Читать книгу Virginia Wolf: Orlando - Virginia Woolf - Страница 4
Erstes Kapitel
ОглавлениеEr – denn es war kein Zweifel über sein Geschlecht möglich, wenn auch die Mode der Zeit bemüht schien, es unkenntlich zu machen – er also war damit beschäftigt, den vom Sparrenwerk herabbaumelnden Kopf eines Mohren säuberlich zu zersäbeln. Dieser Kopf hatte die Farbe und mehr oder weniger auch die Form eines alten Fußballs, wenn man von den eingetrockneten Wangen und ein paar Strähnen groben, dürren Haares absah, das den Fasern einer Kokosnuß glich. Orlandos Vater (vielleicht war es auch sein Großvater gewesen) hatte den Schädel von den Schultern eines gewaltigen Heiden heruntergeschlagen, der sich unter dem Mond der barbarischen Schlachtfelder Afrikas wider ihn erhoben hatte; und nun hing er in dem mächtigen Hause des Lords, der ihn abgehauen hatte, und schwang sacht schaukelnd und unablässig in der Brise, die ohne Unterlaß durch die Räume des Dachgeschosses strich.
Orlandos Väter waren auf vielen Schlachtfeldern geritten – auf Asphodillfeldern und steinigen Feldern und Feldern, die von fremden Flüssen getränkt wurden; und sie hatten vielerlei Köpfe von vielerlei Farben von vielerlei Schultern gehauen und sie heimgebracht, um sie vom Sparrenwerk herabbaumeln zu lassen. Orlando wollte es ihnen gleichtun, das gelobte er. Da er aber erst sechzehn Jahre zählte und noch zu jung war, um mit ihnen in Afrika oder Frankreich zu reiten, so stahl er sich von seiner Mutter und den Pfauen im Garten hinweg und ging in die Dachkammer, um da seine Hiebe und Stöße zu führen und mit der Klinge die Luft zu zerhauen. Zuweilen hieb er die Schnur durch, so daß der Schädel herabpolterte; dann mußte er ihn wieder aufhängen, wobei er ihn mit einer gewissen Ritterlichkeit fast unerreichbar hoch anbrachte, so daß sein Feind nun mit zusammengeschrumpften, schwarzen Lippen triumphierend auf ihn herabgrinste. Der Schädel schwang hin und her, denn das Haus, in dessen höchstem First er wohnte, war so riesengroß, daß selbst der Wind sich darin wie in einer Falle zu fangen schien und hierhin und dorthin wehte, Winter und Sommer. Der grüne Arras-Teppich mit den Jägergestalten darauf bewegte sich unablässig. Orlandos Väter waren Edelleute gewesen, seitdem sie überhaupt vorhanden waren. Sie kamen aus den Nordlandnebeln und trugen Adelskronen auf den Häuptern. Wie kamen die Bahnen lichtloser Schwärze und die gelben Farbtümpel, die den Boden überwürfelten, in den Raum? Brachte sie nicht die Sonne hervor, die durch die farbige Glasmalerei eines mächtigen Wappenschildes am Fenster fiel? Orlando stand nun mitten im gelben Leibe eines heraldischen Leoparden. Wenn er die Hand auf den Sims legte, um das Fenster aufzustoßen, war sie alsbald rot und blau und gelb gefärbt wie ein Schmetterlingsflügel. Wer Sinnbilder liebt und Freude daran hat, sie zu deuten, mag hier zur Kenntnis nehmen, daß Orlando wohlgeformte Beine, sein anmutiger Körper und seine schöngebauten Schultern ganz und gar mit den mannigfachen Farbtönen dieses heraldischen Lichtes geschmückt waren, daß aber Orlandos Gesicht, als er das Fenster aufgestoßen hatte, nur von der Sonne beleuchtet war. Ein ehrlicheres, trotzigeres Gesicht würde man vergeblich suchen. Glücklich die Mutter, die das Leben eines solchen Menschen im Schoße trug, glücklicher noch der Biograph, der es schildert! Sie braucht sich niemals zu grämen, und er braucht sich von keinem Romanschreiber noch Dichter Beistand zu leihen. Von Heldentat zu Heldentat, von Ruhm zu Ruhm, von Ritterdienst zu Ritterdienst muß ein solcher dahinschreiten, den treulichen Aufzeichner seiner Laufbahn hinter sich, bis sie das höchste Ziel erreicht haben, nach dem jeweils ihre Sehnsucht langt. Orlando war, wenn man ihn recht betrachtete, für eine solche Laufbahn geradezu mit Bedacht geformt. Das Rot seiner Wangen bedeckte ein Flaum, samten und zart wie Pfirsichhaut; auf den Lippen war dieser Flaum nur wenig dichter als auf den Wangen. Diese Lippen waren kurz und ließen, ein wenig hochgezogen, Zähne von untadelhafter mandelfarbener Weiße aufschimmern. Nichts störte die kurze, straffe Linie der pfeilgeraden Nase; das Haar war schwarz, die Ohren klein und fest an den Kopf gefügt. Leider aber, leider kann man diese Aufzählung jugendlicher Schönheit nicht beenden, ohne der Stirn und der Augen Erwähnung zu tun. Leider, leider kommen ja die Menschen selten ohne diese drei Dinge auf die Welt; denn sobald wir Orlando betrachten, wie er so am Fenster steht, müssen wir einräumen, daß er Augen hatte wie regennasse Veilchenkelche, so groß, daß es aussah, als hätte der Tau sie überflutet und geweitet; und eine Stirn wie die Wölbung einer marmornen Kuppel, fest umschlossen von den glatten Flächen seiner Schläfen. Sobald wir nur einen Blick tun auf Augen und Stirn, geraten wir auch schon ins Schwärmen. Sobald wir nur einen Blick tun auf Augen und Stirn, müssen wir tausend Unstimmigkeiten einräumen, die nicht zu sehen das Bestreben eines jeden guten Biographen ist. Manches, was er sah, verwirrte Orlando: so der Anblick seiner Mutter, einer sehr schönen Dame in grünem Gewand, die durch den Park wandelte, um die Pfauen zu füttern, gefolgt von Twitchett, ihrer Magd; anderes wieder entzückte ihn: so die Vögel und die Bäume; und wieder anderes weckte in ihm die Liebe zum Tode: der Abendhimmel und die heimkehrenden Krähen; und alles dies, das so die gewundene Treppe zu seinem Hirn (welches geräumig war) hinanstieg, dazu die Geräusche des Gartens, Hammerschlag und das Dröhnen der Holzfälleräxte – alles dies löste nun jenes Getümmel und jenen Aufruhr von Leidenschaften und Erregungen des Gemütes aus, die jeder gute Biograph verabscheut. Aber fördern wir unseren Bericht: Orlando zog sich langsam ins Zimmer zurück, setzte sich an den Tisch, nahm mit dem ein wenig geistesabwesenden Gebaren eines Menschen, der sein ganzes Leben lang um immer die gleiche Stunde immer die gleiche Verrichtung tut, ein Schreibheft zur Hand, das die Aufschrift trug: ›Æthelbert. Ein Trauerspiel in fünf Akten‹ – und tauchte eine alte fleckige Gänsefeder in die Tinte.
Bald hatte er zehn Seiten und mehr mit Dichterei bedeckt. Sie floß ihm offenbar leicht aus der Feder, aber sie war abstrakt. Laster, Verbrechen und Elend waren die handelnden Gestalten seines Dramas; es kamen Könige und Königinnen unmöglicher Länder darin vor; schauerliche Verschwörungen stürzten sie ins Verderben; edle Gefühle überrannen sie; da wurde kein einziges Wort so gesagt, wie es Orlando selbst gesagt hätte, sondern es war alles mit einer Anmut und Geläufigkeit geformt, die bemerkenswert genug war, wenn man bedenkt, daß er noch nicht siebzehn Jahre zählte und daß das sechzehnte Jahrhundert noch etliche Jahre seiner Bahn zu durchmessen hatte. Schließlich hielt er aber doch inne. Er schilderte, was alle jungen Dichter bis in alle Ewigkeit schildern werden: die Natur; und um das Abbild des Grüns recht getreu dem Vorbild zu machen, sah er sich (und hierbei erwies er mehr Kühnheit als die meisten) das Ding selbst an, das sich in diesem Falle als ein unterm Fenster wachsender Lorbeerbusch darbot. Danach konnte er natürlich nicht weiterschreiben. Grün in der Natur und Grün in der Literatur sind zwei verschiedene Dinge. Natur und Literatur sind anscheinend von gegenseitiger Abneigung erfüllt; bring sie zusammen, und sie reißen einander in Stücke. Das Grün, das Orlando jetzt sah, verdarb seinen Reim und zerspellte sein Versmaß. Obendrein hat die Natur noch ihre eigenen Tücken. Hat man einmal aus dem Fenster auf Bienen inmitten von Blüten geblickt, oder auf einen gähnenden Hund, oder auf einen Sonnenuntergang, hat man einmal gedacht: ›Wie viele Sonnenuntergänge werde ich noch sehen?‹ und so weiter und so weiter (der Gedanke ist allzu bekannt, als daß es sich verlohnte, ihn auszuspinnen) – so läßt man auch schon die Feder fallen, nimmt den Rock, rennt aus dem Zimmer und stößt sich dabei den Fuß an einer bemalten Truhe. Denn Orlando war ein wenig täppisch. Er vermied es sorgsam, einer Menschenseele zu begegnen. Da kam zum Beispiel Stubbs, der Gärtner, auf dem Wege daher. Orlando versteckte sich hinter einem Baum, bis der Mann vorüber war. Er verließ den Park durch eine kleine Pforte in der Mauer. Er ging vorbei an allen Ställen, Hundezwingern, Brauhäusern, Zimmermannswerkstätten, Waschhäusern, Talglichtziehereien, an all den Arbeitsräumen, wo man Ochsen schlachtete, Hufeisen schmiedete, Wämser nähte – denn das Haus war in Wahrheit eine Stadt, die vom Arbeitslärm der mannigfachen Gewerbe widerhallte –, und gewann den farnigen Pfad, der durch den Park hügelan führte, ungesehen. Es besteht vielleicht eine Verwandtschaft zwischen den menschlichen Eigenschaften; eine zieht die andere mit sich; und der Biograph tut gut, hier die Tatsache zu beachten, daß täppisches Ungeschick sich oft mit der Liebe zum Alleinsein verbindet. Da er über eine Truhe gestolpert war, liebte Orlando natürlich einsame Stätten, weite Ausblicke und das Gefühl, auf ewig, auf ewig, ja, auf ewig allein zu sein.
So sagte er denn nach einem langen Schweigen erlöst aufatmend: »Ich bin allein!« – öffnete also zum erstenmal in diesem Bericht die Lippen. Durch Farnkraut und Hagedorngebüsch war er sehr rasch bergan gegangen, Rotwild und Waldvögel aufscheuchend, bis er an eine Stelle kam, die ein einzeln stehender Eichbaum krönte. Sie lag sehr hoch, so hoch, daß man neunzehn englische Grafschaften drunten liegen sah und an klaren Tagen gar dreißig oder vielleicht auch vierzig, wenn das Wetter sehr schön war. Zuweilen sah man den Ärmelkanal und gewahrte, wie Welle auf Welle zum Ufer zog. Flüsse sah man und Lustboote, die auf ihnen dahinglitten; Galionen, die aufs Meer hinausfuhren; und Kriegsschiffe mit Rauchwölkchen daran, aus denen dumpf der Donner von Kanonenschüssen hallte; und Forts an der Küste; und Schlösser inmitten der Wiesen; und hier einen Wachtturm; und dort eine Festung; und dann wieder ein mächtiges Herrenhaus wie das von Orlandos Vater, massig wie eine kleine Stadt eingezwängt in das Tal, das von Wällen umgeben war. Im Osten erblickte man die Türme Londons und den Rauch der großen Stadt; und vielleicht, wenn der Wind aus der richtigen Ecke wehte, zeigte sich ganz am Horizont sogar der Snowdon bergriesenhaft mit felsigem Gipfel und zackigem Grat inmitten der Wolken. Einen Augenblick lang stand Orlando da, zählte, schaute und erkannte: Dies war seines Vaters Haus, jenes gehörte dem Oheim. Die drei großen Türme da zwischen den Bäumen waren Eigentum der Tante. Die Heide gehörte ihnen und der Wald, der Fasan und der Hirsch, der Fuchs, der Dachs und der Schmetterling.
