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Kribbeln im Bauch

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Verträumt blickte Olivia ihrem Spiegelbild entgegen, ganz, als wäre sie die Ruhe selbst. Dabei sah es tief in ihrem Innern ganz anders aus.

Wie oft hatte sie heute schon an ihren kurzen, aber sehr heißen Sommer in Kalabrien gedacht und an die Erfahrungen, die sie als ganz persönliches Souvenir mit nach Hause gebracht hatte? Vier Monate waren seit ihrer Abreise vergangen, die alles andere als ruhig verlaufen war. Viel zu selten war es ihr gelungen, die harten Gesichtszüge Marcos zu vergessen, als sie sich zum letzen Mal sahen, ehe er sie weinend zurück ließ. Und das alles wegen eines blöden Missverständnisses.

Sie konnte sich noch ganz genau an Marcos Gesicht erinnern, als sie ihn auf sein seltsames Verhalten und seine grobe Art beim Sex am Tag zuvor angesprochen hatte. Sämtliche Gesichtszüge waren ihm entgleist und es hatte nicht lange gedauert, bis Olivia es ihm gleichgetan hatte.

Noch immer hallten die harten Schläge zweier junger, sich prügelnder Männer nach, einer von ihnen Marco – der andere sein Zwillingsbruder Fabrizio, von dem Olivia erst kurz vor der Schlägerei zwischen den Brüdern erfahren hatte. Wie hatte sie sich gedemütigt gefühlt als sie erkannte, dass sie ausgenutzt worden war, dazu noch von einem völlig fremden Mann, den sie fälschlicherweise für Marco gehalten hatte. Das fehlende Leuchten seiner Augen hatte sie nicht davon abhalten können, ihm zu verfallen und sich ihm hinzugeben.

Und nun hatte sie dieses Leuchten ständig vor ihrem inneren Auge.

Schuld daran war das Päckchen, das sie nur wenige Wochen nach ihrer Heimkehr in der Zeitungsredaktion von Timeless erreicht hatte. Dieses Päckchen hatte sie in zweierlei Hinsicht sehr überrascht: Einerseits hatte sie nicht damit gerechnet, dass Marco der Absender war und erst recht hatte sie dessen Inhalt nicht erwartet, mit welchem der kleine, braune und vor allem unscheinbare Karton liebevoll ausgestattet gewesen war.

Das Fläschchen mit dem Sand Tropeas stand zusammen mit dem kleinen Stein auf ihrem Nachttisch und bewahrte den darunter befindlichen handgeschriebenen Brief vor dem Wegfliegen. Das Foto, das ihr mit sanften Zügen gemaltes Ebenbild zeigte, hing eingerahmt an der Wand gegenüber, direkt neben der Tür.

Und die Kopie des Flugtickets mitsamt der Adresse einer Pension in ihrer Nähe lag auf der Kommode im Flur bereit. Diese würde sie brauchen, wenn sie gleich aus dem Bad kam, in ihre Schuhe schlüpfte, sich den Mantel überwarf und ins Auto stieg.

Mit einem scharfen Blick auf ihre Armbanduhr erwachte sie aus ihren Tagträumen und flüchtete in den Flur. Sie musste sich beeilen, wenn sie ihn rechtzeitig erwischen wollte. Er wusste nicht um ihre Pläne, ihn persönlich am Flughafen zu empfangen, deshalb wollte sie früh dort sein. Zum Glück musste sie nicht so weit fahren, aber diejenigen, die nur halbtags arbeiteten, würden die Straßen schon zu füllen wissen.

Mit gefühlten tausend Schmetterlingen im Bauch und dem Herzklopfen eines Kolibris machte sie sich auf den Weg. Noch ehe sie ihre Straße verließ, drehte sie die Lautstärke des Radios auf in der Hoffnung, ihren Herzschlag möglichst erfolgreich zu übertönen.

Sie versuchte sich abzulenken, indem sie nach Sendern suchte, die gerade ein Lied spielten, dessen Text sie kannte und das sie lauthals mehr oder weniger richtig mitsingen konnte. Es war ihr völlig egal, was die Autofahrer von ihr hielten, die an der Ampel neben ihr standen.

Olivia war aufgeregt, sie war nervös, aber glücklich. Sie würde Marco wiedersehen. Nach vier Monaten der Träume und der Sehnsucht. Würde seine schönen Augen sehen, sein liebevolles Gesicht, seinen tollen Körper, an den sie in so vielen Nächten gedacht hatte und sich wünschte, sie könnte ihn an ihrer eigenen Haut spüren. In solchen Nächten schlich sich wieder ein wohliges Gefühl zu ihr unter die dünne Bettdecke.

