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Keine Zeit zu sterben

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Während wir auf unser Essen warteten, blickte ich aus dem Fenster des Hotels und bewunderte die wunderschönen endloslangen Sandstrände, über die gerade die kraftvolle Sonne eintauchte.

„Woran denkst du gerade, Danny?“, fragte Sally.

„An dich natürlich!“, antwortete ich.

„Lügner!“, schmunzelte sie verlegen. „Jetzt mal ehrlich, woran denkst du wirklich?“

Ich nahm ihre Hand und drückte sie. „Wie viele Abende wir hier schon verbracht haben.“, sagte ich und bemerkte den melancholischen Klang meiner Stimme erst hinterher.

„Trotzdem waren es zu wenige.“, seufzte sie und schenkte mir ein vielsagendes Lächeln.

„Seid ihr jetzt fertig?“, fragte Dilan, die es wieder einmal glänzend verstand, die Romantik des Abends mit wenigen Worten zunichte zu machen.

„Wie wär's, wenn wir nach dem Essen eine Runde mit dem Riesenrad fahren?“, fragte ich.

„Sei nicht kindisch, Dad!“, antwortete Dilan.

„Früher bist du oft mit uns gefahren.“

„Gott, Dad! Wen interessiert es, was früher war?“

Sally grinste mich verstohlen an. Ich wusste, was sie gerade dachte. Die Launenhaftigkeit unserer achtzehnjährigen Tochter glich einem Geigerzähler in Prypjat. Sie wollte lieber zuhause bleiben, aber weil wir auf ihre Gesellschaft nicht verzichten wollten, nervte sie uns nun. Sie beharrte darauf, dass, wenn sie mitfahren musste, unbedingt im Innenbereich sitzen möchte. Sie meinte, dass ihr der Wind zu kalt wäre und sich eine Mittelohrentzündung holen könnte. Unser Nesthäkchen hatte sich entgegen unserer Erziehungsziele zu einer eitlen penetranten Muster-Zicke entwickelt, die alles bemeckerte und kritisierte, das nicht ihrem Karma entsprach. Statt draußen zu sitzen, den romantischen Doo-Wop-Klängen einheimischer Hobbymusiker zu lauschen, die Sally so liebte, oder die unzähligen Touristen zu beobachten, wie sie die sunbaked T-Shirt-Läden stürmten, saßen wir in einer völlig überfüllten Räucherkammer, in der es neben dem eintönigen Gemurmel der Gäste nur stickige Umluft aus Deckenventilatoren gab.

Ich senkte den Blick und starrte auf das handgeflochtene Körbchen am Tischrand, das randvoll mit Nachos gefüllt war. Im Hintergrund hetzten Kellner in weißen Anzügen umher und servierten Clam-Chowder. Dabei fiel mir ein Kellner auf, der ständig Probleme mit einem Kinderwagen hatte. Er donnerte gerade zum dritten Mal dagegen. Das Paar, das zwei Plätze neben uns saß, hob das Kleinkind zur Sicherheit aus dem mobilen Transporter und ließ es auf der Bank zwischen ihnen umherkrabbeln. Als ich wieder zu Sally blickte, streifte sie sich gerade verführerisch ihr sandfarbenes Seidenjäckchen ab. „Den stickigen Dunst hält kein Mensch aus!“, stöhnte sie.

Ich nickte mit einem schmalen Grinsen.

„Mum, du weißt, dass ich es hasse, wenn mir die Leute in das Essen starren!“, rechtfertigte sich Dilan und strich sich die goldblonden Strähnchen über ihre langen dunklen Haare.

„Die Leute?“, fragte ich etwas verblüfft. „Du sagtest, dass dir der Wind Ohrenschmerzen bereiten könnte.“

„Der Wind und die Leute! Vor allem aber die Leute! Und dann noch die Möwen, die alles zuscheißen! Das Pier gleicht einem Dalmatinerfell!“, meckerte sie genervt. „Ich verstehe nicht, warum ihr ausgerechnet heute Abend ausgehen müsst! Ausgerechnet heute, wo ich auf Antwort von Billy Morgan warte!“

„Wer ist Billy Morgan?“, fragte ich. „Ein neuer Freund?“

„Das geht dich nichts an!“, fauchte sie. „Wärst du öfters zuhause, wüsstest du es!“

„Da hat sie recht.“, lachte Sally.

„Ich habe momentan viel um die Ohren und … aber ... jetzt bin ich Schuld, weil ich euch zum Essen eingeladen habe?“, stotterte ich etwas irritiert.

„Ja, und weil du immer in dieses dämliche Hotel am Pier gehen musst! Kann es nicht einmal eines in der Innenstadt sein? Das Tender Greens zum Beispiel, oder Amelias, oder Misfit? Nein, es muss immer das Lotario sein!“

„Jetzt ist es aber genug, Dilan!“, herrschte Sally sie an. „Wir sehen Daddy nicht oft und wenn er uns zum Essen einlädt, wünsche ich mir ...“

„Das Lachs-Quiche?“, unterbrach ein Kellner.

Ich hob die Hand, murrte ein unverständliches Yep und bekam sogleich den Teller vor die Nase gesetzt.

„Zuckerrübensalat mit Kartoffelbrei und Spargel?“

„Ich!“, vermeldete Dilan und schnippte dem Kellner mit den Fingern zu.

„Das Burrito Mojado kommt sofort!“, sagte der Kellner und huschte wieder davon.

Als ich gerade dabei war, mein köstliches Gericht zu inspizieren, entging mir Dilan's provokantes Verhalten nicht. Wie eine Royal Lady nahm sie eine aufrechte Sitzposition ein, schob angewidert das in einer Papier-Serviette eingerollte Essbesteck zum Tischrand und tauschte es gegen ihr blaues Plastikbesteck aus der Handtasche.

„Dilan, was soll das?“, fragte ich verärgert.

„Hast du vergessen, dass ich eine Nickelallergie habe?“

„Nein, aber musst du das Besteck derart arrogant zur Seite legen, als ob es dir nicht gut genug ist?“

„Wie soll ich es deiner Meinung nach machen, ohne dass mir Ballongeschwülste, so groß wie Hühnereier, wachsen?“, fragte sie provokant. „Ich bin dann wieder diejenige, die tagelang wie ein Zombie durch die Stadt irrt und tonnenweise Neomycin schmieren muss!“

„Schluss jetzt, Dilan!“, mischte sich Sally ein. „Hör auf in diesem Ton mit deinem Vater zu reden!“ Dann wandte sie sich mir zu. „Und du auch, Danny! Provoziere sie nicht! Du kennst sie doch!“

„Mum hat recht!“, stimmte ich ihr zu. „Machen wir uns einen gemütlichen Abend und genießen das leckere Essen!“

„Genau, Dad!“, grinste Dilan hämisch. „Dein Fisch enthält mehr Jod als die gesamte Stadtapotheke! Wenn du dir noch Scallops bestellst, würde dir ein Kropf in der Größe einer Bowling-Kugel aus dem Hals wachsen!“

„Dilan, verdammt!“, zischte Sally und stoppte damit die Verbalattacke, zu der ich gerade ansetzte. „Du entschuldigst dich sofort bei deinem Vater, sonst dreh ich dir für die nächsten Wochen das Internet ab!“

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, wehrte sich Dilan entgeistert. „Billy Morgan … Du weißt schon … Das geht nicht!“

„Entschuldige dich!“, forderte sie sie auf. „Sofort!“

„Ich habe nichts Unrechtes gesagt, Mum!“

„Dilan!“ Sally war jetzt richtig sauer. Ich konnte aus ihrem Blick lesen, dass unserem Engelchen bloß wenige Sekunden blieben, bevor sie ihre Drohung in die Tat umsetzte.

„Fisch ist ungesund! Ich habe das nicht böse gemeint!“

Sally verschränkte die Arme an der Hüfte und blickte sie giftig an. Dilan wusste, dass ihre Ausflüchte keinen Erfolg erzielen würden. Somit blieb ihr keine Wahl als nachzugeben. Beschämt wie ein kleines Kind rollte sie ihre Augen zu meiner Wenigkeit. „Sorry, Dad!“, murmelte sie leise, ohne dabei ihre Lippen zu bewegen - fast wie ein Bauchredner, aber ohne Puppe.

Ich atmete kräftig durch, würzte den Lachs mit Salz und Pfeffer nach und trank einen Schluck edlen Cabernet Sauvignon aus dem heimischen Napa Valley. „In Ordnung! Lasst uns jetzt essen!“

Plötzlich fielen die Blicke der beiden hinter mich. Ich drehte mich um und sah den Kellner. Sein Blick sagte mir, dass er bereits die ganze Zeit hier stand und den letzten Teil unserer Auseinandersetzung mitbekam. Er wartete bloß auf den richtigen Moment, um das Essen zu servieren. „Das Burrito Mojado!“, sagte er sodann und platzierte den Teller unter Sally's Nase. Nachdem er wieder gegangen war, hätte ich beinahe gelacht. Aber Sally verstand es perfekt, der peinlichen Situation keinen heiteren Aspekt abzugewinnen. Sie rückte näher zu Tisch, rollte das Besteck aus der Serviette und wünschte uns Guten Appetit.

Sally war eine hochanständige und impulsive Frau, die stets wusste, was sie wollte. Dieses Temperament verdankte sie großteils ihren mexikanischen Genen. Sie boten ihr eine riesige Bandbreite an Charaktereigenschaften, die sie nacheinander miteinander zu verknüpfen wusste. Zuerst diese ungeheure Ausstrahlung, diese Bodenständigkeit, der feurige Ausdruck in den Augen, die pechschwarzen Haare, die großen Brüste und die bis ins Detail perfektionierten Kurven. Man könnte meinen, Gott hatte die mexikanische Frau anders geschaffen, die Bauteile mit mehr Liebe zum Detail gewählt und die Gussmasse so verteilt, dass alles an den richtigen Stellen Platz fand. Mit ihr hatte ich auch nie einfachen Sex. Mit ihr hatte ich ausschließlich Sex bis zur Ekstase! Wo andere Frauen bereits abwinkten, legte sie erst richtig los. Nach den ersten Malen musste ich meinen Schwanz mit Eisbeutel kühlen, damit er nicht verglühte. Ich betrachtete es als himmlische Notwendigkeit, diese unglaubliche Leidenschaft an mich zu binden. Sie war die Quintessenz meiner Partnervorstellung! Deshalb heiratete ich sie auch. Diesen Schritt habe ich bis heute keinen einzigen Tag bereut. Ihr richtiger Name war übrigens Seda, nur nannte sie niemand so. Alle nannten sie Sally. Ihre Eltern, Jose und Erendira Valleres, stammten aus Tijuana, einer Grenzstadt nahe San Diego. In jungen Jahren wanderten sie zwecks besserer Verdienstmöglichkeiten nach Sorrento Valley aus, einem Vorort von San Diego. Jose fand einen Job als Lagerarbeiter, arbeitete sich bis zum stellvertretenden Abteilungsleiter hoch, während sich Erendira um Sally kümmerte. Ich lernte sie in den Neunzigern kennen, kurz vor dem ersten Golfkrieg. Gerade zu einer Zeit, als ich mich auf einer Selbstfindungsexpedition befand. Ich hatte das College hingeworfen und damit auch meinen Kindheitstraum, später einmal im Fernsehen Wetterfrosch zu spielen. Den Entschluss fasste ich aber nicht aus Faulheit oder irgendeiner anderen Form von Unlust. Ich war in einer depressiven Phase und kämpfte mit dem Verlust meiner Eltern. Ich werde wohl nie den Tag vergessen, als ich während des Unterrichts zum Direktor zitiert wurde, der mir schonend beizubringen versuchte, dass sie bei einem Einkaufsbummel in Westwood Village brutal überfallen und ermordet wurden. Und das wegen einem Paar Esprit-Schuhe, einer italienischen Import-Lederjacke und hundertfünfzig Dollar. Die Polizei sagte mir, dass es sich um ein paar zugedröhnte Jugendliche handelte, die schnelles Geld für ihren nächsten Trip suchten. Beschaffungskriminalität nannten sie das. Die Tat geschah mitten am Tag, während der Hochsaison. Ohne ein Wort zu sagen, stachen sie mit Taschenmessern auf Mum und Dad ein, schnappten sich die Utensilien, ließen die Opfer auf dem Bürgersteig verbluten und ergriffen die Flucht. Schon zwei Gassen weiter wurden sie von Streifenpolizisten aufgegriffen und widerstandslos verhaftet. Zurückgelassen haben sie ein paar schockierte Passanten und einen pubertierenden Teenager, der im Tränenmeer erstickte. Und das für hundertfünfzig Mäuse und ein paar mittelmäßige Klamotten.

