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Kapitel 2 Nina und Wassil

An dem Tag, an dem mein Flugzeug aus der fernen Heldenstadt Frunse in Minsk ankommen sollte, sagte mein Vater meiner Mutter, er könne mich nicht abholen. Am Nachmittag, meine Mutter war einkaufen und wollte schon zum Flughafen fahren, um mich in Empfang zu nehmen, sah sie meinen Vater. Er ging Arm in Arm mit einer anderen Frau spazieren. Klar konnte er mich nicht abholen, er hatte Wichtigeres zu tun. Mama unternahm nichts, sprach ihn nicht an und machte ihm keine Szene, sie fuhr einfach zum Flughafen und holte ihre Tochter ab.

Anschließend trennten sich die beiden. Und Mama und ich hatten unterschiedliche Nachnamen. Dass Papa jetzt nicht mehr mit Mama zusammenlebte, belastete mich überhaupt nicht. Ich musste ihn nicht mehr zu seinen Freunden mit Bierfahne begleiten und dann mitansehen, wie Mama sich sorgte und herumschrie, wenn wir erst um Mitternacht zurückkamen. Jetzt herrschte Stille, niemand kommandierte herum, und in unserem Gorisont zeichnete sich kein grünes Fußballfeld mehr ab. Fußball im Fernsehen hatte ich noch nie gemocht, viel lieber spielte ich auf dem Platz selbst in der Abwehr.

Die anderen Kinder in der Schule beneideten mich, denn kaum jemand fand das eheliche Verhältnis der Eltern zufriedenstellend. Fast jeden Tag bekamen sie lautstarke Streitereien und Moll-Konzerte für Eltern und Streichorchester zu hören. Aber die Gene lassen sich nicht aus dem Pass entfernen. Es war nicht zu übersehen, wie ähnlich ich meinem Vater war, sowohl äußerlich als auch in bestimmten Angewohnheiten. Besonders gerne erwähnte und betonte das Mamas Mama. Sie suchte meine Gesichtszüge und meine Statur geradezu nach Merkmalen ab, die meine Verwandtschaft zu Papas Mama bezeugten: die Nasenform, den schlanken Wuchs etc., als wolle sie mich nicht akzeptieren, als könne sie mit diesen ausgesuchten biologisch-anthropologischen Charakteristika rechtfertigen, dass ich nicht in ihr System von Lebensregeln passte. Babuljas Profession hatte in ihrem Charakter und bei den Menschen in ihrem Umfeld tiefe Spuren hinterlassen. Ihr gesamtes Berufsleben hatte sie als Dorfschullehrerin für belarusische Sprache und Literatur verbracht.

»Ba, sag mal, Ba, was wolltest du eigentlich werden, als du klein warst?«, startete ich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Schemel mein Babulja-Verhör.

»Nichts«, brummte Babulja.

»Wieso nichts? Alle Kinder wollen doch Kosmonauten oder Ärzte werden«, beharrte ich und rief ihr die klassischen Berufswünsche sowjetischer Kinder in Erinnerung.

»Na, jedenfalls ganz bestimmt nicht Lehrerin«, antwortete Babulja.

»Aber was denn dann?« Ich ließ nicht locker.

»Mutter wollte ich werden. Bin ich ja auch«, seufzte sie freudlos und stampfte weiter Kartoffeln für die Schweine, verärgert über ihren Kindertraum. Als hätte man sie betrogen, ihr erzählt, Muttersein wäre gut und sogar ziemlich beneidenswert, wohingegen dann alles ganz anders aussah. Babulja war viermal niedergekommen. Im April, im Mai und zweimal im Februar.

»Und wieso bist du dann Lehrerin geworden?«

»Meine Freundin Rajka wollte, dass wir zusammen studieren, sie hat mich mit zu den Philologen geschleppt.«

»Und wo wolltest du hin?«

»In die Mathematik.«

Ich weiß nicht, ob Babulja als Mathematiklehrerin glücklicher mit ihrem Leben und ihrer Arbeit gewesen wäre, aber sie fühlte sich offenbar als verhindertes Mathegenie.

Ihr Mann (mein Opa) war in dieser Hinsicht auch nicht glücklicher. Die Entscheidung, was er aus seinem Leben machen wollte, verlief in seinem Fall noch tragischer. Sein Vater war nämlich Lehrer und wollte, dass sein Sohn in seine Fußstapfen trat. Obwohl Dsjadulja davon geträumt hatte, Soldat zu werden, Späher, studierte er Russische Sprache und Literatur, weil mein Urgroßvater das so wollte. An der Hochschule lernten sie sich dann kennen: Nina, die statt Mathematik Kolas und Kupala* multipliziert mit den artikulatorischen Charakteristika der Vokalphoneme studierte, und Wassil, der Majakowski und die Besonderheiten der Synekdoche paukte, anstatt sich lautlos durch unbekanntes Terrain zu bewegen und Kryptogramme zu entschlüsseln. Träume sind gut, aber häufig muss man mit sich selbst und seinem Umfeld ringen, bis sie Wirklichkeit werden können, deshalb ist es einfacher, keine zu haben – dann kann man sich die Enttäuschung ersparen.

Als Rentner lag Dsjadulja die ganze Zeit auf dem Sofa und dachte über etwas nach, oder er saß an der Haltestelle gegenüber ihrem Häuschen. Die Hauswirtschaft war ihm so gleichgültig wie seine ganze Umgebung. Er war der Größte in unserer Familie, das hat mir mächtig gut gefallen. Als Dsjadulja mitbekam, dass ich ins Ausland geschickt werden sollte, fragte er:

»Weißt du wenigstens, wie man mit Messer und Gabel isst?«

Ich schüttelte den Kopf, weil ich in den vergangenen neun Jahren immer bestens ohne Messer zurechtgekommen war. Da sagte er, er würde es mir beibringen, und das tat er auch. Wir trainierten an Salzgurken mit Honig, einem gastronomischen Oxymoron, aber ich fand es toll. Dsjadulja dachte sich häufig solche Sachen aus und lachte immer, wenn er mir von seinen Kreationen erzählte. Einmal tischte er mir selbstgemachtes Halwa auf. Jeden Herbst wuchsen im Garten viele Kürbisse, die Kerne wurden aufgehoben und getrocknet. An den Winterabenden enthülste Dsjadulja dann die getrockneten Kerne und drehte sie durch die Kaffeemühle, das ergab so ein Mehl, das mit Honig vermengt sehr gut schmeckte, wie Halwa.

»Hier, für dich«, sagte er und bröckelte mir den Großteil seiner Vorräte hin, »da hast du in der Stadt auch mal was Gutes.«

Der Schnellkurs in Sachen Etikette bei Tisch war erfolgreich absolviert, und Dsjadulja konnte beruhigt sein: Seine Enkelin würde den Ruf der Lehrerfamilie aus dem belarusischen Dorf nicht ruinieren.

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