Dann schloss sie die Augen, roch seinen Duft, spürte seine zarten Küsse auf ihren Lippen, ließ in Gedanken seine Hände über ihren gesamten Körper gleiten, fühlte seine weiche Haut und seine flinken Finger, die jeden Zentimeter ihres Körpers mit einer Gänsehaut bedeckten, bis sie zu einer ganz bestimmten Stelle kamen, ehe sie vollends unter ihm versank…

Ein Hupen riss sie jäh aus ihren Gedanken. Da hatte sie doch an der Ampel tatsächlich das Singen vergessen und war in ihren Erinnerungen ertrunken. Schnell trat sie aufs Gaspedal und bemühte sich um einen großen Vorsprung zum Hintermann, der – im Gegensatz zu ihr selbst – sicherlich nicht sonderlich erfreut war über ihre gewagten Gedanken mitten am Tag.

Aber das waren nicht die einzigen Gedanken, die sich mit ihr in ihrem Wagen befanden. Wie würde er reagieren, wenn er sie sah, wo er doch nicht mit ihrer Anwesenheit am Flughafen rechnete? Sein Brief, der dem Päckchen beigefügt war, hatte sehr vielversprechend geklungen. Er hatte ihr sehr wohl zu verstehen gegeben, dass sie ihm wichtig war, dass er sie nicht vergessen könne und sie hier in England gerne wiedersehen wollte. Aber waren vier Monate nicht eine lange Zeit? Was, wenn er jemand Neues kennengelernt hatte oder einfach nur kein Interesse mehr an ihr hatte? Sie selbst konnte mit Sicherheit sagen, dass sie noch immer dasselbe für ihn empfand wie vier Monate zuvor. Für sie hatte sich nichts geändert, aber Frauen tickten oftmals leider etwas anders als Männer und was die italienische Mentalität betraf, kannte sie sich auch nicht sonderlich gut aus…

Unbehagen machte sich breit und vermischte sich mit einer kleinen Portion Angst. Unruhig rutschte sie auf ihrem Sitz hin und her, während sie nach einem geeigneten Parkplatz Ausschau hielt, der das Einparken für sie als Frau möglich machte, ohne große Kunststücke vollführen zu müssen.

Nachdem sie etwa fünf Mal im Kreis gefahren war und ihr Fahrzeug endlich abgestellt hatte, nachdem sie bemerkte, dass die Parklücke ja gar nicht so schmal war, wie sie anfangs gedacht hatte, schnappte sie sich die Kopie des Tickets mit der Ankunftszeit und eilte in die große Halle. Im Hauptgebäude von Terminal 5 schaute sie sich in alle Richtungen um, und noch während sie ihren Blick über die unzähligen Menschen schweifen ließ, sank ihre Zuversicht zusehends. Wie sollte sie ihn in diesem Gewimmel finden? Seine Maschine musste jeden Moment landen, aber selbst nahe der Gepäckausgabe hatte sie die Befürchtung, ihn zu verpassen.

Das Beste, das ihr einfiel, war, sich in der Nähe des Haupteingangs zu platzieren, ihre Gedanken an die vielen heißen Nächte in Kalabrien zu vergessen und stattdessen nach Marcos angezogenem Körper Ausschau zu halten. Sie hoffte, dass er angemessen gekleidet war, hier in England war es mitten im Oktober schon so kalt geworden, dass zumindest ein dicker Pullover ein absolutes Muss war.

Sie stand an der Tür, sah hunderte von Menschen, aber nur nicht den, den sie sehen wollte. Sie drehte sich nach links, drehte sich nach rechts, aber sie konnte ihn nirgends entdecken. War er womöglich gar nicht gekommen? Hatte er es sich anders überlegt, nachdem er das Interesse an ihr verloren hatte?

Plötzlich tippte ihr jemand sachte auf die linke Schulter. Erschrocken blickte sie auf den soeben berührten Körperteil und sah im Augenwinkel eine dunkelblaue, dünne Jacke, links und rechts je ein starker Arm mit Händen, die sie unter tausenden wiedererkannt hätte. Schnell ließ sie ihren Blick nach oben wandern und sah das Leuchten, das ihr in so vielen Nächten den Weg gewiesen hatte.

Er hatte sie gefunden. Unter all den Menschen.

Stumm sahen sie einander an, brachten scheinbar kein Wort über die Lippen. Stattdessen war dort ein beiderseitiges aufrichtiges Lächeln zu finden, das Freude und Erleichterung zugleich spiegelte und ebenso viele Fragen stellte, wie es Antworten gab.