Daraufhin fand ich Unterschlupf bei Onkel Bob und Tante Vicky. Mangels Lebensmut und einer vernünftigen Zukunftsperspektive warf ich das College hin. Es folgten drei Jahre nicht enden wollender Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid, bis mir mein Onkel den gutgemeinten Ratschlag gab, mich bei der Army zu melden. Nach reiflicher Überlegung tat ich es. Jedoch meldete ich mich nicht bei der Army, sondern bei den Navy-SEALs in Coronado. Nach der Hochzeit und den Flitterwochen zog ich mit meinen Waffenbrüdern in den Krieg. Sally wusste zwar immer, wo ich gerade war, aber nicht, was ich tat. Aus Sicherheitsgründen verschwieg ich ihr meine wahre Berufung und behauptete für den Nachschub der Army zuständig zu sein. Nach meiner Beförderung zur SEAL-Elite wurde ich nach Virginia beordert, woraufhin wir umziehen mussten. Dilan war bereits auf der Welt und Sally gefiel es dort überhaupt nicht. Sie vereinsamte, vermisste ihre Heimat und wollte wieder zurück nach Kalifornien. Also gab ich nach und verließ die Navy. Mit Hilfe meines damaligen Befehlshabers kam ich bei einem Spielzeugriesen in Santa Monica unter. Wir kauften uns ein bescheidenes Haus in der Kensington Road und Sally war wieder glücklich und zufrieden.

Ich war immer der Hauptverdiener der Familie gewesen und die meiste Zeit unterwegs. Offiziell arbeitete ich im Fernhandel der Spielzeugkette TRAVUS in der Mills Street. Mit sechzehntausend Mitarbeitern und unzähligen Zweigstellen in ganz Amerika setzte die Firma jährlich weltweit mehr als achtzig Milliarden Dollar um. Neben Spielwaren aller Art erzeugten wir noch Puppen in aufwendiger Handarbeit. Wenn man das Gewerbe nicht kannte, hatte man keine Ahnung, welchen Aufwand das darstellte. Man brauchte Drücker, Drechsler, Schnitzer, Gelenkmacher, Stopfer, Augenmacher, Puppenschuhmacher, Perückenmacher und Puppenfriseure. Dazu kamen die neuen elektrischen und feinmechanischen Errungenschaften, die beinahe gänzlich die früheren Bossierarbeiten ersetzten. Und nur die Wenigsten wussten, dass wir teilweise auch für die Rüstungsindustrie arbeiteten, insbesondere für die Bekleidung. Das rückte unsere Branche in ein ganz anderes Licht und war auch der eigentliche Grund, warum ich dort arbeitete. Aber davon hatte meine Familie auch keine Ahnung ...

Während ich gerade mein leckeres Gericht genoss, ließ ich den Blick unbewusst durch das Lokal schweifen. Dabei fiel mir ein Mann auf, der am Tresen stand und gerade den Blick von mir abwandte. Ich wusste nicht, woher ich das Gesicht kannte, aber mein Gedächtnis begann zu rattern. Die spitze Nase, der struppige Flokati-Haarschnitt, dazu der Blick und das Gehabe … all das formte sich zu einem Bild, das mir bekannt vorkam. Nur wusste ich nicht woher.

Der Mann stemmte sich gelassen vom Tresen weg und verschwand Richtung Toiletten. Ein drückendes Unwohlsein machte sich in meiner Bauchgegend breit und ließ meine Alarmglocken läuten. Ich hatte zwar ein gutes Gedächtnis, aber es war leider nicht so gut, dass ich mir jedes Gesicht merken konnte. Was aber immer funktionierte war mein Bauchgefühl. Es sagte mir augenblicklich, ob es sich um eine gute oder schlechte Bekanntschaft handelte. Und bei diesem Mann spürte ich deutlich, dass ich ihm hier niemals begegnen durfte. Dazu kam sein jetziges Verhalten, dass er mich beobachtete und dabei unauffällig wirken wollte. Er tat so, als blickte er nur zufällig zu mir. Nachdem ich ihn bemerkte, sah er schnell weg und verließ seelenruhig seinen Platz – so ruhig, dass er am liebsten gelaufen wäre. Hier war etwas faul! Und dem musste ich nachgehen. Ich legte das Besteck zur Seite und erhob mich vom Platz.

„Was ist los, Schatz?“, fragte Sally.

„Ich muss kurz auf die Toilette.“, antwortete ich und machte mich auf den Weg.

Hinter dem Tresen führte eine Doppelflügeltür in den Sanitärbereich, der im dahinterliegenden Flur lag. Rechts der Flügeltür befand sich eine Treppe zu den Gästezimmern und auf der rechten Seite lag der Eingang zur Küche. Ich betrat die Herrentoilette. Bis auf ein Pissoirbecken waren alle besetzt. Drei Männer standen vor den Waschbecken und die Kabinen waren alle, bis auf zwei, besetzt. Es war ein ungünstiger Zeitpunkt, um vor all den Notdürftigen die Türen einzutreten, um herauszufinden, ob der Typ gerade auf einem der Töpfe saß. Wenn er sich tatsächlich vor mir versteckte, dann würde er sicher noch eine zeitlang dort hocken bleiben. Da war es wichtig, den Gang im Auge zu behalten. Ich verließ die Toilette und ging zum Ende des Flurs. Auch hier kein Hinweis auf den Verbleib des Mannes, nur ein paar Gäste, die sich ein wenig umsahen. Ich ging zurück zur Treppe und begab mich in den ersten Stock. Auch hier dasselbe Bild. Eine Treppe, die in ein weiteres Stockwerk führte und dann der Flur, der um die einzelnen Gästezimmer führte. Hier war es im Gegensatz zum Erdgeschoß enorm ruhig. Kein Wunder, denn es war acht Uhr abends und die Gäste saßen im Speisesaal. Als ich gerade dabei war, die Treppe zum nächsthöheren Stockwerk zu nehmen, sah ich, wie der Mann vom Tresen gerade in ein Zimmer schlich und die Tür hinter ihm versperrt wurde. Als ich mich nähern wollte, verließ ein Zimmermädchen das benachbarte Zimmer und blickte mich fragend an. Ihr folgte ein Mann in einem dunklen Anzug, der das Schild mit der Aufschrift Bitte Zimmer reinigen vom Türknauf nahm. Vermutlich ein Hotelmanager.

„Mr. Engels?“, fragte er mich.

Ich überlegte kurz und bejahte schließlich. Ich wollte mir alle Optionen offen halten, bevor ich mich zu einer weiteren Vorgehensweise entschloss.

„Die Kaffeeflecken auf dem Teppich und der Wand wurden gesäubert.“

„Danke!“, antwortete ich freundlich. Das Zimmer grenzte direkt an jenes, in das soeben der Mann vom Tresen ging. Wenn ich schlau war … „Blöderweise habe ich den Schlüssel im Speisesaal vergessen. Könnten Sie mir ausnahmsweise die Tür für ein paar Minuten offen lassen?“, fragte ich.

„Selbstverständlich Mr. Engels!“ Dann wandte er sich an das Zimmermädchen. „Hast du verstanden, Bibi?“

„Ja.“, murmelte die etwas mollige Südländerin mit der weißen Schürze. „Ich gieße noch schnell die Blumen und lasse dann offen.“

„Später, bitte!“, mischte ich mich ein. „Ich muss nur kurz etwas holen und dann können Sie die Blumen gießen.“

„Aber der Putzkarren steht noch im Zimmer.“

„Kein Problem, er stört mich nicht. Ich brauche nur ein paar Minuten!“

„Kein Grund zur Eile!“, sagte der Mann im Anzug. „Bibi, du kannst zwischenzeitig Tracy mit Zimmer Zweiundzwanzig helfen!“

Schnell huschte ich mit einem freundlichem Lächeln an ihnen vorbei ins Zimmer. Links standen große dunkle Holzkleiderkästen, danach folgte die Tür zum Badezimmer und auf der anderen Seite befand sich die Toilette. Anschließend gelangte ich in einen großen Wohnraum, wo links hinter der Mauer ein Doppelbett stand und rechts gegenüber eine bequeme Wohnzimmernische mit einem kleinem Tisch, Sesseln und einem Flachbildfernseher. Dahinter war die Wand, die ans Nachbarzimmer grenzte. Ich lehnte mein Ohr an diese, um vielleicht etwas von nebenan mitzubekommen. Die Wand war zum Glück nicht dick und ich konnte tatsächlich jemanden sprechen hören. Leider verstand ich kein Wort. Ich musste einen Weg finden, um mithören zu können. Wenn man sich in einem geschlossenem Raum unterhielt, selbst wenn man dies leise tat, breitete sich das Gesagte in Form von Schallwellen im ganzen Raum aus und brachte Wände sowie Glasfenster zum Vibrieren. Das nannte sich Festkörperschwingung. Ich musste ein Hilfsmittel finden, um diese Spannungsimpulse zu verstärken. Am besten eignete sich dafür ein hundsordinäres Wasserglas. Also schaute ich mich um. Auf dem Tisch standen viele Utensilien - Aschenbecher, Zigarettenpackung, Feuerzeug, Zuckerdose und eine Thermoskanne. Neben der vorderen Mauerkante stand der Putzkarren von Bibi mit jeder Menge Putzmitteln, Handtücher, Kübeln, Besen, Putztücher und einem Set zur Pflanzenpflege. Ich eilte ins Badezimmer und hatte Glück. Statt der üblichen Zahnputzbecher aus Plastik standen hier welche aus Glas. Ich schnappte mir eines und lief zurück. Ich drückte das Glas an die Wand und mein Ohr gegen den Glasboden.

„... bin mir sicher!“, sagte eine Männerstimme.

„Na gut!“, antwortete eine andere Stimme, die sich von der ersten durch eine tiefere Tonlage unterschied.

„Wo hast du ihn?“, fragte die erste Stimme.

„Hier!“

Dann wurde es kurz leise und ich konnte nur ein undeutliches Murmeln verstehen.

„ … falls Enbi die Explosion überlebt, werden sie ihn mit Blei vollpumpen!“, sagte wieder die erste Stimme.

„Wahrscheinlich wird es auch Kollateralschäden geben.“, sagte die zweite Stimme. „Aber je mehr dabei umkommen, umso besser für uns. Die Polizei wird länger damit beschäftigt sein, wem der Anschlag gegolten hat.“

„Wann soll ich sie hochjagen?“

„In drei Minuten!“

„So früh?“

„Er hat dich am Tresen gesehen. Du weißt, dass er einen guten Riecher hat und wozu er imstande ist!“

„Aber sie haben das Essen erst vor ein paar Minuten bekommen! Sie werden jetzt nicht aufstehen und abhauen! Falls doch, werden Joe, Will und Tony dafür sorgen, dass sie nicht weit kommen!“

„Nein! Kein Risiko! Ich kenne Enbi! Drei Minuten, verstanden? In genau drei Minuten jagst du sie hoch!“

„Drei Minuten, okay!“

Ich hörte Schritte und dann, wie jemand die Tür auf und zu machte. Schnell begab ich mich zurück zur Eingangstür und blickte durch den Türspion. Ich sah den Mann vom Tresen, wie er gerade die Treppe nach unten ging und dabei einen kleinen Schalter mit ausziehbarer Antenne in der dunkelbraunen Jackentasche verschwinden ließ.

Verdammt! Meine Befürchtungen bestätigten sich! Die Typen meinten mich! Enbi war mein Deckname! Die beiden wussten, wer ich war. Sie hatten mich hier am Pier gefunden und heckten den Plan aus, meine Familie und mich zu töten. Aus dem letzten Teil des Gesprächs konnte ich schließen, dass sie eine Bombe unter unserem Tisch platzierten und mit drei Männern die Ausgänge sicherten. Ich hatte keine Zeit mir Gedanken darüber zu machen, wer diese Typen waren! Ich musste mir Gedanken machen, wie ich Sally und Dilan retten konnte.

Ich atmete kräftig durch und bereitete mich geistig und mental auf einen Einsatz vor. Das Vergnügen war vorbei! Ich sammelte mich, dann stellte ich die Zeitstopp-Funktion meiner Armbanduhr auf zwei Minuten und fünfzig Sekunden. Zwei Minuten und fünfzig Sekunden verblieben mir jetzt, meine Familie und mich aus dem Gefahrenbereich zu schaffen. Das Problem war, dass ich nicht einfach zurückspazieren konnte, um Sally in zwei kurzen Sätzen zu erklären, dass mein gottverdammtes Leben eine Lüge war und sie sich in Gefahr befanden. Die beiden würden mir kein Wort glauben, egal wie ich es ihnen zu erklären versuchte. Sie würden mir die Wahrheit nicht einmal ansatzweise abkaufen. Schon gar nicht in drei Minuten!

