
»Jemanden zu verlieren, den man gern hat oder liebt, ist immer schrecklich. Denkst du, du kannst schlafen?«
»Ich versuch’s. Und du?«
Linda lächelte. »Ich versuche es auch.«
*
»Lass uns aufstehen, Leon«, sagte Antonia um halb fünf am nächsten Morgen. »Du wälzt dich nur noch von einer Seite auf die andere. Da ist es doch besser, wenn wir in Ruhe frühstücken und du das Haus verlässt, bevor die Kinder aufstehen.«
Er zog sie in seine Arme und küsste sie. »Wie immer hast du Recht«, murmelte er. »In einer Stunde hätte ich sowieso aufstehen müssen.«
Während er duschte, bereitete Antonia das Frühstück zu. Sie selbst hatte so früh noch keinen Appetit, aber sie wusste aus Erfahrung, dass Leon anders reagierte als sie.
Er trank eine Tasse Kaffee und aß mit gutem Appetit eine Scheibe Brot, aber natürlich war er mit seinen Gedanken bereits in der Klinik. Sie störte ihn nicht beim Nachdenken.
Endlich wandte er sich mit entschuldigendem Lächeln ihr zu. »Tut mir leid, ich bin nicht besonders unterhaltsam heute Morgen«, sagte er.
»Das ist schon in Ordnung. Ich bin selbst aufgeregt wegen Herrn Flossbach.«
Er betrachtete sie nachdenklich. »Wenn er den Anfall nicht bei euch in der Praxis gehabt hätte, sondern woanders …«
Sie nickte. »Das war Glück für ihn«, sagte sie.
»So wie für die verletzten Kinder nach dem Busunglück. Du weißt, ich war nicht begeistert von deinem Wunsch, noch einmal in den Beruf einzusteigen. Das war egoistisch von mir, ich habe vor allem daran gedacht, was ich verlieren würde, wenn du wieder arbeitest. Jetzt erst ist mir klar geworden, wie viel du bewirken kannst. Oder ihr, Frau Böhler und du. Ich muss gestehen, dass ich mich schäme für meine Engstirnigkeit.«
»Du warst nicht begeistert, aber du hast mir auch keine Steine in den Weg gelegt. Und du hast mich nicht beschimpft, wie mein Vater.«
»Trotzdem, ich schäme mich. Und was deinen Vater angeht, so …«
Antonia winkte ab. »Lass uns nicht über ihn reden, das verdirbt mir nur die Laune. Ich warte ab, bis mein Zorn auf ihn sich etwas abgekühlt hat. Vielleicht bin ich dann bereit, wieder mit ihm zu reden. Aber so weit ist es noch längst nicht.«
»Trotz allem: Er ist dein Vater.«
»Und ich bin seine Tochter«, erklärte Antonia heftig. »Er hätte auch einfach stolz auf mich sein und mich unterstützen können – und das gilt für damals wie für heute.«
Leon lächelte. »Gut, wir reden heute wirklich besser nicht über ihn.« Er hatte in der Zwischenzeit seine zweite Tasse Kaffee getrunken und eine weitere Scheibe Brot gegessen.
Als er sich die dritte Tasse einschenkte, erschien Konstantin. »Habe ich doch richtig gehört«, sagte er. »Wieso frühstückt ihr schon? Es ist noch nicht mal halb sechs.«
»Wegen einer schwierigen Operation, der ersten unserer neuen Neurochirurgin«, erklärte Leon.
»Das heißt, du operierst gar nicht selbst?«
»Neurochirurgie gehört nicht zu meinen Fachgebieten«, erwiderte Leon lächelnd. »Ich fand das immer interessant, aber als Gynäkologe und Chirurg bin ich ausgelastet.« Er stand auf. »Ich bin früh dran, aber ich mache mich auf den Weg.«
Er küsste Antonia, schlug seinem ältesten Sohn freundschaftlich auf die Schulter und verließ das Haus.
