Читать книгу Die Jahre - Вирджиния Вулф, Virginia Woolf - Страница 4

1880

Оглавление

Es war ein launischer Frühling. Unaufhörlich wechselnd, sandte das Wetter Wolken von Graublau und Violett über die Erde. Die Landwirte machten besorgte Gesichter, wenn sie ihre Felder ansahen; die Leute in London öffneten ihre Schirme, sahen zum Himmel auf und schlossen sie wieder. Doch im April war solches Wetter zu erwarten. Hunderte von Verkäufern und Verkäuferinnen bei Whiteley und in den Army & Navy Stores erlaubten sich diese Bemerkung, wenn sie adrett verschnürte Päckchen Damen in üppig berüschten Kleidern über den Ladentisch reichten. Endlose Züge von Kauflustigen im Westend, von Geschäftsleuten in der City fluteten auf den Gehsteigen hin und her, wie unaufhörlich wandernde Karawanen – so schien es denen, die aus irgendeinem Grund einen Augenblick stehnblieben, etwa, um einen Brief einzuwerfen, oder an einem Klubfenster in Piccadilly. Der Strom von Landauern, Viktorias und Hansoms versiegte nie; denn die Season nahm ihren Anfang. In ruhigeren Straßen verzapften Musikanten ihr dünnes, meist schwermütiges Gedudel, das hier in den Bäumen des Hyde Park, dort des St. James’s Park im Gezwitscher der Spatzen und den jähen Ausbrüchen der verliebten aber oft pausierenden Drossel sein Echo oder seine Parodie fand. In den Wipfeln der Gartenanlagen auf den Squares trippelten die Tauben hin und her, ließen ein Zweiglein oder zwei fallen und gurrten immer wieder ihr stets unterbrochenes Schlummerlied. Durch die Parktore beim Marble Arch und beim Wellingtonpalais drängten sich nachmittags Damen in bunten Kleidern mit dem neumodischen Cul-de-Paris und Herren im Gehrock, eine Nelke im Knopfloch, den Spazierstock in der Hand. Hier kam die Gemahlin des Prinzen von Wales, und wo sie vorbeifuhr, wurden Hüte gelüpft. In den Souterrains der langen Avenuen in den Wohnvierteln trafen Stubenmädchen in Häubchen und Schürze die Vorbereitungen zum Tee. Umwegig aus der Tiefe hinaufgetragen, wurde die silberne Teekanne auf den Tisch gestellt, und mit Händen, welche die offenen Wunden der Elendsquartiere von Bermondsey und Hoxton gestillt hatten, taten junge Mädchen und alte Jungfern sorgfältig abgemessene ein, zwei, drei, vier Löffelvoll Tee hinein. Sobald die Sonne unterging, öffneten sich tausende kleine Gasflammen, den Augen von Pfauenfedern gleichend, in ihren Glaskäfigen; dennoch blieben lange Strecken auf den Gehsteigen dunkel. Das vermischte Licht der Laternen und der untergehenden Sonne spiegelte sich in dem stillen Wasser des »Rundteichs« und der »Serpentine«. Außer Haus Speisende, die in Hansoms über die Brücke trabten, betrachteten sekundenlang den reizenden Ausblick. Allmählich stieg der Mond hoch, und seine blanke Münze, obgleich bisweilen von Wolkenwischen verdeckt, leuchtete heiter oder streng oder vielleicht völlig gleichgültig. Langsam kreisend, wiedie Strahlen eines Scheinwerfers, glitten die Tage, die Wochen, die Jahre, eins nach dem andern, über den Himmel.

Oberst Abel Pargiter saß nach dem Lunch in seinem Klub und plauderte. Da seine Gefährten in den Lederfauteuils Männer seines Schlags waren, Männer, die Offiziere oder Staatsbeamte gewesen und nun im Ruhestand waren, ließen sie mit alten Witzen und Anekdoten erst ihre Vergangenheit in Indien, Afrika, Ägypten wieder aufleben und kamen dann in ganz natürlichem Übergang auf die Gegenwart. Es handelte sich um irgendeine Ernennung, um eine mögliche Ernennung.

Plötzlich neigte sich der jüngste und flotteste der drei vor. Gestern beim Lunch mit ... Hier senkte der Sprechende die Stimme. Die andern beugten sich zu ihm; eine kurze Handbewegung Oberst Pargiters sandte den Diener weg, welcher die Kaffeetassen abräumte. Die drei schütter behaarten und angegrauten Köpfe blieben einige Minuten nahe beieinander. Dann warf sich Oberst Abel im Lehnstuhl zurück. Der sonderbare Schimmer, der in die Augen aller drei gekommen war, als Major Elkin seine Geschichte begann, war aus Oberst Pargiters Gesicht völlig verschwunden. Er saß und starrte vor sich hin, mit seinen hellblauen Augen, die ein wenig zusammengekniffen waren, als sähen sie noch immer in den Glast des Ostens, und an den Winkeln ein wenig umfältelt, als wäre noch immer Staub in ihnen. Ein Gedanke war ihm gekommen, der, was die andern sagten, für ihn uninteressant machte, sogar unangenehm. Er erhob sich und blickte durchs Fenster auf Piccadilly. Die Zigarre in der Hand, sah er hinab auf die Oberdecke der Omnibusse, auf die Hansoms, die Visavis, die Lieferwagen und Landauer. Ihn ging das alles nichts an, schien seine Haltung zu sagen; mit dieser Sache hatte er nichts mehr zu tun. Sein rotwangiges, männlich hübsches Gesicht verdüsterte sich, als er so dort stand und hinaussah. Plötzlich fiel ihm etwas ein. Das mußte er sie fragen. Er wandte sich um; aber seine Freunde saßen nicht mehr da. Die kleine Gruppe hatte sich aufgelöst. Elkin eilte schon durch die Tür; Brand sprach dort drüben mit einem andern Herrn. Oberst Pargiter verschluckte, was er vielleicht gesagt hätte, und wandte sich wieder dem Fenster zu, aus dem man auf Piccadilly sah. JederMensch auf der menschenerfüllten Straße schien irgendein Ziel zu haben. Alle eilten, um irgendeine Verabredung einzuhalten. Sogar die Damen in den Visavis und Broughams, die da vorbeitrabten, hatten irgend etwas vor. Alle Welt kam nach London zurück, richtete sich auf die Season ein. Für ihn aber gäbe es keine Season; für ihn gab es nichts zu tun. Seine Frau lag im Sterben; doch sie starb nicht. Heute ging’s ihr besser; morgen ginge es ihr wieder schlechter; eine zweite Pflegerin war aufgenommen; und so ging es fort. Er ergriff eine Zeitung und blätterte sie durch. Er besah ein Bild der Westseite des Kölner Doms. Dann warf er die Zeitung unter die andern zurück. Früher oder später – das war sein Euphemismus für die Zeit, die nach dem Tod seiner Frau käme, – würde er von London wegziehn, dachte er, und auf dem Land leben. Aber da war das Haus; da waren die Kinder; und da war auch ... Seine Miene veränderte sich; sie wurde weniger unzufrieden; aber auch ein wenig verstohlen und unruhig.

Irgendwohin konnte er schließlich doch gehn. Während sie hier schwatzten, hatte er die ganze Zeit diesen Hintergedanken gehabt. Als er sich herumwandte und sah, daß die andern nicht mehr da waren, war das der Balsam gewesen, den er auf seine Wunde tat. Er wollte Mira besuchen gehn; Mira wenigstens würde sich freuen, ihn zu sehn. Und so wandte er sich, als er den Klub verließ, nicht nach Osten, wohin die beschäftigten Männer gingen, und auch nicht nach Westen, wo, in der Abercorn Terrace, sein Haus lag, sondern ging die festen Wege durch den Green Park entlang gegen Westminster. Das Gras war sehr grün; die Blätter begannen zu sprießen; kleine grüne Klauen, wie Vogelkrallen, kamen aus den Zweigen hervor; alles hatte etwas Funkelndes, Neubelebtes. Die Luft roch rein und scharf. Oberst Pargiter aber sah weder das Gras noch die Bäume. In seinem bis oben zugeknöpften Mantel marschierte er durch den Park und blickte geradeaus vor sich hin. Doch als er nach Westminster kam, blieb er stehn. Diesen Teil der Sache mochte er gar nicht. Jedesmal, wenn er sich der kleinen Gasse näherte, die am Fuß der gewaltigen Steinmasse der Abtei lag, dieser Gasse schäbiger kleiner Häuser mit gelblichen Vorhängen und Zu-Vermieten-Karten in den Fenstern, der Gasse, wo stets der Mann mit dem heißen Gebäck seine Glocke zu läuten schien, wo Kinder kreischten und über die weißen Kreidezeichen auf dem Gehsteig einund aushüpften, hielt er inne, blickte nach rechts, blickte nach links und ging dann sehr rasch auf Nummer dreißig zu und zog die Glocke. Er starrte geradeaus vor sich auf die Tür, während er, den Kopf etwas gesenkt, wartete. Er wollte nicht gesehen werden, wie er hier auf diesen Stufen stand. Er wartete nicht gern auf Einlaß. Er mochte es nicht, wenn ihm Mrs. Sims öffnete. Immer roch es in diesem Haus; immer hingen Wäschestücke an einer Leine im Hintergarten. Er ging die Treppe hinauf, verdrossen und schwerfällig, und betrat das Wohnzimmer.

Niemand war da; er war zu früh gekommen. Er sah sich mit Widerwillen in dem Raum um. Es stand zuviel Schnickschnack umher. Er fühlte sich nicht hierher gehörig und überhaupt viel zu groß, wie er so, sehr aufrecht, vor dem drapierten Kamin stand, einem Feuerschirm gegenüber, auf den ein Eisvogel gemalt war, der sich auf einige Binsen niederlassen wollte. Schritte eilten in dem Stockwerk über ihm hin und her. War jemand bei ihr? fragte er sich, während er lauschte. Kinder johlten draußen auf der Straße. Das Ganze hatte etwas Jämmerliches, etwas Gemeines, Verstohlenes. Früher oder später, sagte er sich ... Aber die Tür ging auf, und seine Mätresse, Mira, kam herein.

»Oh, Piffpaff! Liebster!« rief sie. Ihr Haar war sehr unordentlich; sie sah ein wenig schluderig aus; aber sie war viel, viel jünger als er und freute sich wirklich, ihn zu sehn, dachte er. Der kleine Hund sprang an ihr hinauf.

»Lulu, Lulu«, rief sie, packte das Hündchen mit der einen Hand, während sie mit der andern ihr Haar betastete, »komm und laß dich von Onkel Piffpaff ansehn!«

Der Oberst setzte sich in den knarrenden Korbstuhl. Sie hob den Hund auf seine Knie. Da sei ein roter Fleck – vielleicht ein Ekzem – hinter dem einen Ohr. Der Oberst setzte die Brille auf und beugte sich hinab, um sich das Ohr des Hundes zu besehn. Mira küßte ihn, wo der Kragen aufhörte, auf den Nacken. Dabei fiel ihm die Brille hinunter. Mira erhaschte sie und setzte sie dem Hund auf. Der alte Knabe war heute nicht bei Laune, das spürte sie. In dieser geheimnisvollen Welt der Klubs und des Familienlebens, von der er nie zu ihr sprach, war etwas nicht in Ordnung. Er war gekommen, bevor sie sich frisiert hatte. Und das war lästig. Aber es war ihr Pflicht, ihn zu zerstreuen. Also flatterte sie – ihre zwar stärker werdende Gestalt erlaubte ihr noch immer, zwischen Tisch und Stuhl durchzugleiten, – hierhin und dorthin; entfernte den Kaminschirm und zündete, bevor er sie abhalten konnte, das kärgliche Logierhausfeuer an. Dann hockte sie sich auf die Armlehne seines Sessels.

»O Mira«, sagte sie, sich in dem Wandspiegel betrachtend und die Haarnadeln umsteckend, »was für ein schrecklich unordentliches Ding du bist!« Sie löste eine lange Haarflechte und ließ sie über die Schulter fallen. Es war noch immer schönes, goldglänzendes Haar, obgleich sie sich den Vierzig näherte und, wenn man die Wahrheit wüßte, eine achtjährige Tochter bei Freunden in Bedford in Pflege hatte. Das Haar begann von selbst zu fallen, durch sein eigenes Gewicht, und Piflpaff, der das sah, neigte sich vor und küßte es. Eine Drehorgel hatte weiter unten in dem Gäßchen zu spielen begonnen, und die Kinder rasten alle in dieser Richtung davon und hinterließen eine jähe Stille. Der Oberst begann Miras Nacken zu streicheln. Er begann, mit der Hand, an der er zwei Finger verloren hatte, tiefer unten herumzutasten, wo der Nacken in die Schultern überging. Mira ließ sich auf den Fußboden gleiten und lehnte den Rücken an sein Knie.

Dann knarrten die Treppenstufen; jemand klopfte leise, wie um auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Mira steckte sogleich ihr Haar auf, erhob sich und schloß die Tür hinter sich.

Der Oberst begann auf seine methodische Art abermals das Ohr des Hundes zu untersuchen. War es ein Ekzem? Oder war es kein Ekzem? Er blickte auf den roten Fleck, stellte dann den Hund in den Korb auf die Füße und wartete. Dieses anhaltende Gewisper draußen auf dem Treppenabsatz mißfiel ihm. Endlich kam Mira zurück. Sie sah besorgt aus; und wenn sie besorgt aussah, sah sie alt aus. Sie begann unter Kissen und Überzügen umherzusuchen. Sie brauche ihr Handtäschchen, sagte sie; wo habe sie es nur hingetan? In diesem Durcheinander von Sachen, dachte der Oberst, mochte es überall sein. Es war ein mageres, nach Armut aussehendes Handtäschchen, das sich dann endlich unter den Kissen in der Sofaecke fand. Sie stürzte es. Taschentücher, zerknüllte Stückchen Papier, Silber- und Kupfermünzen fielen heraus, als sie es schüttelte. Aber zwanzig Schilling in Gold hätten darunter sein sollen, sagte sie, – ein Sovereign. »Ich hab’ ganz bestimmt gestern einen gehabt«, murmelte sie.

»Wieviel macht es?« fragte der Oberst.

Es mache ein Pfund – nein, ein Pfund, acht Schilling und sechs Pence, sagte sie und murmelte etwas von der Wäscherin. Der Oberst ließ zwei Sovereigns aus seinem kleinen goldnen Etui gleiten und reichte sie ihr. Sie nahm sie, und dann war wieder Geflüster auf dem Treppenabsatz zu hören.

»Wäscherin ...?« dachte der Oberst, in dem Zimmer umherblickend. Es war ein unsauberes kleines Loch von einem Zimmer; aber da er um so viel älter war als sie, ging es nicht an, die Wäscherechnung in Frage zu ziehn. Und hier war sie wieder. Sie flatterte durchs Zimmer und setzte sich auf den Boden und lehnte den Kopf an sein Knie. Das mißgünstige Feuer, das nur schwach geflackert hatte, war fast erloschen. »Laß es sein«, sagte er ungeduldig, als sie das Schüreisen ergriff. »Laß es ausgehn!« Sie legte das Schüreisen hin. Der Hund schnarchte; die Drehorgel leierte. Seine Hand begann ihre Wanderung, den Nacken hinauf und hinunter, ein und aus in dem langen, dichten Haar. In diesem kleinen Zimmer, so nahe den Häusern drüben, kam die Dämmerung schnell; und die Vorhänge waren halb geschlossen. Er zog Mira an sich; er küßte sie auf den Nacken; und dann begann die Hand, an der die zwei Finger fehlten, tiefer unten herumzutasten, wo der Hals in die Schultern überging.

Ein plötzlicher Regenschauer prasselte auf den Gehsteig, und die Kinder, die in ihren Kreidekäfigen ein- und ausgehüpft waren, rannten nach Hause. Der ältliche Straßensänger, der, auf dem Randstein entlangschwankend, eine Fischermütze keck auf den Hinterkopf zurückgeschoben, geschmettert hatte: »Drückt dich Angst und Sorge nieder – « schlug den Rockkragen hoch und suchte Zuflucht im Eingang eines Wirtshauses, wo er mit der Tröstung endete: » – morgen scheint die Sonne wieder«. Und dann schien die Sonne wieder und trocknete das Pflaster.

»Es kocht noch nicht«, sagte Milly Pargiter, auf den Teekessel blickend. Sie saß an dem runden Tisch in dem vordem Wohnzimmer des Hauses in der Abercorn Terrace. »Noch lange nicht«, wiederholte sie. Der Kessel war ein altmodisches Ding aus Messing mit einem gravierten Rosenmuster, das fast ganz verwischt war. Ein schwaches kleines Flämmchen flackerte darunter. AuchMillys Schwester Delia, die neben ihr in einen Fauteuil zurückgelehnt lag, beobachtete es. »Muß das Wasser kochen?« fragte sie nach einem Augenblick müßig, als erwartete sie keine Antwort, und Milly antwortete auch nicht. Sie saßen schweigend und beobachteten das Flämmchen über dem Büschel gelben Dochts. Auf dem Tisch standen viele Tassen und Teller, als würden noch Leute erwartet; aber für den Augenblick waren sie allein. Das Zimmer war vollerMöbel. Ihnen gegenüber stand eine holländische Vitrine mit blau gemustertem Porzellan auf den Borden; die Sonne des Aprilnachmittags malte hier und da einen hellen Fleck auf die Scheiben. Über dem Kamin lächelte das Porträt einer rothaarigen jungen Frau in weißem Musselin, einen Korb mit Blumen im Schoß, auf die beiden herab.

Milly zog eine Haarnadel aus ihrer Frisur und begann den Docht zu zerfransen, um die Flamme zu vergrößern.

»Aber das hilft doch nicht«, sagte Delia gereizt, während sie ihr zusah. Sie wurde ungeduldig. Alles schien so unerträglich viel Zeit zu brauchen. Dann kam Crosby herein und fragte, ob sie den Kessel in der Küche zum Kochen bringen solle, und Milly sagte nein. Wie könnte ich diesem Getändel und Gefummel nur ein Ende machen, fragte sich Delia, wäh rend sie mit einem Messer auf den Tisch klopfte und auf das schwache Flämmchen sah, das ihre Schwester mit einer Haarnadel weiter hervorzulocken versuchte. Eine Mückenstimme begann unter dem Kessel zu jammern; aber da ging die Tür abermals auf, und ein kleines Mädchen in einem gestärkten rosa Kleid stürmte herein.

»Ich finde, Nannie hätte dir eine reine Schürze umbinden können«, sagte Milly streng, die Art einer Erwachsenen nachahmend. Auf der Latzschürze der Kleinen war ein grüner Schmierfleck, als wäre sie auf Bäume geklettert.

»Sie ist noch nicht aus der Wäsche gekommen«, sagte Rose, das kleine Mädchen, mürrisch. Sie blickte auf den Tisch, aber dort sah es noch gar nicht nach Tee aus.

Milly zupfte abermals den Docht mit ihrer Haarnadel. Delia lehnte sich zurück und blickte über die Schulter aus dem Fenster. Von wo sie saß, konnte sie die Stufen vor der Haustür sehen.

»Also da ist Martin«, sagte sie düster. Die Haustür schlug zu; Bücher wurden auf den Tisch in der Halle hingeklatscht, und Martin, ein Junge von zwölf Jahren, trat ein. Er hatte das rötliche Haar der Frau auf dem Porträt, aber seins war zerzaust.

»Geh und mach dich ordentlich!« sagte Delia streng. »Du hast reichlich Zeit«, fügte sie hinzu. »Das Teewasser kocht noch nicht.«

Alle blickten sie auf den Kessel. Der ließ noch immer sein dünnes, melancholisches Summen ertönen, während das Flämmchen unter der schwingenden Messingwölbung flakkerte.

»Dieser verfluchte Kessel!« sagte Martin und wandte sich scharf ab.

»Mama wäre es nicht recht, daß du solche Worte gebrauchst«, verwies ihn Milly, als ahmte sie eine ältere Person nach; denn die Mutter war schon so lange krank, daß beide Schwestern es sich angewöhnt hatten, den Kindern gegenüber ihre Art anzunehmen. Die Tür öffnete sich abermals.

»Das Tablett, Miss ... « sagte Crosby, während sie die Tür mit dem Fuß am Zufallen hinderte. Sie hielt ein Betttischchen in den Händen.

»Das Tablett?« sagteMilly. »Ja, wer wird das Tablett hinauftragen?« Wieder ahmte sie die Art einer Erwachsenen nach, die taktvoll mit Kindern umgehn will. »Nicht du, Rose. Es ist zu schwer. Laß Martin es tragen, und du kannst mit ihm gehn. Aber bleibt nicht lange. Erzählt Mama nur, was ihr heute getan habt; und bis dahin wird das Wasser ... das Wasser ... «

Sie fuhr abermals mit der Haarnadel in den Docht. Ein schwaches Wölkchen von Dampf kam aus dem Schwanenhalsschnabel; erst in Abständen, dann wurde es allmählich immer stärker, bis, grade als sie Schritte auf der Treppe hörten, ein mächtiger Dampfstrahl hervorkam.

»Es kocht!« rief Milly. »Es kocht!«

Sie aßen schweigend. Die Sonne, nach den wechselnden Lichtern auf dem Glas der holländischen Vitrine zu schließen, schien sich zu verstecken und wieder hervorzukommen. Manchmal leuchtete eine Schale tiefblau; dann wurde sie fahl. Lichter ruhten verstohlen auf den Möbeln im andern Zimmer, das auf den Garten ging. Hier war ein Muster; hier war eine kahle Stelle. Irgendwo ist Schönheit, dachte Delia, irgendwo ist Freiheit und irgendwo, dachte sie, ist er – trägt seine weiße Blume im Knopfloch ... Aber in der Halle scharrte ein Stock.

»Das ist Papa!« rief Milly warnend.

Sogleich schlängelte sich Martin aus dem Armsessel seines Vaters; Delia setzte sich auf. Milly zog eilig eine sehr große, mit Rosen gesprenkelte Teetasse heran, die nicht zu den übrigen paßte.

Der Oberst stand in der Tür und überblickte beinahe grimmig die Gruppe. Seine kleinen blauen Augen sahn sie alle an, wie um etwas Tadelnswertes an ihnen zu finden; im Augenblick war nichts Besonderes an ihnen zu tadeln; aber er war schlecht gelaunt; sie wußten sogleich, noch bevor er sprach, daß er schlecht gelaunt war.

»Kleiner Schmierfink«, sagte er, Rose ins Ohr zwickend, während er an ihr vorbeiging. Sie deckte schnell die Hand über den Fleck auf ihrer Schürze.

»Alles in Ordnung mit Mama?« fragte er und ließ sich mit seiner ganzen Schwere in den großen Armsessel sinken. Er verabscheute Tee; aber er trank stets ein wenig aus der riesigen alten Tasse, die seinem Vater gehört hatte. Er hob sie und nippte gewohnheitsmäßig.

»Und was habt ihr alle getrieben?« fragte er. Er sah sie alle der Reihe nach an, mit dem argwöhnischen doch schlauen Blick, der heiter sein konnte, jetzt aber verdrossen war.

»Delia hat ihre Musikstunde gehabt, und ich war bei Whiteley –« begann Milly, fast als wäre sie ein Kind, das eine Lektion aufsagt.

»Geld ausgegeben, he?« sagte ihr Vater scharf aber nicht unfreundlich.

»Nein, Papa. Ich hab’s dir ja schon gesagt. Es sind die falschen Leintücher geliefert – «

»Und du, Martin?« fragte Oberst Pargiter, die Antwort seiner Tochter unterbrechend. »Klassenletzter wie gewöhnlich?«

»Erster!« brüllte Martin, das Wort hervorstoßend, als hätte er es mit Mühe bis zu diesem Augenblick zurückgehalten.

»Hm – was du nicht sagst!« erwiderte sein Vater. Seine Verdüsterung hellte sich ein wenig auf. Er fuhr mit der Hand in die Hosentasche und brachte eine Handvoll Silbergeld zum Vorschein. Seine Kinder beobachteten ihn, während er versuchte, ein Sechspencestück aus allen den großem Silbermünzen hervorzusuchen. Er hatte zwei Finger der rechten Hand im Indischen Aufstand verloren, und die Muskeln waren geschrumpft, so daß die Hand der Klaue eines alten Vogels glich. Er schupfte und scharrte; aber da er selbst die Verstümmelung stets unbeachtet ließ, wagten seine Kinder nicht, ihm zu helfen. Die glänzenden Fingerstümpfe faszinierten Rose.