Zwei Minuten und dreißig Sekunden.

Langsam sollte mir etwas einfallen! Das Problem war, dass der Mann vom Tresen bereits weg war und die Zeit zu knapp, ihn erneut zu suchen. Ich musste unbedingt zum Tisch zurück, bevor die Kerle vor dem Hotel misstrauisch wurden. Würde ich nicht zurückkehren, wüssten sie, dass ich von ihrem Vorhaben erfahren hatte und würden meine Familie gleich töten. Kehrte ich zurück, wären meine Familie und ich tot. Es gab kein Entrinnen! Auch konnte ich Sally und Dilan nicht einfach schnappen und die Lokalität verlassen. Dadurch, dass sie alle Ausgänge sicherten und ich unbewaffnet war, blieb mir keine Wahl, als wieder zum Tisch zurückzukehren und wenn möglich ... Verdammt, mir musste etwas anderes einfallen!

Ich stellte das Glas auf dem Putzkarren ab und blickte mich um. Ich fand aber nichts, das mir behilflich war.

Noch eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden.

Ich verließ das Zimmer. Dabei zog ich Bibi's Generalschlüssel ab, der noch im Türschloss steckte, und verstaute ihn in der Hosentasche. Wenn nicht alles schiefging, blieb mir zumindest eine Fluchtmöglichkeit. Aber soweit musste ich es vorerst einmal schaffen. Ich überlegte wieder. Der Funkschalter war klein, viel kleiner als ein Walkie Talkie, und hatte Kippschalterfunktion, mit der die Zündung per Funk ausgelöst wurde. Das bedeutete, dass die Bombe unter dem Tisch den dazu nötigen Empfänger besaß. Vielleicht kam ich da irgendwie heran, um die Verbindung zu unterbrechen? Aber dazu müsste ich mich bücken und die Typen hätten es bemerkt. Dann würden sie sofort zünden! Nein, das war viel zu auffällig. Aber selbst wenn ich es unbemerkt bewerkstelligen könnte, was würde es mir nützen? Ließe sich die Bombe nach Ablauf der Frist nicht fernzünden, verschafft mir das maximal ein Zeitfenster von einer weiteren Minute, bevor die Männer das Hotel stürmten und mich und meine Familie erledigten. Verflucht! Ich bekam den Kopf nicht frei und konnte den sintflutartigen Adrenalinschub nicht stoppen, der mich momentan durchströmte. Ich blickte nach links und rechts, in der Hoffnung, dass ich etwas entdecken würde … sinnlos, da war nichts!

Eine Minute und dreißig Sekunden.

Ich ging zurück ins Erdgeschoß. Nach dem Passieren der Doppelflügeltür stand ich wieder im Speisesaal. Ich blickte kurz über die Tische, den Tresen und zu den Leuten. Dann blickte ich zu den Fenstern, aber das reflektierende Licht an den Glasscheiben verdunkelte mir die Sicht nach draußen. Auch von dem Mann mit dem Funkschalter war nichts mehr zu sehen. Er hatte sich bestimmt irgendwo verkrochen, um nicht von der Detonation getroffen zu werden.

Ich ging weiter. Sally und Dilan aßen seelenruhig vor dem Tisch und hatten keinen blassen Schimmer, was sich im Moment abspielte.

Einerseits sagte mir eine Stimme, dass ich nicht weitergehen soll und andererseits eine andere, dass ich es tun musste. Obwohl sich mein Verstand noch nicht entschieden hatte und mir unaufhörlich Warte noch! durch die Gedanken trommelte, bewegten sich meine Beine von selbst. Ich bog um den Tresen. Die Zielgerade! Es trennten mich nur mehr wenige Meter von der Bombe. Ein Blick auf die Uhr.

Achtundvierzig Sekunden.

Verdammt, wo war die Zeit hingekommen? Ich ging knapp am Kinderwagen vorbei. Da fiel mir ein Gurt auf, der über dem Schieber hing. Aus den Gurttaschen schaute die Antenne eines Babyfons. Ich blieb stehen. Als Dilan noch ein Baby war, besaßen wir auch so ein Teil. Ich erinnerte mich, dass diese Dinger gerne die Frequenzen anderer Geräte störten – besonders Funkwellen! Das wars! Vielleicht gewann ich bloß eine Minute damit, aber besser als in dreißig Sekunden tot zu sein. Ich platzierte mich vor dem Kinderwagen und beugte meinen Oberkörper zu der Familie.

„Entschuldigen Sie bitte!“, sagte ich und kramte unauffällig nach dem Gurt. Damit es von hinten niemand sehen konnte, platzierte ich mich geschickt davor.

„Ja?“, fragte der etwa fünfundzwanzigjährige Mann.

„Ihr Kinderwagen steht sehr ungünstig. Soll ich ihn vor das Hotel stellen?“

Der Mann sah mich erbost an. „Nein, er bleibt wo er ist!“

„Schon gut, war nur ein Vorschlag!“ Mittlerweile hatte ich den Empfänger aus der oberen Gurttasche gezogen und heimlich in meine Hosentasche verschwinden lassen. „Wenn sich einer der Kellner die Beine bricht, ist das Ihre Schuld!“

„Meinetwegen! Jetzt lassen Sie uns in Ruhe!“, antwortete der Mann genervt und wandte sich von mir ab, während mich seine Frau mit einem tödlichen Blick in Stücke riss.

Ich beugte mich weiter nach vorne, griff nach der Funkstation und aktivierte sie. „Ich wollte nur freundlich sein.“, sagte ich abschließend.

Bevor ich mich umdrehte, warf ich noch einen kurzen Blick auf den Gurt und sah das Leuchten des Kontrolllämpchens an der Station. Dann folgte ein weiterer Blick auf die Uhr.

Acht … sieben … Schnell aktivierte ich den Empfänger in der Hosentasche und begab mich zurück zum Tisch.

„Was ist los?“, fragte Sally.

„Nichts.“, entgegnete ich angespannt ruhig.

„Kennst du die Familie?“

„Nein.“

„Was wolltest du von dem Mann?“

„Den Kinderwagen zur Seite schieben.“

Mein Herz pumpte wie ein Presslufthammer. Jeder Muskel und jede Faser meines Körpers zog sich zusammen, um sich auf den bevorstehenden tödlichen Schlag vorzubereiten. Ich hatte keine Ahnung, ob die Funkwellen des Babyfons reichten, um den Kanal des Auslösers zu stören. Ich konnte es nur hoffen.

Ich blickte zu Sally und Dilan. Würden wir alle in den nächsten Sekunden von der Wucht der Detonation zerfetzt werden?

Sally blickte wieder zu mir hoch. „Isst du nicht weiter?“

Dann blickte mich auch Dilan an. „Du siehst blass aus, Dad. Sagte ich nicht, dass dir das viele Jod nicht gut bekommt?“, grinste sie unverschämt.

Ich saß nur da und wartete auf den Schlag. Den brachialen lauten Knall, der uns alle innerhalb einer Sekunde in Stücke riss. Ich war so angespannt, dass die Unterarmmuskeln derart zu schmerzen begannen, als ob ich gerade Dreißig-Kilo-Hanteln gestemmt hätte. Aber je länger ich wartete, umso mehr Zeit verstrich. Ich blickte wieder auf die Uhr. Unser Tod war exakt eine halbe Minute überfällig! Der Mann vom Tresen musste den Zündschalter längst gedrückt haben.

„Danny?“, fragte Sally wieder.

Es hatte den Anschein, dass ich unser Leben für eine weitere Minute verlängerte. Natürlich konnte ich falsch liegen und die Bombe jeden Moment explodieren, aber trotzdem durfte ich nicht warten. So lange sie nicht explodierte, musste ich handeln. Also stellte ich die Stoppfunktion erneut - dieses Mal auf exakt eine Minute. Bis dahin muss ich meine Familie aus der Schusslinie bringen! Und das, wenn möglich, so unauffällig wie möglich!

„Was ist das für ein Rauschen?“, fragte Dilan.

Scheiße, der Empfänger in der Hose! Ich hantierte blind nach dem Lautstärkenregler und rollte ihn schnell nach unten.

Dilan blickte auf meinen Schoß. „Was hast du da eingesteckt? Du hast es gerade leiser gedreht, oder?“

„Mir ist schlecht! Ich glaube, dass du recht hattest. Der Fisch ... das Jod ...“, entgegnete ich.

„Dad, was hast du in deiner Hosentasche?“, fragte sie misstrauisch.

„Das Handy.“, antwortete ich rasch, ohne nachzudenken. Daraufhin fiel ihr Blick sofort zu dem Weinglas, das unglücklicherweise links von meinem Handy stand. Auch Sally sah mich ganz verdattert an. Beide wussten, dass ich log, aber sie saßen nur da und starrten mich an. Aber es kam noch schlimmer. Auch der junge Vater von nebenan blickte gerade abwechselnd zu mir und zum Kinderwagen.

Die ganze Situation lief aus dem Ruder. Bevor Dilan weitersprechen konnte, beugte ich mich nach vorne und tat so, als wollte ich mit der Hand in die Hosentasche greifen und dabei unvorsichtigerweise das Weinglas umstieß. Der Inhalt bespritzte ihr schwarzes Bench-Top, woraufhin sie wie ein aufgescheuchtes Huhn vom Sessel sprang. „Dad! Verflucht! Pass doch auf!“

„Danny!“, rief Sally empört.

Mittlerweile zog ich mehrere Blicke auf mich, was überhaupt nicht gut war. Der junge Vater stand auf und inspizierte den Kinderwagen.

Ich blickte zu Dilan. „Komm, ich mache es sauber!“

„Nein! Fass mich nicht an!“, zischte Dilan. „Mum wird es tun!“

„Komm mit!“, seufzte Sally und warf mir einen bösen Blick zu. „Ich mache es sauber!“

Die beiden standen auf und gingen Richtung Toilette. Dabei streiften sie den jungen Mann, der wild am Gürtel des Kinderwagens kramte. Ich zog den Empfänger aus der Hosentasche, deponierte ihn unauffällig neben meinem Teller, verhüllte ihn mit der Serviette, schnappte mein Handy und folgte den beiden.

„Halt!“, sagte der junge Mann und hielt mich am Arm fest. „Der Funk für das Babyfon fehlt! Haben Sie ihn etwa gestohlen?“

„Nein!“, antwortete ich und riss mich von seiner Hand los.

„Er war vorhin noch da! Und jetzt ist er weg!“, erklärte er. „Ihre Tochter sagte vorhin, dass etwas in Ihrer Hosentasche rauscht! Und die Station ist eigenartigerweise aufgedreht! Zufall?“

„Ja!“, antwortete ich schnippisch und demonstrierte ihm die leeren Hosentaschen. Ich ignorierte ihn und ging weiter. Hinter meinem Rücken hörte ich, wie seine Frau sagte: „Geh ihm nach! Er lügt!“

Ich ging schneller. Nachdem ich die Doppelflügeltür passierte, sah ich Sally, wie sie gerade die Damentoilette betreten wollte. „Sally!“, brüllte ich. „Warte!“

Sie drehte sich um. „Gleich!“

„Nein!“ Ich lief zu ihr, packte sie am Arm und hielt sie fest. Dilan, die sich gerade über das Waschbecken beugte, verstand die Welt nicht mehr.

„Ihr kommt auf der Stelle mit!“, herrschte ich sie an.

„Nein, Dad!“, schrie Dilan außer sich vor Wut. „Mit dem verdreckten Shirt gehe ich nirgendwo hin!“

„Was zum Teufel ist mit dir los?“, brüllte mich auch Sally an und machte erneut Leute auf uns aufmerksam. Obwohl ich es schaffte, meine Familie vom Esstisch wegzubringen, war die Art und Weise viel zu auffällig gewesen. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis die Typen vor den Ausgängen hier auftauchten.

Ein kurzer Blick auf die Uhr. Die Zeit war längst abgelaufen!