»Dann dusche ich mal«, sagte Konstantin. »Schlafen kann ich jetzt doch nicht mehr.«
Antonia sah ihm nach, wie er langsam wieder nach oben ging. Täuschte sie sich oder hätte er gern mit seinen Eltern über das geredet, was ihn offenbar seit längerem bewegte?
»Konny?«
Er drehte sich um, sehr langsam. »Ja?«
Etwas Abweisendes lag jetzt in seiner Stimme und seinem Blick, das sie warnte, die Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge lag. Sie sprang auf und ging auf ihn zu. Es tat ihr weh zu sehen, wie sich sein Körper anspannte, als müsste er eine Gefahr abwenden. Sie umarmte ihn trotzdem. »Nichts weiter«, flüsterte sie. »Ich wollte dich nur mal wieder in den Arm nehmen. Und nun geh dich duschen.«
Sein Körper wurde weich, er erwiderte ihre Umarmung und als sie ihn losließ, war das Abweisende in seinem Blick verschwunden. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange und kehrte an den Frühstückstisch zurück.
»Mama?«
»Ja?«
»Danke.« Er drehte sich um und rannte nach oben.
*
Linda stand sehr aufrecht hinter dem Patienten, der auf einem Stuhl vor ihr saß. Seinen geöffneten Schädel hatte sie direkt vor sich, über einen Monitor konnte sie verfolgen, wo sie das Skalpell ansetzen musste. Eckart Sternberg stand neben ihr, gespannt wie eine Feder vor Aufmerksamkeit und Konzentration. Sie näherten sich der kritischen Phase der Operation. Einen Teil des Tumors hatte sie schon aus dem Hirn geschält, nun kam die Stelle, an der er sich so eingenistet hatte, dass er nur unter Schwierigkeiten zu erreichen war.
Im Operationssaal war es so still, dass sie ihren eigenen Atem hören konnte. Die Geräte surrten leise, ab und zu raschelte ein Kittel oder eins der Instrumente gab ein leises Klingen von sich, aber sonst war es still. Sie kannte Kollegen, die bei Opernmusik operierten, das wäre ihr unmöglich gewesen, weil es sie abgelenkt hätte. Sie dachte auch nicht darüber nach, wer der junge Mann war, in dessen geöffneten Kopf sie hineinsah, und was er ihrer Nichte Selina bedeutete. Sie schaltete alles aus, was nicht unmittelbar mit der Aufgabe zu tun hatte, die sie bewältigen musste.
Millimeter für Millimeter schob sie das Skalpell weiter. Ihre Hand war vollkommen ruhig, sie wusste, dass sie sich kein Zittern erlauben durfte, keine noch so kleine Abweichung vom Wege.
Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, dachte sie und bat mit halblauter Stimme: »Reden Sie mit mir, Herr Flossbach.«
»Was … was soll ich denn sagen?«
»Oh, sagen Sie mir, was Sie sehen. Oder zählen Sie, das wäre auch gut.«
Sie hatte dem jungen Mann erklärt, warum sie ab einem bestimmten Zeitpunkt während des Eingriffs mit ihm reden würde: So konnte sie ihre Arbeit am besten kontrollieren. Er war bei der Aussicht, die Operation bei vollem Bewusstsein zu erleben, zunächst erschrocken gewesen, obwohl sie ihm erklärt hatte, dass er keinerlei Schmerzen verspüren würde. Aber letzten Endes hatte wohl auch das zu seiner Entscheidung beigetragen, sich operieren zu lassen: Ein plötzliches Erwachen unter Schmerzen war bei diesem Eingriff nicht möglich.
Er begann stockend zu zählen, sie atmete auf. Als er jedoch bei ›dreizehn‹ angekommen war, verstummte er.
