Читать книгу Ein Zimmer für sich allein - Вирджиния Вулф, Virginia Woolf - Страница 4
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ОглавлениеAber, mögen Sie vielleicht sagen, wir haben Sie doch gebeten, über Frauen und Literatur zu sprechen1* – was hat das denn mit einem Zimmer für sich allein zu tun? Ich will versuchen, es zu erklären. Als Sie mich baten, über Frauen und Literatur zu sprechen, setzte ich mich am Ufer eines Flusses nieder und begann darüber nachzudenken, was diese Worte wohl bedeuten. Sie könnten einfach ein paar Bemerkungen über Fanny Burney bedeuten, ein paar weitere über Jane Austen, eine Würdigung der Brontës und eine kurze Beschreibung des verschneiten Pfarrhauses in Haworth, womöglich irgendetwas Geistreiches über Miss Mitford, ein respektvoller Verweis auf George Eliot, eine Erwähnung Mrs. Gaskells und fertig.2 Doch auf den zweiten Blick schien die Sache nicht ganz so einfach. Die Überschrift Frauen und Literatur könnte bedeuten, und so haben Sie es vielleicht gemeint: Frauen und wie sie sind; oder sie könnte bedeuten: Frauen und die Literatur, die sie schreiben; oder sie könnte bedeuten: Frauen und die Literatur, die über sie geschrieben wurde; oder sie könnte bedeuten, dass alles drei irgendwie untrennbar miteinander vermengt ist und Sie möchten, dass ich es in diesem Licht betrachte. Aber als ich anfing, das Thema in diesem letzten Sinne zu betrachten, der am interessantesten schien, sah ich bald, dass die Sache einen entscheidenden Haken hatte. Ich würde niemals in der Lage sein, zu einer Schlussfolgerung zu gelangen. Ich würde niemals in der Lage sein, zu erfüllen, was nach meinem Verständnis die erste Pflicht einer Vortragenden ist: Ihnen nach einer Stunde der Ausführungen ein goldenes Körnchen reiner Wahrheit auszuhändigen, damit Sie es zwischen die Seiten Ihrer Notizbücher stecken und für immer auf dem Kaminsims aufbewahren. Ich könnte Ihnen lediglich eine Meinung über einen nebensächlichen Punkt anbieten: Eine Frau braucht Geld und ein Zimmer für sich allein, wenn sie Bücher schreiben möchte, und das lässt, wie Sie sehen werden, das große Problem der wahren Natur der Frau und der wahren Natur der Literatur ungelöst. Ich habe mich vor der Pflicht gedrückt, in diesen beiden Fragen zu einem Schluss zu kommen – Frauen und Literatur bleiben, was mich betrifft, ungelöste Probleme. Doch um Sie ein wenig zu entschädigen, werde ich Ihnen, so gut ich kann, darlegen, wie ich zu dieser Meinung über das Zimmer und das Geld gekommen bin. Ich werde in Ihrer Anwesenheit so ausführlich und frei, wie es mir möglich ist, den Gedankengang nachvollziehen, der mich zu dieser Ansicht geführt hat. Wenn ich die Ideen offenlege, die Vorurteile, die hinter dieser Behauptung stehen, werden Sie vielleicht feststellen, dass sie einige Auswirkungen auf Frauen und einige auf die Literatur haben. Wenn ein Thema jedoch höchst umstritten ist – und das ist jede Frage, bei der es um die Geschlechter geht –, kann man nicht hoffen, die Wahrheit zu sagen. Man kann lediglich zeigen, wie man zu seiner Meinung gekommen ist, welche es auch immer sein mag. Man kann seiner Zuhörerschaft nur die Möglichkeit geben, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, wenn sie die Grenzen, die Vorurteile und Eigenarten der Vortragenden bemerken. Literatur vermittelt in dieser Hinsicht wahrscheinlich mehr Wahrheit als die bloßen Tatsachen. Daher schlage ich vor, dass ich mir alle Freiheiten und Vorrechte einer Schriftstellerin nehme, um Ihnen die Geschichte der beiden Tage, die meinem Eintreffen hier vorangegangen sind, zu erzählen – wie ich, gebeugt von dem Gewicht des Themas, das Sie meinen Schultern aufgebürdet haben, darüber nachgedacht und es in meinem Alltag ein- und ausgearbeitet habe. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass die Dinge, die ich nun beschreiben werde, nicht existieren: Oxbridge ist eine Erfindung, Fernham ebenso,3 und »ich« ist nur eine bequeme Bezeichnung für jemanden, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Lügen werden mir über die Lippen kommen, aber vielleicht mischt sich auch die eine oder andere Wahrheit darunter; es ist an Ihnen, diese Wahrheit ausfindig zu machen und zu entscheiden, ob es sich lohnt, irgendein Stück davon aufzubewahren. Falls nicht, werfen Sie das Ganze einfach in den Papierkorb und vergessen es.
Da war ich also (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael4 oder wie immer es Ihnen gefällt – das ist völlig unwichtig) und saß vor ein oder zwei Wochen bei schönem Oktoberwetter gedankenverloren am Ufer eines Flusses. Jenes Joch, von dem ich gesprochen habe, Frauen und Literatur, die Notwendigkeit, bei einem Thema, das alle möglichen Vorurteile und Leidenschaften weckt, zu einer Schlussfolgerung zu kommen, drückte meinen Kopf zu Boden. Zur Rechten und zur Linken leuchtete irgendeine Art von Büschen golden und purpurfarben, ja, ihre Farben schienen vor feuriger Hitze gar zu brennen. Am anderen Ufer weinten die Weiden, das Haar um ihre Schultern, in fortwährender Klage. Der Fluss spiegelte, was immer er von Himmel und Brücke und brennendem Baum auswählte, und nachdem der Student sein Boot durch die Spiegelungen gerudert hatte, schlossen sie sich wieder, so vollständig, als habe es ihn nie gegeben. Man hätte dort den ganzen Tag lang in Gedanken versunken sitzen können. Die Gedanken – um sie mit einem stolzeren Namen zu belegen, als sie verdienten – hatten ihre Angelschnur in den Fluss ausgeworfen. Dort tanzte sie, Minute um Minute, hin und her, zwischen den Spiegelungen und den Pflanzen, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis – Sie kennen den kleinen Ruck – die jähe Verdichtung einer Idee am Ende Ihrer Angelschnur, dann das behutsame Einholen und das vorsichtige Ausbreiten des Fangs? Aber ach, wie klein und unscheinbar sah dieser mein Gedanke aus, als er dort im Gras lag, die Sorte Fisch, die ein guter Angler ins Wasser zurückwirft, damit er fetter und es sich eines Tages lohnen wird, ihn zuzubereiten und zu essen. Ich will Sie jetzt nicht mit diesem Gedanken behelligen, doch wenn Sie aufmerksam hinschauen, können Sie ihn wohl im Verlaufe dessen, was ich nun sagen werde, selbst ausfindig machen.