»Hier, Martin«, sagte er endlich und reichte das Sechspencestück seinem Sohn. Dann nippte er wieder vom Tee und wischte sich den Schnurrbart.

»Wo ist Eleanor?« fragte er endlich, wie um das Schweigen zu brechen.

»Es ist ihr Mietertag«, erinnerte ihn Milly.

»Oh, ihr Mietertag«, murmelte der Oberst. Er rührte den Zucker in der Tasse rundum, als wollte er ihn zertrümmern.

»Die lieben altbekannten Levys«, sagte Delia versuchsweise. Sie war seine Lieblingstochter; aber bei seiner gegenwärtigen Stimmung war sie ungewiß, wieviel sie wagen könnte.

Er sagte nichts.

»Bertie Levy hat sechs Zehen an dem einen Fuß«, piepste Rose plötzlich. Die andern lachten. Aber der Oberst unterbrach sie scharf.

»Du beeil dich und mach, daß du zu deinen Hausaufgaben kommst«, sagte er mit einem Blick auf Martin, der noch immer kaute.

»Laß ihn doch aufessen«, sagte Milly, wiederum die Art einer Älteren nachahmend.

»Und die neue Pflegerin?« fragte der Oberst, auf die Tischkante trommelnd. »Ist sie gekommen?«

»Ja ... « begann Milly. Aber in der Halle entstand ein Geräusch, und Eleanor trat ein. Sehr zu ihrer aller Erleichterung; besonders Millys. Gott sei Dank, da ist Eleanor, dachte sie aufblickend, – die Besänftigerin, die Streitschlichterin, der Puffer zwischen ihr und den Spannungen und Zwistigkeiten des Familienlebens. Sie betete ihre Schwester an. Sie hätte sie eine Göttin genannt und sie mit einer Schönheit ausgestattet, die nicht die ihre war, mit Kleidern, die nicht die ihren waren, hätte Eleanor nicht einen Stoß kleiner marmorierter Büchlein und ein Paar schwarzer Handschuhe in der Hand getragen. Beschütze mich, dachte sie, ihr eine Teetasse reichend, die ich so ein mäuschenhaftes, unterdrücktes, untüchtiges kleines Ding bin, verglichen mit Delia, die immer alles für sich durchsetzt, während ich immer eins auf denMund kriege von Papa, der heute aus irgendeinem Grund brummig ist. Der Oberst lächelte Eleanor zu, und der goldrote Hund auf dem Kaminteppich sah auch auf und wedelte, als hätte er in ihr eins dieser zufriedenstellenden weiblichen Wesen erkannt, die einem einen Knochen geben und dann ihre Hände in Unschuld waschen. Sie war die älteste der Töchter, etwa zweiundzwanzig, keine Schönheit, aber von frischem Aussehen und, obgleich im Augenblick müde, von munterem Naturell.

»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte sie. »Ich bin aufgehalten worden. Und ich hab’ nicht erwartet–« Sie sah ihren Vater an.

»Ich bin früher gekommen, als ich dachte«, sagte er hastig. »Die Sitzung – « Er brach ab. Es hatte wieder Krach mit Mira gegeben.

»Und was machen deine Mieter, he?« fügte er hinzu.

»Oh, meine Mieter ... « wiederholte sie; aber Milly reichte ihr die zugedeckte Schüssel.

»Ich bin aufgehalten worden«, sagte Eleanor abermals und nahm sich einen der warmen kleinen Kuchen. Sie begann zu essen; die Atmosphäre heiterte sich auf.

»Jetzt erzähl du uns, Papa«, sagte Delia kühn – sie war seine Lieblingstochter – »was du selbst getrieben hast. Irgendwelche Abenteuer gehabt?«

Es war eine unglückselige Frage.

»Es gibt keine Abenteuer für einen alten Kracher wie mich«, sagte der Oberst mürrisch. Er zermalmte die Zuckerkörnchen an der Wandung seiner Teetasse. Dann schien er seine Brummigkeit zu bereuen; er überlegte einen Augenblick.

»Ich traf den alten Burke im Klub; er hat mich aufgefordert, eine von euch zum Dinner mitzubringen; Robin ist zurück, auf Urlaub«, sagte er.

Er trank seinen Tee aus. Einige Tropfen fielen auf sein Spitzbärtchen. Er zog ein großes Seidentaschentuch hervor und wischte sich ungeduldig das Kinn. Eleanor sah von ihrem niedrigen Sessel aus eine merkwürdige Miene erst auf Millys, dann auf Delias Gesicht. Sie hatte den Eindruck von Feindseligkeit zwischen den beiden. Aber sie sagte nichts. Sie aßen und tranken weiter, bis der Oberst wieder seine Tasse hob, sah, daß nichts mehr darin war, und sie mit einem kleinen Klirren fest niedersetzte. Die Zeremonie des Nachmittagstees war vorbei.

»So, mein Junge, nun verschwinde und mach dich über deine Hausaufgaben!« sagte er zu Martin.

Martin zog die Hand zurück, die nach einer der Schüsseln ausgestreckt war.

»Vorwärts!« sagte der Oberst im Befehlston. Martin stand auf und ging, wobei er die Hand zögernd über die Stühle und Tischchen gleiten ließ, wie um seinen Abgang hinauszuschieben. Er schloß die Tür ziemlich geräuschvoll hinter sich. Der Oberst erhob sich und stand hoch aufgerichtet, in seinem eng zugeknöpften Gehrock.

»Auch ich muß gehn«, sagte er. Aber er hielt einen Augenblick inne, als gäbe es nichts Besonderes, zu dem er zu gehn hatte. Er stand sehr aufrecht unter ihnen, als wollte er irgendeinen Befehl erteilen, vermöchte sich aber im Augenblick keines zu entsinnen, den er erteilen könnte. Dann entsann er sich.

»Ich wollte, eine von euch«, sagte er unparteiisch zu seinen Töchtern, »würde daran denken, an Edward zu schreiben ... Sagt ihm, er soll Mama einen Brief schreiben.«

»Ja«, sagte Eleanor.

Er ging auf die Tür zu. Aber wieder blieb er stehn.

»Und laßt es mich wissen, sobald Mama mich zu sprechen wünscht«, warf er hin. Dann hielt er inne und zwickte seine jüngste Tochter ins Ohrläppchen.

»Kleiner Schmierfink«, sagte er und wies auf den grünen Fleck auf ihrer Schürze. Sie bedeckte ihn mit der Hand. An der Tür blieb er abermals stehn.

»Vergeßt nicht«, sagte er, am Türknauf herumtastend, »vergeht nicht, an Edward zu schreiben.« Endlich hatte er den Türknauf gedreht und war gegangen.

Sie schwiegen alle. Eine gewisse Spannung lag in der Luft, so fühlte Eleanor. Sie griff nach einem der Büchlein, die sie mitgebracht hatte, und legte es geöffnet auf ihr Knie. Aber sie sah nicht hinein. Ihr Blick richtete sich fast geistesabwesend in das andre Zimmer. Die Bäume im Hintergarten begannen auszuschlagen; kleine Blättchen, kleine ohrenförmige Blättchen zeigten sich an den Sträuchern. Die Sonne schien mit Unterbrechungen; sie versteckte sich und kam wieder hervor, beleuchtete bald dies, bald –

»Eleanor«, unterbrach Rose ihre Gedanken. Sie hielt sich auf eine Art, die wunderlich der des Vaters glich.

»Eleanor!« wiederholte sie leise, denn ihre Schwester hatte es nicht beachtet.

»Ja?« sagte Eleanor und sah sie an.

»Ich möchte zu Lamley gehn«, sagte Rose. Sie war das Abbild ihres Vaters, wie sie so dastand, die Hände auf dem Rücken.

»Es ist zu spät, um zu Lamley zu gehn«, entgegnete Eleanor.

»Die schließen nicht vor sieben.«

»Dann bitte Martin, daß er mit dir geht«, sagte Eleanor.

Das kleine Mädchen schob sich langsam der Tür zu. Eleanor griff wieder nach ihren Haushaltungsbüchern.

»Aber du darfst nicht allein gehn, Rose; du darfst nicht allein gehn«, sagte sie, von ihnen auf blickend, als Rose die Tür erreichte. Rose nickte wortlos und verschwand.

Sie ging die Treppe hinauf. Vor dem Schlafzimmer ihrer Mutter blieb sie stehn und schnupperte den süßsäuerlichen Geruch, der um die Krüge, die Gläser, die zugedeckten Schalen zu hängen schien, die da auf dem Tisch neben der Tür standen. Noch eine Treppenflucht, und sie hielt vor dem Lernzimmer inne. Sie wollte nicht hineingehn, denn sie hatte mit Martin gestritten. Sie hatten zuerst wegen Erridge gestritten und wegen des Mikroskops und dann wegen des Schießens auf die Katzen von Miss Pym nebenan. Aber Eleanor hatte ihr befohlen, ihn zu bitten. Sie öffnete die Tür.

»Hallo, Martin –« begann sie.

Er saß am Tisch, ein Buch vor sich aufgestützt, und murmelte – vielleicht war es Griechisch, vielleicht war es Latein.

»Eleanor hat mir aufgetragen – « begann sie und merkte, wie gerötet seine Wangen waren und wie sich seine Hand um ein Stückchen Papier schloß, als wollte er es zu einer Kugel zusammenknüllen. »Ich soll dich bitten ... « begann sie abermals und straffte sich, den Rücken an die Tür gestemmt.

Eleanor lehnte sich im Sessel zurück. Die Sonne lag jetzt auf den Bäumen im Hintergarten. Die Knospen begannen zu schwellen. Freilich ließ das Frühlingslicht deutlicher sichtbar werden, wie abgenützt die Sesselpolsterungen waren. Der große Lehnstuhl hatte einen dunkeln Fleck, wo ihr Vater den Kopf anzulehnen pflegte, so gewahrte sie. Aber wieviele Stühle es hier gab – wie geräumig, wie luftig es hier war, nach diesem Schlafzimmer, wo die alte Mrs. Levy ... Doch Milly und Delia sprachen kein Wort. Wohl wegen der Abendgesellschaft, erinnerte sie sich. Welche von ihnen sollte gehn? Beide wollten sie hingehn. Sie wünschte, die Leute würden nicht sagen: »Bringen Sie eine von Ihren Töchtern mit.« Warum konnten sie nicht sagen: »Bringen Sie Eleanor mit« oder »Bringen Sie Milly mit« oder »Bringen Sie Delia mit«, statt sie alle zusammenzuwerfen? Dann gäbe es nichts zu entscheiden.

»Na«, sagte Delia unvermittelt, »ich werde ... «

Sie stand auf, als wollte sie gehn. Aber sie hielt inne. Dann schlenderte sie zum Fenster und sah auf die Straße hinaus. Die Häuser gegenüber hatten alle dieselben Vorgärtchen; dieselben Eingangsstufen; dieselben zwei Säulen vor der Haustür, mit dem Balkon darüber; denselben Runderker. Jetzt aber sank die Dämmerung, und sie sahn in dem gedämpften Licht geisterhaft und körperlos aus. Lampen wurden angezündet; eine leuchtete sanft in dem Salon gegenüber; dann wurden die Vorhänge vorgezogen, und das Zimmer war ausgelöscht. Delia stand und sah auf die Straße hinab. Eine Frau der untern Schichten schob einen Kinderwagen vor sich her; ein alter Mann tatterte dahin, die Hände auf dem Rücken. Dann war die Straße leer; es gab eine Pause. Aber ein Hansom kam bimmelnd die Straße herauf. Delias Anteilnahme wurde für einen Augenblick wach. Bliebe es vor ihrer Tür stehn oder nicht? Sie schaute angespannter. Dann aber, zu ihrem Bedauern, schnellte der Kutscher die Zügel, das Pferd stolperte weiter; der Wagen hielt vor dem zweitnächsten Haus.

»Jemand macht Besuch bei den Stapletons«, rief sie über die Schulter zurück, während sie den Musselinvorhang beiseite hielt. Milly kam und trat neben ihre Schwester, und zusammen beobachteten sie durch den Spalt, wie ein junger Mann mit Zylinder aus dem Wagen stieg. Er streckte die Hand hoch, um den Kutscher zu zahlen.

»Gebt acht, daß man euch nicht gucken sieht!« sagte Eleanor warnend. Der junge Mann eilte die Stufen hinauf ins Haus; die Tür schloß sich hinter ihm, und der Wagen fuhr weg.

Aber eine Weile standen die beidenMädchen noch am Fenster und sahn auf die Straße. Die Krokusse in den Vorgärten waren gelb und lila. Die Mandelbäume und Ligustersträucher hatten grüne Spitzchen. Ein jäher Windstoß fuhr durch die Straße, blies ein Stück Papier den Gehsteig entlang und einen kleinen Wirbel trocknen Staubs hinterdrein. Über den Dächern malte sich einer dieser roten, zuckenden Londoner Sonnenuntergänge, die Fenster nach Fenster golden brennen machen. Es war etwas Wildes in dem Frühlingsabend; sogar hier, in der Abercorn Terrace, wechselte das Licht von Gold zu Schwarz, von Schwarz zu Gold. Delia ließ den Vorhang fallen, wandte sich hemm und sagte, in die Mitte des Zimmers zurückkommend, plötzlich:

»O mein Gott!«

Eleanor, die wieder ihre Büchlein vorgenommen hatte, blickte gestört auf.

»Acht mal acht ... « sagte sie laut. »Wieviel sind acht mal acht?«

Mit dem Finger die Stelle auf der Seite bezeichnend, sah sie ihre Schwester an. Wie die so dastand, den Kopf zurückgeworfen und das Haar rötlich im Glühn des Sonnenuntergangs, sah sie einen Augenblick herausfordernd aus, ja sogar schön. Neben ihr wirkte Milly mausfarben und unscheinbar.

»Schau, Delia«, sagte Eleanor, ihr Büchlein zuklappend, »du brauchst doch nur zu warten ... « Sie meinte, vermochte es aber nicht auszusprechen, »bis Mama gestorben ist.«

»Nein, nein, nein«, sagte Delia und streckte die Arme. »Es ist hoffnungslos – « begann sie und unterbrach sich, denn Crosby war hereingekommen. Sie trug einTablett. Eins nach dem andern, mit einem auf die Nerven gehenden kleinen Klirren, räumte sie die Tassen, die Teller, die Messer, die Konfitürengläser, die Kuchenschüsseln und die Butterbrotkörbchen auf das Tablett. Dann ging sie, es vorsichtig vor sich balancierend, hinaus. Es entstand eine Pause. Abermals kam sie herein und faltete das Tischtuch und rückte die Tischchen. Abermals entstand eine Pause. Ein paar Augenblicke später war sie nochmals da und brachte zwei Lampen mit Seidenschirmen. Sie stellte eine ins Vorderzimmer, eine ins Hinterzimmer. Dann ging sie in ihren knarrenden billigen Schuhen zum Fenster und zog die Vorhänge vor. Sie glitten mit einem vertrauten Klappern die Messingstange entlang, und alsbald waren die Fenster verdeckt von dicken, wie gemeißelten Falten aus bordeauxrotem Plüsch. Als sie die Vorhänge in beiden Zimmern vorgezogen hatte, schien sich eine tiefe Stille auf den Raum zu senken. Die Welt draußen schien durch eine dicke Schicht völlig abgeschnitten zu sein. Weit weg in der nächsten Straße hörten sie die Stimme eines Hausierers leiern; die schweren Hufe von Lastwageripferden klopften langsam die Fahrbahn entlang. Einen Augenblick knarrten Räder auf dem Pflaster; dann erstarb das Geräusch, und die Stille war vollkommen.

Zwei gelbe Kreise von Licht fielen unter die Lampen. Eleanor zog ihren Stuhl unter die eine, neigte den Kopf und setzte den Teil ihrer Arbeit fort, den sie immer bis zuletzt Heß, weil sie ihn so gar nicht mochte, – das Zusammenzählen. Ihre Lippen bewegten sich, und ihr Bleistift machte kleine Punkte aufs Papier, während sie Achter und Sechser, Fünfer und Vierer zusammenzählte.

»So!« sagte sie endlich. »Das wäre getan. Jetzt werd’ ich zu Mama gehn und ein wenig bei ihr bleiben.«

Sie bückte sich, um ihre Handschuhe aufzuheben.

»Nein«, sagte Milly, ein Magazin, das sie geöffnet hatte, beiseite werfend, »ich werd’ gehn ... «

Delia tauchte plötzhch aus dem Hinterzimmer auf, wo sie sich herumgedrückt hatte.

»Ich hab’ gar nichts zu tun«, sagte sie kurz. »Ich werd’ gehn.«

Sie ging die Treppe hinauf, sehr langsam, Stufe nach Stufe. Als sie zu der Schlafzimmertür mit den Krügen und Gläsern auf dem Tischchen daneben kam, blieb sie stehn. Der süßsäuerliche Geruch von Krankheit machte ihr ein wenig übel. Sie vermochte nicht, sich zum Eintreten zu entschließen. Durch das kleine Fenster am Ende des Gangs konnte sie flamingofarbene Wolkenlocken auf einem blaßblauen Himmel liegen sehn. Nach der Dämmerung des Wohnzimmers waren ihre Augen geblendet. Es war, als hielte das Licht sie hier fest. Dann hörte sie Kinderstimmen im nächsten Stockwerk oben – Martin und Rose; sie stritten.

»Also laß es bleiben!« hörte sie Rose sagen. Dann schlug eine Tür zu. Sie lauschte, holte tief Atem, blickte abermals auf den feurigen Himmel und klopfte an die Schlafzimmertür.

Die Pflegerin erhob sich lautlos, legte den Finger an die Lippen und verließ das Zimmer. Mrs. Pargiter schlief. In einer Kissenschlucht liegend, die eine Hand unter der Wange, stöhnte Mrs. Pargiter leise, als wanderte sie in einer Welt, wo sich ihr sogar im Schlaf kleine Hindernisse in den Weg stellten. Ihr Gesicht war schlaff und plump; die Haut hatte braune Flecke; das einst rote Haar war jetzt weiß, nur daß seltsame gelbe Stellen darin waren, als wären manche Strähnen in das Dotter eines Eis getaucht worden. Von allen Ringen, bis auf den Ehering, entblößt, schienen schon ihre Finger anzudeuten, daß sie die Geheimwelt des Krankseins betreten hatte. Aber sie sah nicht aus, als wäre sie am Sterben; sie sah aus, als würde sie in diesem Grenzland zwischen Leben und Tod ewig fortexistieren. Delia konnte keine Veränderung an ihr gewahren. Als sie sich setzte, schien alles in ihr selbst in voller Flut zu sein. Ein hoher schmaler Spiegel neben dem Bett warf einen Ausschnitt des Himmels zurück; er war im Augenblick von rötlichem Licht beglänzt. Der Toilettetisch war davon beleuchtet. Das Licht fiel auf Silberflakons und auf Glasfläschchen, alle in der vollkommenen Ordnung von Dingen aufgestellt, die nicht [verwendet werden. Um diese Abendstunde hatte das Krankenzimmer etwas unwirklich Sauberes, Stilles und Ordentliches. Hier neben dem Bett stand ein Tischchen mit einer Brille, einem Gebetbuch und einer Vase voll Maiglöckchen darauf. Auch die Blumen sahn unwirklich aus. Es gab nichts zu tun, als zu schauen.

Sie starrte auf die gelbliche Porträtzeichnung ihres Großvaters mit dem Glanzlicht auf der Nase; auf die Photographie von Onkel Horace in seiner Uniform; auf die hagere, verkrümmte Gestalt an dem Kruzifix zur Rechten.

»Aber du glaubst es doch selber nicht!« dachte sie wild und blickte auf ihre in Schlaf versunkene Mutter. »Du willst ja gar nicht sterben.«

Sie wartete sehnsüchtig, daß die Mutter stürbe. Da lag sie – schlaff, verfallen, aber ewigdauernd – in der Kissenschlucht; ein Hindernis, eine Vereitelung, ein Hemmnis alles Lebens. Delia versuchte, irgendein Gefühl der Zuneigung, des Mitleids in sich aufzupeitschen. Zum Beispiel diesen Sommer, sagte sie sich, in Sidmouth, als sie mich die Gartentreppe heraufrief ... Aber die Szene zerfloß, als sie sie zu betrachten versuchte. Und natürlich war die andre Szene da – der Mann im Gehrock mit der Blume im Knopfloch. Doch sie hatte sich geschworen, bis zur Schlafenszeit nicht daran zu denken. Aber woran sonst sollte sie denken? An den Großvater mit dem Glanzlicht auf der Nase? An das Gebetbuch? Die Maiglöckchen? Oder den Spiegel? Die Sonne war in Wolken versunken; der Spiegel war matt und warf jetzt nur einen graubraunen Fleck Himmel zurück. Sie konnte nicht länger widerstehn.

»Eine weiße Blume im Knopfloch«, begann sie sich zu sagen. Es brauchte einige Minuten Vorbereitung. Ein Saal mußte da sein; und Bankette von Palmen; und zu ihren Füßen ein Parkett mit den dichtgedrängten Köpfen von Leuten. Der Zauber begann zu wirken. Sie wurde von köstlichen Wellen schmeichelhafter und aufregender Gefühle durchdrungen. Sie saß auf dem Podium; eine riesige Zuhörerschaft war da; alles schrie, winkte mit Taschentüchern, applaudierte, zischte, pfiff. Dann erhob sie sich. Sie stand, ganz in Weiß, mitten auf dem Podium; Mr. Parnell war an ihrer Seite.

»Ich spreche für die Sache der Freiheit«, begann sie, die Arme ausbreitend, »für die Sache der Gerechtigkeit, für Irland ... « Seite an Seite standen sie da. Er war sehr bleich, aber seine dunkeln Augen glühten. Er wandte sich zu ihr und flüsterte ...

Plötzlich eine Unterbrechung. Mrs. Pargiter hatte sich ein wenig aus den Kissen aufgerichtet.

»Wo bin ich?« rief sie. Sie war verängstigt und verwirrt, wie so oft beim Erwachen. Sie hob die Hand; sie schien um Hilfe zu flehn. »Wo bin ich?« wiederholte sie. Für einen Augenblick war auch Delia verwirrt. Wo war sie?

»Hier, Mama! Hier!« sagte sie blindlings. »Hier, in deinem Zimmer.« Sie legte die Hand auf die Bettdecke.

Mrs. Pargiter umklammerte sie nervös. Sie sah sich in dem Zimmer um, als suchte sie jemand. Sie schien ihre Tochter nicht zu erkennen.

»Was ist denn?« fragte sie. »Wo bin ich?« Dann sah sie Delia an und erinnerte sich, »Oh, Delia – ich hab’ geträumt«, murmelte sie, halb wie sich entschuldigend. Sie lag eine kleine Weile und sah durchs Fenster hinaus. Die Laternen wurden angezündet, und ein plötzliches mildes Licht ging in der Straße draußen auf.

»Es war ein schöner Tag ... « sie zögerte » ... für ... « Sie schien sich nicht erinnern zu können, wofür.

»Ein herrlicher Tag, ja, Mama«, wiederholte Delia mit mechanischer Munterkeit.

» ... für ... « versuchte es ihre Mutter abermals.

Was für ein Tag war es? Delia konnte sich nicht erinnern.

» ... für Onkel Digbys Geburtstag«, brachte Mrs. Pargiter endlich hervor. »Sag ihm von mir – sag ihm, wie sehr ich mich freue.«

»Ich werd’s ihm sagen«, erwiderte Delia. Sie hatte vergessen, daß ihr Onkel Geburtstag hatte; aber ihre Mutter war sehr genau in solchen Dingen.

»Tante Eugénie ... « begann sie.

Ihre Mutter jedoch starrte auf den Toilettetisch. Ein Schimmer von der Laterne draußen ließ das weiße Tuch darauf äußerst weiß aussehn.

»Schon wieder ein frisches Tuch!« murmelte Mrs. Pargiter grämlich. »Was das kostet, Delia, was das kostet – das ist’s, was mir Sorge macht.«

»Es ist schon recht, Mama«, sagte Delia matt. Ihre Augen waren auf das Porträt des Großvaters gerichtet; warum, fragte sie sich, hatte der Künstler einenTupfen weißer Kreide auf seine Nasenspitze gesetzt?