Er seufzte tief und warf sich – in seiner Bewegung lag eine Leidenschaftlichkeit, die eine solche Bezeichnung rechtfertigte – am Fuße des Eichbaumes auf die Erde. Er liebte es, unter all der Vergänglichkeit dieser Sommerwelt das Rückgrat der Erde unter seinem Körper zu spüren (denn dies war die Deutung, die er der harten Wurzel des Eichbaums gab); oder sie war – Bild drängte sich an Bild – der Rücken eines großen Rosses, auf dem er ritt, oder das Deck eines schlingernden Schiffes – allem war sie vergleichbar, wenn es nur hart war, denn er fühlte, daß er etwas haben mußte, daran er seinem überwallenden Herzen Halt geben konnte: diesem Herzen, das so wild an seiner Brust zerrte; diesem Herzen, das jeden Abend etwa um diese Stunde, wenn er ins Freie ging, süßes, verliebtes Brausen durchzog. Am Eichbaum band er es fest, und wie er so dalag, verebbte allmählich die Unruhe in ihm und um ihn; die kleinen Blätter hingen still herab, das Wild blieb stehen; die blassen Sommerwolken verhielten ihren Gang: ihm wurden die Glieder schwer am Boden; und er lag so still, daß allmählich die Hirsche und Rehe näher kamen und die Krähen ihn umkreisten und die Schwalben ihn umsegelten und die Libellen vorüberschossen, als wäre all die Fruchtbarkeit und verliebte Betriebsamkeit eines Sommerabends spinnenwebartig um seinen Körper gewoben.
Nach einer Stunde oder so – die Sonne sank nun rasch hinab, die weißen Wolken waren rot geworden, die Hügel waren veilchenfarben, die Wälder purpurn, die Täler schwarz – ertönte eine Trompete. Orlando sprang auf. Der schmetternde Ton kam aus dem Tal. Er kam aus einem schwarzen Flecken da drunten; einem dicken, scharf abgegrenzten Flecken; einem Labyrinth; einer Stadt, gar einer mit Mauern umgürteten Stadt; er kam aus dem Inneren seines großen Hauses im Tal, das, eben noch finster, gerade als er hinunterblickte und der einzelne Trompetenstoß sich mit zwei, mit drei, mit vier noch lauter gellenden Stößen paarte, seine Schwärze verlor und von Lichtpünktchen überzogen wurde. Da waren kleine dahinhuschende Lichter, als ob Diener durch Flure eilten, um Befehle auszuführen; da waren helle, glänzende Lichter, die strahlten, als brennten sie in leeren Festhallen zum Empfang von Gästen, die nicht gekommen waren; andere wieder tauchten nieder und schwankten und hoben und senkten sich, als würden sie von den Händen dienender Mannen gehalten, die sich verbeugten und knieten und sich erhoben und so mit allen Ehren eine große Fürstin empfingen und ins Haus geleiteten, nachdem sie ihre Kutsche verlassen hatte. Wagen rollten in den Hof. Pferde schüttelten ihre Federbüsche. Die Königin war angekommen.
Orlando schaute nicht länger. Er rannte bergab. Er gelangte durch ein Seitenpförtchen ins Haus. Er sauste die gewundene Treppe hinan. Er erreichte sein Zimmer. Er schleuderte die Strümpfe in die eine Ecke, das Wams in die andere. Er tauchte den Kopf ins Wasser. Er wusch sich die Hände. Er schnitt sich die Fingernägel. Ihm standen zu alledem nicht mehr als sechs Zoll Spiegelglas und ein paar alte Kerzen zur Verfügung: aber ihre Hilfe genügte ihm, um karmesinfarbene Beinkleider, Spitzenkragen und Taffetwams anzulegen, dazu Schuhe mit Rosetten darauf, so groß wie zwei Dahlien; alles das in weniger als zehn Minuten nach der Stalluhr. Er war fertig. Er war erhitzt. Er war erregt. Aber er war furchtbar spät dran.
Auf gewohnten Richtwegen eilte er nun durch das riesige Gewirr von Räumen und Treppen zum Bankettsaal, der tausend Meter entfernt auf der anderen Seite des Hauses lag. Aber auf halbem Wege, in dem abgelegenen Teil, wo die Dienstboten wohnten, blieb er stehen. Die Tür von Mrs. Stewkleys Wohnzimmer stand offen – zweifellos war die Bewohnerin mit allen ihren Schlüsseln fortgegangen, um ihrer Herrin zu Diensten zu stehen. Drinnen aber, an Mrs. Stewkleys Wohnzimmertisch, eine Kanne neben sich, Papier vor sich, saß ein fetter, ziemlich schäbig aussehender Mann, dessen Halskrause ein wenig schmutzig war und der bäurisch grobe braune Kleider trug. Er hatte eine Feder in der Hand, aber er schrieb nicht. Er schien damit beschäftigt, einen Gedanken hin und her, auf und nieder durch seinen Schädel zu wälzen, bis er ihm die Gestalt oder die Ausdruckskraft gegeben hatte, die er haben sollte. Seine Augen, kugelig und trübe wie ein grüner Stein von sonderbarem Gefüge, waren starr auf das Papier geheftet. Er sah Orlando nicht. Trotz seiner Hast verhielt Orlando den Schritt. War der Mann da ein Dichter? Schrieb er an einer Dichtung? Es drängte Orlando, ihn anzureden: »Saget mir alles, alles über die ganze Welt!« – denn er hatte die schwärmerischsten, törichtsten, abenteuerlichsten Vorstellungen von Dichtern und Dichtkunst – aber wie kannst du einen Mann ansprechen, der dich gar nicht sieht? der statt dessen vielleicht Menschenfresser, Satyrn, ja gar die Tiefen des Meeres erblickt? So stand Orlando da und starrte, indessen der Mann die Feder zwischen den Fingern drehte, bald so herum, bald so herum, und gedankenverloren vor sich hinstarrte; dann sehr rasch ein halbes Dutzend Zeilen schrieb – und schließlich aufblickte. Worauf Orlando, von Scheu überwältigt, davonrannte und den Bankettsaal eben noch rechtzeitig erreichte, um in die Knie zu sinken und mit verwirrt gebeugtem Kopf der Königin, der großen Königin, eine Schale Rosenwasser zu reichen.
Seine Befangenheit war so groß, daß er von ihr nicht mehr wahrnahm als ihre beringte Hand im Wasser; aber das war genug. Es war eine Hand, die man nicht wieder vergaß; eine dünne Hand mit langen Fingern, die sich beständig krümmten, als schlössen sie sich um Reichsapfel oder Zepter; eine nervöse, verbitterte, kränkliche Hand; auch eine gebieterische Hand; eine Hand, die sich nur zu heben brauchte, und es fiel ein Kopf unterm Beil; sie gehörte, so dachte Orlando, zu einem alten Körper, der wie ein Schrank mit eingekampferten Pelzen roch; ein Körper, der jedoch mit allerlei Brokat und Edelsteinen überreich herausgeputzt war und sich sehr aufrecht hielt, wenn er vielleicht auch mit geheimem Hüftweh kämpfte; der niemals zuckte und zurückwich, und würde er auch von tausend Ängsten gefoltert; und die Augen der Königin waren von einem lichten Gelb. Alles dies erfühlte er, als die großen Ringe im Wasser blitzten, und dann spürte er einen Druck auf seinem Haar – was wir vielleicht als den Grund dafür ansehen dürfen, daß er keinerlei weitere Wahrnehmungen machte, mit denen ein Geschichtsschreiber etwas anfangen könnte. Und um die Wahrheit zu sagen: in seinem Kopfe war ein solcher Wirrwarr entgegengesetzter Eindrücke – da waren die Nacht und die strahlenden Kerzen, der schäbig gekleidete Dichter und die große Königin, das schweigende Land und der Lärm des Bediententrosses –, daß er nichts sah, oder vielmehr: daß er nur eine Hand sah.
Die gleiche Fügung bringt es mit sich, daß die Königin nur einen Kopf gesehen haben kann. Aber wenn es möglich ist, aus einer Hand das Bild eines ganzen Körpers zu erschaffen, der mit allen Eigenschaften einer großen Königin ausgestattet ist, mit ihrer Verdrießlichkeit, ihrem Mut, ihrer Gebrechlichkeit, ihren Ängsten; so kann sicherlich ein Kopf ebenso fruchtbare Anregung geben, wenn ihn von einem Prunksessel herab eine Dame betrachtet, deren Augen (sofern man den Wachsfiguren in der Westminster Abbey trauen darf) immer weit geöffnet waren. Das lange, lockige Haar, der dunkle Kopf, der so ehrfürchtig, so voll Unschuld vor ihr gebeugt war, ließen auf ein Paar der edelsten Beine schließen, auf denen je ein junger Edelmann aufrecht stand; und auf veilchenfarbene Augen; und auf ein goldenes Herz; und auf Lauterkeit und den Zauber männlicher Gesinnung – auf lauter Eigenschaften also, denen um so mehr die Liebe der alten Frau galt, je mehr sie selbst ihrer ermangelte. Denn sie wurde vor der Zeit alt und müde und gebeugt. Immer klang der Donner der Kanonen ihr in den Ohren. Immer sah sie glitzerndes Gift niederträufeln und ein langes Stilett niederfahren. Wenn sie an der Tafel saß, lauschte sie; ihr Ohr vernahm die Geschütze vom Kanal; sie fürchtete sich – war das da eben ein Fluch gewesen, war da nicht ein Gewisper? Unschuld und Einfalt – sie erblickte sie vor einem düsteren Hintergrund, und sie waren ihrem Herzen um so teurer. So geschah es denn, wie die Überlieferung berichtet, in derselben Nacht, als Orlando in tiefem Schlafe lag, daß die Königin dem Vater Orlandos das große klösterliche Haus, das einst dem Erzbischof und dann dem König gehört hatte, feierlich zu eigen gab: und sie setzte ihre Unterschrift und ihr Siegel auf das Pergament der Urkunde.
Orlando schlief die ganze Nacht und wußte nichts von alledem. Eine Königin hatte ihn geküßt; aber auch das wußte er nicht. Und vielleicht (denn die Herzen der Frauen sind unerforschbar) war es seine Ahnungslosigkeit und sein Erschauern, als ihre Lippen ihn berührten vielleicht war es alles dies, was die Erinnerung an ihren jungen Vetter (sie waren blutsverwandt) in ihrem Gedächtnis so frisch erhielt. Jedenfalls – es waren noch nicht zwei Jahre dieses stillen ländlichen Lebens verstrichen, und Orlando hatte inzwischen nicht mehr als vielleicht zwanzig Tragödien und ein Dutzend Historiendramen und zwanzig Sonette geschrieben, als eine Botschaft ihn ins Gefolge der Königin zu Whitehall berief.
»Da kommt mein unschuldiges Kind«, sagte sie, als sie ihn durch die lange Säulenhalle auf sich zuschreiten sah. (Es war immer eine helle Heiterkeit an ihm, die wie Unschuld aussah, selbst dann noch, als dieser Begriff, wörtlich genommen, nicht mehr auf ihn zutraf.)
»Komm!« sagte die Königin. Sie saß kerzengerade am Feuer. Und sie hielt ihn auf Schrittlänge von sich weg und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Verglich sie ihre Ahnungen von jenem Abend mit der Wahrheit, die nun sichtbar war? Fand sie ihre Vermutungen bestätigt? Augen. Mund, Nase, Brust, Hüften, Hände – alles überflog ihr Blick; dabei lief ein merkliches Zucken um ihren Mund; aber als sie seine Beine sah, lachte sie laut auf. Er war das Urbild des rechten Edelmannes. Aber inwendig? Ihre gelben Habichtsaugen packten ihn mit blitzendem Blick, als wollten sie in seine Seele dringen. Der junge Mann hielt diesem Blick stand, nur errötete er gleich einer Damaszenerrose, wie es sich für ihn geziemte. Kraft, Anmut, Schwärmerei, Tollheit, Dichtertum, Jugend – sie las es von ihm ab wie aus einem Buche. Sogleich zog sie einen Ring vom Finger (das Gelenk war beträchtlich geschwollen), steckte ihn an Orlandos Hand und ernannte ihn zu ihrem Schatzmeister und Seneschall; dann legte sie ihm die Dienstketten seiner Würden an; und sie hieß ihn das Knie beugen und schmückte es an seiner schmälsten Stelle mit dem juwelenbesetzten Hosenbandorden. Von nun an blieb ihm kein Wunsch versagt. Wenn sie im Galawagen ausfuhr, ritt er an ihrer Kutschentür. Sie sandte ihn nach Schottland mit einer schlimmen Botschaft an die unglückliche Königin. Er wollte eben an Bord gehen, um in den Polenkrieg zu ziehen, als sie ihn zurückrief. Denn wie vermochte sie den Gedanken zu ertragen, daß dies blühende Fleisch von Wunden zerrissen werden, dieses lockige Haupt in den Staub rollen sollte? Sie hielt ihn in ihrer Nähe. Auf der Höhe ihres Triumphes, als die Kanonen des Towers dröhnten und die Luft so dick war vom Pulverdampf, daß man niesen mußte, und das Hurrageschrei des Volkes unter den Fenstern erklang, zog sie ihn zu sich in die Kissen herab, in die ihre Frauen sie gebettet hatten (sie war so schwach und alt), und zwang ihn, sein Gesicht in diesem erstaunlichen Geruchsgemisch zu bergen (sie hatte seit einem Monat die Kleider nicht gewechselt), das, so dachte er in Erinnerung an seine Knabenzeit, ganz genau wie eine alte Kammer daheim roch, in der die Pelze seiner Mutter aufbewahrt wurden. Er richtete sich auf, halb erstickt von der Umarmung. »Dies«, flüsterte sie, »ist mein Sieg!« – gerade als draußen eine Rakete krachend barst und ihren Wangen Scharlachfarbe lieh.