Aber so klein er auch war, besaß er dennoch die geheimnisvolle Eigenschaft seiner Art: In den Kopf zurückgesteckt wurde er umgehend sehr aufregend und wichtig, und wie er so dahinschoss und abtauchte und hier und dort wieder aufblitzte, verursachte er einen solchen Schwall und Aufruhr an Ideen, dass es unmöglich war stillzusitzen. So merkte ich auf einmal, wie ich in hohem Tempo über ein Rasenstück lief. Im Nu erschien die Gestalt eines Mannes, um mich abzufangen. Doch begriff ich zuerst nicht, dass das Gestikulieren des seltsam aussehenden Individuums in Gehrock und Frackhemd mir galt. Seine Miene drückte Entsetzen und Empörung aus. Da kam mir eher der Instinkt als der Verstand zu Hilfe: Er war ein Pedell, ich war eine Frau. Hier war der Rasen, dort war der Weg. Hier sind nur Fellows5 und Gelehrte zugelassen, mein Platz ist auf dem Kiesweg. Diese Gedanken waren das Werk eines Augenblicks. Als ich mich wieder auf dem Weg befand, sanken die Arme des Pedells herab, nahm seine Miene die übliche Gelassenheit an, und obwohl es sich auf Rasen besser geht als auf Kies, war kein großer Schaden angerichtet worden. Das einzige, was ich gegen die Fellows und Gelehrten, welchem College sie auch angehören mochten, vorbringen konnte, war, dass sie meinen kleinen Fisch verscheucht hatten, um ihren Rasen zu schonen, der seit dreihundert Jahren ununterbrochen gewalzt wurde.
Ich konnte mich jetzt nicht mehr erinnern, welche Idee es gewesen war, die mich zu diesem kühnen unbefugten Betreten angestiftet hatte. Der Geist des Friedens senkte sich wie eine Wolke vom Himmel herab, denn wenn der Geist des Friedens irgendwo weilt, dann in den Innenhöfen und Gevierten von Oxbridge an einem schönen Oktobermorgen. Beim Umherstreifen durch die Colleges, vorbei an den altehrwürdigen Hallen, schien die Rauhheit der Gegenwart hinfortgeglättet, der Leib schien sich in einem wundersamen Glasgehäuse zu befinden, in das kein Laut vorzudringen vermochte, und der Geist, entbunden von jeglicher Berührung mit den Tatsachen (es sei denn, man beträte wieder unbefugt den Rasen), besaß die Freiheit, sich jeglicher Betrachtung anheimzugeben, die im Einklang mit dem Augenblick stand. Wie es der Zufall so wollte, rief mir eine beiläufige Erinnerung an einen alten Essay über ein Wiedersehen mit Oxbridge in den langen Ferien Charles Lamb in den Sinn – Saint Charles, sagte Thackeray und drückte einen Brief von Lamb an seine Stirn.6 In der Tat ist Lamb unter all den Verstorbenen (ich teile Ihnen meine Gedanken so mit, wie sie mir kamen) einer der einnehmendsten, einer, den man gern gefragt hätte: Erzählen Sie mal, wie haben Sie eigentlich Ihre Essays geschrieben? Denn seine Essays sind sogar denen von Max Beerbohm7 mit all ihrer Perfektion überlegen, dachte ich, wegen des wilden Aufloderns der Phantasie, des jähen Aufblitzens von Genie, was sie fehlerhaft und unvollkommen macht, aber vor Poesie funkeln lässt. Lamb kam also vor etwa hundert Jahren nach Oxbridge. Natürlich hat er einen Essay geschrieben – der Titel ist mir entfallen – über die Handschrift eines Gedichts von Milton, die er hier sah. Vielleicht war es Lycidas,8 und Lamb schrieb, wie sehr es ihn erschüttert habe, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, irgendein Wort in Lycidas könne anders sein, als es war. Der Gedanke, Milton könne in diesem Gedicht Worte geändert haben, erschien ihm wie ein Sakrileg. Das brachte mich darauf, mir – so weit ich konnte – die Verse von Lycidas aufzusagen und mich mit dem Ratespiel zu vergnügen, welches Wort Milton wohl geändert haben könnte und warum. Dann fiel mir ein, dass ebenjene Handschrift, die Lamb betrachtet hat, nur wenige hundert Meter entfernt lag, so dass man auf Lambs Spuren über den Innenhof zu der berühmten Bibliothek, die diesen Schatz bewahrt, wandeln konnte. Obendrein, entsann ich mich, als ich den Plan in die Tat umsetzte, liegt in dieser berühmten Bibliothek auch die Handschrift von Thackerays Esmond.9 Kritiker behaupten oft, Esmond sei Thackerays bester Roman. Doch der affektierte Stil, mit seiner Nachahmung des 18. Jahrhunderts, wirkt störend, soweit ich mich erinnere, wobei es jedoch sein könnte, dass der Stil des 18. Jahrhunderts für Thackeray natürlich war – ein Umstand, der sich überprüfen ließe, indem man die Handschrift nimmt und nachsieht, ob die Änderungen der Verbesserung des Stils oder des Verständnisses galten. Aber dann müsste man entscheiden, was Stil ist und was dem Verständnis dient, eine Frage, die – aber da stand ich schon vor der Tür, die direkt in die Bibliothek führt. Ich muss sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien dort, wie ein Schutzengel, der mit dem Geflatter einer schwarzen Robe statt weißer Flügel den Weg versperrt, abwehrend ein silberhaariger, gütiger Gentleman, der, während er mich zurückscheuchte, mit leiser Stimme bedauerte, Damen seien nur in Begleitung eines Fellows des College oder mit einem Empfehlungsschreiben versehen zur Bibliothek zugelassen.