„He, Wichser!“, brüllte der junge Mann von vorhin und hielt mir den Empfänger unter die Nase. „Wieso haben Sie unser Babyfon gestohlen und den Funk unter Ihrer Serviette versteckt?“

Ich wich seinem strengen Blick aus und schaute durch die kleinen Glasfenstern der Doppelflügeltür, um mich zu vergewissern, dass der Killertrupp noch nicht zu sehen war. Dann schlug ich dem zornigen Vater den Empfänger aus der Hand. Ich wollte verhindern, dass er auf die dumme Idee kam, ihn abzuschalten. Damit hatte er nicht gerechnet und blickte mich irritiert an. Das war die Gelegenheit, um meiner Familie den Ernst der Lage zu demonstrieren. Blitzschnell drehte ich mich hinter den Mann und nahm ihn in den Würgegriff. Dabei wandte ich eine spezielle Technik an. Ich verschränkte Ober- und Unterarm in einen bestimmten Winkel um seinen Hals, um die Schlagadern zuzudrücken. Mit dem anderen Arm fixierte ich seinen Nacken, damit er sich nicht befreien konnte. Der Mann begann sich zu wehren, weil er das Gefühl bekam, gewürgt zu werden. Aber das tat ich nicht! Er schnappte panisch nach meinen Armen und versuchte sie wegzudrücken, aber ich hatte den Griff so gut angesetzt, dass er keine Chance hatte. Sally erstarrte vor Schreck. Ebenso Dilan. Sie konnten nicht glauben, was ich soeben tat.

„Ruhig bleiben!“, flüsterte ich dem Mann zu. „Nicht wehren! Ihnen passiert nichts!“

Ich drückte fester zu. Er röchelte und mit letzter Kraft stieß er mir ein paarmal den Ellbogen in die Seite. Ich schluckte den Schmerz. Als letzten Ausweg versuchte er an meinen Haaren zu ziehen. Ich vereitelte es, indem ich ihn weiter nach vorne drückte. Währenddessen behielt ich vorrangig die Fenster der Flügeltür im Auge.

„Um Gotteswillen!“, brüllte Sally. „Bist du völlig verrückt geworden? Lass den Mann los!“

Dann klappte er ohnmächtig zusammen und ich bettete ihn zu Boden. Nach etwa einer Minute sollte er wieder aufwachen. Außer fürchterlichen Kopfschmerzen wird er keine Schäden davon tragen.

Ich packte Sally und Dilan und zerrte sie von der Toilette weg. „Ihr kommt jetzt mit!“, fletschte ich aggressiv die Zähne. Es ging alles so schnell, dass sie nicht wussten, wie sie reagieren sollten. So entsetzt hatte ich die beiden noch nie erlebt. Im Moment der Verwirrung schleppte ich sie zur Treppe. Zwischenzeitig liefen zwei Männer und eine Frau zu dem Ohnmächtigen. Ein Typ zückte sein Handy und versuchte ein Foto von mir zu schießen, während ein anderer zu telefonieren begann.

Oben im ersten Stock erblickte ich Bibi, die gerade ihren Schlüssel suchte. Sie sah mich, erschrak und trat ein Stück zur Seite. Ich floh mit Sally und Dilan in das Zimmer und versperrte es.

„Danny, was machst du? Bringst du uns jetzt alle um?“, fragte Sally verängstigt. Dilan begann zu weinen und wirkte völlig überfordert. Bevor ich antwortete, musste ich erstmal meine Gedanken ordnen.

„Die rufen jetzt die Polizei!“, schrie Sally verzweifelt. „Sie werden dich verhaften! Du hast den Mann getötet! Danny, warum hast du das getan? Was ist in dich gefahren?“

Ich ignorierte sie und begann zu planen: Zimmer sichern! Fluchtweg suchen!

Ich lief in die Wohnzimmernische, holte den Tisch, rannte damit zurück zur Tür und verkeilte ihn unter dem Türknauf. Dann eilte ich zum Fenster, das sich auf der westlichen Stegseite befand. Ungefähr fünf Meter unter uns schäumte das Meer. Sehr gut! Wir mussten ins Wasser! Ich nahm einen Holzsessel und schlug die Scheibe ein. Ich traf so gezielt, dass der dünne Holzrahmen zerbrach und mit dem Großteil der Scheiben nach draußen fiel.

Plötzlich hörte ich feste Tritte gegen die Tür. Das Schloss und der Türkörper knarrten. Scheiße! Der Killertrupp! Dann knallte es! Projektile bohrten fingernagelgroße Löcher durch die Tür und flogen quer durch das ganze Zimmer. Sally kreischte laut auf und Dilan stolperte ins Badezimmer.

„Weg da!“, brüllte ich und warf mich auf den Boden. Dilan hockte neben dem Badezimmereingang und Sally stand mitten in der Schussbahn. Sie bewegte sich keinen Schritt … und die Kugeln jagten links und rechts an ihr vorbei. Ich brüllte sie an, aber sie reagierte nicht. Dann folgten Schläge gegen ihren Körper. Sie stolperte nach vorne und fiel auf die Knie. Oh Gott, nein! Ich robbte unter dem Kugelhagel zu ihr, zog sie zu Boden und schleifte sie hinter den Putzkarren.

Nach ein paar Sekunden kehrte Stille ein. Sie luden nach.

„Dilan, zu mir!“, schrie ich. „Schnell!“

Ein kurzer Blick zur Tür. Sie hatten mindestens dreißig Löcher in die Tür geballert und traten wieder heftig dagegen.

„Verdammt! Dilan! Komm jetzt!“, schrie ich. Sie zögerte. Sie hatte zu viel Angst, um mir in dieser Situation zu vertrauen. Ich musste auf die Verfolger reagieren, sonst bekamen wir kein Zeitfenster, um uns nach draußen zu retten! Ich blickte mich um. Ein Bett, Nachttischkästen, Lampen und Holzsessel.

„Wurde ich angeschossen?“, fragte Sally und betrachtete vorsichtig das Loch in der Bluse. „Ich blute!“

Ich krabbelte zu Bibi's Putzkarren und holte ein Tuch. „Drück es fest auf die Wunde!“

„Werde ich jetzt sterben?“

„Nein!“

„Aber … was, wenn ...“, stotterte sie verängstigt.

Sie schlugen immer fester gegen die Tür und die harten Tritte rissen einen tiefen Spalt in den Türkörper. Mir blieben nur mehr wenige Sekunden, um Dilan zu holen! Aber wenn ich jetzt los stürmte, würde ich es nicht mehr schaffen. Ich blickte mich schnell um. Neben dem Vorzimmerkasten hing ein Feuerlöscher ...

„Du stirbst nicht, Schatz! Warte hier! Ich hole Dilan!“ Sofort sprang ich hoch und schnappte ihn mir. In dem Moment brach ein Teil der Tür aus und ein riesiges Loch klaffte neben dem Schloss. Zum Glück hielt der Tisch noch stand und verhinderte ein vorzeitiges Durchbrechen. Ich sah einen dunkelhäutigen Mann mit Vollbart, der nur kurz hindurchschielte und dann seine Maschinenpistole durch das Loch schob. Währenddessen hatte ich den Sicherungsstift gezogen und kräftig auf den roten Knopf geschlagen, um den Löscher unter Druck zu setzen. Ich klemmte die Flasche unter meine linke Achsel, zielte mit dem trichterförmigen Ende des Schlauchs auf das Loch, lief los und drückte ab. Der Pulverschaum traf den Typen mit voller Wucht, sodass er die Waffe fallen ließ und nach hinten stolperte. Bevor ich mich zu Dilan ins Badezimmer begab, sprühte ich das Loch von allen Winkeln aus, um auch die anderen zu treffen. „Dilan!“, brüllte ich. „Komm!“ Sie reagierte nicht! Während ich wild weitersprühte, trat ich ein paar Schritte zurück, nahm den Schlauch in die andere Hand und zog Dilan mit der rechten vom Boden hoch. „Du musst weg da!“, keuchte ich hektisch und rannte mit ihr los. Sie zitterte und blickte mich verwirrt an, bevor ich sie hinter die Wohnzimmernische schubste. Währenddessen fielen auch vereinzelt Schüsse, aber nur vier durchschlugen die Tür und trafen den Kleiderschrank und die Wand. Kurz darauf war der Feuerlöscher leer. Scheiße! Dann heftiges Dauerfeuer und tobende Schreie von den Schützen. Wieder fetzten die Projektile quer durch das Zimmer und schlugen überall ein.

Trotz der aussichtslosen Lage musste ich mich jetzt konzentrieren und versuchen die Nerven zu behalten. Das Ziel war noch immer das Fenster! Ich musste eine neuerliche Ablenkung finden! Am besten eignete sich dafür ein Sprengsatz. Ein einfacher Sprengsatz! Fluchtartig ging ich schnell alles durch, was ich dafür in Frage käme - Aschenbecher, Zigaretten, Feuerzeug. Halt! Das Feuerzeug! Gabs einen Gasherd im Zimmer? Nein, wozu auch? Aber die Gäste, die das Zimmer bewohnten, hatten höchstwahrscheinlich einen privaten Gaskocher im Gepäck. Das erklärte die Thermoskanne, mit der Kaffee gekocht wurde! Mit einer Gaskartusche und dem Feuerzeug könnte ich etwas bewerkstelligen!

Die Schützen stellten das Feuer ein und hämmerten wieder gegen die Tür. Das Holz knarrte, der Türkörper brach weiter aus. Ich hörte wie die Teile auf den Boden fielen. Das Loch war jetzt so groß, dass sie den Tisch entfernen konnten. Oh Gott! Die Suche nach einer Gaskartusche war viel zu aufwendig. Dazu fehlte mir die Zeit! Mir musste etwas anderes einfallen! … Der Putzkarren … Pflanzenschutzmittel! Ich eilte nach hinten und fand Thorox Schädlingsbekämpfungsmittel, Thorox Insektizid, Thorox Aus für Blattläuse, Thorox Evergreen und Thorox Unkrautvernichter. Für eine kleine selbstzündende Bombe brauchte man zwei Komponenten: Ein Oxidationsmittel und etwas, das damit oxidierte. Unkrautvernichter enthielt Chlorat. Chlorat war ein Oxidationsmittel. Ich blickte nach hinten. Die Zuckerdose! Tja, und Zucker war der optimale Mischstoff! Jetzt noch ein Behälter … die Thermoskanne!

„Dilan! Du wartest hier bei Mum!“, sagte ich und warf einen kurzen Blick zum Eingang. Ein gutes Drittel der Tür fehlte! Der dunkelhäutige Kerl war dabei, hindurch zu steigen. Er feuerte. Kleine Mauerteile schmetterten an mir vorbei. Ich rutschte nach unten und warf den Feuerlöscher nach ihm. Klong! Erwischt! Er stürzte wieder zurück. „Du Hurensohn!“, brüllte er. „Schießt! Er ist hinter der Mauer!“

Wieder schmetterten die Projektile durch das Zimmer und klopften den Putz von der Mauer. Rasch suchte ich die Utensilien zusammen. Zuerst ließ ich das Feuerzeug in der Hosentasche verschwinden und hob die Thermoskanne auf - Edelstahl, eine sogenannte Bodum Travel Flask-Kanne. Perfekt! Ich schraubte den Deckel ab und kippte den Inhalt auf den Teppichboden. Das wird Bibi gar nicht gefallen. Jetzt noch die Zuckerdose und nichts wie zurück zum Putzkarren.

„Zielt besser!“, brüllte der Typ. „Ich gehe wieder rein! Gebt mir Feuerschutz!“

„Ist er bewaffnet?“, fragte ein anderer.

„Nein, sonst hätte er längst zurückgeschossen!“

„Dilan!“, brüllte ich. „Nimm alles, was du finden kannst und wirf es gegen die Tür!“

„Was?“ In Anbetracht der Situation war sie völlig überfordert damit.

Ich packte den Sessel und schleuderte ihn Richtung Eingang. „Und jetzt du! Nimm alles, was dir in die Finger kommt! Schnell!“

Während sie sämtliche Ziergegenstände Richtung Tür warf, kramte ich nach dem Unkrautvernichter und füllte den Behälter etwa bis zur Hälfte an. Dann öffnete ich die Zuckerdose und leerte den gesamten Inhalt dazu. Jetzt noch den Deckel drauf, zudrehen und fertig.

„Ihr springt aus dem Fenster, wenn ich es sage, verstanden?“, befahl ich.

„Wohin?“, fragte Dilan.

„Ins Wasser!“ Ich packte die beiden an den Händen. „Es wird jetzt mächtig knallen! Ihr rennt los, sobald es knallt! Keine Sekunde früher und keine Sekunde später! Ihr zögert nicht!“ Ich versuchte es in ihre Köpfe zu bläuen!

„Ich wurde angeschossen! Ich blute! Ich werde sterben!“, protestierte Sally. Sie nahm die Hand von der Hüfte und zeigte mir die Wunde.

„Um Gotteswillen, Mum!“, erschrak Dilan.