»Tante Eugénie hat dir Blumen gebracht«, sagte sie.

Irgend etwas schien Mrs. Pargiter heiter zu stimmen. Ihr Blick ruhte versonnen auf dem reinen weißen Tuch, das sie einen Augenblick zuvor an die Wäscherechnung gemahnt hatte.

»Tante Eugénie ... « sagte sie. »Wie gut ich mich an den Tag erinnere« – ihre Stimme schien voller und runder zuwerden – »an dem ihre Verlobung bekanntgegeben wurde. Wir waren alle im Garten; da kam ein Brief.« Sie machte eine Pause. »Da kam ein Brief«, wiederholte sie. Dann sagte sie eine Weile nichts mehr. Sie schien einer Erinnerung nachzuhängen.

»Der liebe kleine Bub ist gestorben, aber abgesehn davon ... « Wieder hielt sie inne. Sie schien heute abend schwächer zu sein, dachte Delia, und etwas wie Freude sprang in ihr auf. Die Sätze waren noch unzusammenhängender als sonst. Welcher kleine Bub war gestorben? Sie begann die Wülste der Steppdecke zu zählen, während sie wartete, daß ihre Mutter weiterspreche.

»Weißt du, alle Cousinen und Cousins pflegten im Sommer zusammenzukommen«, nahm ihre Mutter den Faden plötzlich wieder auf. »Dein Onkel Horace ... «

»Der mit dem Glasaug’?« fragte Delia.

»Ja, er hat sich das Aug’ auf dem Schaukelpferd verletzt. Die Tanten hielten so viel von Horace. Sie sagten immer ... « Nun kam eine lange Pause. Sie schien zu tasten, um die genauen Worte zu finden.

»Wenn Horace kommt ... vergiß nicht, ihn wegen der Eßzimmertür zu fragen.«

Eine seltsame Belustigung schien Mrs. Pargiter zu erfüllen. Sie lachte tatsächlich. Sie mußte wohl an einen Familienscherz von einst denken, vermutete Delia, als sie dieses Lächeln flackern und verschwinden sah. Dann war völlige Stille. Ihre Mutter lag mit geschlossenen Augen; die Hand mit dem einzigen Ring, diese weiße, abgezehrte Hand, ruhte auf der Steppdecke. In der Stille konnte sie ein Stückchen Kohle zwischen den Roststäben klickern hören und draußen das Plärren eines Hausierers die Straße entlang. Mrs. Pargiter sagte nichts mehr. Sie lag vollkommen still. Dann seufzte sie tief.

Die Tür öffnete sich; die Pflegerin trat ein. Delia erhob sich und ging. Wo bin ich? fragte sie sich und starrte dabei auf einen weißen Krug, der von der untergehenden Sonne rosig getönt war. Einen Augenblick lang schien sie in einem Grenzland zwischen Leben und Tod zu sein. Wo bin ich? fragte sie sich, den rosa Krug anstarrend; denn alles sah seltsam aus. Dann hörte sie im obern Stockwerk Wasser rauschen und kleine Füße trappeln.

»Da bist du ja, Rosie«, sagte Nannie und sah vom Rad der Nähmaschine auf, als Rose eintrat.

Das Kinderzimmer war hell erleuchtet; auf dem Tisch stand eine Lampe ohne Schirm. Mrs. C., die jede Woche mit der Wäsche kam, saß in dem Lehnstuhl, eine Teetasse in der Hand. »Geh und hol deine Näharbeit wie ein braves Mädel!« sagte Nannie, als Rose Mrs. C. die Hand reichte. »Oder du wirst nie damit fertig werden bis zu Papas Geburtstag«, fügte sie hinzu und räumte auf dem Tisch einen Platz frei.

Rose zog die Tischlade auf und nahm den Schuhsack heraus, den sie für den Geburtstag ihres Vaters mit einem Muster blauer und roter Blumen bestickte. Es waren noch mehrere Büschel kleiner, mit Bleistift vorgezeichneter Rosen auszufüllen. Sie breitete ihn auf den Tisch und betrachtete ihn, während die Kinderfrau weiter Mrs. C. von Mrs. Kirbys Tochter erzählte. Aber Rose hörte nicht zu.

Dann werd’ ich allein gehn, entschied sie und strich den Schuhsack glatt. Wenn Martin nicht mit mir kommen will, dann werd’ ich allein gehn.

»Ich hab’ meine Nähschachtel unten im Wohnzimmer gelassen«, sagte sie.

»Na, dann geh und hol sie dir!« sagte Nannie achtlos; sie wollte fortsetzen, was sie Mrs. C, über die Tochter des Grünzeughändlers erzählt hatte.

Nun hat das Abenteuer begonnen, sagte sich Rose, als sie auf den Zehenspitzen zum Kinderschlafzimmer schlich. Nun mußte sie sich mit Munition und Proviant versehn; sie mußte Nannie den Hausschlüssel stibitzen; aber wo war der? Jeden Tag wurde er an einem andern Platz versteckt, aus Furcht vor Einbrechern. Er wäre entweder unter dem Taschentuchbehälter oder in der kleinen Schachtel, wo Nannie die goldene Uhrkette ihrer Mutter aufbewahrte. Und da war er auch. Nun hatte sie ihre Pistole und ihr Pulver und Blei, dachte sie, während sie ihre eigne Geldbörse aus ihrer eignen Lade nahm, und genug Proviant, dachte sie, als sie ihren Hut und Mantel über den Arm hängte, für zwei Wochen.

Sie schlich sich am Kinderzimmer vorbei die Treppe hinunter. Sie lauschte angestrengt, als sie an der Lernzimmertür vorbeikam. Sie mußte vorsichtig sein und nicht auf einen dürren Ast treten und kein Zweiglein unter ihrem Tritt knacken lassen, sagte sie sich, während sie auf den Zehenspitzen dahinging. Wieder blieb sie stehn und lauschte, als sie an der Tür von Mamas Schlafzimmer vorbeikam. Alles war still. Dann stand sie einen Augenblick auf dem Treppenabsatz und blickte in die Halle hinab. Der Hund lag auf der Matte und schlief; die Luft war rein; die Halle war leer. Aus dem Wohnzimmer hörte sie Stimmengemurmel.

Sie öffnete die Haustür mit größter Behutsamkeit und schloß sie hinter sich mit kaum einem Klicken. Bis sie um die Ecke war, duckte sie sich dicht an der Mauer entlang, damit niemand sie sehn könne. Als sie die Ecke unter dem Goldregenstrauch erreichte, richtete sie sich auf.

»Ich bin Pargiter von Pargiters Reiterei«, sagte sie, die Hand schwenkend, als zöge sie einen Säbel, »und ich reite zum Entsatz!«

Sie ritt bei Nacht auf eine verzweifelte Unternehmung, zu einer belagerten Garnison, sagte sie sich. Sie hatte einen geheimen Rapport – sie krampfte die Faust um ihre Börse – dem General persönlich zu überbringen. Das Leben aller hing davon ab. Die britische Flagge flatterte noch immer auf dem Mittelturm – Lamleys Laden war der Mittelturm; der General stand auf dem Vordach von Lamleys Laden, das Fernrohr am Auge. Das Leben aller hing davon ab, daß sie durch Feindesland zu ihnen ritt. Und hier galoppierte sie nun durch die Wüste. Sie begann zu hopsen. Es wurde dunkel. Die Straßenlaternen wurden angezündet; der Laternenanzünder steckte seine Stange durch das Falltürchen hinauf. Die Bäume in den Vorgärten warfen ein schwankendes Netzwerk von Schatten auf den Gehsteig; der Gehsteig erstreckte sich breit und dunkel vor ihr. Dann kam der Straßenübergang; und dann kam Lamleys Laden auf der kleinen Insel von Kaufläden gegenüber. Sie brauchte bloß die Wüste zu durchqueren, den Fluß zu durchfurten, und sie war in Sicherheit. Die Hand schwenkend, die die Pistole hielt, gab sie ihrem Pferd die Sporen und galoppierte die Melrose Avenue entlang. Als sie an der Briefkastensäule vorbeilief, tauchte unter der Gaslaterne plötzlich die Gestalt eines Mannes auf.

»Der Feind!« rief Rose sich zu. »Der Feind! Bums!« rief sie, zog am Hahn ihrer Pistole ab und sah ihm voll ins Gesicht, als sie an ihm vorbeikam. Es war ein abscheuliches Gesicht: bleich, wie abgeschält, blatternarbig; es grinste sie schauerlich an. Er streckte den Arm aus, als wollte er sie aufhalten. Fast hätte er sie erwischt. Sie raste an ihm vorbei. Das Spiel war aus.

Sie war wieder sie selbst, ein kleines Mädel, das seiner Schwester nicht gehorcht hatte, in Hausschuhen, und nun in Lamleys Laden Zuflucht suchend.

Mrs. Lamley mit ihrem frischen Gesicht stand hinter dem Ladentisch und faltete die Abendzeitungen. Sie überdachte, hier zwischen ihren Zweipenny-Uhren, auf Karton aufgenähten Scheren und Nagelfeilen, den Spielzeugschiffchen und Schachteln billigen Briefpapiers, irgend etwas Angenehmes, wie es schien, denn sie lächelte. Da stürzte Rose herein. Fragend sah Mrs. Lamley auf.

»Hallo, Rosie!« rief sie. »Was willst du denn, mein Kind?«

Sie ließ die Hand auf dem Stoß Zeitungen ruhn. Rose stand da und keuchte. Sie hatte vergessen, weswegen sie gekommen war.

»Ich möcht’ die Schachtel mit den Enten in der Auslage«, erinnerte sich Rose endlich.

Mrs. Lamley watschelte hinter dem Ladentisch hervor, um sie zu holen.

»Ist’s nicht eigentlich sehr spät für ein kleines Mädel wie dich, um allein aus zu sein?« fragte sie und sah sie an, als wüßte sie, daß sie in Hausschuhen gekommen war und ihrer Schwester nicht gehorcht hatte.

»Gute Nacht, mein Kind, und jetzt lauf schön nach Haus!« sagte sie, als sie ihr das Päckchen reichte. Die Kleine schien auf der Schwelle zu zögern; sie stand da und starrte auf die Spielsachen unter der Petroleum-Hängelampe; dann trat sie widerstrebend auf die Straße hinaus.

Ich hab’ meine Botschaft dem General persönlich überbracht, sagte sie sich, als sie wieder draußen auf dem Gehsteig stand. Und das ist die Trophäe, sagte sie, die Schachtel fest unter den Arm klemmend. Ich kehre im Triumph zurück, mit dem Kopf des Haupträdelsführers, sagte sie sich, das Stück der Melrose Avenue vor sich überblickend. Ich muß meinem Pferd die Sporen geben und galoppieren. Aber die Geschichte wirkte nicht mehr. Die Melrose Avenue blieb die Melrose Avenue. Sie blickte das lange Stück leerer Straße vor sich entlang. Die Bäume ließen ihre Schatten über den Gehsteig zittern. Die Laternen standen weit auseinander, und zwischen ihnen waren Tümpel von Dunkelheit. Sie begann zu traben. Plötzlich, als sie an der Briefkastensäule vorbeikam, sah sie den Mann abermals. Er lehnte mit dem Rücken an dem Laternenpfahl, und das Gaslicht flackerte über sein Gesicht. Als sie vorbeikam, zog er die Lippen ein und schnellte sie wieder vor. Er stieß einen miauenden Laut aus. Aber seine Hände griffen nicht nach ihr; die knöpften seine Kleider auf.

Sie floh an ihm vorbei. Sie glaubte, ihn ihr nachkommen zu hören. Sie hörte seine Füße auf dem Gehsteig tappen. Alles schwankte, während sie lief; rote und schwarze Pünktchen tanzten vor ihren Augen, als sie die Türstufen hinaufrannte, den Schlüssel ins Schloß steckte und die Haustür öffnete. Es war ihr gleich, ob sie Lärm machte oder nicht. Sie hoffte, jemand werde herauskommen und zu ihr sprechen. Aber niemand hörte sie. Die Halle war leer. Der Hund schlief auf der Matte. Stimmen murmelten noch immer im Wohnzimmer.

»Und wenn es fängt«, sagte Eleanor, »wird es viel zu heiß werden.«

Crosby hatte die Kohlen zu einem großen schwarzen Vorgebirge gehäuft. Eine Fahne gelben Rauchs umschlängelte es verdrossen; die Kohlen begannen zu brennen, und sobald sie richtig brennen würden, wäre es viel zu heiß.

»Sie kann sehn, wie die Pflegerin Zucker stiehlt, behauptet sie. Sie kann ihren Schatten an der Wand sehn«, sagte Milly. Sie sprachen von ihrer Mutter.

»Und dann«, fügte sie hinzu, »daß Edward nichts von sich hören läßt ... «

»Das erinnert mich«, sagte Eleanor. Sie durfte nicht vergessen, Edward zu schreiben. Aber dazu wäre nach dem Dinner Zeit. Sie hatte keine Lust zu schreiben; sie hatte keine Lust zu reden; so oft sie von ihren Mietern zurückkam, hatte sie ein Gefühl, als ginge mehreres zugleich vor. Worte wiederholten sich immerzu in ihrem Geist – Worte und Bilder. Sie dachte an die alte Mrs. Levy, wie sie aufgestützt im Bett saß, mit ihrem weißen Haar in einer dichten Masse wie eine Perücke, und das Gesicht rissig wie ein alter glasierter Topf.

»Die was gewesen sind gut zu mir, auf die erinner’ ich mich ... Die was gefahren sind in ihre Kutschen, wie ich gewesen bin eine arme Witfrau, die was hat den Boden gerieben und die Wäsche gewaschen –« Hier hatte sie den Arm ausgestreckt, der gewrungen und weiß war wie eine Baumwurzel. »Die was gewesen sind gut zu mir, auf die erinner’ ich mich ... « wiederholte Eleanor, während sie ins Feuer blickte. Dann war die Tochter hereingekommen, die bei einem Schneider arbeitete. Sie trug perien so groß wie Hühnereier; sie hatte sich angewöhnt, sich das Gesicht zu schminken; sie war wunderhübsch. Aber Milly machte eine kleine Bewegung.

»Ich hab’ mir grade gedacht«, sagte Eleanor, einer plötzlichen Eingebung folgend, »daß die Armen das Leben mehr genießen als unsereins.«

»Die Levys?« fragte Milly geistesabwesend. Dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Erzähl mir doch von den Levys«, fügte sie hinzu. Eleanors Beziehungen zu »den Armen« – den Levys, den Grubbs, den Paravicinis, den Zwinglers und den Cobbs – belustigten sie stets. Eleanor aber sprach nicht gern von »den Armen« wie von Leuten in einem Buch. Sie hegte große Bewunderung für Mrs. Levy, die an Krebs dahinstarb.

»Oh, es geht ihnen ganz wie immer«, antwortete sie scharf. Milly warf einen Blick auf sie. Eleanor ist »brütig«, dachte sie. Es war ein Familienscherz: »Vorsicht, Eleanor ist brütig. Es ist ihr Mietertag.« Eleanor schämte sich dessen, aber sie war aus irgendeinem Grund immer reizbar, wenn sie von ihren Mietern zurückkam, – so viel Verschiedenes ging ihr gleichzeitig im Kopf herum: Canning Place; Abercorn Terrace; dieses Zimmer hier; das Zimmer dort. Dort saß die alte Jüdin aufrecht im Bett, in ihrem stickigen kleinen Zimmer; dann kam man hierher zurück, und hier war Mama krank, Papa brummig, und Delia und Milly stritten wegen einer Abendgesellschaft ... Aber sie unterbrach sich. Sie sollte versuchen, etwas zu sagen, was ihre Schwester amüsieren würde.

»Mrs. Levy hatte den Mietzins bereit, erstaunlicherweise«, sagte sie. »Lily trägt dazu bei, arbeitet bei einem Schneider in Shoreditch. Sie kam herein, ganz mit Perlen und so Zeug behangen. Sie sind putzsüchtig – die Jüdinnen«, fügte sie hinzu.

»Die Jüdinnen?« fragte Milly. Sie schien den Geschmack der Jüdinnen zu prüfen und ihn dann abzulehnen. »Ja«, sagte sie. »Aufgedonnert.«

»Sie ist außerordentlich hübsch«, sagte Eleanor und dachte an die rosigen Wangen und die weißen Perlen.

Milly lächelte; Eleanor trat immer für die Armen ein. Sie hielt Eleanor für den besten, den weisesten, den großartigsten Menschen, den sie kannte.

»Ich glaube, dorthin zu gehn, ist dir lieber als alles andre«, sagte sie. »Ich glaube, du würdest am liebsten hinziehn und dort leben, wenn es nach dir ginge«, fügte sie mit einem kleinen Seufzer hinzu.

Eleanor rückte im Sessel. Sie hatte ihre Träume, ihre Pläne, selbstverständlich; aber sie wollte sie nicht besprechen.

»Vielleicht wirst du’s tun, wenn du verheiratet bist?« meinte Milly. Es war etwas Mürrisches und doch Klägliches in ihrem Ton. Die Abendgesellschaft; die Abendgesellschaft bei den Burkes, dachte Eleanor. Sie wünschte, Milly würde das Gespräch nicht immer aufs Heiraten wenden. Und was wissen sie vom Heiraten? fragte sie sich. Sie bleiben zuviel zu Hause, dachte sie; siesehn niemals jemand außerhalb ihres eignen Kreises. Hier hocken sie im Pferch – tagaus, tagein ... Darum hatte sie gesagt: »Die Armen genießen das Leben mehr als unsereins.« Es war ihr eingefallen, als sie zurückkam in dieses Wohnzimmer mit allen den Möbeln und den Blumen und den Krankenpflegerinnen ... Wieder unterbrach sie sich. Sie mußte warten, bis sie allein wäre – bis sie sich abends die Zähne putzte. Wenn sie mit den andern beisammen war, mußte sie sich davon zurückhalten, an zwei Dinge zugleich zu denken. Sie nahm das Schüreisen und schlug auf die Kohlen.

»Schau! Wie schön!« rief sie aus. Eine Flamme tanzte auf den Kohlen, ein leichtfüßiges, nichtsnutziges Flämmchen. Es war so eine Flamme, wie sie sie als Kinder hervorzurufen pflegten, indem sie Salz aufs Feuer streuten. Abermals schlug sie auf die Kohlen, und ein Schauer goldäugiger Funken stob prasselnd in den Rauchfang auf. »Erinnerst du dich«, sagte sie, »wie wir Feuerwehr spielten und Morris und ich den Rauchfang in Brand setzten?«

»Und Pippy lief und holte Papa«, sagte Milly. Sie hielt inne. Geräusche wurden aus der Halle hörbar. Ein Stock scharrte; jemand hängte einen Mantel auf. Eleanors Augen erhellten sich. Das war Morris – ja; sie erkannte ihn an den Geräuschen. Nun kam er herein. Sie sah sich lächelnd um, als die Tür aufging. Milly sprang auf.

Morris versuchte, sie zurückzuhalten. »Geh nicht – « begann er.

»Doch!« rief sie. »Ich werd’ gehn und ein Bad nehmen«, fügte sie, einem plötzlichen Einfall folgend, hinzu. Sie verließ die beiden.

Morris setzte sich auf den Sessel, von dem sie aufgestanden war. Er war froh, mit Eleanor allein zu bleiben. Für einen Augenblick sprach keins. Sie betrachteten die gelbe Rauchfahne und die kleine Flamme, die leichtfüßig und nichtsnutzig, bald da, bald dort, auf dem schwarzen Vorgebirge von Kohlen tanzte. Dann stellte er die übliche Frage:

»Wie geht’s Mama?«

Sie sagte es ihm; keine Veränderung, »nur, daß sie öfter schläft«, sagte sie. Er runzelte die Stirn. Er verliert sein knabenhaftes Aussehn, dachte Eleanor. Das sei das Schlimme am Barreau, so sagten alle; man müsse warten. Er machte den Neger für Sanders Curry; und es war eine trübselige Arbeit, bei der man den ganzen Tag in den Gerichtshöfen herumwarten mußte.

»Was macht der alte Curry?« fragte sie; der alte Curry hatte seine Launen.

»Ein bißchen gallig«, sagte Morris grimmig.

»Und was hast du den ganzen Tag getan?« fragte sie.

»Nichts Besonderes«, antwortete er.

»Noch immer Evans contra Carter?«

»Ja«, sagte er kurz.

»Und wer wird gewinnen?« fragte sie.

»Carter natürlich«, erwiderte er.

Warum »natürlich«? wollte sie fragen. Aber erst neulich hatte sie etwas Dummes gesagt, etwas, das zeigte, daß sie nicht aufgepaßt hatte. Sie brachte Sachen durcheinander; zum Beispiel, was war der Unterschied zwischen gemeinem Recht und der andern Art von Recht? Also fragte sie nicht. Sie saßen schweigend und sahn zu, wie die Flamme über die Kohlen tanzte. Es war eine grüne Flamme, leichtfüßig, nichtsnutzig.

»Was glaubst du, war ich ein schrecklicher Narr?« fragte er plötzlich. »Mit dieser Krankheit jetzt und dem, was Edward und Martin kosten, – Papa muß es doch ein wenig schwerfallen.« Er runzelte die Stirn auf die Art, die sie veranlaßt hatte, sich zu sagen, daß er sein knabenhaftes Aussehn verliere.

»Selbstverständlich nicht«, sagte sie mit Nachdruck. Selbstverständlich wäre es widersinnig gewesen, wenn er Kaufmann geworden wäre; bei seiner Leidenschaft für die Juristerei!

»Du wirst noch Lordkanzler werden eines schönen Tags«, sagte sie. »Ich bin überzeugt davon«. Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ganz überzeugt«, sagte sie und sah ihn an, wie sie ihn angesehn hatte, wenn er zu den Ferien heimgekommen war und Edward alle Preise gewonnen hatte und er stumm dasaß – sie konnte ihn jetzt noch vor sich sehn – und sein Essen herunterschlang und niemand ihn viel beachtete. Aber noch während sie ihn ansah, überkamen sie Zweifel. Lordkanzler hatte sie gesagt. Hätte sie nicht Lord-Oberrichter sagen sollen? Sie konnte die beiden nie unterscheiden; und das war auch ein Grund, daß er nicht über Evans contra Carter mit ihr sprechen wollte.

Sie hinwieder erzählte ihm nie von den Levys, oder nur witzelnd. Das war das Schlimmste am Heranwachsen, dachte sie; sie konnten vieles nicht mehr miteinander teilen, so wie früher. Wenn sie zusammenkamen, hatten sie nie Zeit zu reden, wie sie es gewohnt gewesen waren, – über Dinge im allgemeinen; sie sprachen stets von Tatsachen – unbedeutenden Tatsachen. Sie schürte das Feuer. Plötzlich schallte ein Geschmetter durch das Zimmer. Es war Crosby, die in der Halle das Gong bearbeitete. Sie war wie eine Wilde, die an einem ehernen Opfer Rache nahm. Wellen rohen Schalls tönten durch den Raum. »Himmel, es ist Zeit zum Umkleiden!« sagte Morris. Er stand auf und streckte sich. Er hob die Arme und hielt sie einen Augenblick über seinem Kopf. So wird er aussehn, wenn er einmal Familienvater ist, dachte Eleanor. Er ließ die Arme sinken und ging aus dem Zimmer. Vor sich hinbrütend blieb sie einen Augenblick sitzen; dann raffte sie sich auf. Was darf ich nicht vergessen? fragte sie sich. An Edward zu schreiben, besann sie sich, während sie zum Schreibtisch ihrer Mutter hinüberging. Er wird jetzt bald mein Schreibtisch sein, dachte sie und blickte dabei auf den Silberleuchter, die Miniatur ihres Großvaters, die Lieferantenbücher – auf das eine war eine goldene Kuh geprägt – und das gefleckte Walroß mit einem Bürstchen im Rücken, das Martin der Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.