Dass eine berühmte Bibliothek von einer Frau verwünscht wird, ist für eine berühmte Bibliothek völlig bedeutungslos. Ehrwürdig und gelassen, mit all ihren Schätzen sicher an ihrem Busen verwahrt, schläft sie selbstzufrieden und wird, was mich angeht, für immer so weiterschlafen. Niemals wieder werde ich jene Echos erwecken, niemals wieder werde ich um jene Gastfreundschaft bitten, so schwor ich, als ich voller Zorn die Treppe hinabstieg. Bis zum Mittagessen blieb noch eine Stunde Zeit, was konnte man anfangen? Über die Wiesen spazieren? Am Fluss sitzen? Gewiss, es war ein wunderbarer Oktobermorgen, die Blätter trudelten rot zu Boden, beides würde keine große Mühe bereiten. Doch drang Musik an mein Ohr. Irgendeine Andacht oder Feierlichkeit war im Gange. Die Orgel klagte mit Macht, als ich am Kirchenportal vorbeikam. Sogar das Leid der Christenheit klang in dieser gelassenen Atmosphäre mehr wie die Erinnerung an Leid als wie das Leid selbst, sogar das Stöhnen der alten Orgel schien in Frieden gehüllt. Ich verspürte nicht den Wunsch einzutreten, selbst wenn ich das Recht dazu gehabt hätte, denn dieses Mal würde mich vielleicht der Küster anhalten und meinen Taufschein oder ein Empfehlungsschreiben des Dekans verlangen. Doch das Äußere dieser prachtvollen Gebäude ist oft ebenso schön wie das Innere. Obendrein war es vergnüglich genug, zuzuschauen, wie sich die Gemeinde versammelte, etliche hinein- und wieder hinausgingen und am Eingang zur Kirche10 umherschwärmten, wie Bienen am Schlupfloch ihres Stocks. Viele trugen Barett und Talar, manche hatten Quasten aus Pelz an den Schultern, andere wurden in Rollstühlen geschoben, und wieder andere schienen, obgleich noch nicht über die Lebensmitte hinaus, zu so eigenartigen Gestalten gestaucht und gefaltet, dass sie einen an diese riesigen Krebse und Langusten erinnerten, die sich mühselig über den Sand eines Aquariums schleppen. Wie ich so an der Mauer lehnte, erschien die Universität tatsächlich wie ein Refugium, in dem seltene Arten erhalten wurden, die bald ausgestorben wären, müssten sie auf dem Pflaster der Strand11 um ihr Dasein kämpfen. Mir kamen alte Geschichten von alten Dekanen und alten Professoren in den Sinn, aber bevor ich den Mut gefasst hatte, zu pfeifen – es hieß immer, dass ein alter Professor beim Ertönen eines Pfiffes … augenblicklich in Galopp verfiel –, war die ehrwürdige Gemeinde hineingegangen. Das Äußere der Kirche blieb zurück. Wie Sie wissen, kann man ihre hohen Kuppeln und Spitzen, die bei Nacht erleuchtet und meilenweit sichtbar sind, noch weit über die Hügel hinweg erkennen, wie ein Segelschiff, das sich ewig auf Fahrt befindet und nie ankommt. Einst war dieser Innenhof mit seinen ebenen Rasenflächen, den mächtigen Gebäuden und der Kirche vermutlich ebenfalls Marschland gewesen, wo die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Gespanne von Pferden und Ochsen, so überlegte ich, müssen die Steine in Fuhrwerken aus fernen Gegenden herbeigekarrt haben, und dann wurden die grauen Blöcke, in deren Schatten ich jetzt stand, mit unendlicher Mühsal Reihe für Reihe einer auf den anderen gesetzt, und dann brachten die Maler ihr Glas für die Fenster, und die Steinmetze waren über Jahrhunderte mit Kitt und Mörtel, Spaten und Kelle auf diesem Dach beschäftigt. Jeden Samstag muss jemand Gold und Silber aus einem ledernen Geldbeutel in ihre alten Fäuste geschüttet haben, denn am Abend vergnügten sie sich vermutlich bei Bier und Kegelspiel. Ein nicht enden wollender Strom von Gold und Silber, überlegte ich, muss sich unablässig in diesen Innenhof ergossen haben, damit weiterhin Steine kamen und Steinmetze arbeiteten, damit geebnet, ausgehoben, geschaufelt und entwässert wurde. Doch damals herrschte das Zeitalter des Glaubens, und es floss reichlich Geld, um diese Steine auf ein festes Fundament zu stellen, und als sich die Mauern erhoben, floss noch mehr Geld aus den Schatullen von Königen und Königinnen und hohen Adligen, um dafür Sorge zu tragen, dass hier geistliche Lieder gesungen und Gelehrte unterrichtet wurden. Ländereien wurden gestiftet und der Zehnte gegeben. Und als das Zeitalter des Glaubens vorbei und das Zeitalter der Vernunft angebrochen war, floss derselbe Strom von Gold und Silber wie zuvor, gelehrte Vereinigungen wurden gegründet und Lehrstühle eingerichtet, nur floss das Gold und Silber jetzt nicht mehr aus der Schatulle des Königs, sondern aus den Truhen der Kaufleute und Fabrikanten, aus den Geldbörsen von Männern, die, sagen wir, als Unternehmer ein Vermögen gemacht hatten und in ihren Testamenten einen beträchtlichen Teil davon zurückgaben, um die Universitäten, an denen sie ihr Handwerk gelernt hatten, mit noch mehr Lehrstühlen, Stipendien und Stiftungen auszustatten. Daher die Bibliotheken und Labore, die Observatorien, die vorzügliche Ausrüstung mit teuren und raffinierten Instrumenten, die jetzt auf gläsernen Borden stehen, wo vor Jahrhunderten noch die Gräser wogten und die Schweine wühlten. Ja, als ich so um den Innenhof spazierte, schien das Fundament aus Gold und Silber wahrlich solide, das Pflaster lag fest gefügt über dem wilden Gras. Männer mit Tabletts auf den Köpfen eilten geschäftig von Treppenhaus zu Treppenhaus. Bunte Blumen blühten in den Blumenkästen der Fenster. Grammophonklänge schallten von drinnen heraus. Es war unmöglich, nicht daran zu denken – was immer es war, der Gedanke wurde jäh unterbrochen. Die Uhr schlug. Es war Zeit, sich auf den Weg zum Mittagessen zu machen.12
Es ist ein seltsamer Umstand, dass Schriftsteller die Angewohnheit haben, uns glauben zu machen, Mittagsgesellschaften seien ohne Ausnahme denkwürdig, weil etwas Geistreiches gesagt oder etwas Kluges getan wurde. Aber nur selten haben sie ein Wort dafür übrig, was gegessen wurde. Es ist Teil der schriftstellerischen Konventionen, weder Suppe noch Lachs noch Jungente zu erwähnen, als seien Suppe und Lachs und Jungente gänzlich unbedeutend, als habe nie jemand eine Zigarre geraucht oder ein Glas Wein getrunken. An dieser Stelle werde ich mir jedoch die Freiheit nehmen, mich über diese Konvention hinwegzusetzen und Ihnen zu berichten, dass die Mahlzeit bei diesem Anlass mit Seezungen begann, die in einer tiefen Schüssel lagen und über die der Koch des College eine Decke aus weißestem Rahm gebreitet hatte, nur hier und da wie die Flanke eines Rehkitzes von braunen Flecken gesprenkelt. Danach folgten die Rebhühner, doch wer dabei an ein paar kahle, braune Vögel auf einem Teller denkt, der irrt. Die Rebhühner, zahlreiche und verschiedene, kamen mit ihrem gesamten Gefolge von Soßen und Salaten, die scharfen und die süßen, alles schön der Reihe nach, mit ihren Kartoffeln, dünn wie Münzen, aber nicht so hart, und ihrem Rosenkohl, mit Blättern wie Rosenknospen, aber saftiger. Und kaum waren der Braten und sein Gefolge bewältigt, da setzte uns der stumme Diener, vielleicht der Pedell persönlich in einer milderen Erscheinungsform, eine von Servietten umkränzte Süßspeise vor, die sich in zuckriger Pracht aus den Fältelungen erhob. Sie Pudding zu nennen und so mit Reis und Tapioka in Verbindung zu bringen, wäre eine Beleidigung. Derweil blitzten die Weingläser golden und purpurn auf, wurden geleert und wieder gefüllt. Und so war allmählich dort unten, auf halbem Wege die Wirbelsäule hinab, wo sich der Sitz der Seele befindet, nicht jenes harte, kleine elektrische Licht, das wir Brillanz nennen, wenn es über unsere Lippen aufscheint, entzündet worden, sondern das tiefgründigere, feinere und unterschwelligere Glühen, das die leuchtend gelbe Flamme des gepflegten gesellschaftlichen Umgangs ist. Kein Grund zur Eile. Kein Grund zu glänzen. Kein Grund, ein anderer zu sein als man selbst. Wir kommen alle in den Himmel und van Dyck ist mit von der Partie13 – mit anderen Worten: wie schön das Leben doch schien, wie angenehm seine Genüsse, wie belanglos dieser Groll oder jener Kummer, wie vortrefflich Freundschaft und die Gesellschaft Gleichgesinnter, wenn man, sich eine gute Zigarette anzündend, in die Polster eines Sessels am Fenster sank.