»Herr Flossbach?«, fragte Linda und dann noch einmal: »Herr Flossbach?«
Hatte sie etwas falsch gemacht? Aber auf dem Monitor sah alles gut aus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie verstand nicht, was hier vor sich ging.
»Herr Flossbach?«
»Entschuldigung, vierzehn«, sagte Miro Flossbach nach einer Pause, die ihr sehr lang erschienen war. »Fünfzehn …«
Lindas Herz war ins Stolpern geraten, nun schlug es weiter, schneller als zuvor, aber regelmäßig, und allmählich fand es seinen Takt wieder.
Sie erlaubte sich einen kurzen Blickwechsel mit Leon Laurin, dann setzte sie ihre Arbeit fort.
*
Eine Woche später saßen Selina und Miro im Klinik-Café, sie erzählte ihm von den Drehorten, die sie gerade suchte. »Eine riesige Lagerhalle mitten in einer leeren Landschaft – du kannst dir vorstellen, dass die nicht so leicht zu finden ist! Eine Villa im Grünen, das ist einfach, aber ich muss möglichst in der Nähe auch noch eine Abraumhalde finden. Außerdem spielen ein paar Szenen auf einer Landebahn … Manchmal frage ich mich, ob Drehbuchautoren wissen, wie schwer vieles von dem umzusetzen ist, was sie da aufschreiben.«
Er hörte ihr gern zu, und manchmal konnte er ihr sogar Tipps geben. Er kannte sich in München und Umgebung schließlich gut aus. Meistens aber hörte er ihr einfach zu
Sie verstummte. »Langweile ich dich?«
»Im Gegenteil, ich fühle mich bestens unterhalten. Übrigens werde ich bald entlassen, deine Tante ist sehr zufrieden mit mir. Wollen wir noch ein bisschen nach draußen gehen? Es ist so schönes Wetter!«
Sie nickte, und gleich darauf verließen sie die Klinik und steuerten den begrünten Innenhof an, in dem Bänke standen und ein Brunnen leise vor sich hinplätscherte. Sie gingen langsam. Miro trug noch einen Kopfverband, aber der würde bald nicht mehr nötig sein. Seit der Operation war Selina jeden Tag bei ihm gewesen – wie seine Eltern und Flora. Seiner Mutter ging es endlich wieder besser, sein Vater hatte am Tag zuvor die Arbeit wieder aufnehmen müssen. Flora ging natürlich längst wieder zur Schule, wo sie noch immer jeden Tag die Geschichte vom Loch in ihrem Kopf zum Besten gab – und jedes Mal wurde das Loch größer und die Geschichte dramatischer.
Miros Eltern hatten Selina sofort ins Herz geschlossen, Flora und Selina waren bereits Freundinnen.
»Komisch«, sagte er, »ich dachte, mein Leben ist zu Ende, als ich hörte, dass ich einen Tumor im Kopf habe. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass es gerade erst anfängt.«
Selina blieb stehen und schlang ihre Arme um ihn. »Aber so ist es doch auch!«, sagte sie, bevor sie ihn küsste.
Von seinem Büro aus betrachtete Leon die Szene. Antonia stand neben ihm, sie war gekommen, um ihn abzuholen. Auf sie wartete eins von Simons köstlichen Essen – hoffentlich in friedlicher Atmosphäre. Aber Tatsache war: Kaja schien ruhiger geworden zu sein, seit ihre Ausfälle von allen anderen Familienmitgliedern mit freundlichem Desinteresse aufgenommen wurden. Das verunsicherte sie offenbar so, dass sie endlich angefangen hatte, ernsthaft über sich selbst nachzudenken.
»Schöne Geschichte mit den beiden«, sagte Leon. »Linda sagt, in diesem Fall hat die Liebe tatsächlich Wunder bewirkt.«
»Tut sie das nicht immer?«, fragte Antonia mit einem Lächeln.
Er zog sie an sich und küsste sie. Dann machten sie sich auf den Weg nach Hause.