Crosby hielt die Tür zum Eßzimmer offen und wartete, daß sie alle herunterkämen. Das Silber lohnte das Putzen, dachte sie. Messer und Gabeln blitzten nur so rings auf dem Tisch. Der ganze Raum mit seinen geschnitzten Stühlen, den Ölgemälden, den zwei Dolchen über dem Kaminsims und der stattlichen Anrichte – allen diesen soliden Gegenständen, die Crosby täglich abstaubte und glänzend rieb, – kam abends am besten zur Geltung. Bei Tag nach Braten riechend, von Sergevorhängen verdunkelt, sah er, erleuchtet, halb durchsichtig aus am Abend. Und sie waren eine stattliche Familie, dachte sie, als sie hintereinander hereinkamen – die jungen Damen in ihren hübschen Kleidern von blau und weiß geblümtem Musselin; die Herren, so gepflegt, in ihren Smokingjacken. Sie rückte dem Oberst den Stuhl zurecht. Er sah abends immer am besten aus; er aß mit Genuß; und aus irgendeinem Grund war seine Verdüsterung geschwunden. Er war in seiner jovialen Laune. Die Stimmung seiner Kinder hob sich, als sie es bemerkten.

»Das ist ein hübsches Kleid, das du da trägst«, sagte er zu Delia, während sie sich setzten.

»Dieses alte?« sagte sie, über den blauen Musselin streichend.

Ihr Vater hatte etwas Opulentes, wenn er guter Laune war, etwas Ungezwungenes und Bezauberndes, das sie besonders gern hatte. Die Leute sagten immer, daß sie ihm gleiche; manchmal freute sie sich darüber – heute abend zum Beispiel. Er sah so rosig und sauber und heiter aus in seiner Smokingjacke. Sie wurden wieder zu Kindern, wenn er in dieser Stimmung war, und fühlten sich angespornt, Familienwitze hervorzuholen, über die sie alle ohne besonderen Grund lachten.

»Eleanor ist brütig«, sagte ihr Vater, den andern zublinzelnd. »Es ist ihr Mietertag.«

Alle lachten; Eleanor hatte gemeint, er spreche von Rover, dem Hund mit dem goldroten Fell, während er tatsächlich von den Haaren der Mrs. Egerton gesprochen hatte. Crosby, die die Suppe reichte, verzog das Gesicht, weil auch sie das Lachen ankam. Der Oberst brachte manchmal Crosby so sehr zum Lachen, daß sie sich abwenden und an der Anrichte zu schaffen machen mußte.

»Oh, Mrs. Egerton ... « sagte Eleanor und begann ihre Suppe zu löffeln.

»Ja, Mrs. Egerton«, sagte ihr Vater und fuhr fort, von Mrs. Egerton zu erzählen, »deren Goldhaar, wie die Stimme der Verleumdung behauptete, nicht ganz ihr eigenes war.«

Delia hörte gern zu, wenn ihr Vater Geschichten aus Indien erzählte. Sie waren knapp und dabei doch romantisch. Sie vermittelten eine Atmosphäre von Offizieren, die in Messejacken miteinander dinierten, an einem sehr heißen Abend, mit einem riesigen silbernen Preispokal in der Mitte der Tafel.

Er pflegte immer so zu sein, als wir klein waren, dachte sie. Da war er immer über das Freudenfeuer an ihrem Geburtstag gesprungen, so erinnerte sie sich. Sie sah ihm zu, wie er geschickt mit der Linken Koteletten auf die Teller schubste. Sie bewunderte seine Entschlossenheit, seinen gesunden Verstand. Während er die Kotelette austeilte, fuhr er fort:

»Von der schönen Mrs. Egerton zu reden, das erinnert mich – hab’ ich euch je die Geschichte von dem alten Badger Parkes erzählt und von –«

»Miss –« sagte Crosby im Flüsterton an der halb geöffneten Tür hinter Eleanors Rücken. Sie flüsterte Eleanor heimlich ein paar Worte zu.

»Ich komme schon«, sagte Eleanor und stand auf.

»Was gibt’s, was gibt’s?« fragte der Oberst, sich mitten im Satz unterbrechend. Eleanor verließ das Zimmer.

»Die Pflegerin hat ihr etwas sagen lassen«, antwortete Milly.

Der Oberst, der grade sich selbst mit einem Kotelett bedient hatte, behielt Messer und Gabel in den Händen. Sie alle saßen mit Messer und Gabel in den Händen da. Niemand wollte weiteressen.

»Lassen wir nicht unser Essen kalt werden«, sagte der Oberst und machte sich über sein Kotelett her. Er hatte seine gute Laune verloren. Morris nahm sich zögernd von den Kartoffeln. Dann erschien Crosby wieder. Sie stand in der Tür, und ihre blaßblauen Augen sahen sehr vorgewölbt aus.

»Was ist los, Crosby? Was gibt’s?« fragte der Oberst.

»Die Missis, Sir. Es geht ihr schlechter, glaub’ ich, Sir«, sagte sie in einem seltsam wimmernden Ton. Alle standen auf.

»Wartet lieber! Ich werd’ gehn und nachsehn«, sagte Morris. Alle folgten sie ihm in die Halle hinaus. Der Oberst hielt noch immer seine Serviette in der Hand. Morris lief die Treppe hinauf; fast sogleich kam er wieder herunter.

»Mama hat einen Ohnmachtsanfall«, sagte et zu seinem Vater. »Ich geh’ und hole Dr. Prentice.« Er griff nach Hut und Mantel und eilte die Türstufen hinunter. Sie hörten ihn nach einem Mietwagen pfeifen, während sie ungewiß in der Halle standen.

»Geht und eßt auf, ihr Mädels!« sagte der Oberst gebieterisch. Er selbst aber schritt im Wohnzimmer auf und ab, die Serviette in der Hand.

»Es ist so weit«, sagte sich Delia; »es ist so weit!« Ein außerordentliches Gefühl von Erleichterung und Aufregung bemächtigte sich ihrer. Ihr Vater wanderte in den beiden Wohnzimmern hin und her; sie ging zu ihm hinein; aber sie vermied ihn. Sie waren einander zu ähnlich; jedes wußte, was das andre fühlte. Sie stand am Fenster und sah auf die Straße hinaus. Ein Regenschauer war gefallen. Die Straße war naß; die Dächer glänzten. Dunkle Wolken zogen über den Himmel; im Licht der Laternen schwankten die Äste auf und nieder. Etwas in ihr schwankte auch auf und nieder. Etwas Unbekanntes schien sich zu nähern. Dann ließ ein schluckender Laut hinter ihr sie sich umwenden. Es war Milly. Sie stand beim Kamin, unter dem Bild der weißgekleideten jungen Frau mit dem Blumenkorb, und Tränen liefen ihr langsam die Wangen herab. Delia machte eine Bewegung zu ihr hin; sie müßte zu ihr hingehn und ihr den Arm um die Schultern legen; aber sie konnte nicht. Milly liefen wirklich Tränen über die Wangen. Aber ihre eignen Augen waren trocken. Sie wandte sich wieder zum Fenster. Die Straße war leer – nur die Äste schwankten im Laternenlicht auf und nieder. Der Oberst ging hin und her; einmal stieß er an ein Tischchen an und sagte: »Verdammt!« In dem Zimmer über sich hörten sie Schritte. Sie hörten Stimmen murmeln. Delia sah aus dem Fenster.

Ein Hansom kam die Straße entlanggetrabt. Morris sprang heraus, kaum daß es hielt. Dr. Prentice folgte ihm. Er ging gleich hinauf, und Morris kam zu ihnen ins Wohnzimmer.

»Warum eßt ihr nicht zu Ende?« fragte der Oberst rauh und blieb sehr aufrecht vor ihnen stehn.

»Ach, bis er weg ist«, sagte Morris nervös.

Der Oberst begann wieder hin und her zu gehn.

Dann stand er vor dem Kaminfeuer still, die Hände auf dem Rücken. Er hatte etwas Gestrafftes, als hielte er sich für einen Notfall bereit.

Wir spielen beide Theater, dachte Delia mit einem verstohlenen Blick auf ihn. Aber er trifft es besser als ich.

Sie sah wieder aus dem Fenster. Der Regen fiel. Wenn er das Laternenlicht kreuzte, blinkte er in langen Strichen silbrigen Lichts. »Es regnet«, sagte sie leise; aber niemand antwortete ihr.

Endlich hörten sie Schritte auf der Treppe, und Dr. Prentice trat ein. Er schloß geräuschlos die Tür hinter sich, sagte aber nichts.

»Nun?«fragte der Oberst, ihm gegenübertretend. Es folgte eine längere Pause.

»Wie finden Sie sie?« fragte der Oberst.

Dr. Prentice bewegte die Achseln ein wenig.

»Sie hatsich wieder erholt«, sagte er. »Für den Augenblick«, fügte er hinzu.

Delia hatte ein Gefühl, als versetzten ihr seine Worte einen heftigen Schlag auf den Kopf. Sie sank auf eine Armlehne.

Also wirst du nicht sterben, sagte sie, die mädchenhafte Frau ansehend, die mit einem Blumenkorb auf einem Baumstamm saß; die schien mit lächelnder Bosheit auf ihre Tochter herabzublicken. Du wirst nicht sterben – nie, nie! rief sie, unter dem Bild ihrer Mutter die Hände ineinander verkrampfend.

»Na, sollten wir nicht weiteressen?« sagte der Oberst und griff nach der Serviette, die er auf ein Tischchen geworfen hatte.

Schade – das Essen ist verdorben, dachte Crosby, die die Kotelette aus der Küche wiederbrachte. Das Fleisch war vertrocknet, und die Kartoffeln hatten braune Krusten. Eine der Kerzen versengte überdies das Schirmchen, so gewahrte sie, als sie die Schüssel vor den Oberst hinstellte. Dann ging sie und schloß die Tür hinter sich, und sie begannen nun erst richtig zu essen.

Alles war still in dem Haus. Der Hund schlief auf seiner Matte am Fuß der Treppe. Alles war still vor der Tür des Krankenzimmers. Ein leises Schnarchen kam aus dem Zimmer, wo Martin lag und schlief. Im Kinderspielzimmer setzten Mrs. C. und die Kinderfrau ihr Nachtmahl fort, das sie unterbrochen hatten, als sie Geräusch unten in der Halle hörten. Rose lag schlafend in ihrem Bettchen im Kinderzimmer. Eine Zeitlang schlief sie tief, ganz eingerollt und die Decke eng um den Kopf gezogen. Dann regte sie sich und streckte die Arme aus. Etwas war heraufgeschwommen auf der Schwärze. Ein ovales weißes Etwas baumelte vor ihr, als hinge es an einer Schnur. Sie öffnete die Augen halb und sah es an. Es brodelte von grauen Flecken, die sich aufbliesen und zusammensanken. Sie wurde ganz wach. Ein Gesicht hing nah vor ihr, als baumelte es an einem Stückchen Bindfaden. Sie schloß die Augen; aber das Gesicht war noch immer da, dehnte sich aus und schrumpfte wieder, grau, weiß, bläulichrot und blatternarbig. Sie streckte die Hand aus, um das große Bett neben dem ihren zu berühren. Aber es war leer. Sie lauschte. Sie hörte das Geklapper von Messern und das Plappern von Stimmen im Spielzimmer über den Gang. Aber sie konnte nicht wieder einschlafen. Sie bemühte sich, an eine Schafherde zu denken, die auf einer Weide in eine Hürde gepfercht war. Sie ließ eins der Schafe über die Hürde springen; dann wieder eins, dann noch eins. Sie zählte sie, während sie sprangen. Eins, zwei, drei, vier – sprangen über die Hürde. Aber das fünfte wollte nicht springen. Es wandte sich um und sah sie an. Sein langes schmales Gesicht war grau; seine Lippen bewegten sich; es war das Gesicht des Mannes bei der Briefkastensäule; und sie war allein damit. Wenn sie die Augen schloß, war es da; wenn sie sie öffnete, war es noch immer da.

Sie setzte sich im Bett auf und rieflaut: »Nannie! Nannie!«

Überall Totenstille. Das Klappern vonMessern und Gabeln im andern Zimmer war verstummt. Sie war ganz allein mit etwas Grauenhaftem. Dann hörte sie ein Schlurren im Gang. Es kam näher und näher. Das war der Mann selbst. Seine Hand war auf dem Türknauf. Die Tür öffnete sich. Ein Dreieck von Licht fiel über den Waschtisch. Der Krug und das Becken leuchteten auf. Der Mann war tatsächlich bei ihr im Zimmer ... aber es war Eleanor.

»Warum schläfst du nicht?« fragte Eleanor. Sie stellte ihren Kerzenleuchter hin und begann das Bettzeug zu glätten. Es war ganz zerwühlt. Sie sah Rose an; deren Augen glänzten sehr, und ihre Wangen waren gerötet. Was war los? Hatte das Hin und Her unten in Mamas Zimmer sie aufgeweckt?

»Was hat dich denn wachgehalten?« fragte sie. Rose gähnte abermals; aber es war eher ein Seufzer als ein Gähnen. Sie konnte Eleanor nicht sagen, was sie gesehn hatte. Sie hatte ein tiefes Schuldgefühl; aus irgendeinem Grund mußte sie lügen über das Gesicht, das sie gesehn hatte.

»Ich hab’ einen bösen Traum gehabt«, sagte sie. »Ich hab’ mich gefürchtet.« Ein seltsames nervöses Zucken ging durch ihren Körper, als sie sich im Bett aufsetzte. Was war nur los? fragte sich Eleanor von neuem. Hatte sie mit Martin gerauft? Hatte sie wiederum die Katzen in Miss Pyms Garten gejagt?

»Hast du wieder Jagd auf Katzen gemacht?« fragte sie. »Die armen Katzen«, fügte sie hinzu. »Es ist ihnen genau so unangenehm, wie es dir wäre«, sagte sie. Aber sie ahnte, daß Roses Angst nichts mit Katzen zu tun hatte. Rose umklammerte krampfhaft ihren Finger; starrte mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen vor sich hin.

»Was hast du denn geträumt?« fragte sie und setzte sich auf den Bettrand. Rose sah sie an; sie konnte es ihr nicht sagen; aber um jeden Preis mußte Eleanor bei ihr bleiben.

»Ich hab’ geglaubt, ich hör’ einen Mann hier im Zimmer«, brachte sie endlich hervor. »Einen Räuber«, fügte sie hinzu.

»Einen Räuber? Hier?« sagte Eleanor. »Aber Rose, wie könnte denn ein Räuber in dein Zimmer kommen? Papa ist doch da und Morris – die würden nie einen Räuber in dein Zimmer kommen lassen.«

»Nein«, sagte Rose. »Papa würde ihn töten.« Es war sonderbar, wie sie zuckte. »Aber was tut ihr denn alle?« fragte sie unruhig. »Seid ihr denn noch nicht schlafen gegangen? Ist es nicht sehr spät?«

»Was wir alle tun?« sagte Eleanor. »Wir sitzen im Wohnzimmer. Es ist nicht sehr spät.« Während sie sprach, tönte ein schwaches Dröhnen durchs Zimmer. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung kam, konnte man die Uhr von St. Paul’s schlagen hören. Die weichen Wellenkreise breiteten sich in der Luft aus: eins, zwei, drei, vier – Eleanor zählte – acht, neun, zehn. Sie war erstaunt, als die Glockenschläge so bald aufhörten.

»Hörst du? Es ist erst zehn Uhr«, sagte sie. Sie hatte geglaubt, es sei viel später. Aber der letzte Schlag löste sich in der Luft auf. »So, jetzt wirst du einschlafen«, sagte sie. Rose umklammerte ihre Hand.

»Geh nicht, Eleanor! Noch nicht!« flehte sie.

»Aber so sag mir doch, was dich erschreckt hat?« begann Eleanor. Etwas wurde ihr verheimlicht, davon war sie überzeugt.

»Ich sah ... « begann Rose. Sie machte eine große Anstrengung, ihr die Wahrheit zu sagen; ihr von dem Mann dort beim Briefkasten zu erzählen. »Ich sah ... « wiederholte sie. Aber da öffnete sich die Tür, und die Kinderfrau kam herein.

»Ich weiß nicht, was heut’ abend mit Rosie ist«, sagte sie, geschäftig näherkommend. Sie fühlte sich ein wenig schuldbewußt; sie war unten geblieben und hatte mit den andern Dienstboten über die Gnädige geschwatzt.

»Sie schläft für gewöhnlich so fest«, sagte sie, ans Bett tretend.

»Also hier ist Nannie«, sagte Eleanor. »Sie kommt schon schlafen. Da wirst du dich nicht mehr fürchten, nicht wahr?« Sie strich die Bettdecke glatt und küßte Rose. Sie stand auf und ergriff ihren Kerzenleuchter.

»Gute Nacht, Nannie«, sagte sie und wandte sich der Tür zu.

»Gute Nacht, Miss Eleanor«, sagte Nannie und legte einiges Mitgefühl in ihre Stimme; denn unten in der Küche hieß es, daß die Gnädige es nicht mehr viel länger machen werde.

»Dreh dich um und schlaf ein, Schatz!« sagte sie und küßte Rose auf die Stirn. Denn die Kleine, die bald mutterlos wäre, tat ihr leid. Dann löste sie die silbernen Knöpfe aus den gesteiften Manschetten und begann die Haarnadeln aus den Haaren zu nehmen, während sie in ihren Unterröcken vor der gelben Kommode stand.

»Ich sah«, wiederholte Eleanor, als sie die Kinderzimmertür schloß. »Ich sah ... « Was hatte Rosie gesehn? Etwas Gräßliches, etwas Geheimnisvolles. Aber was? Dort, hinter ihren starren Augen, war es verborgen gewesen. Sie hielt den Leuchter ein wenig schief in der Hand. Drei Tropfen Stearin fielen auf die polierte Wandleiste, bevor sie es bemerkte. Sie hielt den Kerzenleuchter wieder gerade und ging die Treppe hinunter. Im Gehn lauschte sie. Es war alles still. Martin schlief. Ihre Mutter schlief. Als sie so an den Türen vorbeikam, schien sich eine Last auf sie zu senken. Sie blieb stehn und blickte in die Halle hinunter. Eine Leere überkam sie. Wo bin ich? fragte sie sich, auf einen wuchtigen Rahmen starrend. Was ist das alles? Sie schien mitten im Nichts allein zu sein; doch sie mußte hinuntergehn, mußte ihre Last tragen. Sie hob ein wenig die Arme, als trüge sie einen Krug, einen irdenen Krug auf dem Kopf. Wieder blieb sie stehn. Der Umriß einer Schüssel zeichnete sich in ihren Augen ab. Es war Wasser darin und etwas Gelbes; es war der Hundenapf, so begriff sie; es war die Schwefelstange in dem Hundenapf; der Hund lag eingerollt am Fuß der Treppe. Sie stieg vorsichtig über den Körper des schlafenden Tiers und ging ins Wohnzimmer.

Alle blickten sie auf, als sie eintrat; Morris hatte ein Buch in der Hand, aber er las nicht; Milly hielt ein Stück Stoff in der Hand, aber sie nähte nicht; Delia lag in ihren Stuhl zurückgelehnt und tat gar nichts. Eleanor stand einen Augenblick zögernd da. Dann wandte sie sich zum Schreibtisch. »Ich werde Edward schreiben«, murmelte sie. Sie griff nach der Feder, aber sie zögerte. Sie fand es schwer, an Edward zu schreiben, wie sie ihn so vor sich sah, als sie die Feder ergriff, als sie das Briefpapier auf dem Schreibtisch glättete. Seine Augen standen zu nahe beieinander; er hatte so eine Art, sich vor dem Spiegel in der Halle den Schopf hochzustreichen, die sie reizte. »Nix« war ihr Spitzname für ihn. »Mein lieber Edward«, begann sie zu schreiben, bei dieser Gelegenheit »Edward« wählend, nicht »Nix«.

Morris blickte von dem Buch auf, das er zu lesen versuchte. Das Kratzen der Feder beirrte ihn. Nun hielt Eleanor inne; schrieb dann wieder; griff sich dann mit der Hand an den Kopf. Alle Sorgen lagen natürlich auf ihr. Aber sie beirrte ihn. Sie stellte ewig Fragen; sie hörte nie auf die Antworten. Er blickte wieder in sein Buch. Aber welchen Zweck hatte es, zu lesen zu versuchen? Diese Atmosphäre unterdrückter Gemütsbewegung war ihm zuwider. Es gab nichts, was irgend jemand hätte tun können, aber hier saßen sie alle in Haltungen unterdrückter Gemütsbewegung. Millys Sticheln an ihrer Arbeit machte ihn nervös, und auch Delia machte ihn nervös, wie sie dort zurückgelehnt in ihrem Stuhl lag und wie gewöhnlich gar nichts tat. Hier saß er eingesperrt mit allen diesen Frauenzimmern in einer Atmosphäre unwirklicher Gemütsbewegung. Und Eleanor schrieb drauflos, schrieb und schrieb. Es gab doch nichts zu schreiben – aber da leckte sie nun den Briefumschlag und pappte dieMarke auf.

»Soll ich ihn einwerfen gehn?« fragte er, sein Buch weglegend.

Er erhob sich, als wäre er froh, etwas zu tun zu haben. Eleanor ging mit ihm zur Haustür und blieb da stehn und hielt sie offen, während er zu der Briefkastensäule ging. Es regnete sacht, und während sie in der Tür stand und die milde, feuchte Luft atmete, beobachtete sie die seltsamen Schatten, die auf dem Gehsteig unter den Bäumen zitterten. Morris Verschwand durch die Schatten um die Ecke. Sie erinnerte sich, wie sie unter der Tür zu stehn pflegte, als er ein kleiner Junge war und mit seiner Schultasche in der Hand zur Schule ging. Sie hatte ihm immer nachgewinkt; und wenn er an die Ecke kam, hatte er sich immer umgewendet und zurückgewinkt. Es war eine seltsame kleine Zeremonie gewesen und nun aufgegeben, seit sie beide erwachsen waren. Die Schatten schwankten, während sie so stand und wartete; im nächsten Augenblick tauchte er aus ihnen hervor. Er kam den Gehsteig heran und die Stufen herauf.

»Er wird ihn morgen bekommen«, sagte er. »Jedenfalls mit der zweiten Post.«

Er schloß die Tür und bückte sich, um die Kette vorzulegen. Es schien ihr, als die Kette rasselte, daß sie beide es als Tatsache nahmen, daß heute nacht nichts weiter geschehn werde. Sie vermieden es, einander anzusehn; keins von beiden wollte heute abend noch mehr Gemütsbewegung. Sie gingen ins Wohnzimmer zurück.

»Also«, sagte Eleanor und sah umher, »ich glaube, ich werde schlafen gehn. Die Pflegerin wird klingeln, hat sie gesagt, wenn sie etwas braucht.«

»Wir könnten schließlich alle schlafen gehn«, sagte Morris. Milly begann ihre Stickerei einzurollen. Morris begann das Feuer auseinanderzuscharren.

»Was für ein verrücktes Feuer –« rief er gereizt. Die Kohlen hingen alle zusammen. Sie brannten lichterloh.

Plötzlich klingelte es.

»Die Pflegerin!« rief Eleanor aus. Sie sah Morris an. Sie verließ eilig das Zimmer. Morris folgte ihr.

Aber welchen Zweck hat das? dachte Delia. Es ist nur wieder ein blinder Alarm. Sie stand auf. »Es ist nur die Pflegerin«, sagte sie zu Milly, die sich mit bestürzter Miene erhoben hatte. Sie kann doch nicht wieder zu weinen beginnen, dachte sie und schlenderte in das vordere Zimmer. Kerzen brannten auf dem Kaminsims; sie beleuchteten das Porträt darüber. Sie blickte auf das Porträt ihrer Mutter. Die junge Frau in Weiß schien bei dem sich hinziehenden Prozeß ihres eignen Sterbens mit einer lächelnden Gleichgültigkeit den Vorsitz zu führen, die ihre Tochter empörte.

»Du wirst schon nicht sterben – du wirst schon nicht sterben!« sagte Delia bitter, während sie zu ihr aufblickte. Ihr Vater war, von der Klingel aufgestört, ins Zimmer getreten. Er trug ein rotes Hauskäppchen mit einer absurden Quaste.

Aber es ist alles für nichts, sagte sich Delia, ihren Vater anblickend. Sie fühlte, daß sie beide ihre steigende Aufregung dämpfen müßten. »Nichts wird geschehn – gar nichts«, sagte sie sich, ihn ansehend. Aber in diesem Augenblick kam Eleanor herein. Sie war sehr blaß.