Wäre rein zufällig ein Aschenbecher zur Hand gewesen, hätte man mangels dessen die Asche nicht aus dem Fenster geschnippt, wären die Dinge ein wenig anders gewesen, als sie waren, hätte man vermutlich nicht die Katze ohne Schwanz gesehen. Der Anblick dieses abrupt endenden und gestutzten Tieres, wie es sachte über den Innenhof stapfte, veränderte durch eine Laune des unbewussten Verstandes für mich die Gefühlslage. Es war, als hätte jemand einen Vorhang beiseitegezogen. Vielleicht lockerte der ausgezeichnete weiße Rheinwein seinen Griff. Auf jeden Fall schien irgendetwas zu fehlen, irgendetwas anders zu sein, als ich beobachtete, wie die Manxkatze mitten auf dem Rasen innehielt, als stelle auch sie das Universum in Frage. Aber was fehlte, was war anders, fragte ich mich, den Gesprächen lauschend. Und um diese Frage zu beantworten, musste ich mich aus dem Zimmer wegdenken, zurück in die Vergangenheit, ja, bis vor dem Krieg, und mir das Bild einer anderen Mittagsgesellschaft vor Augen rufen, die in Räumlichkeiten stattgefunden hatte, die nicht sehr weit von diesen entfernt waren, aber anders war. Alles war anders. Derweil lief die Unterhaltung zwischen den Gästen weiter, die zahlreich und jung waren, einige von diesem Geschlecht, andere von jenem, sie plätscherte dahin, angenehm, ungezwungen, amüsant. Und während sie so weiterlief, stellte ich sie vor den Hintergrund der anderen Unterhaltung, und als ich die beiden miteinander verglich, hegte ich keinen Zweifel, dass die eine die Nachfahrin und legitime Erbin der anderen war. Nichts hatte sich verändert, nichts war anders, außer – hier war ich ganz Ohr nicht allein für das, was gesagt wurde, sondern auch für das darunterliegende Gemurmel und Rauschen. Ja, das war es – dort lag die Veränderung. Vor dem Krieg hätten die Leute bei einer Mittagsgesellschaft wie dieser ganz genau die gleichen Dinge gesagt, aber sie hätten anders geklungen, denn in jenen Tagen wurden sie von einer Art Summen begleitet, nicht artikuliert, aber melodisch, aufregend und das Gewicht der Worte verändernd. Konnte man dieses Summen in Worte fassen? Vielleicht kann man es mit der Hilfe von Dichtern. Neben mir lag ein Buch, ich schlug es auf und stieß rein zufällig auf Tennyson. Und hier fand ich, was Tennyson sang:
There has fallen a splendid tear
From the passion-flower at the gate.
She is coming, my dove, my dear;
She is coming, my life, my fate;
The red rose cries, »She is near, she is near«;
And the white rose weeps, »She is late«;
The larkspur listens, »I hear, I hear«;
And the lily whispers, »I wait.«14
Die Leidensblume, die das Tor umspinnt, / Sie weint und silberhell die Träne rinnt. / Die Taube kommt, mein Lieb, mein einzig Glück, / Sie kommt, sie kommt, mein Leben, mein Geschick. / Die rote Rose sagt: »Sie naht mit Beben«; / Die weiße Rose sagt: »Ich harrte lange«; / Es lauscht der Rittersporn: »Ich hör es schweben«; / Die Lilie flüstert: »Oh, ich warte bange.«
War es das, was Männer vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten? Und die Frauen?
My heart is like a singing bird
Whose nest is in a water’d shoot;
My heart is like an apple tree
Whose boughs are bent with thick-set fruit;
My heart is like a rainbow shell
That paddles in a halcyon sea;
My heart is gladder than all these
Because my love is come to me.15
Mein Herz singt wie ein Vogel singt / Im Nest an einer Schilfrohrbucht; / Mein Herz bebt wie ein Birnbaumzweig / Gebeugt von dichtgedrängter Frucht; / Mein Herz schwankt wie in heiterer See / Fünffarbig quirlt ein Muscheltier; / Mein Herz ist froher als all dies: / Es kam mein Liebster heut zu mir.
War es das, was Frauen vor dem Krieg bei Mittagsgesellschaften summten?
Es lag etwas so Groteskes in dem Gedanken, dass Leute bei Mittagsgesellschaften vor dem Krieg derartige Dinge, wenn auch nur im Flüsterton, vor sich hin summten, dass ich laut auflachte und dieses Lachen erklären musste, indem ich auf die Manxkatze deutete, die tatsächlich ein wenig absurd aussah, das arme Tier, so ohne Schwanz, mitten auf dem Rasen. War sie wirklich so geboren worden, oder hatte sie ihren Schwanz bei einem Unfall verloren? Schwanzlose Katzen sind, auch wenn es ein paar auf der Isle of Man geben soll, seltener, als man denkt. Es sind sonderbare Tiere, eher kurios als schön. Es ist doch merkwürdig, welch einen Unterschied ein Schwanz16 macht – Sie wissen schon, all die Dinge, die man so sagt, wenn eine Mittagsgesellschaft im Aufbruch begriffen ist und die Leute nach ihren Mänteln und Hüten suchen.