Denn die alte Frau liebte ihn. Und die Königin, die einen Mann im tiefsten kannte, sobald sie ihn nur sah (wenn sie ihn auch, wie es heißt, nicht auf die übliche Art schätzte) – die Königin plante für ihn eine glänzende und ruhmvolle Laufbahn. Ländereien wurden ihm geschenkt, Häuser ihm zu eigen gegeben. Er sollte der Sohn ihrer alten Tage sein; die Stütze ihrer Schwäche; der Eichbaum, an den sie, entkräftet, sich lehnen konnte. Sie krächzte diese Verheißungen und seltsam gebieterischen Zärtlichkeiten – der Hof war nun in Richmond –, indessen sie steil aufgerichtet in ihrem steifen Brokat am Feuer saß, das, so hoch die Diener es auch türmten, sie niemals zu wärmen vermochte.
Über alledem kamen die langen Wintermonate heran. Jeder Baum im Park war von Reif überzogen. Der Fluß rann träge dahin. Eines Tages, als Schnee gefallen war und die düsteren getäfelten Räume voll von Schatten waren und die Hirsche im Park bellten, sah sie im Spiegel, den sie aus Angst vor Spähern immer bei sich hatte, durch die Tür, die sie aus Angst vor Mördern immer offen ließ, einen jungen Fant – konnte das Orlando sein? – ein Mädchen küssen – wer in des Teufels Namen war die freche Dirne? Sie packte ihr Schwert beim goldenen Griff und hieb heftig in den Spiegel. Das Glas barst klirrend; Leute kamen gelaufen; man hob sie auf und setzte sie wieder in ihren Stuhl; aber sie war getroffen und stöhnte und klagte viel, indessen ihre Tage sich dem Ende zu schleppten, über die Verräterei der Männer.
Vielleicht war es Orlandos Schuld; und doch, recht bedacht – dürfen wir Orlando darum tadeln? Es war das Elisabethanische Zeitalter; ihre Sitten glichen nicht den unseren; ihre Dichter auch nicht; ebensowenig das Klima; ja, nicht einmal das Gemüse. Alles war anders. Sogar das Wetter, die Hitze und die Kälte im Sommer und im Winter, war, das dürfen wir getrost glauben, von ganz anderer Art. Der strahlende, liebeglühende Tag war von der Nacht so klar getrennt wie das Land vom Wasser. Die Sonnenuntergänge waren röter und kräftiger; die Morgendämmerung war heller, ihr Morgenrot glänzender. Von unserem dämmernden Halblicht und zögerndem Zwielicht wußten sie damals nichts. Der Regen fiel heftig, oder er fiel überhaupt nicht. Die Sonne loderte, oder es war finster. Die Poeten übertrugen das, wie es ihre Art ist, in die geistigen Bezirke und sangen schöne Verse über welkende Rosen und fallende Blütenblätter. Der Augenblick ist kurz, so sangen sie; der Augenblick ist schon dahin; und dann kommt eine lange Nacht, da alle schlafen müssen. Sie benutzten nicht Treib- und Gewächshäuser, um diesen frischen Nelken und Rosen Leben und Blüte zu verlängern; mit solchen Kunstkniffen mochten sie nichts zu schaffen haben. Die welken Spitzfindigkeiten und Doppeldeutigkeiten unseres umständlicher stufenden und zweifelsüchtigeren Zeitalters waren ihnen unbekannt. Alles war Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit. Die Blume blühte und verdorrte. Die Sonne ging auf und sank. Der Liebhaber liebte und ging von dannen. Und was die Dichter in Reimen sagten, das machte die Jugend zur Tat. Mädchen waren Rosen, und ihre Zeit war kurz wie die der Blumen. Man mußte sie pflücken vorm Abendrot; denn der Tag war kurz, und die Nacht war der Tod. Also: wenn Orlando dem Vorbild des Wetters, der Dichter, ja des ganzen Zeitalters folgte und die Blume in der Fensternische pflückte, mochte draußen auch Schnee liegen und drinnen die Königin über den Korridor spähen, so werden wir es kaum übers Herz bringen, ihn darob zu tadeln. Er war jung; er war jungenhaft; er tat nur das, was die Natur ihn trieb zu tun. Was nun das Mädchen angeht, so wissen wir seinen Namen so wenig, wie Königin Elisabeth ihn wußte. Es mag Doris, Chloris, Delia oder Diana gewesen sein, denn er dichtete Verse auf sie alle, immer umschichtig; es mag eine Hofdame gewesen sein oder auch irgendeine Magd. Denn Orlandos Geschmack hatte weite Grenzen; er liebte durchaus nicht nur Gartenblumen, auch die Feldblumen, sogar die Unkräuter hatten immer ihren großen Reiz für ihn.
Hier legen wir mit jener rücksichtslosen Offenheit, wie sie einem Biographen verstattet ist, einen wunderlichen Zug seines Wesens bloß, der vielleicht durch die Tatsache zu erklären ist, daß eine seiner Ahnfrauen im groben Linnenhemd gegangen war und Milcheimer getragen hatte. Ein paar Körner der Erde von Kent oder Sussex waren dem dünnen, feinen Blute beigemengt, das als normannisches Erbe in ihm floß. Er hielt dafür, daß braune Erde und blaues Blut eine gute Mischung gäben. Jedenfalls ist gewiß, daß er immer eine Vorliebe für niederen Umgang hatte, insbesondere für den Umgang mit studiertem und schreibendem Volk, dem so oft der eigene Witz den Aufstieg im Leben verdirbt; das war wie eine Zuneigung aus Blutsverbundenheit. In dieser Zeit seines Lebens, da ihm der Kopf von Versen überging und er sich niemals schlafen legte, ohne noch schnell einen Einfall niederzuschreiben, schien ihm die Wange einer Schenkwirtstochter frischer und der Witz einer Wildhütersnichte flinker als die der Damen am Hofe. Deshalb ging er nun oft bei Nacht nach Wapping Old Stairs und in die Biergärten, in einen grauen Mantel gehüllt, damit man den Ordensstern auf der Brust und den Hosenbandorden am Knie nicht sah. Dort, einen Bierkrug vor sich, inmitten der Sandwege und der Rasenplätze und all der kargen Schmucklosigkeit solcher Umgebung, saß er und lauschte den Geschichten der Seeleute von Mühsal und Grauen und Grausamkeit an der Küste Südamerikas, die man ›Spanish Main‹ nannte; und wie dieser seine Zehen und jener seine Nase verloren hatte – denn die erzählte Geschichte war niemals so sorgsam ausgerundet und säuberlich farbgetönt wie die geschriebene. Besonders liebte er's, sie ihre Lieder von den Azoren brüllen zu hören, indessen die Papageien, die sie von diesen Fahrten mitgebracht hatten, nach den Ringen in ihren Ohren pickten, mit ihren harten gierigen Schnäbeln nach den Rubinen an ihren Fingern hackten und genauso greulich fluchten wie ihre Herren. Kaum weniger verwegen in ihren Reden und weniger keck in ihrem Tun als die Vögel aber waren die Mädchen. Sie setzten sich ihm aufs Knie und schlangen die Arme um seinen Hals; und da sie ahnten, daß sich unter seinem Düffelmantel ein nicht alltäglicher Gast verbarg, waren sie beinahe ebenso versessen darauf, die Wahrheit zu ergründen, wie Orlando selbst es war.
An Gelegenheit fehlte es ihm nicht. Der Fluß war früh und spät bedeckt von einem Gewimmel von Fährschiffen und Seglern und Fahrzeugen aller Art und Größe. Jeden Tag segelte irgendein schmuckes Segelschiff hinaus, das nach Indien bestimmt war; dann und wann schlich sich ein anderes, geschwärzt und übel zugerichtet und mit haarigem fremdem Volk an Bord, mühsam zu seinem Ankerplatz. Niemand fragte danach, ob ein Bursche oder ein Mädel nach Sonnenuntergang sich ein bißchen auf dem Wasser herumtrieb; niemand rümpfte die Nase, wenn das Geschwätz ging, man hätte sie eng umschlungen in tiefem Schlafe zwischen den Schatzsäcken liegen sehen. Von solcher Art nämlich war das Abenteuer, das Orlando, Sukey und dem Grafen von Cumberland widerfuhr. Der Tag war heiß; sie hatten ausgiebig der Liebe gehuldigt; sie waren inmitten der Rubinen in Schlaf gesunken. Spät in der Nacht kam der Graf, dessen Reichtum erheblich mit diesen ›spanischen‹ Beutezügen verknüpft war, allein mit einer Laterne, um die Beute zu zählen. Er ließ den Lichtstrahl auf eine Tonne fallen. Er prallte mit einem Fluch zurück. Da lagen, um das Fäßchen geschlungen, zwei Gespenster und schliefen. Der Graf, der von Natur abergläubisch war, dazu die Last manchen Verbrechens auf dem Gewissen hatte, hielt das Paar – die beiden waren in einen roten Mantel gehüllt, und Sukeys Brüste waren beinahe so weiß wie der ewige Schnee in Orlandos Dichtwerken – für ein Spukbild, dem Grabe ertrunkener Seefahrer entstiegen, um ihn strafend zu schrecken. Er bekreuzigte sich. Er gelobte Buße. Die Reihe von Armenhäusern, die noch heute in der Sheen Road stehen, ist die sichtbare Frucht, die der grausame Schrecken jenes Augenblicks trug. Zwölf arme alte Frauen jenes Kirchspiels sitzen darin, trinken tags ihren Tee und segnen nachts Seine Lordschaft dafür, daß sie ein Dach über dem Kopfe haben; so daß also sündhafte Liebe in einem Beutefahrerschiff – aber lassen wir die Moral der Geschichte ungepredigt.
Bald aber bekam Orlando das alles satt – nicht nur die Unbequemlichkeiten dieser Lebensführung und das holprige Gassengewirr der Gegend, sondern auch die ungehobelten Umgangsformen der Leute. Man darf nämlich nicht vergessen, daß Verbrechen und Armut für die Menschen des Elisabethanischen Zeitalters nicht dieselbe Anziehungskraft hatten wie für uns. Sie schämten sich nicht, wie wir Heutigen, des aus Büchern erlesenen Wissens; sie glaubten nicht, wie wir, daß es ein Geschenk des Himmels sei, als Sohn eines Fleischers geboren zu sein, und eine Tugend, nicht lesen zu können; sie bildeten sich nicht ein, wie wir, daß alles, was wir ›Leben‹ und ›Wirklichkeit‹ nennen, irgendwie mit Unwissenheit und Roheit zu tun haben müsse; ja, sie hatten überhaupt keine Entsprechung für diese beiden Worte. Es geschah nicht, um ›Leben‹ zu suchen, daß Orlando sich unter sie mischte; noch verließ er sie, um nach ›Wirklichkeit‹ zu fahnden. Aber wenn er ein paarmal die Geschichten vernommen hatte, wie Jakes dereinst seiner Nase und Sukey ihrer Ehre verlustig gegangen war (und sie erzählten das bewunderungswürdig, das muß man ihnen lassen) – so begann er der Wiederholungen ein bißchen überdrüssig zu werden; denn eine Nase kann schließlich nur auf eine Art heruntergehauen und eine Jungfernschaft nur auf eine Art verloren werden – so schien es ihm wenigstens – während man an den Künsten und Wissenschaften Mannigfaltigkeit fand, die seine Neugier tief erregte. So besuchte er denn, wenn er ihnen auch immer ein glückliches Erinnern bewahrte, die Biergärten und Kegelbahnen nicht mehr, hängte seinen grauen Mantel in den Kleiderschrank, ließ den Ordensstern an seinem Halse strahlen und das Hosenband an seinem Knie blitzen und erschien wieder einmal am Hofe des Königs Jakob. Er war sehr jung, er war reich, er war hübsch. Niemand hätte mit größerem Wohlgefallen aufgenommen werden können als er.
Es ist denn auch gewiß, daß viele Damen geneigt waren, ihm ihre Gunst zu schenken. Und mindestens drei Namen wurden ganz offen in Verbindung mit dem seinigen genannt, und es war von Eheabsichten die Rede; in seinen Sonetten nannte er sie Chlorinda, Favilla und Euphrosyne.