Nachdem Olivia sich versichert hatte, dass es kein Traum gewesen war, löste sich ihre angespannte Körperhaltung auf und verwandelte sich in eine herzliche und lange Umarmung.

Marco erwiderte diese Geste und drückte sie fest an sich.

Oh, wie gut er duftete… Es war nichts Bestimmtes, nichts, das sie hätte benennen können, und doch benebelte es ihre Sinne. Augenblicklich fand sie sich am Strand nahe der Wellen wieder, dort, wo alles angefangen hatte, sah, wie er sich über sie beugte und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, nachdem ihr Kreislauf ihr beim Schwimmen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Auch Marco dachte an den gemeinsamen Sommer zurück. Der Moment, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war, die gemeinsamen Abende an der Strandpromenade, der erste Kuss, die erste Berührung, die erste Nacht im Schutz der Felsenwand… Noch immer konnte er den Sand unter seiner Haut spüren, der ihrer beiden Spuren mithilfe der salzigen Wellen sicher längst in den Ozean gespült hatte.

Desweiteren konnte er noch etwas anderes spüren, viel zu deutlich, wenn er bedachte, dass sich zahlreiche Menschen mit ihm in der gleichen Halle befanden. Zudem hoffte er, dass seine Jeans und Olivias Mantel dick genug waren um zu verhindern, dass sie spürte, wie sehr er sich über ihr Wiedersehen freute.

Endlich fand Olivia ihre Sprache wieder. "Schön, dass du da bist. Ich freue mich so, dich zu sehen." Der Druck um ihren Körper verstärkte sich, was sie als gutesd Zeichen deutete. "Ich freue mich, hier zu sein."

Er atmete tief ein und wieder aus, ehe er das aussprach, was ohnehin irgendwann ausgesprochen werden musste.

"Ich hatte schon befürchtet, du würdest mich nicht sehen wollen, nach allem, was war…" Etwas nervös wartete er ihre Antwort ab und wurde dabei tatsächlich ein wenig auf die Folter gespannt.

"Ach, was. Ich freue mich wirklich sehr über deinen Besuch." Olivia löste sich langsam aus seiner Umarmung, um ihm endlich ganz bewusst in die Augen sehen zu können. "Ich dachte schon, du würdest nicht kommen. Dass du es dir anders überlegt oder du eine neue Frau kennengelernt hättest."

Marco schmunzelte und gab ihr einen festen Kuss auf die Stirn, als würde er ihr verdeutlichen wollen, was für ein törichtes Mädchen sie doch war.

"Ich hatte gar keine Möglichkeit, an andere Frauen zu denken. Die einzige Frau in meinen Gedanken und meinem Herzen warst du, auch über all die Monate hinweg. Außerdem war ich viel zu sehr mit meinen Ängsten und Sorgen beschäftigt."

Olivia wurde hellhörig. "Ängste?" Marco nickte und zog die Mundwinkel wieder ein Stück gen Himmel. "Ich hatte tatsächlich Angst, den Urlaub hier in England alleine verbringen zu müssen. Du weißt gar nicht, wie leid mir das alles tut. Ich wünschte, Fabrizio wäre dir nie über den Weg gelaufen."

Olivia, die nun die Rolle mit Marco getauscht hatte und dieses Mal die Einheimische war, nickte verständnisvoll. "Aber es ist nun mal passiert. Und ich hätte ja auch etwas besser aufpassen können. Dann hätte ich die Unterschiede sicher deutlicher wahrgenommen. Aber ich war so besessen von dir, von deinem Körper und deiner liebevollen Art, dass ich scheinbar blind war…"

Olivia stockte als sie erkannte, wovon sie gerade sprach. Er war gerade erst angekommen, und schon hatte sie nur das Eine im Kopf.

Marco beruhigte ihr schlechtes Gewissen mit einem sanften und innigen Kuss, von dem sie sich wünsche, er würde niemals enden. Nach zahlreichen, weiteren Küssen, die immer fordernder und leidenschaftlicher wurden, löste sie sich endlich von ihm. Lange hielt sie es nicht mehr aus, sie konnte es deutlich spüren. Und wenn ihre Wahrnehmung sie nicht täuschte, musste es Marco ähnlich gehen.

"Komm, wir bringen erst mal dein Gepäck zur Pension." Marco schnappte sich seinen Koffer und zog ihn hinter sich her, während er Olivia bis zu ihrem Auto folgte.

Er betrachtete ihre Rückseite, schmunzelte bei dem Gedanken, was ihm möglicherweise bevorstand und fragte: "Nur das Gepäck?"

Frech grinsend blickte sie hinter sich, sah ihm direkt in die Augen und zuckte lediglich mit den Schultern.


Ti amo - Crimson Tide

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