Diese hier hatte sich, dank der Gastfreundschaft des Gastgebers, bis spät in den Nachmittag hingezogen. Der schöne Oktobertag schwand dahin, und die Blätter fielen von den Bäumen der Allee, auf der ich hinausging. Tor auf Tor schien sich mit sanfter Endgültigkeit hinter mir zu schließen. Unzählige Pedelle drehten unzählige Schlüssel in gut geölten Schlössern, das Schatzhaus wurde für eine weitere Nacht gesichert. Von der Allee gelangt man auf eine Landstraße – ich habe ihren Namen vergessen –, die einen, wenn man die richtige Abzweigung nimmt, nach Fernham führt. Aber es war noch viel Zeit. Abendessen gab es nicht vor halb acht. Nach so einem Mittagstisch konnte man beinahe ohne Abendessen auskommen. Schon seltsam, wie einem ein Fetzen Poesie im Kopf herumgeht und die Beine im Takt dazu die Straße entlang bewegt. Diese Worte –
There has fallen a splendid tear
From the passion-flower at the gate.
She is coming, my dove, my dear –
sangen in meinem Blut, als ich geschwind Richtung Headingley17 ausschritt. Und dann sang ich, wo das Wasser vom Wehr aufgewühlt wird, in den anderen Rhythmus wechselnd:
My heart is like a singing bird
Whose nest is in a water’d shoot;
My heart is like an apple tree …
Was für Dichter, rief ich laut, wie man es in der Dämmerung tut, was für Dichter sie doch waren!
In einer Art von Eifersucht, vermute ich, wegen unseres eigenen Zeitalters, fragte ich mich dann, so abwegig und dumm diese Vergleiche auch sein mögen, ob man ehrlicherweise zwei lebende Dichter benennen könnte, die heute so bedeutend sind wie Tennyson und Christina Rossetti damals. Offenbar ist es unmöglich, so dachte ich, in das schäumende Wasser blickend, sie miteinander zu vergleichen. Der eigentliche Grund, warum jene Dichtung bei uns eine solche Begeisterung, ein solches Entzücken hervorruft, liegt darin, dass sie ein Gefühl zelebriert, das wir (etwa bei Mittagsgesellschaften vor dem Krieg) zu haben pflegten, so dass wir leicht und unbeschwert darauf ansprechen, ohne uns damit zu belasten, das Gefühl zu überprüfen oder es mit einem zu vergleichen, das wir gegenwärtig empfinden. Doch die lebenden Dichter geben einem Gefühl Ausdruck, das gerade erst entsteht und sogleich aus uns herausgerissen wird. Man erkennt es anfangs nicht, oft fürchtet man es aus irgendeinem Grund, beobachtet es scharf und vergleicht es eifersüchtig und argwöhnisch mit dem alten Gefühl, das man kannte. Daher rührt die Schwierigkeit der modernen Dichtung, und eben wegen dieser Schwierigkeit kann man sich nicht an mehr als zwei aufeinanderfolgende Zeilen irgendeines guten modernen Dichters erinnern. Aus diesem Grund – weil mich mein Gedächtnis im Stich ließ – erlahmte meine Beweisführung aus Mangel an Belegen. Aber warum, so fuhr ich fort, während ich nach Headingley ging, haben wir aufgehört, bei Mittagsgesellschaften leise zu summen? Warum singt Alfred nicht mehr:
She is coming, my dove, my dear?
Warum antwortet Christina nicht mehr:
My heart is gladder than all these
Because my love is come to me?
Sollen wir dem Krieg die Schuld geben? Konnten die Männer und Frauen, als im August 1914 die Kanonen abgefeuert wurden, einander so deutlich an den Gesichtern ablesen, dass die Romantik getötet worden war? Gewiss bedeutete es einen Schock (besonders für die Frauen mit ihren Illusionen über Bildung und so weiter), die Gesichter unserer Herrscher im Lichte des Granatfeuers zu erblicken. So hässlich sahen sie aus – Deutsche, Engländer, Franzosen –, so töricht. Aber wem oder was auch immer wir die Schuld geben, die Illusion, die Tennyson und Christina Rossetti beflügelte, so leidenschaftlich vom Kommen ihrer Geliebten zu singen, ist heute viel seltener als damals. Man braucht nur einmal zu lesen, zu sehen, zu lauschen, sich zu erinnern. Aber warum von »Schuld« reden? Warum, wenn es eine Illusion war, preisen wir die Katastrophe nicht, welcher Gestalt sie auch immer war, die diese Illusion zerstört und die Wahrheit an ihre Stelle gesetzt hat? Denn die Wahrheit … diese Pünktchen bezeichnen die Stelle, wo ich auf der Suche nach Wahrheit die Abzweigung nach Fernham verpasste. Ja, in der Tat, was war Wahrheit und was war Illusion, fragte ich mich. Wie lautete zum Beispiel die Wahrheit über diese Häuser, jetzt in der Abenddämmerung mit ihren roten Fenstern so schummerig und einladend, aber um neun Uhr in der Früh mit ihren Schnürsenkeln und Süßigkeiten so rauh und rot und ärmlich? Und die Weiden und der Fluss und die Gärten, die sich zum Fluss hinabziehen, jetzt im Nebel, der darüber hinwegzieht, so verschwommen, aber im Sonnenschein rot und golden – was war bei ihnen die Wahrheit, was die Illusion? Ich erspare Ihnen die Drehungen und Wendungen meiner Gedankengänge, denn sie führten auf der Straße nach Headingley zu keinem Ergebnis, und ich bitte Sie, davon auszugehen, dass ich meinen Fehler betreffs der Abzweigung bald bemerkte und meine Schritte wieder Richtung Fernham lenkte.