Um sie der Reihe nach zu erledigen –: Chlorinda war eine liebliche und freundliche und gesittete Dame, wahrhaftig. Orlando war denn auch sechs Monate und einen halben recht sehr für sie entflammt; aber sie hatte weiße Augenwimpern und konnte kein Blut sehen. Ein Hase, der gebraten auf ihres Vaters Tafel gebracht wurde, genügte, um sie ohnmächtig umsinken zu lassen. Auch stand sie sehr unter dem Einfluß der Priester und sparte an der eigenen Unterwäsche, um den Armen geben zu können. Sie setzte sich die Aufgabe, Orlando von seinen Sünden zu bekehren – womit sie seinen Abscheu erregte; so daß er seine Heiratsabsichten aufgab und nicht allzu traurig war, als sie bald darauf an den Blattern starb.
Favilla, die nächste in der Reihe, war von gänzlich anderer Art. Sie war die Tochter eines armen Edelmannes aus Somersetshire; durch reine Beharrlichkeit und dadurch, daß sie die Augen zu gebrauchen verstand, hatte sie sich bei Hofe emporgearbeitet, und ihre Gewandtheit beim Reiten, ihre feinen Fesseln und ihre Anmut beim Tanzen wurden von allen bewundert. Eines Tages indessen war sie unbesonnen genug, einen Wachtelhund, der einen ihrer seidenen Strümpfe zerrissen hatte (und es muß gerechterweise vermerkt werden, daß Favilla nur wenig Strümpfe besaß, und die noch zumeist aus Wolle) – diesen Wachtelhund unter Orlandos Fenster um ein Haar zu Tode zu peitschen. Orlando, der Tiere leidenschaftlich liebte, entdeckte nun, daß sie schiefe Zähne hatte und daß die beiden Vorderzähne nach innen gedreht standen; was, so meinte er, bei einer Frau mit Sicherheit auf widernatürliche und grausame Veranlagung deutet. So löste er denn noch am selben Abend die Verlobung für immer.
Die dritte, Euphrosyne, verursachte die bei weitem ernsthafteste seiner Entflammungen. Sie entstammte dem irischen Geschlecht der Desmonds, und so war ihr Stammbaum so alt und so tief verwurzelt wie der Orlandos. Sie war schön und von blühender Gesundheit, doch ein wenig träge. Sie sprach gut Italienisch und hatte im Oberkiefer eine untadelhafte Zahnreihe, während die Zähne im Unterkiefer etwas mißfarben waren. Man sah sie niemals ohne ein Windspiel oder einen Wachtelhund an der Seite; sie fütterte sie mit weißem Brot von ihrem eigenen Teller; sie sang mit süßer Stimme zum Spinett; und sie war immer erst mittags angezogen, wegen der außergewöhnlich großen Sorgfalt, die sie ihrem Äußeren widmete. Kurz, sie hätte für einen Edelmann wie Orlando eine vollkommene Gattin abgegeben, und die Sache war bereits so weit gediehen, daß die beiderseitigen Notare emsig mit den Verträgen, Leibgedingen, Erbbestimmungen, Grundstücken, Pachtrechten und allem Sonstigen beschäftigt waren, was geregelt werden muß, bevor ein großes Vermögen mit einem anderen verheiratet werden kann – als, mit jener Jähe und Strenge, die damals für das englische Wetter bezeichnend waren, der Große Frost einsetzte.
Der Große Frost war, so berichten uns die Geschichtsschreiber, der strengste, der jemals unsere Inseln heimgesucht hat. Vögel erfroren mitten im Flug und fielen wie Steine zur Erde. In Norwich wollte eine junge Bäuerin, gesund und derb und kräftig wie sie war, die Straße überqueren, als an der Ecke der eisige Wind sie traf: da wurde sie vor den Augen der Zuschauer zu Staub, und der Sturm trieb sie wie eine Puderwolke über die Dächer. Die Sterblichkeit unter Schafen und Milchvieh war riesig. Leichname gefroren und konnten nicht von den Tüchern losgerissen werden. Eine ganze Schweineherde, mitten auf der Straße festgefroren, war kein ungewöhnlicher Anblick. Die Felder waren voll von Schäfern, Ackerleuten, Pferdegespannen und vogelverscheuchenden Jungen, alle erstarrt in der Stellung der augenblicklichen Bewegung: der eine mit der Hand an der Nase, der andere mit der Flasche an den Lippen, der dritte einen Stein in der erhobenen Hand, als wollte er den Raben treffen, der wie ausgestopft ein Yard von ihm entfernt auf der Hecke hockte. Die Härte des Frostes war so außerordentlich, daß er bisweilen eine Art von Versteinerung bewirkte; und es wurde allgemein vermutet, daß die große Zunahme der Felsblöcke in manchen Teilen Derbyshires nicht auf einen vulkanischen Ausbruch zurückzuführen sei, denn es war keiner erfolgt, sondern auf die Steinwerdung unseliger Wanderer, die buchstäblich zu Fels geworden waren, wo sie eben standen. Die Kirche vermochte dabei nur wenig zu helfen, und wenn auch manche Landbesitzer diese Überbleibsel segnen ließen, so zogen es doch die meisten vor, sie als Grenzsteine, Kratzpfosten für die Schafe oder, wenn die Form des Steines es zuließ, Sauftröge für das Vieh zu verwenden; welchen Zwecken sie, und zwar zumeist bewundernswert gut, bis auf den heutigen Tag dienen.
Während indessen das Landvolk die allerhöchste Not litt und der Handel Englands still lag, ergötzte sich London an einem Karneval von üppigster Pracht. Der Hof war in Greenwich, und der neue König nutzte die Gelegenheit, die ihm seine Krönung bot, um sich die Gunst der Bürger zu gewinnen. Er befahl, daß der Fluß, der auf sechs oder sieben Meilen Entfernung zu beiden Seiten der Stadt bis zu einer Tiefe von zwanzig Fuß und mehr gefroren war, gefegt und geschmückt und ganz genau wie ein Park oder Lustgarten hergerichtet werden sollte, mit Lauben, Irrgärten, Gängen, Trinkhallen und so fort – alles auf seine, des Königs, Kosten. Für sich selbst und die Höflinge behielt er sich einen Platz unmittelbar gegenüber den Toren des Palastes vor; und dieser Platz, gegen das öffentliche Gelände nur durch eine seidene Schnur abgegrenzt, wurde sogleich zum Mittelpunkt der glanzvollsten Gesellschaft, die man in England finden mochte. Große Staatsmänner, mit Bärten und Halskrausen, erledigten in aller Eile unter dem karmesinroten Dach des königlichen Pagodenzelts Staatsgeschäfte. In gestreiften, mit Straußenfederbüschen geschmückten Lauben saßen Soldaten und machten Pläne für die Eroberung des Mohrenlandes und die Niederwerfung der Türken. Auf den schmalen Wegen, das Fernrohr in der Hand, schritten Admirale auf und ab, musterten prüfenden Blickes den Horizont und erzählten Geschichten von der Nordwest-Passage und der spanischen Armada. Auf zobelbedeckten Ruhebetten tändelten Liebende. Bunte Ballons schwebten reglos in der Luft. Da und dort brannten riesige Stöße von Zedern- und Eichenholz, verschwenderisch mit Salz bestreut, so daß die Flammen grün, rotgelb und purpurn leuchteten. Aber so ungestüm sie auch loderten, ihre Hitze reichte dennoch nicht aus, das Eis zu schmelzen, das so hart wie Stahl und von ungewöhnlicher Durchsichtigkeit war. Ja, so klar war es, daß man hier einen Tümmler, dort eine Flunder sah, die in einer Tiefe von mehreren Fuß eingefroren waren. Schwärme von Aalen lagen in regloser Starre; ob sie tot waren oder nur in einem Zustande unterbrochener Lebenstätigkeit, um dann von der Wärme wieder erweckt zu werden – das war ein Problem, über das die Gelehrten sich die Köpfe zerbrachen. Nahe der London Bridge, wo der Fluß bis zu einer Tiefe von etwa zwanzig Faden gefroren war, lag ein Fährboot, das im Herbst, mit Äpfeln überladen, gesunken war, vor aller Augen auf dem Grunde des Flusses. Die alte Bumbootfrau, die ihr Obst zum Markt auf der Surreyseite hatte bringen wollen, saß da in ihren Umschlagtüchern und ihrer Krinoline, aller Welt sichtbar, den Schoß voll von Äpfeln, gerade als wollte sie einen Kunden bedienen, wenn auch so eine gewisse blaue Farbe um die Lippen herum die Wahrheit ahnen ließ. Es war das ein Anblick, den König Jakob mit besonderer Vorliebe betrachtete, und er brachte sich immer einen Schwarm von Höflingen mit, die ebenfalls hinunterstarrten. Kurz, nichts Glanzvolleres und Fröhlicheres konnte man erdenken als das Bild des Flusses bei Tage. Nachts aber steigerte sich das ausgelassene Treiben zu höchster Lust. Denn der Frost dauerte mit ungebrochener Kraft an; die Nächte waren vollkommen still; Mond und Sterne glitzerten mit der starren Härte von Diamanten, und zur lieblichen Musik der Flöten und Trompeten tanzten die Höflinge.
Orlando gehörte nun zwar nicht zu denen, die leichtfüßig im Takte des Coranto und der Lavolta tanzten; er war linkisch und ein wenig zerstreut. Ihm waren die schlichten Tänze seiner Heimat, die er als Kind getanzt hatte, weit lieber als diese phantastischen ausländischen Bewegungen. Am siebenten Januar etwa um sechs Uhr abends hatte er eben nach einer solchen Quadrille – vielleicht war es auch ein Menuett – seine Füße wieder glücklich beieinander, als er vom Zelt der moskowitischen Gesandtschaft her eine Gestalt kommen sah, die ihn mit der größten Neugier erfüllte. Es war nicht zu erkennen, ob es ein junger Bursche oder eine Frau war, denn die weite Tunika und die Beinkleider von russischem Schnitt verbargen das Geschlecht. Der oder die Fremde war von ungefähr mittlerer Größe, sehr schlank und ganz und gar in austernfarbenen Samt gekleidet, der mit einem hierzulande unbekannten grünlichen Pelzwerk besetzt war. Alle diese Einzelheiten aber wurden gleichsam überstrahlt durch die unsagbare Verführungskraft, die von der ganzen Gestalt ausging. Bilder und Vergleiche der wunderlichsten und abenteuerlichsten Art wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Er nannte sie eine Melone, eine Ananas, einen Ölbaum, einen Smaragd und einen Fuchs im Schnee, alles das in einem Zeitraum von drei Sekunden; er wußte nicht, ob er sie gehört, geschmeckt oder gesehen – oder auf alle diese drei Arten zugleich aufgenommen hatte. (Denn: obschon wir unsere Erzählung keinen Augenblick unterbrechen dürfen, sei es uns doch gestattet, hier in aller Eile anzumerken, daß in diesen Jahren alle seine Bilder und Vergleiche in höchstem Maße einfach waren, wie es zur Art seiner Sinne paßte, und daß sie zumeist von Dingen kamen, für die er als Knabe eine Vorliebe gehabt hatte. Aber wenn seine sinnlichen Neigungen auch einfach waren, so waren sie doch zugleich ungemein stark. Es kann daher keine Rede davon sein, hier den Bericht zu unterbrechen und den Dingen auf den Grund gehen zu wollen.) Eine Melone, ein Smaragd, ein Fuchs im Schnee – so schwärmte er, so staunte er. Als der Knabe (denn ach, ein Knabe mußte es wohl sein, weil keine Frau mit solcher Geschwindigkeit und Kraft Schlittschuh laufen konnte) fast auf Zehenspitzen an ihm vorübersauste, war Orlando durchaus geneigt, sich die Haare zu raufen aus Kummer darüber, daß diese Person seines eigenen Geschlechtes war und deshalb keinerlei Möglichkeit zu irgendwelchen Umarmungen bestand. Aber die schlittschuhlaufende Gestalt kam näher. Beine, Hände, Haltung waren die eines Knaben, nie aber hatte ein Knabe einen solchen Mund; nie hatte ein Knabe solche Brüste: nie hatte ein Knabe Augen, die aussahen, als wären sie vom Grunde des Meeres heraufgeholt. Nun verhielt der oder die Fremde, beschrieb mit höchster Anmut einen Bogen höflicher Verneigung vor dem König, der eben am Arm eines Kammerherrn vorüberschlurfte, und stand dann still, keine Handbreit von Orlando entfernt. Es war eine Frau. Orlando starrte; zitterte; wurde heiß; wurde kalt; spürte das Verlangen, seinen Körper durch sommerliche Luft zu wirbeln; Eicheln unter seinen Füßen zu zermalmen; die bebenden Arme emporzurecken wie die Eichen und die Buchen ihre Zweige. Da alles dies unmöglich war. zog er die Lippen von seinen kleinen weißen Zähnen hinweg; öffnete die Zahnreihen etwa einen halben Zoll, als wollte er zubeißen; schloß sie wieder, als hätte er zugebissen. An seinem Arm hing Lady Euphrosyne.