»Wo ist Papa?« fragte sie und sah sich um. Sie erblickte ihn. »Komm, Papa, komm!« sagte sie und streckte die Hand aus. »Mama stirbt ... Und die Kinder«, sagte sie über die Schulter zu Milly.

Zwei kleine weiße Flecke erschienen oberhalb der Ohren ihres Vaters, so bemerkte Delia. Seine Augen wurden starr. Er straffte sich. Er ging an ihnen vorüber und die Treppe hinauf. Sie folgten alle in einer kleinen Prozession hinterdrein. Der Hund, so bemerkte Delia, wollte mit ihnen hinaufkommen, aber Morris puffte ihn zurück. Der Oberst trat als erster in das Schlafzimmer; dann Eleanor; dann Morris; dann Martin, der im Herunterkommen seinen Schlafrock anzog; und Milly brachte Rose, in einen Schal gehüllt. Delia aber hielt sich ein Stück hinter den andern. So viele waren in dem Zimmer, daß sie nicht weiter als in die Tür gelangen konnte. Sie sah die beiden Pflegerinnen mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand stehn. Die eine weinte – die, so bemerkte sie, die erst diesen Nachmittag gekommen war. Dort wo sie stand, konnte sie das Bett nicht sehn. Aber sie konnte sehn, daß Morris auf die Knie gesunken war. Sollte ich nicht auch knien? fragte sie sich. Nicht im Gang, so entschied sie. Sie blickte weg; sie sah das kleine Fenster am Ende des Gangs. Regen fiel; irgendwo war ein Licht, das die Regentropfen leuchten machte. Ein Tropfen nach dem andern glitt an der Scheibe herunter; sie glitten und sie hielten inne; ein Tropfen kam zu einem andern, und dann glitten sie weiter. Im Schlafzimmer war völlige Stille.

Ist das der Tod? fragte sich Delia. Für einen Augenblick schien dort etwas zu sein. Eine Wand von Wasser schien auseinanderzuklaffen; und die zwei Wände blieben getrennt. Sie lauschte. Es herrschte völlige Stille. Dann eine Bewegung, ein Scharren von Füßen im Schlafzimmer, und ihr Vater kam herausgestolpert.

»Rose!« rief er. »Rose! Rose!« Er hielt die Arme mit geballten Fäusten vor sich gestreckt.

Das hast du sehr gut gemacht, sagte Delia im stillen, als er an ihr vorbeikam. Es war wie eine Szene in einem Stück. Sie gewahrte ganz leidenschaftslos, daß die Regentropfen noch immer herabglitten. Einer traf im Gleiten einen andern, und zusammen, als ein einziger, rollten sie zum untern Rand der Fensterscheibe.

Es regnete. Ein feiner Regen, ein sachter Schauer, besprengte das Pflaster und machte es speckig. War es der Mühe wert, einen Schirm aufzuspannen, war es nötig, ein Hansom herbeizurufen, fragten sich die Leute, die aus den Theatern kamen, und blickten zu dem milden, milchigen Himmel auf, an dem die Sterne matt geworden waren. Wo der Regen auf Erde fiel, auf Gärten und Wiesen, zog er den Geruch der Erde hervor. Hier hing ein Tropfen an einem Grashalm, dort füllte einer einen Blütenkelch; bis ein Windhauch sich regte und sie versprühte. War es der Mühe wert, unter dem Weißdorn, an der Hecke Schutz zu suchen, schienen die Schafe zu fragen; und die Kühe, schon auf den grauen Wiesen gelassen, weideten weiter längs den blassen Hecken oder kauten schläfrig, indes die Regentropfen ihnen übers Fell rannen. Auf Dächer herab fielen sie – hier in Westminster, dort in der Ladbroke Grove; auf dem weiten Ozean stachen Millionen Spitzen, unzählbar wie aus einer Brause, das blaue Ungeheuer. Über die riesigen Kuppeln, die ragenden Türme schlummernder Universitätsstädte, über die bleigedeckten Bibliotheken und die Museen, die nun in braunes Rohleinen gehüllten, lief der linde Regen herab, bis er sich, die Mäuler dieser phantastischen Lacher, der vielkralligen Wasserspeier erreichend, aus tausend breiten Zahnlücken ergoß. Ein Betrunkener, der in einem engen Gäßchen vor der Kneipe ausglitt, verfluchte ihn. Frauen in den Wehen hörten den Arzt zur Hebamme sagen: »Es regnet.« Und die bummernden Glocken von Oxford, die sich hin- und herwälzten wie träge Tümmler in einem Meer von Öl, stimmten bedächtig ihre musikalischen Zauberformeln an. Der feine Regen, der sanfte Regen ergoß sich gleichermaßen über die Infulierten und die Barhäuptigen, mit einer Unparteilichkeit, die andeutete, daß sich der Gott des Regens, wenn es einen gab, dachte: Laß ihn nicht beschränkt sein auf die Hochweisen, die Hochmächtigen, sondern laß alles, was da atmet, die Weidenden und die Wiederkäuenden, die Unwissenden und die Unglücklichen, alle, die sich am Brennofen mühen und unzählige Abbilder desselben Topfes formen, alle, die sich mit glühheißem Geist durch krause Buchstaben bohren, und auch Mrs. Smith im Hintergäßchen teilhaben an meinem Überfluß.

Es regnete in Oxford. Sachte, beharrlich fiel der Regen und gurgelte und gluckste leise in den Rinnsteinen. Edward, der sich aus dem Fenster beugte, konnte die vom fallenden Regen geweißten Bäume im Garten des College grade noch sehen. Bis auf das Rascheln der Bäume und das Rieseln des Regens war es völlig still. Ein feuchter, erdiger Geruch kam herauf von dem nassen Boden. Lampen wurden da und dort in der dunkeln Masse des College entzündet; und in dem einen Winkel war ein blaßgelblicher Hügel, wo das Lampenlicht auf einen blühenden Baum fiel. Das Gras wurde unsichtbar, flüssig, grau wie Wasser.

Er tat einen tiefen Atemzug der Befriedigung. Von allen Augenblicken des Tages war ihm dieser der liebste, wenn er so am Fenster stand und in den Garten hinaussah. Wieder atmete er die kühle, feuchte Luft ein und richtete sich dann auf und wandte sich ins Zimmer zurück. Er arbeitete sehr fleißig. Sein Tag war nach dem Rat seines Studienleiters in Stunden und halbe Stunden aufgeteilt; aber es blieben ihm doch noch fünf Minuten, bevor er beginnen müßte. Er schraubte den Docht der Leselampe hoch. Es war zum Teil das grüne Licht, das ihn ein wenig blaß und mager aussehen ließ. Aber er war sehr hübsch. Mit seinen klaren Zügen und dem blonden Haar, das er mit einer schnellen Bewegung seiner Finger zu einem Schopf hochstrich, sah er aus wie ein griechischer Jüngling auf einem Fries. Er lächelte. Er dachte, während er dem Regen zusah, daran, wie nach der Unterredung zwischen seinem Vater und seinem Studienleiter, bei der der alte Harbottle gesagt hatte: »Ihr Sohn hat Aussichten«, sein Alter Herr darauf bestanden hatte, sich die Bude anzusehn, die auch schon sein Vater bewohnt hatte, als er im College Student war. Sie waren hineingeplatzt und hatten einen Burschen namens Thompson dabei angetroffen, wie er kniend das Feuer mit einem Blasbalg anfachte.

»Mein Vater hatte diese Zimmer, Sir«, hatte der Oberst gewissermaßen als Entschuldigung gesagt. Der junge Mann War sehr rot geworden und hatte geantwortet: »Oh, das macht nichts.« Edward lächelte. »Oh, das macht nichts«, wiederholte er. Es war Zeit anzufangen. Er schraubte den Docht ein wenig höher. Als die Lampe heller brannte, sah er seine Arbeit in einem scharfen Kreis klaren Lichts aus dem umgebenden Dämmer herausgeschnitten. Er blickte auf die Lehrbücher, auf die Lexika, die vor ihm lagen. Er hegte immer etliche Zweifel, bevor er anfing. Der Vater würde sich schrecklich kränken, wenn er nicht mit Auszeichnung bestünde; sein Herz hing daran. Er hatte ihm ein Dutzend Flaschen feinen alten Portweins geschickt, »als Steigbügeltrunk«, so hatte er gesagt. Aber jedenfalls war sie Marsham so gut wie sicher; und da war noch der gescheite kleine Judenjunge aus Birmingham – doch es war Zeit anzufangen. Eine nach der andern begannen die Glocken von Oxford ihr langsames Geläut durch die Luft zu schieben. Sie läuteten gewichtig, ungleichmäßig, als müßten sie die Luft aus dem Weg rollen und die Luft wäre schwer. Er liebte den Klang der Glocken. Er lauschte, bis der letzte Schlag verhallt war; dann zog er den Stuhl an den Tisch; es war Zeit; er mußte nun arbeiten.

Eine kleine Einkerbung zwischen seinen Brauen vertiefte sich. Er runzelte die Stirn beim Lesen. Er las; und er machte sich eine Aufzeichnung; dann las er weiter. Alle Klänge waren ausgelöscht. Er sah nichts als das Griechische da vor sich. Aber während er las, erwärmte sich sein Gehirn allmählich; er war sich bewußt, daß alles in seiner Stirn sich regte und spannte. Er erfaßte Phrase nach Phrase genau, fest; genauer, so gewahrte er, während er eine kurze Anmerkung an den Rand schrieb, als gestern abend. Kleine, nebensächliche Wörter enthüllten nun Bedeutungsschattierungen, die den Sinn abänderten. Er machte wieder eine Anmerkung; das war der Sinn. Seine Geschicklichkeit, mit der er ihn im Kern zu fassen kriegte, verursachte ihm ein jähes Gefühl der Erregung. Da hatte er ihn, säuberlich und vollständig. Aber er mußte genau sein; präzis; sogar seine kleinen hingekritzelten Anmerkungen mußten klar wie Kristall sein. Er griff nach diesem Buch hier; dann nach jenem dort. Dann lehnte er sich zurück, die Augen geschlossen, um besser zu sehen. Er durfte nichts in Verschwommenheit wegschwinden lassen. Die Uhren begannen zu schlagen. Er lauschte. Die Uhren schlugen weiter. Die Linien, die sich in sein Gesicht eingegraben hatten, erschlafften; er lehnte sich zurück; seine Muskeln entspannten sich; er blickte von seinen Büchern in das Dämmer auf. Er hatte ein Gefühl, als hätte er sich nach einem Wettlauf auf den Rasen geworfen. Aber für einen Augenblick schien es ihm, als liefe er noch immer; sein Geist eilte ohne das Buch weiter. Er reiste allein, ohne Belastung, durch eine Welt reinen Sinns; aber allmählich verlor sie ihren Sinn. Die Bücher an der Wand traten hervor. Er sah die rahmfarbene Holztäfelung; ein Büschel Mohnblumen in einer blauen Vase. Der letzte Stundenschlag war verklungen. Er seufzte und erhob sich vom Tisch.

Er stand wieder am Fenster. Es regnete, aber das Weißliche war verschwunden. Nur da und dort schimmerte ein nasses Blatt, sonst war der Garten jetzt ganz dunkel – der gelbliche Hügel des blühenden Baums war verschwunden. Niedrig hingestreckt umgaben die College-Gebäude den Garten, hier rot gefleckt, dort gelb gefleckt, wo Licht hinter Vorhängen brannte; und dort lag die Kapelle, ihre Masse vor den Himmel gehäuft, der im Regen leise zu zittern schien. Aber es war nicht mehr still. Er lauschte; es war kein Laut im besondern zu hören; aber während er so stand und hinaus sah, summte das Gebäude von Leben. Ein plötzliches lautes Gelächter erklang; dann das Geklimper eines Klaviers; dann ein unbestimmtes Plappern und Klappern – zum Teil von Porzellan; dann wieder das Geräusch fallenden Regens und das Kichern und Glucksen, mit dem die Rinnsteine das Wasser aufsaugten. Er wandte sich ins Zimmer zurück.

Es war frostig geworden; das Feuer war fast erloschen; nur ganz wenig Rot glühte unter der grauen Asche. Er erinnerte sich des sehr gelegenen Geschenks von seinem Vater; der Wein war diesen Morgen gekommen. Erging zu dem Wandtischchen und schenkte sich ein Glas Portwein ein. Als er es gegen das Licht hielt, lächelte er. Er sah wieder die Hand seines Vaters, mit zwei glatten Stümpfen statt Fingern, das Glas, wie er es stets tat, gegen das Licht halten, bevor er trank.

»Man kann nicht kalten Bluts einem Kerl das Bajonett durch den Leib rennen«, hatte, so erinnerte er sich, sein Vater gesagt.

»Und man kann nicht ins Examen steigen, ohne zu trinken«, sagte Edward. Er zögerte; er hielt, seinen Vater nachahmend, das Glas gegens Licht. Dann nippte er. Er stellte das Glas auf den Tisch vor sich hin. Er wandte sich wieder der »Antigone« zu. Er las; dann nippte er; dann las er; dann nippte er abermals. Ein sanftes Glühn verbreitete sich über sein Rückgrat bis ins Genick. Der Wein schien kleine trennende Türen in seinem Gehirn aufzudrücken. Und ob es nun der Wein oder die Worte oder beides war, eine leuchtende Hülle formte sich, ein purpurner Nebel, aus dem ein Griechenmädchen hervortrat; doch sie war Engländerin. Da stand sie zwischen dem Marmor und dem Asphodelos, und dennoch war sie hier, vor der William-Morris-Tapete und den Zierschränken, – seine Cousine Kitty, wie er sie das letzte Mal gesehn hatte, als er in der »Lodge« zum Abendessen war. Sie war beides – Antigone und Kitty; hier im Buch; da im Zimmer; leuchtend erstanden wie eine Purpurblume. Nein, nicht im geringsten wie eine Blume! Denn wenn je ein Mädchen sich aufrecht hielt, lebte, lachte und atmete, dann war es Kitty in dem weiß und blauen Kleid, das sie getragen hatte, als er letztesmal in der Lodge zum Abendessen war. Er ging ans Fenster. Rote Vierecke zeigten sich durch die Bäume. In der Lodge war Gesellschaft. Mit wem unterhielt sie sich? Was sagte sie? Er ging an den Tisch zurück.

»Oh, verdammt!« rief er aus und stach mit dem Bleistift aufs Papier los. Die Spitze brach ab. Dann ertönte ein Klopfen an der Tür, ein gleitendes Klopfen, nicht ein befehlerisches; das Klopfen jemands, der vorübergeht, nicht jemands, der hereinkommen will. Er ging und öffnete die Tür. Dort auf der Stiege oben ragte die Gestalt eines hünenhaften jungen Mannes, der sich über das Geländer beugte. »Komm herein!« sagte Edward.

Der hünenhafte junge Mann kam langsam die Stiege herab. Er war wirklich sehr groß. Seine Augen, die etwas vorstanden, wurden argwöhnisch, als er der Bücher auf dem Tisch ansichtig wurde. Er blickte auf die Bücher. Griechisch. Aber es war doch auch Wein da.

Edward schenkte ein. Neben Gibbs machte er einen Eindruck, den Eleanor »pitzlig« nannte. Er selbst fühlte den Gegensatz. Die Hand, mit der er das Glas hob, war wie die Hand eines Mädchens neben Gibbs’großer roter Tatze. Gibbs’ Hand war von der Sonne scharlachrot gebrannt; sie sah aus wie ein Stück rohes Fleisch.

Fuchsjagden waren ihr gemeinsames Interesse. Also redeten sie von Fuchsjagden. Edward lehnte sich zurück und überließ Gibbs das Reden. Es war sehr angenehm, wenn man Gibbs zuhörte, so auf diesen englischen Heckenwegen dahinzureiten. Er sprach vom Jungfüchse-Ausheben im September; und von einem unzugerittenen, aber anstelligen Jagdpferd. »Du erinnerst dich doch«, sagte er, »an die Farm rechts am Weg nach Stapleys hinauf? Und an das hübsche Mädel dort?« Er blinzelte. »Das Pech ist, daß sie jetzt mit einem Wildhüter verheiratet ist.« Er sagte – und Edward sah ihm dabei zu, wie er den Portwein herunterschüttete, – er wünsche sich nur, dieser verdammte Sommer wäre endlich vorbei. Dann erzählte er wieder einmal die alte Geschichte von der Spanielhündin. »Du kommst doch im September auf einige Zeit zu uns?« fragte er grade, als die Tür sich so lautlos öffnete, daß Gibbs es nicht hörte, und herein glitt ein andrer junger Mann – ein ganz andrer junger Mann.

Es war Ashley, der eintrat. Er war das genaue Gegenteil von Gibbs. Er war weder groß noch klein, weder dunkel noch blond. Aber er war nicht zu übersehn – ganz und gar nicht. Es war zum Teil die Art, wie er sich bewegte, als strahlten Tisch und Stuhl eine Influenz aus, die er durch irgendwelche unsichtbare Fühler spüren konnte – oder durch Schnurrhaare wie die eines Katers. Nun ließ er sich auf einen Sessel sinken, vorsichtig, ein wenig zimperlich, und blickte auf den Tisch und überflog eine Zeile in einem Buch. Gibbs hielt mitten im Satz inne.

»Hallo, Ashley«, sagte er kurz. Er streckte die Hand aus und schenkte sich noch ein Glas vom Portwein des Obersten ein. Die Karaffe war nun leer.

»Tut mir leid«, sagte er mit einem Blick auf Ashley.

»Mach meinetwegen nicht noch eine Flasche auf«, sagte Ashley schnell. Seine Stimme klang ein wenig quiekend, als fühlte er sich befangen.

»Oh, aber auch wir werden noch trinken wollen«, sagte Edward so nebenhin. Er ging ins Eßzimmer, um den Wein zu holen.

Verdammt unangenehm, überlegte er, als er sich zu den Flaschen bückte. Es bedeutete, so überlegte er grimmig, als er eine Flasche wählte, wieder einen Krach mit Ashley, und er hatte schon zweimal in diesem Trimester Gibbs’ wegen mit Ashley Krach gehabt.

Er ging mit der Flasche zurück und setzte sich auf einen niedrigen Stuhl zwischen die beiden. Er entkorkte die Flasche und schenkte ein. Beide sahen ihn bewundernd an, wie er da zwischen ihnen saß. Seine Eitelkeit, die seine Schwester Eleanor stets an ihm belachte, war geschmeichelt. Es gefiel ihm, die Blicke der beiden auf sich zu fühlen. Und doch war er beiden gegenüber ganz unbefangen, dachte er; der Gedanke freute ihn. Er konnte mit Gibbs übers Jagen und mit Ashley über Bücher sprechen. Aber Ashley konnte nur von Büchern reden, und Gibbs – er lächelte – konnte nur von Mädeln reden. Von Mädeln und Pferden. Er schenkte drei Gläser voll.

Ashley nippte behutsam, aber Gibbs, die großen roten Hände ums Glas, stürzte förmlich den Wein herunter. Sie redeten von Pferderennen; dann redeten sie von Prüfungen. Dann fragte Ashley mit einem Blick nach den Büchern auf dem Tisch:

»Und wie steht’s mit dir?«

»Ich hab’ nicht die Spur von einer Chance«, sagte Edward. Seine Gleichgültigkeit war gemacht. Er gab vor, Prüfungen zu verachten; aber es war nur ein Vorgeben. Gibbs ließ sich von ihm täuschen; Ashley aber durchschaute ihn. Er erwischte Edward oft bei solchen kleinen Eitelkeiten; doch das machte ihm Edward nur um so lieber. Wie schön er aussieht, dachte er: hier saß er zwischen ihnen, und das Licht schien auf sein blondes Haar; wie ein Griechenjüngling; kraftvoll und doch irgendwie schwach, seines Schutzes bedürftig.

Man müßte ihn vor solchen viehischen Kerlen wie Gibbs bewahren, dachte er zornig. Denn wie Edward diesen klobigen Rohling ertragen konnte, dachte er, ihn ansehend, der (er hörte ihm zu) immer nach Bier und Pferden zu riechen schien, das begriff er einfach nicht. Als er eintrat, hatte er das Ende eines ihn empörenden Satzes aufgefangen – eines Satzes, aus dem hervorzugehn schien, daß sie irgendeinen gemeinsamen Plan gefaßt hatten.

»Na, dann werd’ ich also mit Storey wegen des Jagdpferdes sprechen«, sagte Gibbs jetzt, als beendete er ein Privatgespräch, das die beiden geführt hatten, bevor er selbst hereingekommen war. Jähe Eifersucht durchfuhr ihn. Um sie zu verbergen, streckte er die Hand aus und ergriff ein Buch, das offen auf dem Tisch lag. Er tat, als läse er darin.

Er tat das, um ihn zu beleidigen, empfand Gibbs. Ashley, das wußte er, hielt ihn für einen plumpen, rohen Lümmel; der elende kleine Rotzer kam herein, störte das Gespräch und begann sich dann auf seine, Gibbs’, Kosten, ein Ansehn zu geben. Na gut; er hatte schon gehn wollen; nun würde er bleiben; er würde ihm auf die Zehen treten – er wußte schon, wie. Er wandte sich an Edward und sprach weiter.

»Du wirst dir doch nichts aus ein bißchen Zigeunerwirtschaft machen?« sagte er. »Die Familie wird oben in Schottland sein.«

Ashley wandte wütend ein Blatt um. Da wären sie dann also allein. Edward begann die Situation auszukosten; boshaft spielte er sich auf sie ein.

»Das ist schon recht«, sagte er. »Aber du wirst darauf achten müssen, daß ich mich nicht blamiere«, fügte er hinzu.

»Oh, wir werden nur Jungfüchse ausheben«, sagte Gibbs. Ashley wandte wieder ein Blatt um. Edward warf einen Blick auf das Buch. Es wurde verkehrt gehalten. Aber als er hinblickte, sah er Ashleys Kopf gegen die Täfelung und die Mohnblumen der Tapete. Wie zivilisiert er aussah, dachte er, im Vergleich mit Gibbs; und wie ironisch. Er hatte ungeheure Achtung vor ihm. Gibbs hatte seinen Nimbus verloren. Da saß er und erzählte dieselbe alte Geschichte von der Spanielhündin noch einmal von Anfang. Morgen gäbe es einen teuflischen Krach, dachte er mit einem verstohlenen Blick auf seine Uhr. Es war elf vorbei; und er mußte vor dem Frühstück noch eine Stunde studieren. Er schluckte die letzten Tropfen aus seinem Glas herunter, streckte sich, gähnte auffällig und stand auf.

»Ich geh’ schlafen«, sagte er. Ashley sah ihn flehend an; Edward konnte ihn fürchterlich quälen. Edward begann seine Weste aufzuknöpfen; er hatte eine vollendete Gestalt, dachte Ashley, ihn ansehend, wie er da zwischen ihnen stand.

»Aber beeilt euch nicht«, sagte Edward, abermals gähnend. »Trinkt ruhig aus.« Er lächelte bei dem Gedanken, wie Ashley und Gibbs miteinander ihre Gläser austränken.

»Noch massenhaft dort drin, wenn ihr Lust auf mehr habt.« Er wies auf das Nebenzimmer und verließ die beiden.

Sollen sie’s miteinander ausfechten, dachte er, als er die Schlafzimmertür schloß. Sein eigener Kampf käme bald genug; das hatte er an Ashleys Miene deutlich erkannt; Ashley war höllisch eifersüchtig. Er begann sich zu entkleiden. Er legte sein loses Geld methodisch in zwei Häufchen rechts und links vom Spiegel – denn er war ein wenig pedantisch, was Geld betraf, – hing seine Weste sorgfältig über eine Stuhllehne, dann blickte er in den Spiegel und strich seinen Schopf mit der halb bewußten Geste hoch, die seine Schwester immer reizte. Dann lauschte er. Eine Tür fiel draußen zu. Der eine von ihnen war gegangen. Entweder Gibbs oder Ashley. Aber einer, dächte er, war noch da. Er lauschte angestrengt; er hörte jemand im Studierzimmer umhergehn. Sehr schnell, sehr entschlossen drehte er den Schlüsse! im Türschloß. Einen Augenblick später bewegte sich die Klinke.

»Edward!« sagte Ashley. Seine Stimme war leise und beherrscht.

Edward gab keine Antwort.

»Edward!« sagte Ashley und rüttelte an der Klinke. Die Stimme klang scharf und flehend.