Da ich bereits gesagt habe, dass es ein Oktobertag war, wage ich es nicht, Ihre Achtung zu verlieren und den guten Ruf der Literatur zu gefährden, indem ich die Jahreszeiten ändere und Flieder, der über die Gartenmauern wallt, Krokusse, Tulpen und andere Frühlingsblumen beschreibe. Literatur muss sich an die Tatsachen halten, und je wahrhaftiger die Tatsachen, desto besser die Literatur – so wird uns gesagt. Daher war es noch immer Herbst und die Blätter noch immer gelb, und sie fielen sogar ein wenig schneller als zuvor, denn es war jetzt Abend (sieben Uhr dreiundzwanzig, um genau zu sein), und eine leichte Brise (aus Südwest, um korrekt zu sein) war aufgekommen. Aber trotz allem war etwas Seltsames am Werk:
My heart is like a singing bird
Whose nest is in a water’d shoot;
My heart is like an apple tree
Whose boughs are bent with thick-setfruit …
Vielleicht waren zum Teil die Worte von Christina Rossetti verantwortlich für das närrische Hirngespinst – es war natürlich nichts als ein Hirngespinst –, dass der Flieder seine Blüten über die Gartenmauer schüttelte und die Zitronenfalter hin und her flatterten und die Luft mit Blütenstaub erfüllt war. Es wehte ein Wind, ich weiß nicht, aus welcher Richtung, aber er hob das junge Laub empor, so dass ein silbergrauer Schimmer in der Luft lag. Es war die Zeit zwischen lichtem Tag und Dämmerung, wenn die Farben an Leuchtkraft gewinnen und Gold und Purpur in den Fensterscheiben auflodern, wie das Pulsieren eines erregbaren Herzens, wenn sich aus irgendeinem Grund die Schönheit der Welt enthüllt und doch so bald wieder dahinschwindet (hier schlüpfte ich in den Garten, denn man hatte das Tor unklugerweise nicht verschlossen, und es schien kein Pedell in der Nähe zu sein); diese Schönheit der Welt, die so bald vergehen muss, besitzt zwei scharfe Schneiden, eine aus Lachen, die andere aus Leid, die einem das Herz entzweireißen. Vor mir lagen im Zwielicht des Frühlings die Gärten von Fernham, wild und offen, und im hohen Gras wuchsen, verstreut und achtlos gesetzt, Narzissen und Hasenglöckchen, wohl auch in den besten Zeiten nicht gepflegt, jetzt aber windzerzaust und schwankend an ihren Wurzeln zerrend. Die Fenster des Gebäudes, gerundet wie Schiffsfenster zwischen hohen Wellen von roten Ziegeln, wechselten unter den schnell dahinziehenden Frühlingswolken von Zitronengelb zu Silber. Jemand lag in einer Hängematte, jemand – doch in diesem Licht waren es alles nur Schemen, halb vermutet, halb gesehen – rannte über den Rasen – würde sie niemand aufhalten? – und dann trat, als wolle sie kurz Luft schnappen und einen Blick auf den Garten werfen, eine gebeugte Gestalt auf die Terrasse, beeindruckend und doch bescheiden, mit ihrer hohen Stirn und ihrem abgetragenen Kleid – könnte es die berühmte Gelehrte, könnte es J*** H**18 persönlich sein? Alles war verschwommen, aber auch überdeutlich, als sei das Tuch, das die Dämmerung über den Garten geworfen hatte, von einem Stern oder Schwert entzweigerissen worden – der Blitz einer schrecklichen Wirklichkeit entsprang, wie es seine Art ist, dem Herzen des Frühlings. Denn Jugend –
Da kam meine Suppe. Das Abendessen wurde im großen Speisesaal serviert. Es war keineswegs Frühling, sondern vielmehr ein Abend im Oktober. Alle hatten sich in dem hohen Speisesaal versammelt. Das Abendessen war bereit. Da kam die Suppe. Es war eine klare Fleischbrühe. Darin befand sich nichts, was die Phantasie anzuregen vermochte. Man hätte durch die klare Flüssigkeit jedes Muster erkennen können, was sich auf dem Teller selbst befunden haben mochte. Aber dort war kein Muster. Der Teller war schmucklos. Als Nächstes folgte Rindfleisch mit dem dazugehörigen Gemüse und Kartoffeln – eine rustikale Dreifaltigkeit, die an Rinderendstücke auf einem morastigen Markt denken ließen, an Rosenkohl mit gelblich gekräuselten Rändern, an Handel und Gefeilsche und an Frauen mit Einkaufsnetzen an einem Montagmorgen. Es bestand kein Anlass, sich über diese alltägliche Nahrung der Menschen zu beklagen, zumal es reichlich davon gab und Bergleute19 bestimmt mit weniger zu Tische saßen. Es folgten Backpflaumen mit Vanillesoße. Und wenn sich jemand beschwert, Backpflaumen seien, selbst durch Vanillesoße gemildert, ein unbarmherziges Gemüse (Obst sind sie keines), zäh wie das Herz eines Geizhalses und eine Flüssigkeit absondernd, wie sie vielleicht durch die Adern von Geizhälsen fließt, die sich seit achtzig Jahren des Weins und der Wärme enthalten und dennoch den Armen nichts gegeben haben, sollte er bedenken, dass es Leute gibt, deren Barmherzigkeit sogar die Backpflaume mit einschließt. Als nächstes kamen Cracker und Käse, und dabei wurde der Krug mit Wasser großzügig herumgereicht, denn es liegt in der Natur der Cracker, trocken zu sein, und diese waren Cracker der reinsten Sorte. Das war alles. Die Mahlzeit war beendet. Alle schoben geräuschvoll ihre Stühle zurück, die Schwingtüren schwangen ungestüm auf und zu, bald hatte man jegliche Anzeichen von Speisen aus dem Saal entfernt, und er wurde zweifelsohne für das Frühstück am nächsten Morgen vorbereitet. Die Jugend Englands zog polternd und singend durch Korridore und die Treppen hinauf. Und stand es einem Gast nun an, einer Fremden (denn ich besaß hier in Fernham nicht mehr Rechte als in Trinity oder Somerville oder Girton oder Newnham oder Christchurch),20 zu sagen: »Das Abendessen war nicht gut«, oder zu sagen (wir saßen jetzt, Mary Seton und ich, in ihrer Wohnstube): »Hätten wir nicht hier oben für uns allein speisen können?