Der Name der Fremden war, so erfuhr er, Prinzessin Marusha Stanilovska Dagmar Natasha Iliana Romanovitch, und sie war im Gefolge des russischen Gesandten, der vielleicht ihr Vater, vielleicht auch ihr Oheim war, gekommen, um der Krönung beizuwohnen. Man wußte nur sehr wenig von den Moskowitern. Sie saßen, mit ihren großen Bärten und pelzbesetzten Hüten, meistens schweigend da; und sie tranken irgendeine schwarze Flüssigkeit, die sie dann und wann auf das Eis spuckten. Keiner von ihnen sprach Englisch, und das Französische, mit dem wenigstens einige von ihnen vertraut waren, wurde damals am englischen Hofe wenig gesprochen.
Diese Tatsache übrigens war es, durch die Orlando und die Prinzessin miteinander bekannt wurden. Sie saßen sich an der großen Tafel gegenüber, die unter einem riesigen Zeltdach für die Mahlzeiten der Notabeln aufgestellt war. Die Prinzessin hatte ihren Platz zwischen zwei jungen Edelleuten, Lord Francis Vere und dem jungen Grafen von Moray. Es war lustig anzusehen, wie sie die beiden alsbald in peinliche Verlegenheit brachte, denn wenn sie auch auf ihre Art treffliche Jungen waren, so hatten sie doch von der französischen Sprache soviel Ahnung wie ein ungeborenes Kind. Wenn sich die Prinzessin zu Beginn der Mahlzeit an den Grafen wandte, mit einer Anmut, die sein Herz zur Begeisterung hinriß, und sagte: »Je crois avoir fait la connaissance d'un gentilhomme qui vous était apparenté en Pologne l'été dernier«, oder: »La beauté des dames de la cour d'Angleterre me met dans le ravissement. On ne peut voir une dame plus gracieuse que votre reine, ni une coiffure plus belle que la sienne«, – so saßen Lord Francis und der Graf in der größten Verlegenheit. Der eine versorgte sie ausgiebig mit Meerrettichtunke, der andere pfiff seinem Hund und ließ ihn um einen Markknochen betteln. Worauf die Prinzessin das Lachen nicht mehr zurückhalten konnte; und Orlando, der zwischen den Wildschweinsköpfen und gefüllten Pfauen hindurch ihren Blick auffing, lachte ebenfalls. Er lachte, aber das Lachen auf seinen Lippen gefror in Staunen. Wen, so fragte er sich in einem wirbelnden Aufruhr des Erstaunens, hatte er bis zum heutigen Tage geliebt, was hatte er geliebt? Ein altes Weib, so antwortete er sich, lauter Haut und Knochen. Rotbackige Weibsbilder, zu viele, um sie auch nur zu nennen. Eine plärrende Nonne. Eine störrische Abenteurerin mit einem grausamen Mund. Ein nickendes Gestell aus Spitzen und steifer Gespreiztheit. Was hatte er für Liebe gehalten? Sägespäne und Asche. Die Ergötzungen, die er davon gehabt hatte, schmeckten schal, unsagbar schal. Er wunderte sich jetzt, daß er alles das ohne Gähnen hatte mitmachen können. Denn indessen er schaute, schmolz sein dickes Blut; das Eis wurde zu Wein in seinen Adern; er hörte die Wasser strömen und die Vögel singen; Frühling stürmte nieder auf die harte winterliche Landschaft; seine Männlichkeit erwachte; er packte zu und hatte ein Schwert in der Hand; er rannte gegen einen kühneren Feind an, als es der Pole oder der Maure war; er tauchte tief in tiefes Wasser; er sah die Blume Gefahr in einem Felsspalt wachsen; er streckte die Hand aus – und er ließ, natürlich im stillen, eins seiner leidenschaftlichsten Sonette abschnurren, als die Prinzessin ihn anredete:
»Würden Sie die Güte haben, mir das Salz zu reichen?«
Er errötete tief.
»Mit dem größten Vergnügen der Welt, Madame«, sagte er, und er sprach das Französische mit untadeligem Akzent. Denn er sprach es, der Himmel sei gepriesen, wie seine Muttersprache; die Kammerfrau seiner Mutter hatte es ihn gelehrt. Und doch wäre es vielleicht besser für ihn gewesen, wenn er diese fremde Zunge niemals erlernt hätte; dieser Stimme niemals geantwortet hätte; dem Lichte dieser Augen niemals gefolgt wäre – –
Die Prinzessin sprach weiter. Wer waren, so fragte sie ihn, diese Tölpel, die da neben ihr saßen und Manieren hatten wie Stallknechte? Was war das für ein übelkeitserregendes Gebräu, das sie ihr da auf den Teller gegossen hatten? War es in England Sitte, daß die Hunde am selben Tisch aßen wie die Menschen? Die komische Figur da oben am Tisch, die sich das Haar aufgetakelt hatte wie einen Maibaum (›comme une grande perche mal fagotée‹) – war das wirklich die Königin? Und sabberte der König immer so? Und welcher von diesen frisierten Affen war denn nun George Villiers? Obwohl diese Fragen Orlando zuerst peinlich waren, wurden sie doch mit soviel drolliger Schalkhaftigkeit gestellt, daß er schließlich lachen mußte; und als die gleichgültigen Gesichter rings am Tische ihm bewiesen, daß niemand ein Wort verstand, antwortete er ebenso offenherzig, wie sie fragte, und zwar wie sie in tadellosem Französisch.
Dies war der Beginn eines vertrauten Umgangs zwischen den beiden, der bald alle Klatschmäuler am Hofe in Bewegung setzte.
Bald schon hatte man heraus, daß Orlando der Moskowiterin weit mehr Aufmerksamkeit widmete, als es die bloße Höflichkeit erforderte. Wenn sie erschien, so war er selten weit, und wenn auch ihr Gespräch allen anderen unverständlich blieb, so wurde es doch mit solcher Lebhaftigkeit geführt, rief soviel Erröten und Lachen hervor, daß auch der Dümmste erraten konnte, um was es da ging. Obendrein war mit Orlando eine außerordentliche Wandlung vorgegangen. Niemand hatte ihn jemals so angeregt und lebhaft gesehen. In einer einzigen Nacht hatte er seine jungenhafte Unbeholfenheit abgestreift; aus einem verdrossenen jungen Fant, der kein Damenzimmer betreten konnte, ohne die Hälfte des Zierrats vom Tische zu fegen, war ein Edelmann voll Anmut und ritterlichen Anstands geworden. Wenn man sah, wie er der Moskowiterin (so wurde sie bei Hofe genannt) in den Schlitten half oder ihr die Hand zum Tanze reichte oder das getupfte Halstuch aufhob, das sie hatte fallen lassen, oder irgendeinen anderen jener mannigfachen Dienste tat, welche die Herzensdame fordert und der Liebhaber zu erahnen sich eilt, so war das ein Anblick, recht dazu angetan, die trüben Augen der Alten aufleuchten und die raschen Pulse der Jungen noch rascher schlagen zu lassen. Doch hing über alldem eine Wolke. Die Alten zuckten mit den Schultern. Die Jungen kicherten hinter der vorgehaltenen Hand. Sie alle wußten wohl, daß Orlando einer anderen die Ehe versprochen hatte. Die Lady Margaret O'Brien O'Dare O'Reilly Tyrconnel (so hieß die Euphrosyne der Sonette richtig) trug Orlandos herrlichen Saphir am zweiten Finger ihrer linken Hand. Sie war es, die das höchste Anrecht auf seine Aufmerksamkeit hatte. Aber sie konnte sämtliche Taschentücher ihres Wäschebesitzes (und sie besaß deren viele Dutzende) aufs Eis fallen lassen, ohne daß Orlando sich jemals bückte, um sie aufzuheben. Sie konnte zwanzig Minuten darauf warten, daß er ihr in den Schlitten helfen sollte – und mußte sich schließlich mit den Diensten ihres Mohren begnügen. Wenn sie Schlittschuh lief (was sie ziemlich unbeholfen tat), so war niemand an ihrer Seite, um ihr Mut zu machen, und wenn sie fiel (was sie reichlich schwerfällig tat), so half ihr niemand wieder auf die Füße und stäubte ihr den Schnee von den Röcken. Wohl war sie von Veranlagung träge, durchaus nicht übelnehmerisch und viel weniger als die anderen bei Hofe geneigt, zu glauben, daß eine Ausländerin (›nur‹ eine Ausländerin) ihr Orlandos Neigung rauben könnte; aber sogar Lady Margaret begann schließlich und endlich zu argwöhnen, daß sich da eine Gefahr für ihren Seelenfrieden zusammenbraute.
Orlando gab sich denn auch, je länger dies alles währte, um so weniger Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Unter irgendeinem Vorwand verließ er jedesmal gleich nach dem Essen die Gesellschaft, oder er stahl sich von den Schlittschuhläufern hinweg, die sich paarweise zur Quadrille zusammenfanden. Im nächsten Augenblick bemerkte man dann, daß auch die Moskowiterin verschwunden war. Aber was den Hof am meisten aufbrachte und ihn an seiner empfindlichsten Stelle, seiner Eitelkeit, verletzte, war die Tatsache, daß man das Paar oft unter der seidenen Schnur, die den Bezirk des Königs von dem öffentlichen Teil des Flusses trennte, hindurchschlüpfen und in der Menge des gemeinen Volkes verschwinden sah. Denn die Prinzessin stampfte oft plötzlich mit dem Fuß auf und rief: »Bringen Sie mich hier weg! Ich hasse euren englischen Pöbel!« – womit sie tatsächlich den englischen Königshof meinte. Sie könnte ihn nicht länger ertragen, sagte sie. Er bestände aus neugierigen alten Weibern, die einen angafften, und aus hochnäsigen Bengeln, die einem auf die Zehen träten. Sie röchen übel. Ihre Hunde liefen ihr zwischen den Beinen herum. Man käme sich vor wie im Gefängnis. In Rußland hätten sie zehn Meilen breite Flüsse, auf denen man den ganzen Tag mit sechs nebeneinander gespannten Pferden galoppieren könnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Auch wollte sie den Tower sehen, und die Wächter, die man ›Beefeaters‹ nannte, und die Köpfe auf dem Temple Bar, und die Juwelierläden in der Stadt. So kam es denn, daß Orlando sie in die Stadt führte, ihr die Beefeaters und die Rebellenköpfe zeigte und ihr im Royal Exchange kaufte, was immer ihr Herz begehrte. Aber das alles war ihnen nicht genug. In beiden wuchs das Verlangen, miteinander allein zu sein, den ganzen Tag lang, dort, wo es kein verwundertes und entrüstetes Anstarren gab. Darum nahmen sie nun nicht die Richtung auf London, sondern wendeten sich nach der anderen Seite und waren bald der Menge entrückt, ganz allein auf den gefrorenen Flußweiten der Themse, wo ihnen keine lebende Seele begegnete, außer Meeresvögeln und hier und da einer alten Bauersfrau, die mit einer Hacke auf das Eis schlug, im vergeblichen Bemühen, einen Eimer voll Wasser zu ergattern, oder die Reisig und dürre Blätter fürs Feuer sammelte. Die Armen hockten wohlweislich in ihren Hütten, und die Bessergestellten, die es erschwingen konnten, drängten sich ins Gewühl der Großstadt, wo es Wärme und Lustbarkeit gab.
So hatten Orlando und Sasha – mit diesem Namen nannte er sie, der Kürze halber und weil es der Name eines russischen Weißfuchses gewesen war, den er als Knabe besessen hatte: ein Geschöpf so weiß und weich wie Schnee, aber mit Zähnen wie Stahl, mit denen es dermaßen grausam biß, daß Orlandos Vater es darum hatte töten lassen – so hatten denn Orlando und Sasha den Fluß für sich allein. Erhitzt vom raschen Lauf, brennend vor Liebe, warfen sie sich auf irgendeiner einsamen Flußstrecke nieder, wo die gelben Weiden die Ufer säumten; dort, in einen großen Pelzmantel gehüllt, umschlangen sie einander, und dort lernte Orlando, so stammelte er, zum ersten Male die Entzückungen der Liebe kennen. Dann, wenn der Rausch vorüber war und sie, von der Erschöpfung wie von dämmernder Ohnmacht eingelullt, auf dem Eise lagen, erzählte er ihr von seinen früheren Geliebten und daß sie, verglichen mit ihr, aus Holz, aus Sackleinen, aus Asche gewesen wären. Dann warf sie sich, lachend über sein Ungestüm, noch einmal in seine Arme und schenkte ihm noch eine Umschlingung, der Liebe zuliebe. Und sie wunderten sich, daß ihre Glut nicht das Eis zerschmolz, und sie bemitleideten die arme Alte, die nicht so ein natürliches Mittel besaß, es aufzutauen, sondern mit einer Hacke aus kaltem Stahl darauf einhauen mußte. Und dann, in ihre Zobelpelze gehüllt, redeten sie von allem, was die Sonne bescheint; von Weltwundern und Reisen; von Mohren und Heiden; was jener für einen Bart und jene für eine Haut hatte; von einer Ratte, die bei der Tafel aus Sashas Hand gefressen hatte; von dem Arras-Teppich daheim in der Halle, der sich immer im Luftzug bewegte; von einem Gesicht; von einer Feder. Nichts war zu klein für solche Gespräche – und nichts zu groß.