„Blödsinn!“, antwortete ich. „Das ist nur eine Fleischwunde!“

„Aber ich ...“

„Nein, Schatz!“, unterbrach ich sie. „Keine Zeit zu sterben! Ihr macht was ich sage!“

Das hatte richtig gesessen. Ich konnte es von ihrem Gesicht ablesen.

„Drin!“, hörte ich den dunkelhäutigen Mann sagen. „Ich nehme sie jetzt vom Badezimmer aus in Beschuss! Währenddessen steigt ihr auch hindurch und dann machen wir sie fertig!“

Schnell schüttelte ich die Thermoskanne und rollte sie den Boden entlang Richtung Eingang. Ich wusste, dass ich die Reaktionsmittel relativ riskant mischte und der Unkrautvernichter aufgrund der vielen Zusatzchemikalien extrem instabil war. Ich konnte von Glück reden, dass das Zeug nicht in meinen Händen hochging. Durch das Schütteln und dem dadurch entstehenden Druck im Inneren des luftverschlossenen Behälters beschleunigte ich die Reaktionen der Substanzen zusätzlich. Das Edelstahl bot dazu genug Stabilität, damit sich der Druck noch größer staute, bevor er explodierte.

„Scheiße! In Deckung!“, brüllte der Mann. Der Behälter hatte noch nicht die Eingangstür erreicht, als er unter einem ohrenbetäubenden Knall detonierte und die Kannenteile als tödliche Splittermunition verschoss. Der Druck war so gewaltig, dass ich schon glaubte, eine Handgranate wäre explodiert. „Jetzt!“, brüllte ich. Sally und Dilan hasteten zum Fenster und beugten sich hinaus ... aber zögerten. Das überraschte mich nicht, weil ich bereits ahnte, dass ihnen die nötige Überwindung fehlte. So zog ich Sally am Hosenbund hoch und drückte sie nach draußen. Sie kreischte, verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Dann machte ich dasselbe mit Dilan, die laut Warte, Dad, warte! rief. Ich wartete nicht! Während sie sich schaufelnd an das Fensterbrett klammern wollte, hörte ich Sally bereits ins Wasser platschen.

Ich sprang hinterher und landete knapp neben Dilan im Wasser. Es ging alles sehr schnell und weil ich vorher nicht wusste, wie tief das Wasser war, überraschte es mich nicht, dass ich relativ rasch Grund unter den Füßen spürte und ziemlich unsanft auf dem Hintern landete. Immerhin befanden wir uns nur wenige Meter vom Strand entfernt. Aber zum Glück war es tief genug, dass ich mir keine Verletzungen zuzog.

„Habt ihr euch verletzt?“, fragte ich die beiden, nachdem ich ihre Köpfe wie Korken neben mir treiben sah.

„Scheiße!“, brüllte Dilan fröstelnd. „Scheiße!“

„Bei dir auch alles okay?“, fragte ich Sally.

„Die … Wunde … Gott … Die Schmerzen!“

„Halte durch! Unter den Steg, schnell! Und seid leise!“, sagte ich, packte die beiden und zog sie mit.

„Dad, mein Bein!“, jammerte Dilan, als sie wieder Boden unter den Füßen hatte. Sie biss die Zähne zusammen. „Es schmerzt!“

„Zieh die Schuhe aus!“, befahl ich.

„Und wohin damit?“ Sie hielt mir die High-Heels-Sandaletten vors Gesicht. Wortlos entriss ich ihr das Paar und warf es in die See hinaus.

„Bist du verrückt?“, rief sie verdattert. „Die haben fast zweihundert Dollar gekostet!“

„Weiter jetzt!“ Ich packte beide und watete mit ihnen zwischen die glitschig vermoosten Stützen hindurch. Hier war es extrem dunkel und die schäumenden Wogen trieben uns weiter ans Ufer. Viel Platz hatten wir dort nicht, weil die Konstruktion bereits in den Strand mündete. Wir konnten uns nur gebückt fortbewegen, während die Wellen hindurch peitschten und uns ständig zu Fall brachten.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte Sally verzweifelt. „Wer waren diese Leute? Wer hat auf uns geschossen?“

„Später! Kommt einfach mit!“

Als wir schon fast auf der anderen Seite waren, blieb ich stehen. Von oberhalb hörte ich lautes Gekreische und konnte auf dem Sandstrand das rotierende Flackern von Blaulicht erkennen. Die Polizei war bereits vorort. Aufgrund der Schießerei und der Explosion werden auch bald SWAT-Einheiten eintreffen. Aber vorerst wird die Polizei das Lotario abriegeln und sich über den Tathergang informieren. Das war die Gelegenheit, unseren Vorsprung weiter auszubauen. Aber wohin? Ich wusste nur, dass wir hier unmöglich bleiben konnten! Weder die Killer, noch die Polizei durfte uns entdecken. Die Gefahr war noch nicht gebannt! Würde uns die Polizei festhalten, wurden wir wieder zum Ziel der Killer, bevor wir den Cops den tatsächlichen Hergang erklären konnten. Ich war auf mich gestellt! Und meine Familie auch – nur wussten sie es nicht! Ich musste alles unternehmen, um von hier wegzukommen. Solange wir nicht sicher waren und die Killer wussten, wo wir uns aufhielten, befanden wir uns in Lebensgefahr. Ich musste ein weiteres Zusammentreffen mit allen Mitteln verhindern. Dadurch, dass meine Unkrautbombe die Killer verwirrte, wussten sie zwar momentan nicht, wohin wir flüchteten, aber ich war davon überzeugt, dass sie genau in diesem Moment vor hatten, das Wasser und die Strände abzusuchen. Unser Vorteil war, dass die Schießerei Unruhe stiftete und gerade eine große Menschenmenge panisch versuchte, das Pier zu verlassen. Das verschaffte uns die Gelegenheit, im Schutze des Tumults unterzutauchen! Also war ich wieder gefordert, alles zu unternehmen, diesen Tumult zu unserem Vorteil zu nutzen.

Ich blickte mich um. Da waren der Sandstrand, Liegeplätze, zusammengeklappte Sonnenschirme, eine Eis-Diele, ein Hot-Dog-Stand und eine Surfschule, die bereits allesamt geschlossen waren. Wenn wir den Strand verlassen wollten, mussten wir uns einen fahrbaren Untersatz besorgen. Das dafür notwendige Equipment würde ich nur in der Surfschule finden.

Ich sah, dass viele Passanten Richtung Innenstadt flüchteten. Die Polizei war vorrangig mit dem Hotel beschäftigt! Unsere Chance!

„Sally! Dilan! Hier entlang!“, rief ich und packte sie an den Händen.

„Wo willst du mit uns hin?“, fragte Sally.

„Zur Surfschule! Wir laufen!“

„Ich kann nicht laufen!“, protestierte Dilan. „Ich glaube, dass ich mir den Knöchel gebrochen habe.“

„Du musst laufen!“, herrschte ich sie an.

„Nein, ich kann ...“

„Dilan!“, unterbrach ich sie. „Unser Leben steht auf dem Spiel! Du wirst laufen! Und selbst wenn du dir beide Beine gebrochen hättest, wirst du laufen, verstanden?“

„Das Wasser ...“, stöhnte Sally. „Mein ganzer Körper brennt. Mein Kopf schmerzt so furchtbar!“

„Ihr werdet beide durchhalten! Und jetzt los!“, forderte ich sie energisch auf.

Sally strich sich erneut über die blutende Hüfte. Ich konnte ihr ansehen, dass ihr das Laufen schwer fiel, aber es gab keine Alternativen! Momentan stand ihr Körper noch unter Adrenalin und unterdrückte die Schmerzen großteils. Dass sie mit Wasser in Berührung kam, war einerseits gut, weil die Wunde ausgespült wurde, die Hautporen sich zusammenzogen und die Blutung etwas stoppte. Andererseits war es aber schlecht, weil die Verunreinigungen böse Entzündungen hervorrufen konnten. Bestimmt verspürte sie ein brennendes Ziehen im Wundkanal, das sie im Moment verzweifeln ließ. Wir konnten aber nicht hierbleiben und ihre Schmerzen bedauern! Wir mussten uns bewegen, solange sich ihr Körper im Ausnahmezustand befand.

Ich lief los und zog die beiden mit. Dilan humpelte und Sally keuchte. Ungefähr auf Höhe des Geländers, also ein paar Meter vom Ende des Piers entfernt, blieb ich stehen. Die Leute, die oben umherirrten, bemerkten uns nicht. Ich umklammerte die Hände meiner Liebsten und rannte weiter. Diesmal im Sprint quer über den Strand. Sally begann laut zu stöhnen und wäre beinahe hingefallen. Dilan biss die Zähne zusammen und versuchte durchzuhalten. Ich spürte, wie sie sich an mich lehnten.

Nach einer Minute hatten wir die sechzig Meter bis zur Surfschule bewältigt. Ich setzte die beiden auf der vom Pier abgewandten Schattenseite ab. „Ihr wartet hier! Ich bin gleich wieder zurück!“, sagte ich mit erhobenem Zeigefinger.

„Dad!“, rief Dilan. „Die Polizei ist schon da! Wir müssen wieder zurück! Sie werden uns helfen!“

„Niemand wird uns helfen!“, entgegnete ich.

„Mum braucht einen Arzt! Was hast du vor?“

Ich überlegte kurz. „Keine Zeit für Erklärungen! Jetzt wartet ihr hier und verhaltet euch ruhig! Niemand darf uns bemerken!“

„Danny, bist du von allen guten Geistern verlassen?“, schnaubte Sally wütend. „Ich wurde angeschossen und habe Schmerzen! Vor meinen Augen dreht sich alles! Ich bin am Ende! Auf dem Pier stehen Polizei- und Rettungsautos … und du willst nicht zurück?“

Ich hockte mich zu ihr und blickte ihr tief in die Augen. „Vertrau mir Schatz, bitte!“

„Wo willst du mit uns hin, verdammt?“

„Weg von hier! Die Typen, die auf uns geschossen haben, werden nur darauf warten, dass wir zur Polizei gehen!“

„Dann rufen wir sie eben hierher zu uns!“, meinte Dilan.

„Um die Aufmerksamkeit aller auf uns zu lenken?“

„Besser als hier zu bleiben! Hier werden uns die Typen erst recht schnappen! Wenn viele Menschen um uns stehen, werden sie es nicht wagen, auf uns zu schießen!“, sagte Sally.

„Die Typen hatten vor, uns mitten in einem überfüllten Hotel zu erschießen! Was glaubt ihr, warum ich euch ins Gästezimmer geschleppt habe?“, antwortete ich.

„Wer sind diese Typen?“, fragte Sally.

„Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass sie uns töten werden, sobald sie uns finden! Davon wird sie kein Polizist und keine Menschenmenge abhalten! Vertraut mir und verhaltet euch ruhig, bis ich wieder zurück bin!“

Ich begab mich zu einem der Fenster und schlug es mit dem Ellbogen ein. Dann stieg ich hindurch und landete in einem kleinen dunklen Raum, wo Surfbretter, Schwimmwesten, Neoprenanzüge, Kleinteile, Werkzeug sowie Riggs gelagert wurden. Ich kramte nach dem Feuerzeug, das ich gestohlen hatte, trocknete es und nach mehrmaligen Versuchen machte ich Licht, um mich umzusehen. Zuerst suchte ich nach einem Kleiderbügel aus dünnem verchromten Stahl. Dann brauchte ich noch einen Schraubenzieher und einen Bohrer. Den Kleiderbügel fand ich sofort und verstaute ihn in einem Plastiksack. Für das Werkzeug brauchte ich etwas länger. Einen kleinen Flachschraubenzieher und einen Akku-Bohrer entdeckte ich in einem Werkzeugkoffer im Eckkasten. Zusätzlich nahm ich mehrere kleine Bohrer mit, um später nicht zu bereuen, mich bei der Größe verschätzt zu haben. Um die Funktionalität zu testen, setzte ich einen der Metall-Bohrer in den zylinderförmigen Schaft und zog ihn elektronisch fest. Somit hatte ich den Beweis, dass der Akku aufgeladen und einsatzbereit war.

Wichtig war jetzt, dass ich bei der Wahl des Fahrzeugs darauf achtete, dass es älterer Baureihe war. Bei modernen Autos und Nobelmarken wäre der Aufwand viel zu groß und zu auffällig gewesen. Zudem besaßen sie Alarmanlagen, Wegfahrsperren, Computer und vieles mehr! Ich brauchte ein Fahrzeug, dass sich wie früher vom Lenkrad starten ließ und keines, wo ich zuvor die Motorhaube öffnen musste, um die Zündspule kurzzuschließen.

Ich packte das Werkzeug ein und verließ das Gebäude.

„Mum geht es nicht gut!“, sagte Dilan.