«, denn hätte ich etwas dieser Art gesagt, wäre es ein neugieriges Ausforschen der wirtschaftlichen Geheimnisse eines Hauses gewesen, das der Fremden eine so prächtige Fassade aus Frohsinn und Mut präsentierte. Nein, etwas Derartiges konnte man nicht sagen. Ja, die Unterhaltung stockte sogar für einen Augenblick. Da der Mensch nun einmal so beschaffen ist, wie er ist, Herz, Leib und Hirn alle miteinander verbunden und nicht getrennt voneinander untergebracht, so wie es zweifelsohne auch noch in einer Million Jahren der Fall sein wird, ist ein gutes Mahl eine wichtige Grundlage für ein gutes Gespräch. Man kann nicht gut denken, gut lieben oder gut schlafen, wenn man nicht gut gespeist hat. Das Lämpchen an der Wirbelsäule erglüht nicht bei Rindfleisch und Backpflaumen. Wir kommen wahrscheinlich alle in den Himmel, und van Dyck wartet, so hoffen wir, um die nächste Ecke auf uns – so lautet der zweifelhafte und beschränkte Geisteszustand, den Rindfleisch und Backpflaumen am Ende des Tagwerks miteinander erzeugen. Glücklicherweise besaß meine Freundin, die Naturwissenschaft lehrte, ein Schränkchen, in dem sich eine bauchige Flasche und kleine Gläser befanden – (obwohl es zum Auftakt hätte Seezunge und Rebhuhn geben müssen) –, so dass wir in der Lage waren, ans Feuer zu rücken und einige der Mängel der Verpflegung dieses Tages wieder wettzumachen. Binnen kurzem bewegten wir uns frei zwischen allen Gegenständen der Neugier und des Interesses, die einem bei der Abwesenheit einer bestimmten Person in den Sinn kommen und die natürlich erörtert werden, wenn man sich trifft – dass einer geheiratet hat, ein anderer nicht, dass der eine dieses denkt, der andere jenes, dass einer sich völlig unerwartet gut gemacht hat, ein anderer völlig überraschend auf die schiefe Bahn geraten war –, mit all jenen Mutmaßungen über die menschliche Natur und den Charakter dieser erstaunlichen Welt, in der wir leben, die wie von selbst einem solchen Auftakt entspringen. Während diese Dinge besprochen wurden, kam mir jedoch peinlich berührt zu Bewusstsein, dass wie von selbst eine Strömung eingesetzt hatte und alles einem eigenen Ziel entgegentrug. Man mochte über Spanien oder Portugal, über Bücher oder Rennpferde reden, aber das eigentliche Interesse dessen, was gesagt wurde, galt nicht diesen Dingen selbst, sondern dem Bild von Steinmetzen auf einem hohen Dach vor etwa fünfhundert Jahren. Könige und Adlige brachten große Säcke voller Schätze und schütteten sie in die Erde. Dieses Bild lebte in meiner Vorstellung immer wieder auf und gesellte sich zu einem anderen von mageren Kühen, einem morastigen Marktplatz, welkem Gemüse und vertrockneten Herzen alter Männer – diese beiden Bilder, so zusammenhanglos und unverbunden und widersinnig sie waren, erschienen immer wieder gemeinsam und bekämpften sich und hielten mich völlig in ihrem Bann. Damit nicht das ganze Gespräch verdreht wurde, war es am besten, das, was mir im Kopf herumging, der Luft auszusetzen, wodurch es dann mit etwas Glück verschwinden und zerfallen würde wie das Haupt des toten Königs, als man in Windsor seinen Sarg öffnete.21 Daher erzählte ich Miss Seton in aller Kürze von den Steinmetzen, die all die Jahre auf dem Dach der Kirche gewesen waren, und von den Königen und Königinnen und Adligen, die Säcke voller Silber und Gold auf ihren Schultern trugen, das sie in die Erde schaufelten, und wie dann die großen Finanzmagnaten unserer Zeit kamen und – so nehme ich an – Schecks und Wertpapiere darbrachten, wo die anderen Barren und grobe Goldklumpen dargebracht hatten. All das liegt dort unter den Colleges, sagte ich, aber dieses College, in dem wir gerade sitzen, was liegt unter seinen stattlichen roten Ziegeln und dem verwilderten, ungepflegten Rasen des Gartens? Welche Macht steht hinter dem schmucklosen Porzellan, von dem wir gespeist haben, und (hier entfleuchte es meinem Munde, bevor ich es aufhalten konnte) dem Rindfleisch, der Vanillesoße und den Backpflaumen?
Nun, sagte Mary Seton, um das Jahr 1860 – Oh, aber du kennst die Geschichte ja, sagte sie, gelangweilt, wie mir schien, von der Schilderung. Und dann erzählte sie mir – wurden Räumlichkeiten angemietet. Gremien tagten. Umschläge wurden adressiert. Rundschreiben wurden verfasst. Versammlungen wurden abgehalten, Briefe verlesen, So-und-so hat so viel zugesagt, Mr. *** wird dagegen – keinen Penny geben. Die Saturday Review war äußerst unverschämt gewesen. Wie können wir Mittel beschaffen, um die Verwaltung zu finanzieren? Sollen wir einen Basar veranstalten? Können wir vielleicht ein hübsches Mädchen finden, das sich in die erste Reihe setzt? Lasst uns nachsehen, was John Stuart Mill zu dem Thema gesagt hat.22 Kann jemand den Herausgeber vom *** überreden, einen Brief abzudrucken? Können wir Lady *** dazu bewegen, ihn zu unterschreiben? Lady *** ist verreist. So hat man es damals vermutlich gemacht, vor sechzig Jahren, und es war eine gewaltige Anstrengung, auf die viel Zeit verwendet wurde. Und erst nach einem langen Kampf und unter größten Schwierigkeiten haben sie dreißigtausend Pfund zusammenbekommen.23* Also können wir uns natürlich weder Wein noch Rebhühner leisten und auch keine Diener, die Zinngeschirr auf ihrem Kopf balancieren, sagte sie. Wir können uns weder Sofas noch separate Räumlichkeiten leisten. »Die Annehmlichkeiten«, sagte sie und zitierte aus irgendeinem Buch, »werden warten müssen.«24*
Bei dem Gedanken an all diese Frauen, die Jahr um Jahr gearbeitet haben und denen es schwergefallen war, zweitausend Pfund zusammenzubekommen, und die mit Mühe und Not dreißigtausend Pfund auftreiben konnten, erfüllte uns die verwerfliche Armut unseres Geschlechts mit verächtlicher Bitterkeit. Was haben unsere Mütter eigentlich getan, dass sie keinen Reichtum besaßen, den sie uns hinterlassen konnten? Sich die Nase gepudert? Einen Schaufensterbummel unternommen? In der Sonne Monte Carlos flaniert? Auf dem Kaminsims standen ein paar Fotografien. Marys Mutter – wenn es ihr Bild war – mochte in ihrer Mußezeit eine Lebedame gewesen sein (sie zeugte dreizehn Kinder mit einem Geistlichen), aber wenn dem so war, dann hatte ihr munteres und ausschweifendes Leben allzu wenig Spuren seiner Vergnügungen auf ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war eine häusliche Erscheinung, eine ältere Dame in einem schottischen Plaidtuch, das von einer großen Kamee zusammengehalten wurde; sie saß in einem Korbstuhl und hielt einen Spaniel dazu an, in die Kamera zu blicken, mit der amüsierten, aber dennoch angespannten Miene von einer, die genau weiß, dass der Hund sich bewegt, sobald der Auslöser gedrückt wird. Wenn sie nun ins Berufsleben eingestiegen wäre, Kunstseide hergestellt oder an der Börse spekuliert hätte, wenn sie Fernham zwei- oder dreihunderttausend Pfund vermacht hätte, dann könnten wir heute abend hier ganz gemütlich sitzen, und unsere Gespräche würden vielleicht um Archäologie, Botanik, Anthropologie, Physik, den Aufbau des Atoms, Mathematik, Astronomie, Relativität oder Geographie kreisen. Wenn Mrs. Seton und ihre Mutter und auch deren Mutter doch bloß die große Kunst des Geldmachens erlernt und ihr Vermögen gespendet hätten, wie ihre Väter und Großväter vor ihnen, um Stipendien und Preise für Forschung, Lehre und Studierende zu stiften, die ihrem eigenen Geschlecht vorbehalten waren, hätten wir hier oben recht annehmbar allein Geflügel und Wein schmausen können; wir hätten wohl ohne