Dann, ganz plötzlich, versank Orlando zuweilen in eine seiner Anwandlungen von Schwermut; vielleicht war der Anblick der alten Frau, die über das Eis humpelte, die Ursache davon, vielleicht auch gar nichts, und er warf sich aufs Eis, das Gesicht nach unten gewandt, und blickte in die gefrorene Wassertiefe und dachte an den Tod. Denn es hat der Weltweise recht, der da sagt, daß keine breitere Grenze denn eines Messers Schneide Glück von Schwermut trennt, und der von da zu der Meinung gelangt, daß beide Zwillingsgeschwister sind, und daraus den Schluß zieht, daß alles Unmaß an Gefühl der Tollheit nahe sei, und darum uns auffordert, Zuflucht bei der wahren Kirche zu suchen (nach seiner Ansicht der der Wiedertäufer), die, so sagt er, der einzige Zufluchtsort, Hafen, Ankergrund und so weiter ist für solche, die vom Meere dieser Welt umhergeschleudert werden.
»Alles mündet in den Tod«, sagte Orlando dann wohl, aufrecht sitzend, das Gesicht von Schwermut überwölkt. (Dies war jetzt die Art, wie seine Gedanken sprangen, in jähen Pendelgängen vom Leben zum Tode, ohne irgendwo dazwischen zu verweilen: so daß auch der Biograph nicht verweilen darf, sondern eilen muß, so rasch er kann, um so Schritt zu halten mit den unbedachten leidenschaftlichen törichten Handlungen und jähen überspannten Worten, denen, das kann nicht geleugnet werden, Orlando in diesem Abschnitt seines Lebens frönte.)
»Alles mündet in den Tod«, sagte Orlando, aufrecht auf dem Eise sitzend. Aber Sasha hatte schließlich kein englisches Blut in den Adern, sondern kam aus Rußland, wo die Sonnenuntergänge länger währen, die Dämmerung nicht so plötzlich hereinbricht und man die Sätze oft unvollendet läßt, weil man nicht recht weiß, wie man sie am besten vollenden soll; und Sasha starrte ihn an, lächelte ihn vielleicht auch spöttisch an (denn er muß ihr wie ein Kind vorgekommen sein) und sagte gar nichts. Auf die Dauer aber wurde die Kälte des Eises unter ihnen spürbar, was ihr nicht gefiel; also zwang sie ihn aufzustehen, und wenn er wieder auf den Füßen stand, redete sie so bezaubernd, so witzig, so gescheit (aber leider immer in französischer Sprache, die bekanntlich durch die Übersetzung die Würze verliert), daß er die gefrorenen Wasser, oder die heraufziehende Nacht, oder die alte Frau, oder was es sonst gewesen war, vergaß und den Versuch unternahm, ihr zu sagen, womit sie zu vergleichen war; dabei schwamm er spaddelnd und platschend in einem Meer von tausend Vergleichen, die so schal und abgestanden waren wie die Frauen, deren Anregung sie ihr Dasein verdankten. Schnee, Rahm, Marmor, Kirschen, Alabaster, Golddraht? Nichts von alledem. Sie war wie ein Fuchs, oder wie ein Ölbaum; wie die Wellen eines Sees, wenn man von einer Höhe auf ihn hinabblickt; wie ein Smaragd; wie Sonne, noch umwölkte Sonne, auf einem grünen Hügel – sie war mit nichts zu vergleichen, was er jemals in England gesehen oder kennengelernt hatte. Mochte er die Sprache noch so sehr durchstöbern – die Worte fehlten ihm. Er spürte Verlangen nach einer anderen Landschaft, einer anderen Zunge. Die englische war zu offen, zu aufrichtig, zu sanft und süß für Sasha. Denn in allem, was sie sagte, mochte es auch noch so offenherzig scheinen und von Lust beschwingt, war etwas verhehlt; in allem, was sie tat, mochte es auch noch so gewagt sein, war etwas verborgen. So brennt die grüne Flamme verborgen im Smaragd, so birgt sich die Sonne hinter einem deckenden Hügel. Der Glanz war nur Oberfläche: Drinnen war eine wandernde Flamme. Sie kam; sie ging; sie leuchtete niemals mit dem stetigen Glanz wie bei einer Engländerin – hier aber raste Orlando, der an Lady Margaret und ihre Unterröcke dachte, in wilder Leidenschaft dahin und fegte Sasha über das Eis, schneller, schneller, mit dem Schwur, daß er die Flamme erjagen, den Edelstein aus der tiefsten Tiefe heraufholen würde und so weiter und so weiter; die Worte kamen auf den keuchenden Stößen seines Atems aus ihm hervor mit einer Leidenschaftlichkeit, wie wenn aus einem Dichter seine Dichtung halb durch Schmerz hervorgepreßt wird.
Aber Sasha schwieg. Wenn Orlando ihr wieder und wieder erzählt hatte, daß sie ein Fuchs sei, ein Ölbaum, eine grüne Hügelkuppe; wenn er ihr seine ganze Familiengeschichte berichtet hatte: daß sein Haus eins der ältesten sei in Großbritannien; daß seine Ahnen mit den Cäsaren von Rom gekommen waren und das Recht besaßen, sich über den Corso (dies war die Hauptstraße Roms) in einer quastengeschmückten Sänfte tragen zu lassen, ein Privileg, das, so sagte er, nur den Edlen aus kaiserlichem Blute vorbehalten war (denn er glaubte solche Dinge mit einer hochmütigen Bereitwilligkeit, die recht erheiternd war) – so hielt er inne und begann sie auszufragen. Wo stand ihr Vaterhaus? Wer war ihr Vater? Hatte sie Brüder? Warum war sie allein mit ihrem Oheim hierhergekommen? Dann entstand alsbald, obwohl sie gern und geläufig antwortete, ein verlegenes Fremdsein zwischen ihnen. Zuerst argwöhnte er, daß sie nicht von so hohem Range sei, wie sie es hätte sein mögen; oder daß sie sich der wüsten Sitten ihres Volkes schämte: er hatte nämlich gehört, im Moskowiterland trügen die Frauen Bärte, und die Männer hätten vom Gürtel abwärts Pelz statt glatter Haut; beide Geschlechter gingen mit Talg eingeschmiert, um sich vor der Kälte zu schützen, zerrissen das Fleisch mit den Fingern und hausten in Hütten, in denen ein englischer Edelmann sich schämen würde, sein Vieh einzupferchen: so daß er es unterließ, weiter in sie zu dringen. Aber wenn er es recht bedachte, so kam er zu dem Schluß, daß dies nicht der Grund ihres Schweigens sein könne; sie selbst hatte kein Barthärchen am Kinn; sie kleidete sich in Samt und Perlen, und sie benahm sich ganz gewiß nicht so, als wäre sie in einem Viehstall aufgewachsen.
Was aber war es, das sie vor ihm verbarg? Unter der furchtbaren Gewalt seines Gefühls lag der Zweifel wie Triebsand, der ein Gebäude trägt und durch jähes Gleiten den ganzen Bau ins Wanken bringt. Die marternde Angst befiel ihn immer ganz plötzlich. Dann flammte er so rasend auf, daß sie nicht wußte, wie sie ihn beruhigen sollte. Vielleicht wollte sie ihn auch gar nicht beruhigen; vielleicht machte seine Raserei ihr Spaß, und sie entfesselte sie mit Bedacht; die Art der Moskowiter ist ja von wunderlicher Verschrobenheit.
Um unsere Erzählung vom Fleck zu bringen –: an jenem Tage liefen sie weiter hinaus als sonst und kamen in jenen Teil der Themse, wo die Schiffe mitten im Strombett Anker geworfen hatten und eingefroren waren. Unter ihnen war das Schiff der moskowitischen Gesandtschaft; von seinem Großmast flatterte der zweiköpfige schwarze Adler, und überall im Takelwerk hingen vielfarbige Eiszapfen, mehrere Ellen lang. Sasha hatte einige ihrer Kleider an Bord gelassen, und da sie vermuteten, das Schiff sei leer, kletterten sie an Deck und gingen auf die Suche. Orlando, der an gewisse Erlebnisse aus seiner eigenen Vergangenheit dachte, hätte sich nicht gewundert, wenn schon vor ihnen der eine oder andere wackere Bürger hier Zuflucht gesucht hätte; und so kam es denn auch. Sie waren noch nicht lange an Deck, als sich ein hübscher junger Mann hinter einem Haufen Tauwerk erhob, wo er sich in irgendwelchen ganz persönlichen Angelegenheiten aufgehalten hatte; er sagte, er gehöre zur Besatzung (was offenbar zutraf, denn er sprach Russisch) und er würde der Prinzessin suchen helfen. Damit zündete er einen Kerzenstumpf an und verschwand mit ihr in den unteren Räumen des Schiffes.
Zeit verstrich, und Orlando, in seine Träume versunken, dachte nur an die Lust dieses Lebens; an sein Juwel; an dessen seltenen Glanz; und wie er sich Sasha unwiderruflich und unlösbar zu eigen machen könnte. Da gab es Hindernisse und Schwierigkeiten. Sie war entschlossen, in Rußland zu leben, wo es zugefrorene Flüsse und wilde Pferde gab – und ebenso wilde Menschen, die, so sagte sie, einander die Kehle durchzuschneiden pflegten. Es muß gesagt werden, daß eine Landschaft aus Tannenwald und Schnee, ein Leben aus Mordgier ihm keineswegs verführerisch schienen. Auch war er mitnichten darauf versessen, seine Landedelmannsgewohnheiten, die Jagd und das Spiel und das Baumpflanzen, aufzugeben; seinen Dienst zu quittieren; seine Laufbahn zu verderben; anstatt auf Kaninchen auf Rentiere zu pürschen; Wodka anstatt Kanariensekt zu trinken und ein Messer im Ärmel verborgen zu tragen – er wußte wirklich nicht, wozu. Dennoch hätte er um ihretwillen alles das und noch mehr getan. Was nun seine Ehe mit Lady Margaret betraf, die über acht Tage hätte geschlossen werden sollen, so erschien ihm diese Vorstellung so offenkundig lächerlich, daß er kaum einen Gedanken daran verschwendete. Ihre Verwandten würden ihn schmähen, weil er einer vornehmen Dame das Wort brach; seine Freunde würden ihn verspotten, weil er für eine ›Kosakin‹ und eine Schneewüste die prächtigste Laufbahn der Welt opferte – das alles wog für ihn, mit Sasha verglichen, nicht eines Strohhalms Schwere. In der ersten mondlosen Nacht wollten sie fliehen. Sie wollten sich nach Rußland einschiffen. So sann er; solche Pläne spann er, indessen er auf dem Deck auf und ab ging.