»Gute Nacht«, sagte Edward kurz. Er lauschte. Es folgte eine Stille. Dann hörte er, wie sich die andre Tür schloß. Ashley war gegangen.

Herrgott! Was für einen Krach das morgen geben wird! sagte sich Edward, ans Fenster tretend und in den Regen hinaussehend, der noch immer fiel.

Die Gesellschaft in der Lodge war zu Ende. Die Damen standen in der Haustür, in ihren wallenden Abendkleidern, und blickten zum Himmel auf, von dem ein sanfter Regen fiel.

»Ist das eine Nachtigall?« fragte Mrs. Larpent, die einen Vogel im Gebüsch zwitschern hörte. Der alte Chuffy – der große Dr. Andrews – ein wenig hinter ihr, den gewölbten Schädel in das Nieseln vorgestreckt und das bärtige, kraftvolle, aber wenig einnehmende Gesicht aufwärts gewendet, stieß ein schallendes Gelächter aus. Es sei eine Drossel, sagte er. Das Gelächter widerhallte wie ein Hyänenlachen von den Steinmauern. Dann zog Mrs. Larpent, und machte dabei eine von jahrhundertealter Tradition diktierte Handbewegung, ihren Fuß zurück, als hätte sie gegen eins der Kreidezeichen verstoßen, welche die Türstürze akademischer Würdenträger zieren, und mit dieser Andeutung, daß Mrs, Lathom, die Frau des Theologieprofessors, ihr vorangehn möge, traten sie in den Regen hinaus.

In dem länglichen Salon der Lodge standen die noch Anwesenden beisammen.

»Ich freue mich so, daß Chuffy – Dr. Andrews – Ihren Erwartungen entsprochen hat«, sagte Mrs. Malone auf ihre höfliche Art. Als im College Wohnende nannte sie den berühmten Mann »Chuffy«; für Besucher aus Amerika war er Dr. Andrews.

Die andern Gäste waren gegangen. Aber die Howard Fripps, die Amerikaner, waren Logiergäste. Mrs. Howard Fripp sagte, Dr. Andrews sei geradezu bezaubernd zu ihr gewesen. Und ihr Mann, der Professor, sagte etwas ebenso Höfliches zu Dr. Malone, dem »Meister« des College. Kitty, die Tochter des Hauses, ein wenig im Hintergrund stehend, wünschte, sie würden endlich alle ein Ende machen und zu Bett gehn. Aber sie mußte hier stehn, bis ihre Mutter das Zeichen zum Aufbruch gäbe.

»Ja, ich habe Chuffy nie in besserer Form gesehn«, setzte ihr Vater das Gespräch fort, mit einem versteckten Kompliment für die Dame aus Amerika, die eine solche Eroberung gemacht hatte. Sie war klein und lebhaft, und Chuffy hatte es gern, wenn Damen klein und lebhaft waren.

»Ich schwärme für seine Bücher«, sagte sie mit ihrer wunderlichen näselnden Stimme. »Aber ich hätte nie erwartet, das Vergnügen zu haben, einmal beim Abendessen neben ihm zu sitzen.«

Gefiel es dir wirklich, wie er beim Reden spuckte? dachte Kitty, während sie sie betrachtete. Sie war außerordentlich hübsch und munter. Alle diese andern Weiber hatten neben ihr salopp und schwerfällig ausgesehn, ihre Mutter ausgenommen. Denn Mrs. Malone, die jetzt, den einen Fuß auf der Kamineinfassung, vor dem Feuer stand, sah mit ihren wie gedrechselten Locken knusprigen weißen Haars nie modisch und nie unmodisch aus; Mrs. Fripp dagegen ganz nach der Mode.

Und doch machten sie sich über sie lustig, dachte Kitty. Sie hatte die Oxforder Damen dabei ertappt, wie sie die Brauen hochzogen bei einigen von Mrs. Fripps amerikanischen Redewendungen. Aber Kitty gefielen ihre Redewendungen; sie waren so anders als das, was sie gewohnt war. Sie war Amerikanerin, eine wirkliche Amerikanerin; aber niemand hätte ihren Mann für einen Amerikaner gehalten, dachte Kitty mit einem Blick auf ihn. Er hätte irgendein Professor sein können, von irgendeiner Universität, dachte sie, mit seinem vornehmen, runzeligen Gesicht, seinem Bocksbärtchen und dem schwarzen Bändchen seines Einglases, das über die Hemdbrust herabhing, als wäre es ein ausländischer Orden. Er sprach ohne jeden Akzent – zumindest ohne jeden amerikanischen. Doch auch er war irgendwie anders. Ihr Taschentuch war ihr heruntergefallen. Er bückte sich sogleich und reichte es ihr mit einer Verneigung, die fast zu höflich war – es machte sie verlegen. Sie neigte den Kopf und lächelte den Professor ziemlich scheu an, als sie das Taschentuch entgegennahm.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte sie. Er gab ihr das Gefühl, linkisch zu sein. Neben Mrs. Fripp kam sie sich noch größer als sonst vor. Und ihr Haar, vom echten Rot der Rigbys, lag nie glatt, wie es hätte liegen sollen. Mrs. Fripps Haar sah wunderschön aus, voll Glanz und ordentlich.

»Und nun«, sagte Mrs. Malone mit einem Blick auf Mrs. Fripp, »nun, meine Damen–?« und schwenkte die Hand.

Es lag Autorität darin – als hätte sie das oft und oft getan; und als hätte man ihr oft und oft gehorcht. Sie ging zur Tür. Heute abend kam es dort zu einer kleinen Zeremonie. Professor Fripp neigte sich sehr tief über Mrs. Malones Hand, nicht ganz so tief über Kittys Hand, und hielt die Tür für sie beide weit offen.

Er übertreibt ein wenig, dachte Kitty, als sie hinausgingen.

Die Damen nahmen ihre Kerzenleuchter und gingen hintereinander die breiten, niedrigen Stufen der Treppe hinauf. Porträts früherer Vorsteher des Katharine College blickten auf sie herab, wie sie so hinaufgingen. Das Licht der Kerzen flackerte über die dunkeln, goldgerahmten Gesichter, als sie Stufe nach Stufe hinaufstiegen.

Jetzt wird sie stehnbleiben, dachte Kitty, die als letzte folgte, und fragen, wer das ist.

Aber Mrs. Fripp blieb nicht stehn. Kitty gab ihr Gutpunkte dafür. Sie stach vorteilhaft von den meisten Besuchen ab, dachte Kitty. Sie hatte die Bodleiana noch nie ganz so schnell absolviert wie an diesem Vormittag. Tatsächlich hatte sie sich ziemlich schuldbewußt gefühlt. Es hätte noch viel mehr zu sehn gegeben, wenn sie gewollt hätten. Aber nach kaum einer Stunde Besichtigens hatte Mrs. Fripp sich zu Kitty gewendet und mit ihrer fesselnden, wenn auch näselnden Stimme gesagt: »Nun, meine Liebe, ich schätze, Sie haben genug vom Sehenswürdigkeiten– zeigen, – was würden Sie zu einem Eis sagen, in dem entzückenden alten Kuchenladen mitden gebauchten Fenstern? «

Und sie hatten Eis gegessen, statt, wie sie hätten sollen, den ganzen Rundgang durch die Bibliothek zu machen.

Die Prozession hatte jetzt den ersten Treppenabsatz erreicht, und Mrs. Malone blieb in der Tür des berühmten Zimmers stehn, wo hervorragende Gäste stets schliefen, wenn sie in der Lodge wohnten. Sie warf einen Blick rundum, während sie die Tür offenhielt.

»Das Bett, in dem Königin Elisabeth nicht geschlafen hat«, sagte sie, ihren gewohnten kleinen Scherz machend, als sie alle auf das große Himmelbett blickten. Ein Feuer brannte im Kamin; der Wasserkrug war eingewickelt wie ein altes Weib, das Zahnweh hat; und die Kerzen auf dem Toilettetisch waren angezündet. Heute abend aber hatte das Zimmer etwas Fremdartiges, dachte Kitty, die der Mutter über die Schulter blickte; ein Schlafrock schimmerte grün und silbern auf dem Bett. Und auf dem Toilettetisch standen eine Anzahl kleiner Tiegel und Flakons und eine große, rosa bestäubte Puderquaste. War es möglich, war vielleicht das der Grund, daß Mrs. Fripp gar so frisch und die Oxforder Damen gar so welk aussahn, – daß Mrs. Fripp sich –. Aber Mrs. Malone fragte: »Sie haben doch alles, was Sie brauchen?« mit solch äußerster Höflichkeit, daß Kitty erriet, auch ihre Mutter habe den Toilettetisch bemerkt. Kitty streckte die Hand aus. Zu ihrer Überraschung zog Mrs. Fripp sie, statt die Hand zu ergreifen, zu sich herab und küßte sie.

»Tausend Dank dafür, daß Sie mir alle diese Sehenswürdigkeiten gezeigt haben«, sagte sie. »Und vergessen Sie nicht, Sie kommen auf Besuch zu uns nach Amerika«, fügte sie hinzu. Denn ihr gefiel das große scheue Mädchen, das es so offenkundig vorgezogen hatte, Eis zu essen, statt ihr die Bodleiana zu zeigen; und aus irgendeinem Grund hatte Kitty ihr auch leid getan»

»Gute Nacht, Kitty«, sagte ihre Mutter, als sie die Tür geschlossen hatte. Und sie küßten einander flüchtig auf die Wange.

Kitty ging weiter die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie fühlte noch immer die Stelle, wo Mrs. Fripp sie geküßt hatte; der Kuß hatte ein kleines Glühn auf ihrer Wange hinterlassen.

Sie schloß die Tür. Das Zimmer war stickig. Es war eine warme Nacht, aber die schlossen immer die Fenster und zogen die Vorhänge vor. Sie öffnete die Fenster und zog die Vorhänge zur Seite. Es regnete, wie gewöhnlich. Pfeile silbernen Regens kreuzten die dunkeln Bäume im Garten. Dann streifte sie ihre Schuhe ab. Das war das Unangenehmste, wenn man so groß war, – Schuhe waren einem immer zu eng; weiße Seidenschuhe besonders. Dann begann sie, ihr Kleid aufzuhaken. Es war schwierig; es waren so viele Häkchen daran, und alle im Rücken; aber endlich war das weiße Atlaskleid herunter und lag nett über einen Sessel; und sie begann, sich das Haar zu bürsten. Es war ein Donnerstag gewesen, wie er nicht ärger hätte sein können, überlegte sie; Sehenswürdigkeiten am Vormittag; Gäste zum Mittagessen; Studenten zum Tee; und abends abermals Gäste.

Immerhin, sagte sie sich und zerrte dabei den Kamm durchs Haar, es ist vorbei ... es ist vorbei.

Die Kerzen flackerten, und dann berührte der Musselinvorhang, der sich zu einem weißen Ballon bauschte, fast die Flamme. Aufschreckend öffnete sie die Augen. Sie stand am offenen Fenster, mit einem Licht neben sich, und war im Unterrock.

»Jeder Mensch kann hereinsehn«, hatte ihre Mutter gesagt, als sie sie erst vor wenigen Tagen deswegen gescholten hatte.

So! dachte sie und stellte die Kerzen auf einen Tisch zur Rechten, jetzt kann niemand hereinsehn.

Sie begann wieder, ihr Haar zu kämmen. Aber mit dem Licht zur Seite, statt vor sich, sah sie ihr Gesicht jetzt unter einem andern Winkel.

Bin ich hübsch? fragte sie sich, legte den Kamm hin und blickte in den Spiegel. Ihre Backenknochen standen zu sehr vor; ihre Augen lagen zu weit auseinander. Sie war nicht hübsch, nein; ihre Größe war unvorteilhaft. Was hat sich Mrs. Fripp wohl von mir gedacht? fragte sie sich.

Sie hat mich geküßt, erinnerte sie sich plötzlich mit jäher Freude und fühlte wieder das Glühn auf ihrer Wange. Sie hat mich aufgefordert, zu ihnen nach Amerika zu kommen. Was für ein Spaß das wäre! Was für ein Spaß, von Oxford wegzukommen und nach Amerika zu fahren! Sie zerrte den Kamm durch ihr Haar, das wie ein Ginsterbusch war.

Aber die Turmuhren begannen ihren gewohnten Tumult. Sie haßte diesen Klang; er kam ihr stets trübselig vor, und dann, grade wenn die eine aufhörte, begann eine andre. Sie dröhnten weiter, eine in die andre hinein, eine nach der andern, als würden sie nie zu Ende kommen. Sie zählte elf, zwölf, und dann ging es weiter, dreizehn, vierzehn ... Eine Uhr wiederholte die andre durch die feuchte Nieselluft. Es war spät. Sie begann, sich die Zähne zu putzen. Sie blickte auf den Kalender über dem Waschtisch und riß den Donnerstag ab und knüllte ihn zu einer Kugel, als wollte sie sagen: »Der ist vorbei! Der ist vorbei!« Der Freitag sah ihr wie in roten Lettern entgegen. Der Freitag war ein guter Tag; Freitag hatte sie ihre Lektion bei Lucy; und sie ging zum Tee zu den Robsons. »Glücklich ist, wer seine Arbeit gefunden hat«, las sie auf dem Kalender. Kalender schienen immer zu einem zu reden. Sie hatte ihre Arbeit nicht getan. Sie warf einen Blick auf eine Reihe blauer Bände: »Verfassungsgeschichte Englands von Dr. Andrews«. Ein Papierstreifen stak in Band drei. Sie hätte ihr Kapitel für Lucy beenden sollen; aber nicht heute abend. Sie war zu müde heute abend. Sie wandte sich zum Fenster. Ein lautes Gelächter ertönte aus den Studentenwohnungen. Worüber lachen die dort? fragte sie sich, als sie so am Fenster stand. Es klang, als unterhielten sie sich gut. Sie lachen nie so, wenn sie zum Tee in die Lodge kommen, dachte sie, als das Gelächter verklang. Der kleine Kerl aus dem Balliol College, der dasaß und immerzu die Finger ineinanderwand, sie immerzu ineinanderwand. Er brachte kaum ein Wort hervor; aber er ging auch nicht. Dann blies sie die Kerze aus und stieg ins Bett. Ich mag ihn ganz gern, dachte sie, sich zwischen den kühlen Leintüchern aus streckend, – trotzdem er die Finger ineinanderwindet. Aber diesen Tony Ashley, dachte sie, den Kopf auf dem Kissen wendend, den mag ich nicht. Er schien stets ein Verhör mit ihr anzustellen, Edwards wegen, den Eleanor, dachte sie, »Nix« nennt. Seine Augen lagen zu nahe beieinander. Ist ein bißchen ein Perückenstock, dachte sie. Er war ihr die ganze Zeit gefolgt bei dem Picknick vor einigen Tagen – bei dem Picknick, wo Mrs. Lathom die Ameise unter die Röcke geraten war. Er hatte sich die ganze Zeit neben ihr gehalten. Aber sie wollte ihn nicht heiraten. Sie wollte nicht eine Professorsfrau werden und auf ewig in Oxford leben. Nein, nein, nein! Sie gähnte, wandte sich auf dem Kopfkissen um und lauschte einer verspäteten Turmuhr, die wie eine träge Seekuh dahinbummerte durch die dicke Nieselluft, gähnte noch einmal und schlief ein.

Der Regen fiel stetig die ganze Nacht, zog einen dünnen Nebel über die Felder, gurgelte und gluckste in den Rinnsteinen. In Gärten fiel er auf blühende Fliederbüsche und Goldregensträucher. Er glitt sanft über die bleiernen Kuppeln von Bibliotheken und ergoß sich aus den breit grinsenden Steinmäulern. Er trübte das Fenster, hinter dem der Judenjunge aus Birmingham saß und Griechisch büffelte, ein nasses Handtuch um den Kopf; und das, hinter dem Dr. Malone noch spät an einem neuen Kapitel seiner monumentalen Geschichte des College schrieb. Und im Garten der Lodge, vor Kittys Fenster, berieselte er den uralten Baum, unter dem vor dreihundert Jahren Könige und Dichter beim Trunk gesessen hatten; nun aber war er halb umgesunken und mußte durch eine Stange in der Mitte gestützt werden.

»Einen Schirm, Miss?« fragte Hiscock und bot Kitty einen Schirm an, als sie am folgenden Nachmittag später, als sie hätte sollen, wegging. In der Luft war eine Kühle, die sie froh machte, als sie eine Gesellschaft in weißen und gelben Sommerkleidern und mit Bootkissen zum Fluß gehen sah, daß sie heute nicht in einem Boot sitzen würde. Keine Gesellschaften heute, dachte sie, keine Gesellschaften heute. Aber sie hatte sich verspätet, so mahnte die Uhr sie.

Sie ging weiter, bis sie zu den ordinär aussehenden roten Villen kam, die ihr Vater so sehr verabscheute, daß er stets einen Umweg machte, um ihren Anblick zu vermeiden. Aber da in einer dieser ordinären roten Villen Miss Craddock wohnte, sah Kitty sie in einer Gloriole von Romantik. Ihr Herz schlug schneller, als sie bei der neuen Kapelle um die Ecke bog und die Türstufen des Hauses erblickte, in dem Miss Craddock wirklich und leibhaftig wohnte. Lucy ging diese Stufen jeden Tag hinauf und hinunter; dies war ihr Fenster; dies war ihre Glocke. Der Glockenzug kam mit einem Ruck heraus, als sie ihn zog, aber ging nicht wieder hinein, denn alles war verwahrlost an Lucys Haus; aber alles war romantisch. Lucys Schirm hier in dem Ständer, auch der war nicht wie andre Schirme: er hatte einen Papageienkopf als Griff. Aber als sie die steile, blinkende Treppe hinaufstieg, mischte sich Angst in ihre Erregung: wieder einmal hatte sie ihre Arbeit geschludert; sie hatte sich diese Woche wieder nicht »ganz darein versenkt«.

Heute kommt sie! dachte Miss Craddock und hielt mit der Feder in der Luft inne. Ihre Nasenspitze war rot; ihre Augen, um die sich gelbliche Vertiefungen zogen, hatten etwas Eulenhaftes. Da tönte die Glocke. Die Feder war in rote Tinte getaucht worden; sie hatte Kittys Aufsatz korrigiert. Nun hörte sie ihren Schritt auf der Treppe. Sie kommt! dachte sie mit einem kleinen Atemstocken und legte die Feder hin.

»Es tut mir schrecklich leid, Miss Craddock«, sagte Kitty, ihre Sachen ablegend und sich an den Tisch setzend. »Aber wir hatten Gäste bei uns wohnen.«

Miss Craddock fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, wie es ihre Art war, wenn sie sich enttäuscht fühlte.

»Ach so«, sagte sie, »also haben Sie diese Woche wieder nichts gearbeitet. «

Miss Craddock ergriff ihre Feder und tauchte sie in die rote Tinte. Dann wandte sie sich dem Aufsatz zu.

»Er war des Korrigierens nicht wert«, bemerkte sie und hielt, die Feder in der Luft, inne. »Ein zehnjähriges Kind hätte sich seiner geschämt.« Kitty wurde dunkelrot.

»Und das Verwunderliche ist«, sagte Miss Craddock und legte die Feder hin, als die Stunde zu Ende war, »daß Sie ganz gut zu selbständigem Denken fähig sind.«

Kitty errötete vor Freude.

»Aber Sie machen keinen Gebrauch davon«, sagte Miss Craddock. »Warum tun Sie’s nicht?« fügte sie hinzu und sah sie mit ihren klugen grauen Augen an.

»Wissen Sie, Miss Craddock«, begann Kitty eifrig, »meine Mutter – «

»Hm ... hm ... hm ... « unterbrach Miss Craddock sie. Sich Konfidenzen anzuhören, war nicht das, wofür Dr. Malone sie bezahlte. Sie stand auf.

»Sehn Sie sich meine Blumen an«, sagte sie mit dem Gefühl, das Mädchen allzu streng abgefertigt zu haben. Eine Schale mit Blumen stand auf dem Tisch; kleinen blauen und weißen, in ein Polster von feuchtem grünem Moos gesteckt.

»Meine Schwester hat sie mir aus den Bergen geschickt«, sagte sie.

»Aus den Bergen? «wiederholte Kitty. »Welchen Bergen?« Sie beugte sich vor und berührte die kleinen Blumen zärtlich. Wie lieblich sie ist, dachte Miss Craddock; denn sie war sentimental, was Kitty betraf. Aber ich will nicht sentimental sein, sagte sie sich.

»In der Nähe von Scarborough«, erklärte sie. »Wenn man das Moos feucht hält, aber nicht zu feucht, bleiben sie wochenlang frisch«, fügte sie, auf die Blumen blickend, hinzu.

»Feucht, aber nicht zu feucht.« Kitty lächelte. »Das ist leicht in Oxford, sollte ich meinen. Hier regnet es immer.« Sie blickte zum Fenster. Milder Regen fiel.

»Wenn ich dort oben leben könnte, Miss Craddock, – « begann sie und griff nach ihrem Schirm. Aber sie hielt inne. Die Stunde war vorbei.

»Sie würden es sehr langweilig finden«, sagte Miss Craddock, sie anblickend. Kitty zog ihren Mantel an. Gewiß, sie sah sehr lieblich aus, wie sie so ihren Mantel anzog.

»Als ich in Ihrem Alter war«, fuhr Miss Craddock fort, sich ihrer Lehrerinnenrolle erinnernd, »hätte ich alles darum gegeben, die Gelegenheiten zu haben, die Sie haben, mit den Leuten zusammenzukommen, mit denen Sie Zusammenkommen; die Leute zu kennen, die Sie kennen.«

»Den alten Chuffy?« fragte Kitty, weil sie sich an Miss Craddocks innige Bewunderung für diese Leuchte der Wissenschaft erinnerte.

»Sie respektloses Mädel!« wies Miss Craddock sie zurecht. »Der größte Geschichtsschreiber seiner Zeit!«

»Na, zu mir spricht er nicht von Geschichte«, sagte Kitty, die sich des feuchtwarmen Gefühls einer schweren Hand auf ihrem Knie erinnerte.

Sie zögerte; aber die Stunde war vorbei. Gleich käme eine andre Schülerin. Sie blickte sich in dem Zimmer um. Eine Schüssel Orangen stand auf einem Stoß glänzender Schulhefte; daneben eine Büchse, die aussah, als enthielte sie Keks. War dieses ihr einziges Zimmer? fragte sie sich. Schlief sie auf dem beulig aussehenden Sofa mit dem darübergeworfenen indischen Schal? Es war kein Spiegel da, und sie setzte sich den Hut ziemlich schief auf und dachte dabei, daß Miss Craddock Kleider verachtete.

Aber Miss Craddock dachte, wie wundervoll es sei, jung und lieblich zu sein und hervorragend begabte Männer kennenzulernen.

»Ich gehe zum Tee zu den Robsons«, sagte Kitty, ihr die Hand hinstreckend. Die Tochter, Nelly Robson, war Miss Craddocks Lieblingsschülerin; die einzige, pflegte sie zu sagen, die wisse, was arbeiten heißt.

»Gehen Sie zu Fuß?« fragte Miss Craddock, Kittys Kleidung musternd. »Es ist ziemlich weit, wissen Sie. Die Ringmer Road hinunter, am Gaswerk vorbei.«

»Ja, ich gehe zu Fuß«, sagte Kitty, während sie einander die Hand reichten.

»Und ich werde mich bemühen, diese Woche tüchtig zu arbeiten«, sagte sie und blickte mit Augen voll Liebe und Bewunderung auf die andre hinab. Dann ging sie die steile Treppe hinunter, deren Linoleum hell glänzte vor Romantik, und warf im Vorbeigehn einen Blick auf den Schirm, der als Griff einen Papageienkopf hatte.