unangemessene Zuversicht auf ein angenehmes und ehrenvolles Leben vorausschauen können, im Schutze eines der großzügig honorierten Berufe. Wir würden vielleicht forschen oder Bücher schreiben, zu den altehrwürdigen Stätten dieser Welt pilgern, sinnierend auf den Stufen des Parthenons sitzen oder um zehn in ein Büro gehen und um halb fünf gemütlich nach Hause kommen, um ein paar Verse zu schmieden. Nur, wenn Mrs. Seton und ihresgleichen im Alter von fünfzehn Jahren ins Geschäftsleben eingestiegen wären, dann gäbe es – und das war der Haken an der Sache – keine Mary. Was, so fragte ich, dachte Mary darüber? Dort zwischen den Gardinen war die Oktobernacht, still und friedlich, mit ein oder zwei Sternen, die zwischen den gelbgefärbten Bäumen hingen. War sie bereit, ihren Anteil daran und ihre Erinnerungen (denn sie waren eine glückliche, wenn auch große Familie gewesen) an die Spiele und Zankereien dort oben in Schottland, das sie unermüdlich pries für die frische Luft und das leckere Gebäck, abzutreten, damit Fernham mit einem Federstrich etwa fünfzigtausend Pfund erhalten hätte? Denn um ein College zu finanzieren, wäre die gänzliche Abschaffung von Familien erforderlich. Ein Vermögen zu verdienen und dreizehn Kinder zur Welt zu bringen – dazu würde kein Mensch in der Lage sein. Betrachten wir uns einmal die Tatsachen, sagten wir. Zuerst sind da die neun Monate vor der Geburt. Dann wird das Baby geboren. Dann muss es drei oder vier Monate gestillt werden. Ist der Säugling abgestillt, vergehen bestimmt noch fünf Jahre, in denen man mit dem Kind spielen muss. Man kann Kinder offenbar nicht einfach auf der Straße herumlaufen lassen. Leute, die in Russland streunende Kinder gesehen haben, berichten von keinem schönen Anblick. Die Leute sagen auch, der Charakter eines Menschen bilde sich in der Zeit zwischen dem ersten und fünften Lebensjahr heraus. Wenn Mrs. Seton, so fragte ich, nun Geld verdient hätte, welche Art von Erinnerung hättest du dann an Spiele und Zankereien? Was wüsstest du von Schottland, seiner frischen Luft und dem leckeren Gebäck und allem anderen? Aber es ist sinnlos, diese Fragen zu stellen, denn du wärst dann überhaupt nicht auf die Welt gekommen. Obendrein ist es ebenso sinnlos zu fragen, was geschehen wäre, wenn Mrs. Seton und ihre Mutter und deren Mutter davor großen Reichtum angehäuft und damit die Fundamente für College und Bibliothek gelegt hätten, denn erstens war es ihnen unmöglich, Geld zu verdienen, und wenn es ihnen möglich gewesen wäre, hätte ihnen das Gesetz zweitens verweigert, das verdiente Geld auch zu behalten. Erst seit achtundvierzig Jahren darf Mrs. Seton überhaupt einen Penny besitzen.25 All die Jahrhunderte zuvor wäre er das Eigentum ihres Gatten gewesen – ein Gedanke, der vielleicht dazu beigetragen hat, Mrs. Seton und ihre Mütter von der Börse fernzuhalten. Jeder Penny, den ich verdiene, mögen sie sich gesagt haben, wird mir weggenommen und nach Gutdünken meines Gatten verwendet – vielleicht, um am Balliol oder Kings26 Stipendien oder Forschungsgelder zu vergeben, so dass Geldverdienen, selbst wenn ich es könnte, keine Sache ist, die mich sonderlich interessiert. Das überlasse ich lieber meinem Mann.
Auf jeden Fall konnte, ob die Schuld nun bei der alten Dame lag, die den Spaniel anblickte, oder nicht, kein Zweifel bestehen, dass unsere Mütter ihre Angelegenheiten aus dem einen oder anderen Grunde sträflich vernachlässigt hatten. Kein Penny blieb für »Annehmlichkeiten« übrig, für Rebhühner und Wein, Pedelle und gepflegten Rasen, Bücher und Zigarren, Bibliotheken und Muße. Kahle Mauern auf kargem Grund zu errichten, war das Äußerste, was sie zu tun vermochten.
So standen wir am Fenster, redeten und schauten, wie so viele Tausend es jeden Abend tun, auf die Kuppeln und Türme der berühmten Stadt unter uns. Sie wirkte in dem herbstlichen Mondlicht sehr schön, sehr geheimnisvoll. Die alten Steine sahen sehr weiß und ehrwürdig aus. Man dachte an all die Bücher, die dort unten versammelt waren, an die Bilder der alten Prälaten und Honoratioren, die in den getäfelten Sälen hingen, an die bemalten Fenster, die seltsame Kugeln und Sicheln auf das Pflaster warfen, an die Gedenktafeln, Ehrenmale und Inschriften, an die Springbrunnen und den Zierrasen, an die ruhigen Zimmer, die auf die ruhigen Innenhöfe blickten. Und (man verzeihe mir diesen Gedanken) ich dachte auch an die vorzüglichen Rauchwaren und Drinks, die tiefen Lehnsessel und dicken Teppiche: an die Weltläufigkeit, herzliche Geselligkeit und Würde, die von Luxus und Ungestörtheit und Freiraum hervorgebracht werden. Unsere Mütter hatten uns gewiss nicht mit irgendetwas Vergleichbarem ausgestattet – unsere Mütter, denen es schwergefallen war, dreißigtausend Pfund zusammenzukratzen, unsere Mütter, die den Dienern der Kirche zu St. Andrews dreizehn Kinder gebaren.
Also ging ich zurück zu meinem Gasthof, und als ich durch die dunklen Straßen lief, sann ich über dieses und jenes nach, wie man es am Ende seines Tagwerks zu tun pflegt. Ich überlegte, wie es kam, dass Mrs. Seton uns kein Geld hinterlassen konnte, und welche Auswirkungen Armut auf den Geist besitzt, und welche Auswirkung Reichtum auf den Geist besitzt; und ich dachte an die merkwürdigen alten Herren, die ich an diesem Morgen mit ihren Pelzbüscheln auf den Schultern27 gesehen hatte, und ich erinnerte mich daran, wie einer von denen immer losrannte, wenn jemand pfiff; und ich dachte an die dröhnende Orgel in der Kirche und an die verschlossenen Türen der Bibliothek; und ich dachte, wie unangenehm es ist, ausgesperrt zu sein; und ich dachte, wie viel schlimmer es vielleicht ist, eingesperrt zu sein; und als ich an die Sicherheit und den Wohlstand des einen Geschlechts und die Armut und Unsicherheit des anderen dachte und an die Auswirkungen der Tradition und das Fehlen der Tradition auf den Geist eines Schriftstellers, da dachte ich schließlich, es sei an der Zeit, die schrumpelige Haut des Tages mit all den Überlegungen, den Eindrücken, der Wut und dem Lachen zusammenzurollen und in die Hecke zu werfen. Tausend Sterne blinkten an der blauen Einöde des Himmels. Man wähnte sich allein mit einer unergründlichen Gesellschaft. Alle Menschen lagen im Schlaf – auf dem Bauch, ausgestreckt, stumm. Niemand schien sich in den Straßen von Oxbridge zu regen. Sogar die Tür des Hotels sprang durch die Berührung einer unsichtbaren Hand auf – kein Hausdiener saß noch wach, um mir ins Bett zu leuchten, so spät war es schon.