Ihn weckte, als er sich westwärts wandte, der Anblick der Sonne aus seinen Gedanken: sie saß auf dem Kreuz der Sankt-Pauls-Kathedrale wie eine aufgespießte Orange. Sie war blutrot und sank rasch. Es mußte schon fast Abend sein. Sasha war seit einer Stunde und länger fort. Sogleich packten ihn jene düsteren Ahnungen, die sogar seine hellsten Gedanken an sie überschatteten; er stürzte sich mit einem Satz in den Schiffsraum, dorthin, wo er sie hatte verschwinden sehen; und nachdem er im Finstern zwischen Kisten und Fässern umhergestolpert war, wurde er durch einen schwachen Schimmer auf die Ecke aufmerksam, in der die beiden saßen. Eine Sekunde lang sah er sie wie ein Spukgebild; sah Sasha auf des Matrosen Knien sitzen; sah sie sich zu ihm neigen; sah die beiden sich umschlingen. Dann löschte die rote Welle der Wut das Licht vor seinen Augen. Er heulte auf vor Qual, daß das ganze Schiff davon widerhallte. Sasha warf sich dazwischen, sonst wäre der Matrose erwürgt gewesen, bevor er sein Entermesser ziehen konnte. Dann wurde Orlando von tödlicher Schwäche überwältigt, und sie mußten ihn auf den Boden legen und ihm Branntwein einflößen, um ihn wieder zu sich zu bringen. Dann, als er sich erholt hatte und oben an Deck auf einem Sackstapel saß, war Sasha über ihn gebeugt, bald schmeichelnd, bald drohend, vor seinen schwindelnden Blicken geschmeidig hin- und widergleitend: wie der Fuchs, der ihn dereinst gebissen hatte, so daß ihm Zweifel kamen, ob er recht gesehen hatte. Ja: hatte nicht die Kerze getropft; hatten sich nicht Schatten geregt? Die Kiste war schwer gewesen, sagte Sasha; der Mann hatte ihr geholfen, sie vom Fleck zu rücken. Einen Augenblick lang glaubte Orlando ihr – denn wer vermag mit Sicherheit zu sagen, ob nicht seine Wut ihm das vorgemalt hat, was zu sehen er am meisten fürchtete? –, im nächsten Augenblick aber war sein Zorn über ihren Betrug nur noch größer. Nun wurde Sasha ihrerseits bleich; sie stampfte mit dem Fuß auf; sagte, sie würde ihn noch an diesem Abend verlassen, und forderte ihre Götter auf, sie zu zerschmettern, wenn sie, eine Romanovitch, in den Armen eines gemeinen Matrosen gelegen hätte. Und wirklich, wenn er sie nebeneinander betrachtete (was er kaum über sich gewann), so war Orlando wütend darüber, daß ihm seine Phantasie den üblen Streich spielen konnte, ihm dies zerbrechlich zarte Geschöpf in den Pfoten dieses haarigen Meerungeheuers zu zeigen. Der Mann war riesenhaft; er maß über sechs Fuß ohne Schuhe; er trug gewöhnliche Drahtringe in den Ohren und sah aus wie ein Karrengaul, auf dem sich ein Zaunkönig oder ein Rotkehlchen niedergelassen hat. Also gab er klein bei; glaubte ihr und bat sie um Verzeihung. Und doch: als sie, nun wieder einträchtige Liebesleute, außenbords hinabkletterten, blieb Sasha stehen, die Hand auf der Leiter, und rief dem Untier mit dem braunen, breitknochigen Gesicht einen Schwall russischer Grußworte, Scherze oder Zärtlichkeiten zu, von denen Orlando auch nicht eine Silbe verstand. Etwas indessen in ihrem Ton – vielleicht waren die russischen Konsonanten daran schuld – erinnerte ihn an einen Vorgang, den er wenige Abende zuvor mit ihr erlebt hatte: Da hatte er sie nämlich dabei überrascht, wie sie in einer Ecke stand und heimlich an einem Kerzenstumpf knabberte, den sie vom Boden aufgelesen hatte. Gewiß: er war blaßrosa; er war vergoldet, und er war von des Königs Tisch; aber immerhin: er war aus Talg, und sie knabberte daran. War nicht (so dachte er, als er ihr auf das Eis herunterhalf) etwas Grobes in ihr verborgen, etwas von gemeiner Schwere, etwas wie Bauernblut? Und er stellte sich vor, daß sie mit vierzig Jahren vielleicht plump sein würde, mochte sie auch jetzt schlank sein wie eine Binse, und faul, mochte sie jetzt auch munter sein wie eine Lerche. Dann allerdings, als sie auf London zu liefen, schmolzen alle diese schlimmen Gedanken in seiner Brust, und ihm war zumute, als hätte ihn ein großer Fisch bei der Nase gepackt und er würde nun von ihm gegen seinen Willen und doch wiederum ohne Widerstand in stürmischer Fahrt durch das Wasser dahingerissen.
Es war ein Abend von überwältigender Schönheit. Als die Sonne sank, standen alle die Kuppeln, Spitztürme, Türmchen und Zinnen Londons in tintiger Schwärze vor dem wild flammenden Rot der Sonnenuntergangswolken. Dort war das durchbrochene Kreuz von Charing; dort die Kuppel der Sankt-Pauls-Kathedrale; dort das gewaltige Geviert des Towers; und dort das, was aussah wie ein Hain von Bäumen, denen man alle Blätter abgestreift und nur einen Knubben an der Spitze gelassen hat: das waren die aufgespießten Köpfe am Temple Bar. Nun leuchteten die Fenster der Westminster Abbey auf und brannten (so sah es Orlandos Phantasie) wie ein vielfarbener himmlischer Schild; nun glich (abermals in Orlandos Phantasie) der ganze westliche Himmel einem goldenen Fenster, und Scharen von Engeln stiegen immerzu die himmlischen Stufen hinauf und herab. Auf dem ganzen Wege war es, als liefen die beiden auf einem unergründlich tiefen Luftmeer dahin, so blau war nun das Eis geworden, und so spiegelglatt war es, daß sie schneller und immer schneller der Stadt entgegenglitten, indessen rings um sie her die weißen Möwen kreisten und mit ihren Schwingen ganz genau die gleichen geschwungenen Bahnen in die Luft schnitten, die jene beiden drunten mit ihren Schlittschuhen in das Eis ritzten.
Sasha war zärtlicher und gar noch köstlicher als sonst, nicht anders, als wollte sie ihn wieder in Sicherheit wiegen. Sie sprach sonst nur selten von ihrem bisherigen Leben; jetzt aber schilderte sie ihm, wie es war, wenn sie im Winter in Rußland den Wölfen lauschte, deren Geheul über die Steppe klang, und sie bellte dreimal wie ein Wolf, um es ihm zu zeigen. Darauf erzählte er ihr von den Hirschen im Schnee daheim und wie sie, umherirrend auf der Suche nach Wärme, in die große Halle kamen und von einem alten Mann mit Suppe aus einem Kübel gefüttert wurden. Und Sasha lobte ihn: sie pries seine Tierliebe; seine ritterliche Art; seine Beine. Er war entzückt über ihr Lob und schämte sich, wenn er dachte, wie übel er ihr Bild befleckt hatte, als er sich einbildete, sie auf den Knien eines gemeinen Matrosen zu sehen, und als er sie sich als vierzigjähriges fettes und faules altes Weib vorstellte. Und er sagte ihr, er könne keine Worte finden, um sie recht zu preisen; worauf ihm freilich sogleich einfiel, daß sie wie Frühling und grünes Gras und rasch rauschendes Gewässer sei; und er faßte sie fester denn je und schwang sich mit ihr im Bogen über die halbe Breite des Flusses, so daß auch die Möwen und die Kormorane im Bogen mittaten. Als sie dann, atemlos, schließlich innehielten, sagte sie, ein wenig keuchend, er wäre wie ein Christbaum mit Millionen Kerzen (wie man sie in Rußland hat) und geschmückt mit gelben Kugeln, strahlend in gelber Glut, genug, um eine ganze Straße damit zu erleuchten; was sich, wenn man es in verständliche Sprache übersetzen wollte, so erklären ließe, daß er mit seinen glühenden Wangen, seinen dunklen Locken, seinem Mantel in Schwarz und Karmesin aussah, als hätte er drinnen eine Lampe, die ihn in seinem eigenen Glanze erstrahlen ließ.
Aber alle Farbe begann bald zu verblassen, nur nicht das Rot auf Orlandos Wangen. Die Nacht nahte. Als das gelbrote Licht des Sonnenunterganges schwand, folgte ihm ein erstaunlicher weißer Glanz von den Fackeln, Freudenfeuern, flammenden Pechpfannen und all dem anderen künstlichen Licht, das den Fluß erhellte; und es vollzog sich die seltsamste Verwandlung. Von verschiedenen Kirchen und Edelmannspalästen, die aus weißem Stein erbaut waren, sah man Streifen und Flecken, als schwebten sie in der Luft. Von der Sankt-Pauls-Kathedrale war nichts geblieben als ein goldenes Kreuz. Die Westminster Abbey sah aus wie das graue Gerippe eines Blattes. Alles erschien verwandelt und gleichsam abgezehrt. Als sie sich dem Festtreiben näherten, vernahmen sie einen tiefen Ton wie von einer Stimmgabel, der lauter und immer lauter summte und schließlich zum Gedröhn anschwoll. Immer wieder folgte lautes Geschrei dem Aufstieg einer Rakete in die Luft. Nun konnten sie schon erkennen, wie winzige Gestalten sich von dem riesigen Schwarm lösten und hierhin und dorthin wie Mücken über das Eis schwärmten. Über diesem strahlenden Kreise aber und rings um ihn stand schwarz und schwer wie ein Gefäß aus Finsternis die Winternacht. Und dann stiegen in diese Schwärze hinauf in Pausen, die das Erwarten rege und die Münder offen erhielten, blühende Raketen; Monde; Schlangen; eine Krone. Einen Herzschlag lang schienen die Wälder und fernen Hügel grün wie an einem Sommertag; im nächsten Augenblick war wieder alles Winter und Schwärze.
Inzwischen näherten sich Orlando und die Prinzessin dem umschränkten Raum des Königshofes und fanden ihren Weg versperrt durch eine große Menge gemeinen Volkes, das sich so dicht, wie es nur eben wagen durfte, an die seidene Schnur herandrängte. Da blieben nun die beiden, durchaus abgeneigt, ihr Alleinsein zu beenden und sich wieder den scharfen Augen preiszugeben, von denen sie überwacht wurden; so standen sie mitten im Gedränge von Lehrburschen, Schneidern, Fischweibern, Pferdehändlern, Bauernfängern, hungernden Scholaren, Dienstmägden mit ihren Kopftüchern, Apfelsinenverkäuferinnen, Stallknechten, gesetzten Bürgersleuten, Zoten reißenden Schankkellnern und einer Bande zerlumpter Gassenjungen, wie sie sich immer am Rande einer Menschenmenge umhertreiben und kreischend und sich balgend zwischen den Beinen der Erwachsenen tollen. Kurz, es war der ganze Pöbel aus Londons Gassen da, da riß man Witze und da wurde gedrängelt, hier wurde gewürfelt, wahrgesagt, gestoßen, gekitzelt, gekniffen; hier lärmend, dort in mürrischem Schweigen, einige mit ellenweit offenen Mäulern, andere respektlos wie Dohlen auf einem Dachfirst, samt und sonders im buntesten und mannigfaltigsten Aufputz, je nach Geldbeutel und Stand, hier in Pelz und feinem Tuch, dort in Lumpen, die Füße umwickelt mit Scheuerlappen als einzigem Schutz gegen die Kälte. Das Hauptgedränge war, so schien es, vor einer Schaubude oder Bühne, etwa nach Art unserer Kasperletheater, wo sich irgendeine dramatische Vorstellung begab. Ein schwarzer Mann ruderte mit den Armen und brüllte. Auf einem Bett lag eine weißgekleidete Frau. Es war eine recht grobe Art von Theaterspielerei; die Darsteller rannten ständig ein paar Stufen auf und nieder und stolperten zuweilen, und die Zuschauer pfiffen und trampelten, manchmal auch, wenn sie sich langweilten, schleuderten sie ein Stück Apfelsinenschale über das Eis und jagten einen Hund hinterdrein; und doch ging die wunderbare, vielfältig schwingende Melodie dieser Worte Orlando erregend ins Blut wie Musik. Ja, diese Worte, gesprochen mit jagender Schnelligkeit und einer kühnen Behendigkeit der Zunge, die ihn an die Lieder der Seeleute in den Biergärten von Wapping erinnerte, diese Worte, selbst wenn er ihren Sinn nicht erfaßte, waren wie Wein. Zuweilen aber schallte über das Eis ein einzelner Satz zu ihm herüber, der ihm klang, als wäre er den Tiefen des eigenen Herzens entrissen. Die Raserei des Mohren war ihm wie eigene Raserei, und als der Mohr die Frau auf dem Bett tötete, da war es Sasha, die er mit eigener Hand erdrosselte.
Schließlich war das Stück zu Ende. Und nun war alles finster geworden. Die Tränen strömten ihm übers Gesicht. Er blickte zum Himmel empor: Auch dort war nichts als Schwärze. Vernichtung und Tod, so dachte er, fallen alles Lebendige an. Das Leben des Menschen endet im Grabe. Würmer verzehren uns.
»Nun, dächt ich, müßt ein groß Verfinstern sein
An Sonn und Mond, und die erschreckte Erde
Sich auftun vor Entsetzen.«
Aber gerade als er dies sagte, ging ein Stern von mattem Glanz in seinen Gedanken auf. Die Nacht war finster; es war stockdunkel; aber gerade auf eine solche Nacht hatten sie ja gewartet; in solch einer Nacht, dies war ihr Plan, wollten sie fliehen. Nun wußte er alles wieder. Die Zeit war da. In jäher Leidenschaft riß er Sasha an sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Jour de ma vie!« Es war ihr verabredetes Zeichen. Um Mitternacht wollten sie sich dann vor einer Schenke in der Nähe von Blackfriars treffen. Dort standen Pferde bereit. Alles war für ihre Flucht gerüstet. Also trennten sie sich nun: Sie ging zu ihrem Zelt, er zu dem seinen. Es war noch eine Stunde vor der Zeit.