Ich hockte mich zu ihr. Tatsächlich, ihr Gesicht war blass und sie konnte kaum noch atmen.

„Sie braucht einen Arzt!“ Dilan's Stimme klang ungewohnt ruhig. Sie hatte Angst, was natürlich verständlich war.

„Komm, Schatz!“, sagte ich und zog sie hoch.

„Dad! Sie braucht einen Arzt!“, betonte Dilan nochmal. „Wir müssen in ein Krankenhaus! Und zwar schnell!“

„Ich weiß!“, antwortete ich und wandte mich wieder Sally zu. „Schatz! Du musst durchhalten! Du schaffst es! Das ist nur eine Fleischwunde! Wir werden dich in ein Krankenhaus bringen, sobald wir hier weg sind! Aber jetzt musst du aufstehen!“

Sie blickte mich verständnislos an. Ihre Augen glänzten und wirkten träge und müde. Das war überhaupt kein gutes Zeichen. Im Moment konnte ich aber nichts für sie tun. Nachdem ich die ersten Schritte mit ihr wagte, stöhnte sie und drohte zusammen zu sacken. Ich ließ sie aber nicht los und hielt sie fest. Dabei sagte mir ihr qualvoller Blick: Du verlangst Unmögliches, Danny! Du wurdest nicht angeschossen, also hast du leicht reden! Der Schmerz raubt dir nicht gerade den Verstand!

Richtig! Es war aber nicht meine Absicht, sie zu quälen. Das wollten andere! Ich konnte zwar nicht dasselbe von ihr verlangen, was ich mir seinerzeit als Soldat freiwillig zumutete, aber in Anbetracht der außergewöhnlichen Situation musste ich sie quälen, weil es keinen anderen Weg gab. Ich wusste, dass es meine Schuld war, dass wir in diesen Schwierigkeiten steckten, aber das spielte im Moment keine Rolle! Wenn wir überleben wollten, dann musste ich dieses Opfer von ihr abverlangen! Darum werde ich auch nicht nachgeben! Ich will, dass die schießwütige Bande keine weitere Gelegenheit bekam, uns noch einmal vor die Waffenläufe zu kriegen.

„Verdammt, Danny!“, stöhnte Sally mit letzter Kraft. „Warum haben die auf uns geschossen? Was wollen die von uns?“

„Später, Schatz, später!“, sagte ich, während ich ungehindert mit ihr weiter marschierte. „Spare dir die Kraft für später!“

„Dad, was hast du vor?“, fragte Dilan. „Mein Knöchel ist geschwollen! Ich kann nicht mehr laufen!“

„Es gibt kein Ich kann nicht!“, zischte ich sie wütend an. „Wir können und wir werden! Wir geben nicht auf! Wir laufen jetzt zum Ocean Front Walk!“ Ich zeigte ihr die Richtung. „Etwa siebzig Meter östlich liegt ein Parkplatz, wo wir uns ein Auto schnappen und flüchten werden!“

„Wohin flüchten wir?“, fragte Sally erschöpft. „Und warum nehmen wir nicht unser Auto?“

„Zunächst müssen wir deine Schusswunde versorgen! Dann …“, überlegte ich. „Dann werde ich mir etwas einfallen lassen. Und zu deiner anderen Frage: Wenn diese Schießwütigen gewusst haben, wo wir essen, dann wissen sie auch, wo wir unser Auto abgestellt haben!“

„Waren es Polizisten, die auf uns geschossen haben?“, fragte Dilan. „Weil du den Mann erwürgt hast?“

„Nein, weder waren das Polizisten, noch habe ich den Mann erwürgt!“, entgegnete ich ungehalten.

„Aber warum haben sie auf uns geschossen? Warum wollen sie uns töten?“, fragte sie unter Tränen.

„Ich werde es herausfinden, sobald wir in Sicherheit sind! Kommt jetzt!“

„Willst du deshalb nicht zur Polizei gehen? Weil du ein Verbrecher bist?“

„Ich bin kein Verbrecher! Warum ich nicht zur Polizei gehe, habe ich euch schon erklärt! Und jetzt bitte ich dich, den Mund zu halten und zu laufen!“, herrschte ich sie an.

Mit einem Arm stützte ich Sally und mit dem anderen Dilan. Wir liefen schnurgerade über den breiten Ocean Front Walk, wo überall schaulustige Passanten standen und das Geschehen am Pier beobachteten. Sie bemerkten uns natürlich und starrten fragend herüber. Sie wussten, dass wir mitten im Geschehen waren und dabei verletzt wurden. Sie wussten glücklicherweise nicht, dass wir das Ziel des Anschlags waren. Ich hörte, wie uns ein paar Leute hinterher riefen, aber ich ignorierte sie und lief einfach weiter. Wir mussten uns beeilen, weil sie mit Sicherheit der Polizei erzählen werden, dass wir hier vorbeikamen.

Als wir kurz vor dem Parkhof waren, knickte Sally stöhnend zusammen.

„Lauf!“, rief ich zu Dilan. „Lauf zum Parkplatz! Ich komme mit Mum nach!“

„Okay!“, antwortete sie und humpelte neben der hüfthohen Steinmauer weiter. Mich verblüffte, dass sie diesmal keine unnützen Fragen stellte. Sie wusste bestimmt, dass sie darauf keine vernünftige Antwort bekommen hätte.

Sally war bereits so schwach, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich alleine auf den Beinen zu halten. Ohne lange zu überlegen griff ich ihr durch die Beine, zog ihren Oberkörper über meinen Nacken und schulterte sie. Dann lief ich Dilan hinterher. Bevor ich den Parkbereich passierte, vergewisserte ich mich, ob uns jemand folgte. Auf dem Parkplatz fand ich nur wenige Fahrzeuge, die im Schatten standen und für einen Diebstahl geeignet waren. Zum Großteil standen hier Ford, Toyota, BMW, Mercedes und Buiks. Als ich schon fast die Hoffnung aufgab, entdeckte ich in der linken hinteren Ecke einen Jeep Cherokee, 90-iger Baureihe. Perfekt!

„Dilan! Der dunkelrote Cherokee! Dorthin!“, deutete ich und lief los. Wir mussten uns beeilen, denn je länger ich im Licht stand, desto größer war die Gefahr, dass ich jemanden auffiel. Und ein Mann mit einer Frau auf den Schultern würde mit Sicherheit Fragen aufwerfen. Beim Fahrzeug angekommen, setzte ich Sally neben dem linken Vorderrad ab.

„Wie geht’s dir, Schatz?“, fragte ich.

Sie war bereits so schwach, dass sie nicht mehr antworten konnte.

„Dilan!“, rief ich wieder. „Kümmere dich um Mum! Sprich mit ihr! Sie darf nicht einschlafen!“

Sie nickte hektisch und hockte sich neben sie.

Ich kniete mich zur Fahrertür und verbog den Kleiderhaken so, dass ich ihn zwischen Autoscheibe und Dichtungsgummi schieben konnte, um den Knopf der Verriegelung zu erreichen. Nach ein paar Versuchen klappte es und konnte den Haken über den Türknopf drücken und ihn hochziehen. Voilà!

„Dilan, setze Mum auf die Rückbank!“, forderte ich sie auf. Sie nickte.

Ich setzte mich zwischenzeitig ans Steuer, holte den Akkubohrer aus dem Plastiksack und bohrte das Zündschloss auf Schlüssellänge auf. Der Sinn war es, die Zapfen im Inneren des Schlosses komplett zu zerstören. Nach getaner Arbeit zog ich den Bohrer wieder heraus, steckte den Schraubenzieher in das Schloss und verdrehte ihn. Der Motor startete ohne Probleme. Dann verdrehte ich das Lenkrad bis die Lenkradsperre einrastete und verriss es mit aller Kraft in eine beliebige Richtung. Beim vierten Versuch brach die Verriegelung. Jetzt ließ sich das Vehikel bedenkenlos steuern.

„Seid ihr soweit?“, rief ich.

„Gleich!“, antwortete Dilan.

Ich stieg nochmal aus und suchte nach einem Verbandskasten. Im geräumigen Heck wurde ich neben einem Kabelset und einer Kiste mit roter und grüner Folie fündig. Hektisch holte ich ein paar Kompressen sowie einen Verband heraus und eilte zu Sally.

„Hilf mir Mum's Bluse hochzuziehen!“, sagte ich.

Das war gar nicht so einfach, weil die Bluse nass und mit Blut getränkt war, sodass sie regelrecht auf ihrer Haut klebte. Ich beschloss die Bluse komplett auszuziehen. Anschließend betrachtete ich die Eintrittswunde im linken unteren Rückenbereich. Der Wundgröße nach schätzte ich das Kaliber auf neun Millimeter – jenes Kaliber, das neunzig Prozent aller leichten Maschinenpistolen hatten. Dann suchte ich ihren Bauch nach der Austrittswunde ab, fand aber keine. Vermutlich Steckschuss. Scheiße! Ohne Arzt konnte ich nicht feststellen, wo das Projektil steckte und welchen Schaden es anrichtete.

„Dad!“, brüllte Dilan hysterisch und zeigte auf eine blutende Stelle neben dem rechten Schulterblatt. „Da ist noch eine Wunde!“

Verdammt, auch das noch! Sie wurde ein zweites Mal getroffen! Wieder drehte ich sie um und suchte nach einer Austrittswunde im Brustbereich. Auch hier kein Austritt. Wenn sie Glück hatte, verhinderte das Schulterblatt größeren Schaden.

„Okay!“ nickte ich und begann augenblicklich die Wunden zu versorgen. Ich reinigte sie, drückte die Kompressen fest auf und fixierte sie mit dem Verband. Sally keuchte vor Schmerzen und biss die Zähne fest zusammen. Solange sie noch auf Schmerzen reagierte, war es ein gutes Zeichen.

Während ich sie versorgte, hielt Dilan ihren Kopf hoch. Plötzlich blickte sie überrascht auf ihre Hände, auf denen sie erneut frisches Blut entdeckte. Sie untersuchte hektisch ihren Kopf. Dann fing sie leise zu wimmern an. „Mum blutet auch am Kopf!“

Wortlos beugte ich ihren Kopf nach vorne, um mir die Stelle mit Hilfe der Innenbeleuchtung genauer anzusehen. Dazu legte ich ihre langen Haare auf die andere Seite und fand eine dritte Schusswunde, unmittelbar hinter ihrem linken Ohr. Oh Gott, Kopfschuss! Jetzt brauchte ich Hilfe! Das bekam ich alleine nicht in den Griff! Egal, was ich vor hatte, musste ich vorrangig dafür sorgen, dass Sally schnellstens medizinisch versorgt wurde.

„Wird Mum sterben?“, fragte Dilan.

„Nein.“, antwortete ich besonnen, obwohl ich im Inneren vor Angst bebte.

„Aber sie wurde am Kopf getroffen!“, flennte Dilan.

„Mum wird nicht sterben!“, sagte ich mit Nachdruck.

„Was hast du jetzt vor?“

„Wir suchen einen Arzt!“

„Sie muss in ein Krankenhaus, Dad! Sie muss operiert werden! Sofort!“

Ich holte kommentarlos mein Handy aus der Hosentasche, das zum Glück noch einwandfrei funktionierte und aktivierte den eingesetzten Chip, der die Gespräche in ein spezielles Unterkanal-Funknetz leitete. Ich rief meinen Freund Frank Silverstein an.

„Frank?“, fragte ich, nachdem eine männliche Stimme abhob.

„Mit wem spreche ich?“

„Danny Graham!“

„He Bruder, lange nicht gehört!“, antwortete er überrascht. „Welch eine Freude!“

„Leider ist der Grund meines Anrufs nicht erfreulich.“, antwortete ich emotionslos. „Ich brauche dringend Hilfe! Sally wurde angeschossen und ...“ Ich ging ein Stück zur Seite, damit mich Dilan nicht hören konnte. „Sie schwebt in akuter Lebensgefahr! Sie muss sofort in ein Krankenhaus, aber da sind schießwütige Kerle, die uns verfolgen. Vermutlich wären wir in keinem Krankenhaus sicher.“

„Was kann ich für dich tun?“

„Du hattest eine medizinische Ausbildung und kennst dich mit Schusswunden aus.“

„Wie schlimm ist es?“

„Vermutlich drei Steckschüsse! Seitlich im Bauchbereich, Schulter und am Kopf, Neun-Millimeter-Projektile. Am Bauch blutet sie am stärksten und habe die Wunden mit Wundkompressen versorgt. Ebenso auch die Schulter, aber ...“

„Ist sie ansprechbar?“, unterbrach er mich.