Der Sohn des Professors (dazu hatte der es ganz allein gebracht, »eine äußerst anerkennenswerte Leistung«, um Dr. Malone zu zitieren) besserte im Hintergarten des Hauses in der Prestwich Terrace, einem zerscharrten kleinen Stückchen Grund, den Hühnerstall aus. Tarn, tarn, tarn, hämmerte er ein Brett auf das faulende Dach. Seine Hände waren weiß, nicht so wie die seines Vaters, und die seinen hatten lange, schmale Finger. Er liebte es keineswegs, solche Arbeiten selber zu machen. Sein Vater aber flickte am Sonntag die Schuhe der Familie. Wieder schlug der Hammer auf. Er werkte drauflos, hämmerte auf die langen glänzenden Nägel, die manchmal das Holz spalteten oder am Rand hinausfuhren. Denn es war faulig. Er haßte auch die Hennen, diese blöden Vögel mit ihrem Sichaufplustern, die ihn aus ihren roten Knopfaugen ansahn. Sie scharrten den Gartenweg auf; ließen kleine Federkringel überall auf den Beeten, für die er mehr übrig hatte. Aber es wuchs nichts auf ihnen. Wie sollte man Blumen ziehn wie andre Leute, wenn man Hühner hielt? Die Klingel schrillte.

»Verflucht! Da kommt wieder so eine alte Schachtel zum Tee«, sagte er, mit dem Hammer in der Luft innehaltend; und dann ließ er ihn auf den Nagel hinabsausen.

Als sie auf den Türstufen stand und die billigen Spitzenvorhänge und die blauen und orangefarbenen Glasscheiben gewahrte, versuchte sich Kitty zu erinnern, was ihr Vater über Nellys Vater gesagt hatte. Aber da ließ ein kleines Dienstmädchen sie ein. Ich bin viel zu groß, dachte Kitty, als sie einen Augenblick lang in dem Zimmer stand, in das das Mädchen sie geführt hatte. Es war ein kleines Zimmer und von Sachen überfüllt. Und ich bin zu gut angezogen, dachte sie, sich in dem Spiegel über dem Kamin betrachtend. Aber da kam ihre Freundin Nelly herein. Sie war klein und dicklich; vor den großen grauen Augen trug sie eine Stahlbrille, und ihr rohleinener Arbeitskittel schien ihr Aussehn nach unbedingter Wahrhaftigkeit zu verstärken.

»Wir nehmen den Tee im Hinterzimmer«, sagte sie, Kitty von oben bis unten betrachtend. Womit ist sie nur beschäftigt gewesen? Warum hat sie einen Arbeitskittel an? dachte Kitty, während sie ihr in das Zimmer folgte, wo die andern schon beim Tee saßen.

»Sehr erfreut, Sie zu sehn«, sagte Mrs. Robson förmlich und blickte dabei über die Schulter. Aber niemand schien im geringsten erfreut zu sein, sie zu sehn. Zwei Kinder aßen bereits. Sie hielten Butterbrote in den Händen, aber sie führten sie nicht zum Mund und starrten Kitty an, während sie sich setzte.

Sie schien das ganze Zimmer auf einmal zu sehn. Es war fast kahl und doch gedrängt voll. Der Tisch war zu groß; harte grüne Plüschsessel umstanden ihn; doch das Tischtuch war grob; in der Mitte geflickt; und das Porzellan von billiger Art, mit seinen schreienden roten Rosen. Sie fühlte das Licht außerordentlich grell in ihren Augen. Ein Hämmern tönte aus dem Garten. Sie sah hinaus; es war ein aufgescharrter, erdiger Garten ohne Blumenbeete; und am Ende stand ein Schuppen, von dem der Klang des Hämmerns kam.

Sie sind auch alle so klein, dachte Kitty mit einem Blick auf Mrs. Robson. Deren Schultern reichten grade über das Teegeschirr; aber die Schultern waren massig. Sie sah ein wenig wie Bigge aus, die Köchin daheim in der Lodge; nur einschüchternder. Sie warf noch einen kurzen Blick auf Mrs. Robson und begann dann, die Handschuhe auszuziehn, heimlich, schnell, unter dem Schutz des Tischtuchs. Aber warum redet niemand? dachte sie nervös. Die Kinder hielten die Augen mit einem Ausdruck feierlicher Verwunderung auf sie gerichtet. Dieses eulenhafte Anstarren glitt unnachgiebig an ihr auf und nieder. Zum Glück, bevor sie ihre Mißbilligung ausdrücken konnten, befahl ihnen Mrs. Robson scharf, weiterzuessen; und die Butterbrote hoben sich langsam abermals zum Mund.

Warum sagen sie denn nicht irgend etwas? dachte Kitty wiederum, mit einem Blick auf Nelly. Sie wollte grade zu sprechen beginnen, als ein Schirm in der Halle scharrte und Mrs. Robson aufblickte und zu ihrer Tochter sagte:

»Da ist Papa!«

Im nächsten Augenblick trottete ein schmächtiger Mann herein, der so klein war, daß es aussah, als hätte sein Rock eine Schuljungenjacke und sein Kragen ein Etonkragen sein sollen. Er trug auch eine sehr dicke Uhrkette aus Silber, wie die eines Schuljungen. Aber seine Augen blickten scharf und ungestüm, sein Schnurrbart war borstig, und er sprach mit einem merkwürdigen Akzent.

»Freut mich, Sie zu sehn«, sagte er und ergriff ihre Hand mit einem festen Druck. Er setzte sich, steckte sich eine Serviette unters Kinn, und seine schwere silberne Uhrkette verschwand unter dem steifen weißen Schild. Tarn, tam, tam, tönten die Hammerschläge vom Garten her.

»Sag Jo, der Tee steht auf dem Tisch«, sagte Mrs. Robson zu Nelly, die eine zugedeckte Schüssel hereingebracht hatte. Der Deckel wurde abgehoben. Sie waren wahrhaftig im Begriff, gebackenen Fisch und Kartoffeln zur Teezeit zu essen, so gewahrte Kitty.

Aber Mr. Robson hatte seine fast beunruhigend blauen Augen auf sie gerichtet. Sie erwartete, er werde fragen: »Wie geht es Ihrem Vater, Miss Malone?«

Aber er fragte: »Sie studieren Geschichte mit Lucy Craddock?«

»Ja«, antwortete sie. Ihr gefiel die Art, wie er »Lucy Craddock« sagte, als schätzte er sie. So viele von den akademischen Würdenträgern sahn auf sie hinab. Sie hatte es auch nicht ungern, daß er ihr das Gefühl gab, niemands Besondern Tochter zu sein.

»Sie interessieren sich für Geschichte?« fragte er und wandte sich seinem Teller voll Fisch und Kartoffeln zu.

»Ich liebe Geschichte«, sagte sie. Seine hellblauen Augen, die sie geradewegs und fast ungestüm ansahn, schienen sie zu zwingen, ganz kurz zu sagen, was sie meinte.

»Aber ich bin schrecklich faul«, fügte sie hinzu. Da sah Mrs. Robson sie fast streng an und reichte ihr eine dicke Schnitte Butterbrot auf der Spitze eines Messers.

Jedenfalls haben sie einen schauderhaften Geschmack, sagte sie sich wie aus Rache dafür, was, wie sie fühlte, als Verweis gemeint gewesen war. Sie richtete ihre Augen auf ein Bild gegenüber – eine ölige Landschaft in schwerem Goldrahmen. Rechts und links davon hing je ein blau und roter japanischer Teller. Alles war häßlich, besonders die Bilder.

»Die Berge hinter unserm Haus«, sagte Mr. Robson, der bemerkte, daß sie ein Bild ansah.

Es wurde Kitty bewußt, daß der Akzent, mit dem er sprach, der von Leuten aus Yorkshire war. Bei der Bemerkung über das Bild hatte er sich verstärkt.

»In Yorkshire?« fragte sie. »Wir kommen auch von dort. Die Familie meiner Mutter, meine ich«, fügte sie hinzu.

»Die Familie Ihrer Mutter?« fragte Mr. Robson.

»Rigby«, sagte sie, leicht errötend.

»Rigby?« wiederholte Mrs. Robson aufblickend. »Ich orr beitete bei einer Miss Rigby, beforr ich geheiratet hab’.«

Was für eine Art von Orrbeit hatte Mrs. Robson verrichtet? fragte sich Kitty. Sam erklärte:

»Meine Frau war Köchin, Miss Malone, bevor wir heirateten.« Wieder verstärkte er seinen Akzent, als wäre er stolz darauf. Ich hatte einen Großonkel, der war Zirkusreiter, fühlte sie sich versucht zu sagen, und eine Tante, die heiratete einen ... Aber Mrs. Robson unterbrach sie.

»Holunderheim hieß das Haus«, sagte sie. »Zwei sehr alte Damen; Miss Ami und Miss Matilda.« Ihr Ton war weicher. »Aber die beiden müssen längst gestorben sein«, schloß sie. Zum erstenmal lehnte sie sich zurück, und dann rührte sie ihren Tee, genau so wie der alte Snap auf der Farm, dachte Kitty, seinen Tee um und um rührt.

»Sag Jo, wir knapsen nicht mit dem Kuchen!« rief Mr. Robson, sich eine Schnitte von dem zerklüftet aussehenden Ding absägend; und Nelly verließ abermals das Zimmer. Das Hämmern im Garten hörte auf. Die Tür öffnete sich. Kitty, die ihre Augen auf den kleinen Wuchs der Familie Robson eingestellt hatte, erlebte eine Überraschung. Der junge Mann erschien ungeheuer groß in diesem kleinen Zimmer. Er war ein hübscher junger Mann. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, als er hereinkam, denn Holzspäne waren darin hängengeblieben.

»Unser Jo«, sagte Mrs. Robson vorstellend. »Geh und bring den Kessel, Jo«, fügte sie hinzu; und er ging sogleich, als wäre er gewohnt, es zu tun. Als er mit dem Kessel zurückkam, begann Sam ihn mit dem Hühnerhaus zu necken.

»Du brauchst aber hübsch lange, mein Sohn, um ein Hühnerhaus zu flicken«, sagte er. Es gab da offenbar einen Familienscherz über das Flicken von Schuhen und Hühnerhäusern, den Kitty nicht verstand. Sie sah Jo zu, wie er unter den Neckereien seines Vaters stetig weiteraß. Er sah nicht nach Eton oder Harrow aus oder Rugby oder Winchester, weder nach Studium noch nach Sport. Er erinnerte sie an Alf, den Taglöhner oben auf Carters Farm, der sie hinter dem Heuschober geküßt hatte, als sie fünfzehn war, und wie dann plötzlich der alte Carter aufgetaucht war, der einen Stier an einem Nasenring führte und rief: »Laß das bleiben!« Sie senkte wieder den Blick. Sie hätte es ganz gern, wenn Jo sie küßte; lieber, als von Edward geküßt zu werden, dachte sie plötzlich. Sie wurde sich ihres eignen Äußern bewußt, an das sie gar nicht mehr gedacht hatte. Er gefiel ihr. Ja, sie gefielen ihr alle, sagte sie sich; sehr gut; wirklich sehr gut. Sie hatte das Gefühl, ihrer Bonne entwischt und allein weggelaufen zu sein.

Dann begannen die Kinder von ihren Stühlen zu krabbeln; die Mahlzeit war vorbei. Sie tastete unter dem Tisch nach ihren Handschuhen.

»Sind’s die?« fragte Jo, sie vom Boden aufhebend. Sienahm sie und knüllte sie in der Hand.

Er warf einen schnellen, mürrischen Blick auf sie, wie sie so in der Tür stand. Die ist zum Anbeißen, sagte er sich, aber, meiner Treu, sie spielt sich auf!

Mrs. Robson führte sie in das kleine Zimmer, wo sie sich vor dem Tee in dem Spiegel besehen hatte. Es war überfüllt von Sachen. Da waren Bambustischchen; in Samt gebundene Bücher mit Messingscharnieren; marmorne, schräg sich streckende Gladiatoren auf dem Kaminsims, und unzählige Bilder ... Aber Mrs. Robson deutete mit einer Geste, die genau einer Geste Mrs. Malones glich, wenn sie auf den Gainsborough wies, der nicht ganz sicher ein Gainsborough war, auf einen riesigen silbernen Präsentierteller mit einer Inschrift.

»Den haben seine Schüler meinem Mann geschenkt«, sagte Mrs. Robson, auf die Inschrift weisend. Kitty begann sie laut abzulesen.

»Und das ... « sagte Mrs. Robson, sobald Kitty zu Ende war, und wies auf ein Schriftstück, das gerahmt, wie ein Bibelspruch, an der Wand hing.

Da aber trat Sam vor, der im Hintergrund gestanden und an seiner Uhrkette gezupft hatte, und deutete mit seinem spachteligen Zeigefinger auf die Daguerreotypie einer alten Frau, die in dem Photographenstuhl fast überlebensgroß aussah.

»Meine Mutter«, sagte er und verstummte. Er stieß ein sonderbares glucksendes Lachen aus.

»Ihre Mutter? «wiederholte Kitty und neigte sich vor, um das Bild zu betrachten. Die unförmige alte Frau, die da in der ganzen Steifheit ihres besten Kleids posiert war, sah in höchstem Grad unschön aus. Und doch fühlte Kitty, daß Bewunderung erwartet wurde.

»Sie sehn ihr sehr ähnlich, Mr. Robson«, war alles, was sie zu sagen finden konnte. Tatsächlich hatten die beiden dasselbe stämmige Aussehn; denselben durchdringenden Blick; und sie waren beide sehr unschön. Er stieß sein glucksendes Lachen aus.

»Freut mich, daß Sie das bemerken«, sagte er. »Hat uns alle aufgezogen. Keins von uns kann ihr das Wasser reichen, allerdings.« Wieder stieß er sein sonderbares glucksendes Lachen aus.

Dann wandte er sich an seine Tochter, die hereingekommen war und in ihrem Arbeitskittel dastand.

»Kann ihr nicht das Wasser reichen«, wiederholte er und kniff Nelly in die Schulter. Wie Nelly so dastand, die Hand ihres Vaters auf der Schulter, unter dem Bild ihrer Großmutter, überkam Kitty ein jähes Selbstbedauern. Wenn sie die Tochter von Leuten wie die Robsons wäre, dachte sie, wenn sie oben im Norden gelebt hätte – aber es war klar, daß sie wollten, sie solle schon gehn. Niemand setzte sich je in diesem Zimmer. Sie standen alle umher. Niemand drängte sie, zu bleiben. Als sie sagte, sie müsse gehn, kamen sie alle mit ihr in den kleinen Flur hinaus. Sie warteten alle darauf, weiter zu tun, was ein jedes zu tun hatte, so fühlte sie. Nelly war im Begriff, in die Küche zu gehn und das Teegeschirr abzuwaschen; Jo ging zu seinem Hühnerhaus zurück; die Kinder würden von der Mutter zu Bett gebracht werden; und Sam – was hatte er vor? Sie sah ihn an, wie er da stand mit seiner schweren Uhrkette wie die eines Schuljungen. Du bist der netteste Mann, dem ich je begegnet bin, dachte sie, ihm die Hand hinstreckend.

»Hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Mrs. Robson auf ihre würdevolle Art.

»Hoffe, Sie werden bald wiederkommen«, sagte Mr. Robson und drückte ihr sehr fest die Hand.

»Oh, ich käme furchtbar gern!« rief sie und drückte ihnen allen die Hand, so fest sie konnte. Wußten sie, wie sehr sie sie alle bewunderte? Das hätte sie sie gern gefragt. Würden sie sie akzeptieren, trotz ihrem Hut und ihren Handschuhen? hätte sie gern gefragt. Aber sie wollten alle an ihre Arbeit gehn. Und ich gehe heim, um mich fürs Dinner umzukleiden, dachte sie, als sie die kleinen Türstufen hinunterging und die hellen Glacehandschuhe in der Hand knüllte.

Die Sonne schien wieder; die feuchten Gehsteige glänzten; ein Windstoß warf die nassen Äste der Mandelbäume in den Villengärten hoch; kleine Zweiglein und Blütenbüschel wirbelten auf den Gehsteig und blieben da kleben. Als sie an einem Straßenübergang für eine Sekunde stehnblieb, schien auch sie aus ihrer gewohnten Umgebung hochgeworfen zu werden. Sie vergaß, wo sie war. Der Himmel, zu einer blauen offenen Weite geblasen, schien hier nicht auf Straßen und Häuser herabzublicken, sondern auf offenes Land, wo der Wind über die Berge strich und Schafe mit grauem, gezaustem Vlies an Steinwällen Schutz suchten. Sie konnte beinahe sehn, wie die Berge sich erhellten und verdunkelten, wenn die Wolken über sie hinglitten.

Aber dann, nach zwei Schritten, wurde die unvertraute Straße wieder die Straße, die sie stets gekannt hatte. Hier war wieder der gepflasterte Durchgang; hier waren die alten Raritätenläden mit ihrem blauen Porzellan und ihren kupfernen Wärmpfannen; und im nächsten Augenblick war sie draußen auf der berühmten gekrümmten Straße mit all ihren Kuppeln und Türmen. Das Sonnenlicht lag in breiten Streifen querüber. Da waren die Mietwagen und die Sonnenplachenund die Buchhandlungen; die alten Herren in schwarzen, sich blähenden Talaren; die jungen Frauen und Mädchen in rosa und blau flatternden Kleidern; und die jungen Männer mit steifen Strohhüten, die Bootkissen unter dem Arm trugen. Aber für einen Augenblick erschienen sie ihr alle überholt, frivol, nichtig. Der gewöhnliche Student in Barett und Talar, mit Büchern unter dem Arm, sah albern aus. Und die gewichtigen alten Herren mit ihren überscharfen Gesichtszügen sahn aus wie Wasserspeier: gemeißelt, mittelalterlich, unwirklich. Sie waren alle wie Leute, die kostümiert waren und Rollen spielten, dachte sie. Nun stand sie vor ihrer eignen Haustür und wartete, daß Hiscock, der Butler, die Füße vom Kaminvorsatz zöge und aus dem Souterrain heraufwatschelte. Warum kannst du nicht reden wie ein menschliches Wesen? dachte sie, als er ihr den Schirm abnahm und seine übliche Bemerkung über das Wetter murmelte.

Langsam, als wäre auch in ihre Füße ein Gewicht geraten, ging sie die Treppe hinauf und sah durch offene Fenster und offene Türen den glatten Rasen, den halb umgefallenen Baum und die verblaßten Kattunüberzüge. Sie ließ sich auf den Bettrand sinken. Es war sehr schwül im Zimmer. Eine Schmeißfliege surrte rundum und rundum; ein Rasenmäher quietschte im Garten unten. Weit weg gurrten Tauben. Gurr nur zu, du ... Gurr nur zu ... Ihre Augen schlossen sich halb. Es war ihr, als säße sie auf der Terrasse eines italienischen Wirtshauses. Und da saß ihr Vater und preßte Enzianblüten auf ein rauhes Blatt Löschpapier. Der See unten plätscherte und glitzerte. Sie faßte Mut und sagte zu ihrem Vater: »Vater ... « Er blickte sehr gütig über die Brille auf. Er hielt die kleine blaue Blume zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich möchte ... « begann sie und glitt von der Balustrade, auf der sie saß, herab. Aber da schlug eine Uhr. Sie stand auf und ging zum Waschtisch. Was würde Nelly davon denken? dachte sie, kippte die schön polierte Messingkanne und tauchte die Hände in das warme Wasser. Noch eine Uhr schlug. Sie ging zum Toilettetisch hinüber. Die Luft, die vom Garten hereinkam, war voll von Gesumm und Gegurr. Holzspäne, dachte sie, als sie nach Kamm und Bürste griff, – er hatte Holzspäne im Haar. Ein Diener ging unten vorbei, einen Turm Blechschüsseln auf dem Kopf. Tauben gurrten. Gurr nur zu, du ... Gurr nur zu ... Aber da ertönte die Dinnerglocke. Und im Nu hatte sie ihr Haar aufgesteckt, ihr Kleid angezogen und zugehakt und lief schon die glattgetretene Treppe hinunter, die Handfläche auf dem Geländer gleiten lassend, wie sie es immer getan, wenn sie als Kind sich beeilt hatte. Und hier waren sie alle.

Ihre Eltern standen in der Halle. Ein hochgewachsener Mann stand bei ihnen. Sein Talar war zurückgeschlagen, und ein letzter Sonnenstrahl beleuchtete sein lebhaftes, gebieterisches Gesicht. Wer war das? Kitty konnte sich nicht erinnern.

»Sapperlott!« rief er aus, bewundernd zu ihr emporblickend.

»Das ist doch Kitty, nicht wahr?« fragte er. Dann ergriff er ihre Hand und drückte sie.

»Wie Sie gewachsen sind!« rief er. Er sah sie an, als betrachtete er nicht sie, sondern seine eigne Vergangenheit.

»Sie erinnern sich nicht an mich?« fügte er hinzu.

»Chingachgook!« rief sie, da ihr eine kindliche Erinnerung kam.

»Aber er ist jetzt Sir Richard Norton«, sagte ihre Mutter und gab ihm einen stolzen kleinen Klaps auf die Schulter; und die beiden Herren wandten sich zum Gehn, denn sie aßen diesen Abend im Refektorium.

Wie fade der Fisch schmeckt, dachte Kitty; die Teller fast kalt; und wie fade das Brot, in kärgliche Scheiben geschnitten! Die Farbigkeit, die Lebenslust der Prestwich Terrace war noch in ihren Augen, in ihren Ohren. Sie gab zu, als sie umhersah, daß das Porzellan und das Silber in der Lodge unvergleichlich besser waren; und die japanischen Teller waren scheußlich gewesen; aber dieses Eßzimmer hier, mit seinen hängenden Schlingpflanzen und seinen riesigen krakelierten Ölgemälden, war so düster. In der Prestwich Terrace war das Zimmer voller Licht gewesen; das Tam-tamtam von Hammerschlägen tönte noch immer in ihren Ohren. Sie blickte hinaus auf die verblassenden Schattierungen von Grün im Garten. Zum tausendsten Mal echote sie ihren Kinderwunsch, der Baum möge sich entweder hinlegen oder aufstehn, statt keins von beiden zu tun. Es regnete nicht wirklich. Aber Böen von Weiße schienen durch den Garten zu wehn, wenn der Wind die dicken Blätter der Lorbeersträucher bewegte.

»Hast du’s nicht bemerkt?« wurde sie plötzlich von ihrer Mutter gefragt.

»Was, Mama?« Sie hatte nicht zugehört.

»Wie sonderbar der Fisch schmeckte.«

»Ich schein’s nicht bemerkt zu haben«, sagte sie, und Mrs. Malone sprach weiter mit dem Butler. Die Teller wurden gewechselt; der nächste Gang wurde aufgetragen. Aber Kitty war nicht hungrig. Sie zerbiß eine der grünen Süßigkeiten, die ihr serviert wurden, und dann war die bescheidene, aus den Überresten des gestrigen Gastmahls für die Damen zusammengestellte Mahlzeit vorbei, und sie folgte ihrer Mutter in den Salon.

Er war zu groß, wenn sie beide allein waren. Aber sie saßen immer hier. Die Bilder schienen hinabzusehn auf die leeren Stühle, und die leeren Stühle schienen hinaufzusehn zu den Bildern. Der alte Herr dort, der das College vor mehr als hundert Jahren regiert hatte, schien bei Tag zu verschwinden, aber er kam wieder, wenn die Lampen angezündet waren. Ein mildes, gediegenes Gesicht, das lächelte; es ähnelte ganz eigenartig dem Gesicht Mr. Malones, der, wäre ein Rahmen um ihn getan worden, ebenfalls über dem Kamin hätte hängen können.

»Es ist nett, einmal in der Zeit einen ruhigen Abend zu haben – einerseits«, sagte Mrs. Malone, »obgleich die Fripps ... « Ihre Stimme verlor sich, während sie die Brille aufsetzte und nach den »Times « griff. Dies war ihr Augenblick der Entspannung und Erholung nach ihrem Tagwerk. Sie unterdrückte ein leises Gähnen, während sie die Spalten der Zeitung überflog.

»Was für ein reizender Mensch er war«, bemerkte sie nebenhin, als sie einen Blick auf die Geburts- und Todesanzeigen geworfen hatte. »Man hätte ihn kaum für einen Amerikaner gehalten.« Kitty rief ihre Gedanken zurück. Sie hatte an die Robsons gedacht. Ihre Mutter sprach von den Fripps.

»Mir hat auch sie gefallen«, sagte sie unüberlegt. »War sie nicht wunderhübsch?«

»Hm-m-m, ein wenig zu auffallend angezogen für meinen Geschmack«, sagte Mrs. Malone trocken. »Und dieser Akzent – « fuhr sie fort und überflog dabei weiter die Zeitung, »ich habe manchmal kaum verstanden, was sie sagte.«

Kitty schwieg. Hierin waren sie verschiedener Meinung; wie in so vielem andern.