Lange vor Mitternacht schon stand Orlando wartend da. Die Nacht war so pechschwarz, daß man mit einem Menschen zusammenstieß, bevor man ihn sehen konnte; und das war recht gut so; aber sie war auch von einer so feierlichen Stille, daß der Hufschlag eines Pferdes oder das Geschrei eines Kindes eine halbe Meile weit vernehmlich war. Orlando ging in dem kleinen Hofraum auf und ab; zu vielen Malen stockte ihm der Herzschlag, wenn er auf dem Katzenkopfpflaster das regelmäßige Hufgetrappel irgendeines Kleppers oder das Rascheln eines Frauenkleides vernahm. Aber der Reitende war nur irgendein Kaufmann auf verspätetem Heimweg und die Frau irgendeine Dirne aus dem Stadtviertel, die in sehr viel weniger harmlosen Absichten unterwegs war. Sie zogen vorüber, und die Straße war noch stiller als zuvor. Dann bewegten die Lichter, die unten in den menschenüberfüllten kleinen Wohnungen der Armen brannten, sich treppaufwärts in die oberen Räume; und dann erloschen sie, eines nach dem anderen. Es gab in diesem Stadtviertel nur sehr wenige Straßenlampen, und dank der Nachlässigkeit des Nachtwächters gingen sie oft lange vor der Morgendämmerung aus. Dann wurde die Finsternis noch dichter. Orlando sah nach dem Docht seiner Laterne, prüfte die Sattelgurte, schüttete Pulver auf seine Pistolen, vergewisserte sich, daß seine Pistolenhalfter in Ordnung waren, und tat alles dies wohl ein dutzendmal, bis er nichts mehr finden konnte, das seiner Fürsorge bedurfte. Obwohl noch zwanzig Minuten an Mitternacht fehlten, gewann er es nicht über sich, in die Kneipe zu gehen, wo die Wirtin noch spanischen Wein und billigen Kanariensekt ausschenkte und ein paar Seeleute ihre Lieder sangen und ihr Garn spannen über Drake, Hawkins und Grenville, bis sie von den Bänken fielen und auf den sandbestreuten Fußboden rollten, um da zu schlafen. Die Dunkelheit, so schien es ihm, hatte mehr Verständnis für sein schmerzhaft wild schlagendes Herz. Er lauschte auf jeden Schritt; suchte jedes Geräusch zu ergründen. Immer, wenn irgendwo ein Trunkener brüllte oder irgendein armer Wicht auf seiner Strohschütte stöhnte oder in Schmerzen wimmerte, traf es sein Herz wie ein Schlag, als wäre es böse Vorbedeutung für sein Vorhaben. Und doch war ihm für Sasha nicht bange. Für ihren Mut bedeutete das Abenteuer nichts. Sie würde allein kommen, in Mantel und Hosen, mit hohen Stiefeln wie ein Mann. Und ihren leichten Schritt würde er kaum vernehmen können, selbst in dieser Stille nicht.
So wartete er in der Finsternis. Plötzlich traf ihn ein Schlag ins Gesicht, ein sachter und doch schwerer Schlag, auf die Wange. So angespannt war er in seiner Erwartung, daß er auffuhr und zum Degen griff. Der Schlag wiederholte sich ein dutzendmal – auf Stirn und Wange. So lange hatte das trockene Frostwetter gedauert, daß Orlando erst nach einer Minute erkannte, was vorging: Es regnete, und die Schläge rührten von niederfallenden schweren Tropfen her. Zuerst fielen sie langsam, mit Bedacht, einer nach dem anderen. Bald aber wurden aus den sechs Tropfen sechzig; dann sechshundert; und dann vereinigten sie sich zu einem stetig niederbrausenden Guß. Es war, als löste der harte und erstarrte Himmel sich auf und verströmte sich in einer gewaltig quellenden Flut. Innerhalb von fünf Minuten war Orlando bis auf die Haut durchnäßt.
Rasch brachte er die Pferde unter Dach und suchte selber Schutz unter dem Oberbalken der Tür, von wo aus er immer noch den Hof beobachten konnte. Die Luft war nun undurchdringlicher als je zuvor, und der Regen stürzte mit einem tosenden Rauschen herab, das jeden Schritt, ob von Mensch oder Tier, übertönte. Die Straßen, übersät mit großen Löchern, mußten nun schon überschwemmt sein und waren vielleicht ungangbar. Aber Orlando dachte kaum darüber nach, welche Folgen das für ihre Flucht haben konnte. Alle seine Sinne waren angespannt, nach Sasha auszuspähen, die schmale gepflasterte Gasse zu überwachen, die vom Licht der Laterne erhellt war. Zuweilen meinte er Sasha zu sehen, wie sie, vom streifig fallenden Regen eingehüllt, aus dem Dunkel auftauchte. Aber jedesmal war es ein Phantom, das schwand. Plötzlich rief die Sankt-Pauls-Kathedrale den ersten Schlag der Mitternacht mit einer furchtbaren und unheilverkündenden Stimme, mit einer Stimme voll Grauen und schrecklicher Warnung, die in Orlandos Seele einen Schauer des Entsetzens wachrief. Viermal ertönte sie, erbarmungslos. Mit dem Aberglauben des Liebenden hatte Orlando es als ausgemacht angesehen, daß sie beim sechsten Schlag kommen würde. Aber der sechste erklang und verklang, und der siebente kam und der achte, und für Orlandos jedem Eindruck preisgegebenes Gemüt klangen sie wie Ankündigung und Verkündigung von Tod und Untergang. Beim zwölften Schlage wußte er, daß sein Schicksal besiegelt war. Vergebens redete ihm die Stimme der Vernunft gut zu: Vielleicht hatte Sasha sich verspätet; vielleicht war sie verhindert worden; vielleicht hatte sie den Weg verfehlt. Orlandos leidenschaftliches, fühlendes Herz wußte die Wahrheit. Nun schlugen auch andere Uhren, eine nach der anderen. Die ganze Welt, so schien es, hallte wider von der Kunde von Sashas Verrat und Orlandos Schmach. Der alte Argwohn, der unter der Oberfläche immer in ihm gewühlt hatte, brach nun hervor aus seinem Versteck. Orlando wurde zerbissen von einem Schwarm von Schlangen, eine immer giftiger als die andere. Er stand im Torweg in dem furchtbaren Regensturz, unbeweglich. Und wie nun die Minuten vergingen, sackte er ein wenig in den Kniekehlen ein. Das Regengebrause hielt unvermindert an. Durch die dichte Wasserflut klang es wie das Dröhnen schwerer Kanonen. Man vernahm lautes Krachen, wie wenn Eichbäume bersten und niederstürzen. Man vernahm auch wilde Schreie und schreckliches unmenschliches Stöhnen. Aber Orlando rührte sich nicht, bis die Sankt-Pauls-Kathedrale zwei Uhr schlug: da schrie er laut mit einem fürchterlichen Spott, der alle seine Zähne entblößte: »Jour de ma vie!« – zerschmetterte die Laterne am Boden, sprang aufs Pferd und galoppierte davon, wohin, wußte er nicht.
Irgendein blinder Trieb – denn er war jeder Überlegung entrückt – muß seinen Weg zum Flußufer und von da seewärts gelenkt haben. Denn als die Dämmerung anbrach, was mit ungewöhnlicher Schnelligkeit geschah, indessen der Himmel ein fahles Gelb annahm und der Regen fast ganz aufhörte, fand er sich am Ufer der Themse oberhalb von Wapping wieder. Nun bot sich seinen Augen ein ganz und gar unerhörtes Schauspiel. Wo drei Monate hindurch und länger festes Eis von solcher Dicke gewesen war, daß es von dauerndem Bestand schien wie Stein, und wo auf diesem Grund eine ganze fröhliche Stadt gestanden hatte, da wälzte sich nun ein reißender Strom strudelnden gelben Wassers. Der Fluß hatte über Nacht seine Freiheit zurückgewonnen. Es war, als hätte eine Schwefelquelle sich aus dem vulkanischen Boden unter dem Flusse Bahn gebrochen und das Eis mit solcher Wucht gesprengt, daß sie die riesigen, massigen Schollen mit wütender Gewalt davonschleuderte. (Diese Ansicht wurde denn auch von vielen Forschern vertreten.) Schon vom bloßen Anblick des Wassers schwindelte einem das Hirn. Überall Aufruhr und Wirrnis. Der Fluß war übersät mit Eisbergen. Einige von ihnen waren so breit wie ein Bowlingrasen und so hoch wie ein Haus; andere nicht größer als ein Männerhut, aber von abenteuerlich verzerrten Formen. Zuweilen schwamm eine ganze Flotte von Eisblöcken daher und versenkte alles, was ihr in den Weg kam. Dann wieder war es, als ob der Fluß, wirbelnd und sich windend wie eine gepeinigte Schlange, sich rasend zwischen die Trümmer warf und sie von Ufer zu Ufer schleuderte, so daß sie schmetternd gegen die Piers und Pfeiler dröhnten. Am fürchterlichsten und grauenhaftesten aber war der Anblick der menschlichen Geschöpfe, die in der Nacht auf dem Eise vom Tauwetter überrascht worden waren und nun auf ihren schwankenden und kreiselnden Inseln in höchster Todesangst umherliefen. Ob sie auf dem Eise blieben oder in die Flut sprangen – ihr Schicksal war besiegelt. Zuweilen kam ein ganzer Schwarm dieser armen Geschöpfe stromabwärts geschwommen; manche lagen auf den Knien, andere nährten ihre Säuglinge. Ein alter Mann schien laut aus einem heiligen Buche vorzulesen. Manchmal auch rannte so ein armer Wicht ganz allein auf seiner engen Zukunft umher; und dies Schicksal war vielleicht das schrecklichste. Indessen sie in rasender Geschwindigkeit dem Meere zu trieben, schrien manche vergeblich um Hilfe, versprachen mit wilden Verheißungen Besserung, bekannten ihre Sünden und gelobten Stiftungen von Altären und Reichtümern, wenn Gott ihr Gebet erhören würde. Andere wieder waren so betäubt vom Entsetzen, daß sie reglos dasaßen und starr vor sich hin blickten. Eine Gruppe junger Männer, ihrer Kleidung nach anscheinend Fährleute oder Postkutscher, brüllte und grölte die schlüpfrigsten Kneipenlieder, wie im Trotz; sie wurden gegen einen Baum geschmettert und versanken, Lästerungen auf den Lippen. Ein alter Edelmann – als solchen wiesen ihn sein pelzbesetztes Gewand und seine goldene Kette aus – trieb nicht weit von der Stelle vorbei, wo Orlando stand, und rief Gottes Strafe auf die irischen Rebellen herab, die, so schrie er mit letzter Atemkraft, diesen teuflischen Streich angestiftet hatten. Viele preßten im Versinken irgendein silbernes Gefäß oder andere Kostbarkeiten an die Brust; und wohl zwei Dutzend armer Schelme wurden durch die eigene Habgier im Flusse ersäuft, da sie sich lieber vom Ufer in die Flut stürzten, als daß sie sich irgendeinen goldenen Becher entschlüpfen oder ein pelzbesetztes Gewand vor ihren Augen versinken ließen. Denn auf den Eisschollen trieben Möbelstücke, Wertgegenstände, Besitztümer aller Art dahin. Unter anderen Merkwürdigkeiten gewahrte man da eine Katze, die ihre Jungen säugte; einen Tisch, der üppig für ein Mahl von zwanzig Gästen gedeckt war; ein Paar im Bett; zusammen mit einer außergewöhnlichen Anzahl von Kochgeräten.
Verstört und betäubt, vermochte Orlando geraume Zeit nichts zu tun als den entsetzlichen Wasserfluten zuzuschauen, die an ihm vorübertosten. Schließlich riß er sich hoch, setzte dem Pferd die Sporen ein und galoppierte hart am Flußufer entlang in der Richtung zum Meer. Als er einer Krümmung der Themse folgte, kam er gegenüber jener Stelle an, wo vor noch nicht zwei Tagen die Schiffe der fremden Gesandten unbeweglich eingefroren zu sein schienen. Hastig zählte er sie; da waren sie alle noch: der Franzose; der Spanier; der Österreicher; der Türke. Der Franzose freilich hatte sich vom Anker losgerissen, und das türkische Fahrzeug hatte einen klaffenden Riß in der Seite und lief rasch voll Wasser. Nur das russische Schiff war nirgends zu sehen. Einen Augenblick meinte Orlando, es müßte gesunken sein; dann aber, als er sich in den Steigbügeln hob und seine Augen, die scharf wie die eines Falken waren, mit der Hand beschattete, vermochte er gerade noch die Umrisse eines Schiffes am Horizont zu erkennen. Von der Mastspitze flatterten die schwarzen Adler. Das Schiff der moskowitischen Gesandtschaft lag nach See zu.
Mit wütendem Schwung warf sich Orlando vom Pferde und machte einen Schritt, als wollte er sich in die Flut stürzen. Und dann stand er bis an die Knie im Wasser und schleuderte hinter der Treulosen alle die Schmähungen drein, die das Schicksal ihrem Geschlechte seit je bestimmt hat. Treulos nannte er sie, wetterwendisch, wankelmütig; Teufelin schalt er sie, Ehebrecherin, Betrügerin; und die strudelnden Wasser schluckten seine Worte und schleuderten ihm einen zerbrochenen Topf und ein Büschel Stroh vor die Füße.