„Bis vor kurzem war sie es noch. Sie konnte auch noch laufen, aber jetzt ist es schlimmer geworden. Sie reagiert zwar noch, aber ansprechbar ist sie nicht mehr.“

„Wie stark ist die Blutung?“

„Sie hat ungefähr einen halben Liter verloren. Ich denke nicht, dass eine Arterie verletzt wurde.“

„Mit einer arteriellen Blutung wäre sie nicht mehr gelaufen! Wo am Kopf wurde sie getroffen?“

„Hinterkopf, Ohrenhöhe.“

„Ich kann keine Ferndiagnose via Handy stellen, aber wenn sie noch ansprechbar war und laufen konnte, würde ich eine intakranielle Schussverletzung ausschließen. Das Projektil hat vermutlich indirekte Schäden am Gehirngewebe verursacht. Das würde erklären, warum sich ihr Bewusstseinszustand verschlechtert hat. Der Hirndruck steigt! Wenn das zutrifft, hast du nicht mehr viel Zeit!“

„Wie lange … ungefähr?“

„Das kann ich dir am Handy nicht beantworten!“

„Gut, wie kann ich den Druck senken?“

„Mit Sedativa oder einer Lumbalpunktion! Vergiss es! Das Einzige, das du machen kannst, ist sie hochlagern, aufrecht hinsetzen, und so schnell wie möglich das nächste Krankenhaus aufsuchen! Du brauchst Neurologen und Gefäßchirurgen!“

„Scheiße! Ich sagte dir, dass ich in kein öffentliches Krankenhaus fahren kann!“

„Dann in ein privates! Warte kurz!“ Ich hörte, wie er in irgendwelchen Papieren kramte. „Okay!“, sagte er Augenblicke später. „Coronado und Lakewood sind zu weit weg, aber da wäre noch das katholisch-orthodoxe Krankenhaus Holy Spirit in Marina Del Rey!“

„Und das ist privat?“

„Nein, aber ich kenne dort jemanden! Ich werde für die notwendige Diskretion sorgen!“

„Wo ist das?“

„Telefonierst du gerade über einen verschlüsselten Kanal?“

„SubChannel, ja!“

„Okay! Ich schicke dir die Wegroute. Jetzt nimmst du den Freeway und fährst so schnell du kannst Richtung Süden!“

„Richtung San Diego, verstanden! An wen soll ich mich wenden, wenn ich da bin?“

„An mich! Ich werde vorort sein und meinem Bekannten Bescheid geben, damit er alle Vorkehrungen trifft!“

„Danke, Bruder!“

„Beeil dich!“

Ich steckte das Handy weg und stieg wieder in den Cherokee.

„Wie geht’s Mum?“

Dilan blickte mich mit tränenunterlaufenen Augen an. „Nicht gut!“

„Achte darauf, dass sie aufrecht und gerade sitzt! Halte sie gut fest und sprich ihr Mut zu!“

„Wo fahren wir hin?“

„Ins Krankenhaus.“

Mit quietschenden Reifen verließ ich das Parkgelände. Ich fuhr den einspurigen Appian Way bis zur Kreuzung Pico Boulevard, wo ich nach Nordosten abbog. Richtig Gasgeben konnte ich nicht, weil auch hier die Fahrbahn einspurig verlief und überall geparkte Autos standen. Die Straßenmitte wurde durch großzügig angelegte Fahrbahninseln geteilt und behinderte zusätzlich ein schnelleres Vorankommen. Mehr oder weniger hupte ich mich durch den nächtlichen Verkehr. Nebenbei behielt ich Sally und Dilan im Auge. Unterwegs kam mir auch ein Streifenwagen entgegen, aber die waren zum Glück anderweitig beschäftigt.

An der Kreuzung 4th bog ich nach Norden ab und hatte endlich eine zweite Fahrspur zur Verfügung. Was mich jetzt noch störte, war das müde Beschleunigen des Sechszylinders. Viel zu schwerfällig und zu träge, um gleich nach dem Bremsen wieder auf Touren zu kommen.

Dann spürte ich das Vibrieren des Handys in der Tasche und holte es heraus. Frank schickte mir die versprochene Wegroute. Okay, den Freeway Richtung San Diego, Abfahrt Marina del Rey, an die Slausen Ave halten, bis zur zweiten Kreuzung Buckingham Parkway. Dort wartete er. Insgesamt waren es weniger als zehn Meilen.

Zeitgleich gelangte ich an die nächste Kreuzung! Der Freeway! Endlich! Jetzt konnte ich Gas geben!

„Dad! Wo fährst du hin?“, fragte Dilan. „Das Saint John's liegt nördlich! Gegenüber dem Sushi-Schuppen und dem Equinox-Fitnesscenter!“

„Wir fahren nach Marina del Rey!“

„Nein! Gottverdammt, nein! Mum stirbt!“, brüllte sie.

„Niemand wird sterben!“, brüllte ich zurück. „Du kümmerst dich um sie und ich um das Krankenhaus, verstanden?“

Sie murmelte zwar noch vor sich hin, aber sparte sich eine freche Antwort. Ich wusste, dass ihr meine Entscheidungen missfielen, aber das war mir egal! Mit Frank war das einfacher, weil er von meinem Schlag war und wusste, worum es mir ging. Das lag daran, dass Frank meine Welt verstand und aus demselben Holz geschnitzt war. Meine Familie kannte ihn überhaupt nicht, weil ich ihnen niemals von ihm erzählte. Sie lebten in einer ganz anderen Welt, einer Welt, in der andere Probleme das Leben bestimmten! Und Dilan's Reaktion war völlig normal in Anbetracht dessen, wenn die beiden Welt miteinander kollidierten! Und das direkt an unserem Esstisch! Da ich beide Welten kannte, musste ich die Zügel an mich reißen! Ich durfte keinen Widerspruch dulden! Denn nur ich war in der Lage, uns heil durch diese Misere zu manövrieren! Sally und Dilan werden es eines Tages verstehen. Aber zuvor werden sie mich hassen, mich verabscheuen, mich verurteilen! Solange sie nur das Leid sehen, dass ich heute anrichtete und nicht das größere Leid, das ich verhindern konnte, werden sie mich verachten! Vielleicht führte dies sogar zum Bruch unserer Beziehung, aber das musste ich gegebenenfalls akzeptieren und hinnehmen! Trotzdem werde ich jetzt nicht anders handeln und keinesfalls werde ich mir in die Vorgehensweise pfuschen lassen! Dazu war mir das Leben meiner Familie viel zu wertvoll!

Ich hörte Sally leise stöhnen und drehte mich nach hinten. „Dilan! Halt ihren Kopf gerade!“, ermahnte ich sie. „Sie darf nicht zu weit nach vorne oder nach hinten kippen! Schön gerade halten!“

„Sie ist schwer und ich habe Angst, dass ich ihr ungewollt weh tue.“

„Du schaffst das! Du machst das sehr gut!“

„Langsam geht mir der Gesprächsstoff aus. Ich wiederhole mich schon.“

„Hauptsache, du redest mit ihr! Worüber spielt keine Rolle! Sie muss wach bleiben!“

„Dad! Ich habe Angst! Ich habe solche Angst, dass sie es nicht schafft!“

„Ich weiß! Ich verspreche dir, dass sie nicht sterben wird! Das Krankenhaus, in das wir fahren, weiß um Mum's Verletzungen Bescheid und bereiten sich vor! Unterwegs gabeln wir einen Freund auf, der uns helfen wird. Wir müssen nur noch ein wenig durchhalten, okay?“

„Okay.“

Ich blickte auf die Tachonadel, die im Moment einhundertvierzig Sachen anzeigte. Wir befanden uns nur mehr eine halbe Meile vor der Abfahrt. Wir hatten es gleich geschafft!

In der Zwischenzeit fragte ich mich, wer die Leute waren, die uns erschießen wollten. Der Mann am Tresen kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihn nicht zuordnen. Entweder lag die Begegnung zu lange zurück oder er war bloß eine flüchtige Begegnung. Der andere Kerl, der ihm den Auslöser übergab, war jemand, der mich ganz bestimmt besser kannte. Den dunkelhäutigen Typen mit dem Vollbart kannte ich überhaupt nicht. Vermutlich Auftragsmörder. Scheiße! Sobald Sally versorgt war, werde ich der Sache nachgehen. Immerhin verfügte ich über die entsprechenden Kontakte, um hinter die Identitäten der niederträchtigen Täter zu kommen. Dass sie mich umbringen wollten, konnte ich nachvollziehen, aber wozu auch meine Familie? Warum Sally und Dilan? Sie hatten mit all meinen Aktivitäten nichts zu tun! Unschuldige zu ermorden, veranschaulichte nur den miesen Charakter von feigen Schwächlingen! Und dass sie Schwächlinge waren, stand außer Frage! Mir fiel sehr wohl auf, dass ihr Vorgehen nicht professionell war. Statt zuerst die Zimmertür aufzubrechen und dann gezielt auf uns zu schießen, ballerten sie blind auf die geschlossene Tür! Amateure? Egal! Ich war froh, dass sie keine Profis waren, sonst wären wir jetzt nicht mehr am Leben. Trotzdem durfte ich sie nicht unterschätzen. Sie waren mit Sicherheit noch auf der Jagd nach uns!

Nach der Abfahrt hielt ich mich an die linke Fahrspur, die im Streckenverlauf direkt in die Slausen Ave mündete. Zum Glück war die dreispurige Fahrbahn um die Zeit nicht mehr stark frequentiert. Kurz vor der zweiten Kreuzung sah ich einen Mann am Bürgersteig warten. Es war Frank. Ich bremste mich ein und öffnete ihm die Beifahrertür.

„Hi Frank!“

Er huschte ins Auto und drehte sich sofort nach hinten. „Wie geht’s ihr?“

Dilan zuckte bloß mit den Schultern. Frank drückte Sally's Stirn hoch und sah ihr in die Augen. „Scheiße!“, sagte er und drehte sich zu mir. „Rechts abbiegen! Schnell!“

Ich drückte das Gaspedal durch und raste den kurvenreichen Parkway entlang.

„Bleib da vorne stehen!“, rief er dann.

Am linken Fahrbahnrand der nächsten Kreuzung stand ein Rettungswagen. Kaum hatte ich mich vor diesen eingebremst, eilten zwei Sanitäter mit einer fahrbaren Trage herbei. Frank sprang sofort aus dem Wagen und erteilte Anweisungen. Hektisch holten sie Sally aus dem Cherokee, legten sie auf die Trage und verfrachteten sie in den Rettungswagen. Kaum waren die Türen geschlossen, brausten sie mit Blaulicht davon. Sie waren so schnell weg, dass ich nicht einmal Zeit hatte, Fragen zu stellen.

„Dad!“, rief Dilan, die gerade versuchte auch aus dem Auto zu steigen. „Mein Bein! Ich kann nicht aufstehen!“

Ich kniete mich zu ihr und begutachtete es. Der Knöchelbereich war ziemlich dick angeschwollen. „Sieht übel aus.“

„Ich habe dir gesagt, dass ich mir den Knöchel gebrochen habe, aber du wolltest mir nicht glauben!“

„Ich weiß, Schatz!“, antwortete ich und streichelte ihren Schenkel. „Tut mir leid!“

„Wo bringen sie Mum hin?“

„Ins Holy Spirit!“, antwortete Frank. „Mach dir keine Sorgen.“

„Wer sind Sie?“

„Frank Silverstein!“, sagte er. „Ich bin ein Freund.“

„Woher kennst du ihn?“, fragte sie mich und musterte den Fremden.

„Aus dem Krieg!“, antwortete Frank. Gegen den fast zwei Meter großen Hünen wirkte ich mit meinen einssiebenundachtzig wie ein Zwerg. Sein Körperumfang war gewaltig – breite Schultern, breiter Corpus, breite Hüften, kein Gramm Fett, alles Muskeln. Sein Hals war vergleichsweise so kräftig wie der Oberschenkel eines Durchschnittsbürgers. Mit der Stirnglatze und dem Vollbart sah er wie ein Biker aus längst vergangenen Hippie-Tagen aus. Ich fragte mich, ob er noch immer so hart wie früher trainierte.

„Sie waren mit meinem Dad im Golfkrieg?“, fragte Dilan.

Er blickte etwas irritiert zu mir. „Naja … hat er es dir nicht erzählt?“

„Nein, sind Sie Militärarzt?“, fragte sie weiters.

Er nickte.

„Sie sehen nicht wie ein Arzt aus.“, sagte sie ohne sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen.