Plötzlich sah Mrs. Malone auf: »Ja, genau was ich heute morgen der Köchin sagte.« Sie legte die Zeitung hin.

»Was, Mama?« fragte Kitty.

»Dieser Mann – da im Leitartikel«, sagte Mrs. Malone. Sie tippte mit dem Finger darauf.

»,Mit dem besten Fleisch, Fisch und Geflügel der Welt‘«, las sie vor, »,können wir nichts Rechtes herstellen, weil wir niemand haben, der es zubereiten kann‘, – was ich eben heute morgen der Köchin sagte.« Sie stieß ihren schnellen kleinen Seufzer aus. Grade wenn man Eindruck auf Leute machen wollte, wie auf diese Amerikaner, ging irgend etwas schief. Diesmal war es der Fisch gewesen. Sie kramte in ihrem Arbeitskorb, und Kitty ergriff die Zeitung.

»Es steht im Leitartikel«, sagte Mrs. Malone. Dieser Mann sagte fast immer genau das, was sie selbst dachte, und das tröstete sie und gab ihr ein Gefühl der Sicherheit in einer Welt, die sich, so kam ihr vor, zum Schlechtern veränderte.

»,Vor der strikten und nun allgemeinen Einführung des Schulzwangs ...?‘« las Kitty laut.

»Ja. Das ist es«, sagte Mrs. Malone, öffnete ihre Nähkassette und suchte nach der Schere.

»,... hatten die Kinder reichlich Gelegenheit, beim Kochen zuzusehen, und so unzulänglich das auch war, gab es ihnen doch einen gewissen Vorgeschmack und eine Ahnung von Kenntnissen. Heute sehen und tun sie nichts anderes als lesen, schreiben, rechnen, nähen oder stricken‘«, las Kitty vor.

»Ja, ja«, sagte Mrs. Malone. Sie entrollte den langen Streifen von Stickerei, auf den sie ein Muster von Vögeln, die an Früchten pickten, stickte – kopiert nach einem Grabmal in Ravenna. Die Stickerei war für das Gästeschlafzimmer bestimmt.

Der Leitartikel mit seinem geläufigen Bombast langweilte Kitty. Sie suchte nach irgendeiner kleinen Neuigkeit, die ihre Mutter interessieren könnte. Mrs. Malone hatte es gern, wenn jemand mit ihr sprach oder ihr vorlas, während sie arbeitete. Abend für Abend diente ihre Stickerei dazu, das Gespräch nach dem Essen zu einer angenehmen Harmonie zu verweben. Man sagte etwas und machte einen Stich; blickte auf die Vorzeichnung, wählte eine andersfarbene Seide und stickte weiter. Manchmal las Dr. Malone aus Dichtern vor – Pope, Tennyson. Heute abend wäre es ihr lieb gewesen, wenn Kitty mit ihr gesprochen hätte. Aber sie war sich immer mehr bewußt, daß es schwierig wurde mit Kitty. Warum? Sie warf einen Blick auf sie. Was war es? fragte sie sich. Sie stieß ihren schnellen kleinen Seufzer aus.

Kitty wandte die großen Seiten um. Schafe hatten Leberegel; Türken verlangten Religionsfreiheit; die Wahlen standen bevor.

»Mr. Gladstone – « begann sie.

Mrs. Malone fand ihre Schere nicht. Es ärgerte sie.

»Wer kann sie nur wieder genommen haben?« begann sie. Kitty kniete auf den Teppich hin, um nach ihr zu suchen. Mrs. Malone wühlte in ihrer Nähkassette; dann fuhr sie mit der Hand in den Spalt zwischen dem Sitzkissen und der Stuhllehne und brachte nicht nur die Schere zum Vorschein, sondern auch ein kleines Papiermesser aus Perlmutter, das schon Gott weiß wie lange vermißt worden war. Die Entdeckung war ärgerlich; sie bewies, daß Ellen die Kissen nie ordentlich aufschüttelte.

»Hier ist sie, Kitty«, sagte sie. Sie schwiegen beide. Es war jetzt immer eine gewisse Gezwungenheit zwischen ihnen.

»Hast du dich gut unterhalten bei den Robsons, Kitty?« fragte sie, ihre Stickerei wieder aufnehmend. Kitty antwortete nicht. Sie blätterte in der Zeitung.

»Da ist ein Experiment gemacht worden«, sagte sie. »Ein Experiment mit elektrischem Licht. ,Man sah plötzlich‘«, las sie vor, »,ein blendendes Licht hervorschießen, das einen durchdringenden Strahl über das Wasser zum Felsen von Gibraltar sandte. Alles dort war hell beleuchtet wie bei Tag.‘« Sie hielt inne. Sie sah das helle Licht von den Schiffen auf dem Salonstuhl ihr gegenüber. Aber da öffnete sich dieTür, und Hiscock kam herein, mit einem Billett auf einem Präsentierteller.

Mrs. Malone nahm es und las schweigend.

»Keine Antwort«, sagte sie. An dem Ton, in dem die Mutter das sagte, erkannte Kitty, daß etwas geschehn war. Die Mutter saß und hielt das Briefblatt in der Hand. Hiscock schloß die Tür hinter sich.

»Rose ist gestorben!« sagte Mrs. Malone. »Meine Cousine Rose.«

Das Billett lag offen auf ihrem Schoß.

»Es ist von Edward«, sagte sie.

»Tante Rose ist gestorben?« fragte Kitty. Vor einem Augenblick hatte sie an helles Licht auf einem rötlichen Felsen gedacht. Nun sah alles aschgrau aus. Eine Pause. Ein Schweigen. Der Mutter standen Tränen in den Augen.

»Grade wenn die Kinder sie am meisten brauchen«, sagte sie und steckte die Nadel in ihre Stickerei fest. Sie begann sie sehr langsam einzurollen. Kitty faltete die »Times« zusammen und legte sie auf ein Tischchen, langsam, damit sie nicht raschle. Sie hatte Tante Rose nur ein- oder zweimal gesehn. Sie fühlte sich unbehaglich.

»Bring mir mein Vormerkbuch!« sagte ihre Mutter endlich. Kitty holte es.

»Wir müssen unsre Gesellschaft für Montag abend absagen«, sagte Mrs.Malone, ihre Vormerkungen durchsehend.

»Und den Lathoms für ihre am Mittwoch«, murmelte Kitty, die der Mutter über die Schulter blickte.

»Wir können nicht alles absagen«, sagte ihre Mutter scharf, und Kitty fühlte sich zurechtgewiesen.

Aber es mußten Billette geschrieben werden. Sie schrieb sie nach dem Diktat der Mutter.

Warum ist sie so bereit, alle unsre Verabredungen abzusagen? dachte Mrs. Malone, die sie beim Schreiben beobachtete. Warum freut es sie nicht mehr, mit mir auszugehn? Sie überlas die Briefchen, die ihre Tochter ihr brachte.

»Warum nimmst du nicht regeren Anteil an allem hier, Kitty?« fragte sie gereizt und schob die Briefchen beiseite.

»Aber Mama –« begann Kitty, die übliche Auseinandersetzung zu verhindern suchend.

»Was willst du denn eigentlich tun?« fragte ihre Mutter beharrlich weiter. Sie hatte die Stickerei weggelegt; sie saß aufrecht, sie sah sehr einschüchternd aus.

»Dein Vater und ich wollen nicht, daß du etwas andres tust, als was du selbst willst«, fuhr sie fort.

»Mama, bitte, liebe Mama – «

»Du könntest deinem Vater helfen, wenn es dich langweilt, mir zu helfen. Papa sagte mir erst neulich, daß du jetzt nie zu ihm kommst.« Sie meinte damit, wie Kitty wußte, seine Geschichte des College. Er hatte vorgeschlagen, daß sie ihm dabei helfen solle. Wieder sah sie – sie hatte eine ungeschickte Bewegung mit dem Ellbogen gemacht – die Tinte über fünf Generationen von Oxfordstudenten fließen und viele Stunden der wunderschönen Handschrift ihres Vaters unleserlich machen; und hörte ihn wieder mit seiner gewohnten höflichen Ironie sagen: »Die Natur hat dich nicht zur Gelehrsamkeit bestimmt, meine Liebe«, während er das Löschblatt darüber legte.

»Ich weiß«, sagte sie jetzt schuldbewußt. »Ich bin in letzter Zeit nicht bei Papa gewesen. Aber es gibt auch immer so viel andres ... « Sie zögerte.

»Natürlich«, sagte Mrs. Malone, »bei einem Mann in der Stellung deines Vaters ... « Kitty saß schweigend da. Beide saßen sie schweigend da. Beiden waren diese kleinlichen Reibereien zuwider; beide verabscheuten diese immer wiederkehrenden Szenen; und doch schienen sie unvermeidlich zu sein. Kitty stand auf, nahm die Billette, die sie geschrieben hatte, und legte sie in die Halle hinaus.

Was will sie nur? fragte sich Mrs. Malone, zu dem Bild aufblickend, ohne es zu sehen. Als ich in ihrem Alter war ... dachte sie und lächelte. Wie gut sie sich erinnerte, wie sie an einem solchen Frühlingsabend daheim, oben in Yorkshire, gesessen hatte, meilenweit von überall. Der Hufschlag eines Pferdes auf der Landstraße war schon aus weitester Entfernung zu hören. Sie konnte sich erinnern, ihr Schlafzimmerfenster hochgeschoben und auf die dunkeln Sträucher im Garten hinausgesehn und ausgerufen zu haben: »Ist das das Leben?« Und im Winter der Schnee. Sie konnte noch immer den Schnee von den Bäumen im Garten herabplumpsen hören. Und hier war nun Kitty und lebte in Oxford, mitten drin in allem.

Kitty kam in den Salon zurück und gähnte ein ganz klein wenig. Sie hob die Hand mit einer unbewußten Geste der Müdigkeit, die ihre Mutter rührte, vor den Mund.

»Müde, Kitty?« fragte sie. »Es war ein langer Tag. Du siehst blaß aus.«

»Und du siehst auch müde aus«, sagte Kitty.

Die Turmuhren begannen zu schlagen, eine nach der andern, eine in die andre hinein, durch die feuchte, schwere Luft.

»Geh schlafen, Kitty«, sagte Mrs. Malone. »Da! Es schlägt schon zehn.«

»Aber kommst du nicht auch schon, Mama?« fragte Kitty, neben deren Armsessel stehnbleibend.

»Papa wird nicht so bald zurück sein«, sagte Mrs. Malone und setzte ihre Brille wieder auf.

Kitty wußte, es war zwecklos, sie überreden zu wollen. Es gehörte zum mysteriösen Ritual des Lebens ihrer Eltern. Sie beugte sich hinab und gab ihrer Mutter einen kleinen Pflichtkuß, der das einzige Zeichen der Zuneigung war, das sie äußerlich einander je gaben. Und doch hatten sie einander sehr gern; und dennoch stritten sie immer.

»Gute Nacht und schlaf gut!« sagte Mrs. Malone. »Ich seh’ es nicht gern, wenn deine Wangen die Farbe verlieren«, fügte sie hinzu und schlang diesmal den Arm um sie.

Sie saß ganz still, als Kitty gegangen war. Rose ist tot, dachte sie, – Rose, die ungefähr in ihrem eignen Alter war. Sie las das Billett nochmals. Es war von Edward. Und Edward, sann sie, ist verliebt in Kitty, aber ich weiß nicht, ob ich möchte, daß sie ihn heiratet, dachte sie, nach der Sticknadel greifend. Nein, nicht Edward ... Da war dieser junge Lord Lasswade ... Das wäre eine gute Partie. Nicht, daß mir an Reichtum für sie liegt und auch nicht an Rang, dachte sie, die Nadel einfädelnd. Nein, aber er könnte ihr alles geben, was sie nur will ... Und was war das? ... Spielraum, Ellbogenfreiheit, entschied sie und begann zu sticken. Dann wandten sich ihre Gedanken abermals Rose zu. Rose war tot, Rose, die ungefähr in ihrem Alter war. Das mußte das erste Mal gewesen sein, daß er ihr einen Antrag machte, dachte sie, damals an dem Tag, wo wir das Picknick in den Bergen hatten. Es war ein Frühlingstag. Sie saßen alle im Gras. Sie konnte Rose sehn, in einem schwarzen Hut mit einer Hahnenfeder auf ihrem hellroten Haar. Sie konnte sie noch immer sehn, wie sie errötete und außerordentlich hübsch aussah, als Abel ganz überraschend herangeritten kam – er war in Scarborough in Garnison – an dem Tag, wo sie das Picknick in den Bergen haften.

In dem Haus in der Abercorn Terrace war es sehr dunkel. Es roch stark nach Frühlingsblumen. Seit einigen Tagen schon türmten sich Kränze auf dem Hallentisch. In dem Dämmerlicht – alle Rollgardinen waren herabgezogen – schimmerten die Blumen; und die Halle duftete mit der verliebten Heftigkeit eines Treibhauses. Kranz auf Kranz wurde abgeliefert. Lilien mit breiten Stäbchen von Gold im Innern; andre mit geflecktem Schlund, klebrig von Seim; weiße Tulpen, weißer Flieder – Blumen aller Arten, manche mit Blütenblättern so dick wie Samt, andre durchscheinend, papierdünn; aber alle weiß und zusammengedrängt, Kopf an Kopf, zu Kreisen, zu Ovalen, zu Kreuzen, so daß sie kaum noch aussahn wie Blumen. Schwarzgeränderte Karten waren an ihnen befestigt: »Mit innigem. Beileid von Major und Mrs. Brand«; »Mit liebevoller Anteilnahme, Mrs. Elkin«; »Meiner liebsten Rose von Susan«. Jede Karte trug ein paar darauf geschriebene Worte.

Sogar jetzt noch, wo der Furgon schon vor der Tür stand, klingelte es; ein Botenjunge brachte noch mehr Lilien. Er nahm sein Käppi ab, als er da in der Halle stand, denn die Männer von Whiteley kamen mit dem Sarg die Treppe herabgeschwankt. Rosie in tiefem Schwarz, von der Kinderfrau angeleitet, trat vor und legte ihr Veilchensträußchen auf den Sarg. Aber es glitt herab, als der Sarg auf den schrägen Schultern der Männer hinunterschwankte über die von der Sonne hell beleuchteten Türstufen. Die Familie folgte hinterdrein.

Es war ein unsicherer Tag mit vorüberziehenden Schatten und huschenden Strahlen hellen Sonnenscheins. Das Leichenbegängnis begann im Schritt. Delia, die mit Milly und Edward in den zweiten Wagen stieg, bemerkte, daß im Haus gegenüber die Gardinen aus Mitgefühl herabgelassen waren, aber ein Dienstmädchen spähte hinter ihnen hervor. Die andern, so bemerkte sie, schienen dies nicht zu sehn; sie dachten an die Mutter. Als sie in die breite Straße gelangten, beschleunigte sich das Tempo, denn es war eine lange Fahrt bis zum Friedhof. Durch den Spalt des Wagenvorhangs bemerkte Delia Hunde, die sich balgten; einen Bettler, der sang; Männer, die den Hut hoben, als der Leichenwagen an ihnen vorbeifuhr. Aber als dann ihr eigener Wagen vorbeikam, waren die Hüte schon wieder auf den Köpfen. Männer schritten lebhaft und unbekümmert den Gehsteig entlang. Die Schaufenster waren schon bunt von Frühjahrskleidern; Frauen blieben stehn und betrachteten sie. Aber sie selbst würden nichts als Schwarz tragen dürfen, den ganzen Sommer, dachte Delia, auf Edwards kohlschwarze Hose blickend.

Sie sprachen kaum oder nur in förmlichen Sätzchen, als nähmen sie bereits an der Zeremonie teil. Irgendwie hatten sich ihrer aller Beziehungen verändert. Sie waren alle rücksichtsvoller und gaben sich auch ein wenig gewichtiger, als hätte ihnen der Tod der Mutter neue Verantwortungen auferlegt. Aber die andern wußten, wie sich benehmen; nur sie mußte sich dazu anstrengen. Sie blieb außerhalb, und auch ihr Vater blieb außerhalb, dachte sie. Als Martin beim Tee plötzlich mit einem Lachen herausgeplatzt war und dann verstummte und schuldbewußt dreinsah, da hatte sie gefühlt – das ist es, was Papa täte, das ist es, was ich selbst täte, wenn wir aufrichtig wären.

Sie blickte wieder durch das Wagenfenster hinaus. Wieder hob ein Mann den Hut – ein hochgewachsener Mann, ein Mann in einem Gehrock, aber sie nahm sich vor, nicht an Mr. Parnell zu denken, bis das Begräbnis vorbei wäre.

Endlich erreichten sie den Friedhof. Als sie ihren Platz in der kleinen Gruppe hinter dem Sarg einnahm und durch das Kirchenschiff nach vorn ging, entdeckte sie mit Erleichterung, daß sie von einer verallgemeinerten und feierlichen Gemütsbewegung überkommen war. Leute standen zu beiden Seiten in der Kirche, und sie fühlte alle diese Augen auf sich. Dann begann die Zeremonie. Ein Geistlicher, ein Verwandter, nahm sie vor. Die ersten Worte kamen wie ein Aufrauschen außerordentlicher Schönheit. Als Delia so hinter ihrem Vater stand, bemerkte sie, wie er sich zusammenraffte und die Schultern zurücknahm.

»Ich bin die Auferstehung und das Leben.«

Nach diesen Tagen des Zusammengepferchtseins in dem nur halberhellten Haus, das nach Blumen roch, erfüllten die offen ausgesprochenen Worte sie mit seligem Triumph. Ja, das konnte sie aufrichtig empfinden; das war etwas, das sie selbst sagte. Aber dann, als Cousin James weiterlas, entglitt etwas. Der Sinn verwischte sich. Sie konnte mit ihrem Verstand nicht folgen. Dann kam, mitten in der Beweisführung, wieder ein Schwall vertrauter Schönheit. »Und schwindet jäh dahin wie das Gras, das grün ist am Morgen und wachset; und ist am Abend abgemähet und welket und verdorret.« Die Schönheit, die darin lag, die konnte sie empfinden. Wieder war es wie Musik; aber dann schien Cousin James zu hasten, als glaubte er nicht so recht an das, was er sagte. Er schien von Bekanntem auf Unbekanntes überzugehn; von dem, was er glaubte, auf das, was er nicht glaubte; sogar seine Stimme änderte sich. Er sah sauber aus, er sah gestärkt und gebügelt aus wie sein Gewand. Aber was meinte er mit dem, was er sagte? Sie gab es auf. Entweder man verstand es oder man verstand es nicht. Ihre Gedanken schweiften ab.

Aber ich will nicht an ihn denken, bis es vorbei ist, dachte sie und sah dabei einen hochgewachsenen Mann, der neben ihr auf einer Rednertribüne stand und grüßend seinen Hut lüpfte. Sie richtete den Blick auf ihren Vater. Sie beobachtete ihn, wie er ein großes weißes Taschentuch an die Augen drückte und es dann in die Tasche steckte; dann zog er es hervor und betupfte sich abermals die Augen damit. Dann verstummte die Stimme; er steckte sein Taschentuch endgültig in die Tasche; und wieder formierten sie sich alle, die kleinen Gruppen der Familie, hinter dem Sarg, und wieder erhoben sich zu beiden Seiten die dunkeln Gestalten und sahn ihnen zu und ließen sie vorausgehn und folgten hinterdrein.

Es war eine Erlösung, zu fühlen, wie ihr die weiche, feuchte Luft ihren laubigen Geruch ins Gesicht wehte. Aber nun, da sie im Freien war, begann sie wieder Dinge wahrzunehmen. Sie gewahrte, wie die schwarzen Trauerpferde ungeduldig stampften; sie scharrten kleine Gruben in den gelben Kies. Sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß Trauerpferde aus Belgien kämen und sehr bösartig seien. Sie sahen bösartig aus, dachte sie; ihre schwarzen Hälse waren von Schaum gefleckt – aber sie rief ihre Gedanken zurück. Alle gingen sie nun, einzeln und zu zweit, einen Weg entlang bis zu einem frischen Hügel gelber Erde, der neben einer Grube aufgehäuft war; und hier wieder gewahrte sie, wie dieTotengräber in einiger Entfernung standen, ein wenig hinten, mit ihren Spaten.

Es entstand eine Pause; immer noch kamen Leute und stellten sich hinzu, einige ein wenig höher, einige ein wenig tiefer. Sie beobachtete eine ärmlich aussehende, schäbige Frau, die am Außenrand umherschlich, und sie versuchte sich zu erinnern, ob sie irgendein alter Dienstbote sei, aber es fiel ihr kein Name ein. Ihr Onkel Digby, der Bruder ihres Vaters, stand ihr gerade gegenüber, mit seinem Zylinderhut, den er wie ein geweihtes Gefäß zwischen den Händen hielt, ein Bild ernsten Anstands. Einige von den Frauen weinten; aber die Männer nicht. Die Männer hatten alle eine bestimmte Pose; die Frauen hatten eine andre, so gewahrte sie. Dann begann das Ganze von neuem. Der prächtige Schwall von Musik durchwehte sie alle – »der Mensch, vom Weibe geboren«; die Zeremonie hatte sich erneuert; abermals waren sie gruppiert, vereint. Die Familie drängte sich ein wenig näher an das Grab und blickte starr auf den Sarg, der mit seiner Politur und seinen Messinggriffen da unten in der Erde lag, um für immer begraben zu werden. Er sah zu neu aus, um für immer begraben zu werden. Sie sah in das Grab hinunter. Dort lag ihre Mutter; in diesem Sarg – sie, für die sie soviel Liebe, soviel Haß empfunden hatte. Es flimmerte ihr vor den Augen. Sie fürchtete, ohnmächtig zu werden; aber sie mußte schauen; sie mußte fühlen; es war die letzte Gelegenheit. Erde kollerte auf den Sarg; drei Kiesel fielen auf den harten, glänzenden Deckel; und als sie fielen, ergriff sie ein Gefühl von etwas ewig Dauerndem; von Leben, das sich mit dem Tod mischte, von Tod, der Leben wurde. Denn während sie schaute, hörte sie Spatzen lebhafter und lebhafter zwitschern; sie hörte Räder in der Ferne–lauter und lauter rollen. Das Leben kam näher und näher ...

»Wir danken dir von Herzen«, sagte die Stimme, »daß es dir gefallen hat, unsere Schwester zu erlösen aus dem Elend dieser sündigen Welt – «

Welche Lüge! rief sie innerlich. Welche verdammenswerte Lüge! Nun hatte er sie des einzigen Gefühls beraubt, das echt war; er hatte ihr ihren einen Augenblick des Verstehens verdorben.

Sie sah auf. Sie erblickte Morris und neben ihm Eleanor; ihre Gesichter waren verschwommen; ihre Nasen waren gerötet; die Tränen liefen ihnen herunter; und ihr Vater – er stand so steif und starr da, daß sie ein krampfhaftes Verlangen verspürte, laut aufzulachen. Niemand kann so fühlen, dachte sie. Er übertreibt es. Keins von uns fühlt überhaupt etwas, dachte sie; wir tun alle nur so.

Dann entstand eine allgemeine Bewegung; der Versuch zu innerer Sammlung war vorbei. Die Leute entfernten sich hierhin und dorthin; bemühten sich nun nicht mehr, einen Zug zu bilden; kleine Gruppen kamen zusammen; Leute schüttelten einander zwischen den Gräbern ein wenig verstohlen die Hand und lächelten sogar.

»Wie gütig von Ihnen, zu kommen!« sagte Edward, dem alten Sir James Graham, der ihm leicht auf die Schulter klopfte, die Hand drückend. Sollte sie nicht auch hingehn und ihm danken? Die Gräber machten es schwierig. Das Ganze wurde eine verhüllte und gedämpfte Vormittagsgesellschaft hier zwischen den Gräbern. Sie zögerte – sie wußte nicht, was sie als nächstes tun sollte. Ihr Vater war weitergegangen. Sie blickte zurück. Die Totengräber waren herangekommen; sie häuften die Kränze säuberlich einen auf den andern; und die umherschleichende Frau hatte sich zu ihnen gefunden und bückte sich und las die Namen von den Karten ab. Die Zeremonie war vorbei; es begann zu regnen.

Die Jahre

Подняться наверх