„Setz dich wieder ins Auto! Wir fahren ins Krankenhaus!“, forderte ich sie auf, um ihre Neugierde zu bremsen, die mir zu persönliche Formen annahm. Dilan hatte zwar ein Recht zu erfahren, wer Frank war, aber ihr das zu verdeutlichen war meine Aufgabe.

„Wenn Sie Arzt sind, dann können Sie mir bestimmt sagen, ob das Bein gebrochen ist oder nicht.“ Dilan ignorierte mich, misstraute meinem angeblichen Kriegsfreund und versuchte ihn auf die Probe zu stellen.

„Dilan!“, ermahnte ich sie.

„Schon gut!“, sagte Frank. Kommentarlos kniete er sich vor ihr Bein und betrachtete das Geschwulst näher. Dann drehte er ihren Fuß vorsichtig auf und ab. „Tut das weh?“

„Sssss!“, zischte sie und biss die Zähne kräftig zusammen.

„Starke Schwellung, starke Schmerzen. Höchstwahrscheinlich das Sprunggelenk. Entweder gezerrt oder gebrochen. Wenn sich Knöchel und Fuß verfärben sind vermutlich auch die Bänder gerissen. Ein Röntgen wird dir Gewissheit verschaffen!“

Frank blickte zu mir hoch. „Egal, wie sie sich das zuzog, hatte sie Glück, dass sie es überhaupt bis zum Auto schaffte.“ Er grinste. „Hast sie laufen lassen, stimmts?“

„Es ging nicht anders.“, antwortete ich.

„Was meint er damit?“, fragte Dilan.

„Solange du das verletzte Bein bewegst, schwillt es nicht so schnell an, als wenn du es ruhig stellst!“

„Wenn ich weitergelaufen wäre, wäre die Verletzung noch schlimmer geworden! Sie als Arzt müssten das wissen!“, antwortete sie schnippisch.

„Ich denke nicht, dass du dir eine Ruhepause leisten hättest können, oder?“

Darauf antwortete sie nicht.

„Hast du dir auch Verletzungen zugezogen, Danny?“, fragte er dann.

„Nein, alles in Ordnung.“

„Gut, fahren wir ins Krankenhaus! Ich fahre!“ Er hob Dilan behutsam auf die Rückbank, während ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Er fuhr die Straße weiter bis zu einer riesigen Grundstücksanlage, dessen prunkvolles Gebäude von blickdichten Ahornbäumen umgeben wurde. Zwischen einigen Zwergsträuchern führte eine schmale Einfahrt zu einer unterirdischen Parkanlage. Dann suchte er einen Parkplatz direkt neben einem der vielen Fahrstühle.

„Wartet hier! Ich besorge einen Rollstuhl.“, sagte er.

Ich nickte. Er stieg aus und verschwand hinter einer dicken grauen Metalltür.

„Ich traue ihm nicht, Dad!“, sagte Dilan.

„Er hilft uns, Kleines. Gib ihm eine Chance!“

„Woher wusste er, dass es ein langer Weg vom Hotel zum Auto war?“

„Das wusste er nicht. Es ist aber logisch, dass die Parkplätze nicht unmittelbar an das Pier grenzen.“

„Bei dir ist immer alles logisch!“, meckerte sie. „Woher kennst du ihn wirklich?“

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Dann wird es Zeit, dass du sie mir erzählst.“

„Später, Schatz, später.“

„Wer waren die Leute, die auf uns geschossen haben? Was wollten sie von uns?“

Ich drehte mich zu ihr nach hinten. „Ich weiß es noch nicht, aber ich verspreche dir, dass ich es herausfinde.“

„Du hast es aber gewusst, stimmts? Du wusstest, dass uns jemand töten will!“

„Ich bin durch Zufall dahinter gekommen.“

„Wieso …?“ Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen. „Warum hast du das Babyfon geklaut? Wieso hast du den Mann gewürgt?“

„Er durfte das Babyfon nicht abdrehen. Jemand hat eine Bombe unter unserem Tisch deponiert. Mit dem Babyfon störte ich den Kanal.“

Sie runzelte die Stirn und blickte mich vorwurfsvoll an. „Wir saßen auf einer Bombe? Du hast es gewusst?“

„Ja.“

„Und du hast uns dort sitzen lassen und kein Wort gesagt?“

„Hättest du mir geglaubt? Hätte mir Mum geglaubt?“

Sie verdrehte die Augen. „Das ist wohl der Gipfel! Was wäre gewesen, wenn die Bombe hochgegangen wäre?“

Dann säßen wir nicht hier!, antwortete ich im Gedanken. „Sie ist nicht hochgegangen!“

„Woher wusstest du, wie man einen Funkkanal stört? Und woher hattest du das Wissen für die Bombe, die du im Gästezimmer gebastelt hast?“

„Ich bin im Krieg gewesen, Kleines. Man lernt dort vieles.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du sagst mir nicht die Wahrheit!“

„Du wirst alles früh genug erfahren.“

„Nachdem was heute geschehen ist, solltest du dich lieber damit beeilen!“

„Aber nicht auf einem alten durchgesessenen Ledersitz eines gestohlenen Pickup's in einer Krankenhaus-Parkanlage.“

„Was?“, zischte sie empört. „Wo willst du es dann tun? Auf einer romantischen Dachterrasse während eines Sonnenuntergangs?“

„Wann und wo ist meine Sache!“, fauchte ich zurück. Zum Glück öffnete sich gerade die Lifttür und Frank kam mit dem versprochenen Rollstuhl angebraust.

Dilan's Gedanken ratterten. „Die waren hinter dir her, Dad! Diese Leute wollten dich töten! Von mir und Mum wollten sie gar nichts, richtig? Es hat damit zu tun, dass du einmal im Krieg gewesen bist!“

„Darauf kann ich dir im Moment keine Antwort geben.“

„Verdammt! Was zum Teufel hast du angestellt?“, brüllte sie.

„Das muss ich erst herausfinden.“

„Hast du dich mit irgendwelchen Dschihadisten angelegt?“

„Nein!“ Langsam übertrieb sie es. Trotzdem musste ich versuchen, so ruhig wie möglich zu bleiben. „Steig jetzt in den Rollstuhl. Wir unterhalten uns später darüber.“

Ich stieg aus und half Dilan in den Rollstuhl. Dann fuhr ich sie zum Lift.

„Wohin jetzt?“, fragte ich.

„Die Unfallaufnahme ist im zweiten Stock.“, sagte Frank und drückte den entsprechenden Knopf auf dem Bedienfeld.

Nach der Liftfahrt rollte ich sie den großen menschenleeren Flur entlang. Hier herrschte die typische Krankenhausatmosphäre, besonders der Geruch nach diversen Desinfektionsmitteln und Putzmitteln reizte meine Nase. Wir folgten dem Gang bis wir zu einer offenen Schiebetür gelangten, vor der bereits eine Krankenschwester wartete.

„Hallo!“, sagte die kleine dunkelfarbige Assistentin freundlich. „Du kommst mit mir!“

„Wir warten hier solange.“, sagte ich.

Kommentarlos rollte sie Dilan in den Behandlungsraum und schob die Türe zu.

„Setzen wir uns kurz hin?“, fragte Frank und deutete zu den schräg gegenüberliegenden Warteplätzen. Ich nickte und folgte ihm.

„Was war auf dem Pier los?“

„Ich weiß es nicht.“

„Komm schon, Danny! Du musst eine Ahnung haben, wer euch umbringen wollte!“

„Nein, absolut keinen Schimmer!“

„Hast du schon gehört, was die Medien berichten?“

„Nein.“

„Sie sagen, dass im Lotario eine Bombe explodierte.“

„Ja, im Gästezimmer. Das war ich.“

„Nein, die Medien sprechen von einer Bombe im Gastraum! Sie hätte mehrere Personen und ein Kleinkind schwer verletzt.“

„Was?“, erschrak ich. Hatten die Typen die Bombe unter unserem Tisch doch gezündet?

„An dem Tisch wäre zuvor eine Familie gesessen, die sich laut Zeugen merkwürdig benahm. Der Mann hätte jemanden vor der Toilette fast tot gewürgt. Dann hat er seine Frau und seine Tochter geschnappt und sich in einem Gästezimmer verschanzt, wo er das Feuer eröffnete. Damit haben sie dich gemeint, richtig?“

„Scheiße, das stimmt nicht!“ Ich staunte. Die Medien interpretierten alles falsch. „Da war ein Mann am Tresen. Ich bin ihm gefolgt. Er verschwand in ein Zimmer und unterhielt sich mit jemanden. Er sagte, dass sich eine Bombe unter dem Esstisch befindet und diese in drei Minuten zünden will. Vor den Ausgängen haben sie Männer postiert, die meine Familie und mich erschießen sollen, falls wir einen Fluchtversuch unternehmen.“

„Drei Minuten? Und du hast es geschafft, deine Familie rechtzeitig auf die Toilette zu bringen?“

„Wie du siehst, habe ich es geschafft.“

„Danny, du weißt, dass ich dir vertraue, aber ich hoffe, dass du auch verstehst, dass ich dir die Geschichte nicht abkaufe. Da war eine Bombe unter eurem Tisch und Leute vor den Ausgängen und du hast ganz zufällig von dem Plan erfahren? Drei Minuten vor der Zündung?“, fragte er misstrauisch. „Gerade noch rechtzeitig, um deine Familie vom Tisch wegzuschaffen? Das kann sich unmöglich so abgespielt haben.“

„Es war aber so!“ Ich spürte seine bohrenden Blicke, die mich hartnäckig attackierten. Er wartete förmlich auf ein falsches Wort von mir. „Der Typ am Tresen kannte meinen Decknamen – Enbi!“

„Deckname? So haben wir dich früher genannt!“

„Nein, stimmt nicht ganz!“, korrigierte ich. „Enbi wurde auch später mein Deckname bei TRAVUS.“

„Das erweitert den Kreis der Verdächtigen!“

„Aber schränkt ihn gleichzeitig auch ein! Bei allen Einsätzen, die ich zuletzt durchführte, war mein Deckname der anderen Seite nicht bekannt gewesen. Den kannten bloß unsere Leute. Das heißt, dass ich im Moment die wirklich Bösen ausschließen muss.“

„Wie ging es weiter, nachdem ihr zur Toilette geflüchtet seid?“

„Wir haben uns im Gästezimmer verschanzt und die Typen vor den Ausgängen sind uns gefolgt und auf uns geschossen. Dilan und ich hatten Glück, Sally leider nicht.“

„Warum berichten die Medien, dass jemand durch die Tür nach draußen feuerte?“

„Ich hatte keine Waffe! Ich habe im letzten Moment ein paar Dinge gefunden, um einen Sprengsatz zu bauen. Diesen verwendete ich, um sie abzulenken, damit wir aus dem Fenster flüchten konnten.“

„Sprengsatz?“ Seine Mimik sprach Bände.

Ich musste leicht grinsen. „Du kennst mich doch, oder?“

„Deine MacGyver-Tricks?“, staunte er. „Warum hast du dir nicht gleich eine Bazooka gebastelt und sie erledigt?“

„Das ist nicht witzig!“, ärgerte ich mich. „Was haben die Medien noch berichtet? Hat die Polizei die Typen erwischt?“

„Darüber habe ich nichts gehört.“ Er blickte mich nachdenklich an. „Wenn du mir wirklich die Wahrheit sagst und es sich so abgespielt hat, dann würde mich an deiner Stelle eine einzige Frage brennend interessieren: Wie kam die Bombe unter den Tisch? Woher wussten die Typen, dass du mit deiner Familie an diesem Abend, um diese Uhrzeit, in diesem Lokal, an diesem Tisch, sitzen wirst?“

Darauf fand ich tatsächlich keine Antwort. „Worauf willst du hinaus?“

„Wer außer euch wusste noch von dem Essen?“

„Niemand.“ Ich überlegte. „Vielleicht hat es Sally ihren Eltern erzählt?“

„Bist du sicher?“

„Ich bin gestern Abend nach Hause gekommen. Dass wir Essen gehen, haben wir heute Vormittag beschlossen. Es konnte niemand gewusst haben.“

Er presste die Lippen zusammen. „Wenn niemand Bescheid wusste, dann kannst du den Kreis der Verdächtigen erheblich einschränken. Eigentlich auf zwei Personen!“

„Du meinst Sally und Dilan?“

„Wenn es sich so abgespielt hat, kann bloß eine der beiden diese Informationen weitergegeben haben.“

„Das kann nicht sein!“, bestritt ich vehement. „Unmöglich! Sie wissen nichts über meine Aktivitäten. Sie denken, dass ich im Fernhandel eines Spielzeugkonzern's arbeite. Sie haben absolut keine Ahnung, was ich wirklich tue. Ich habe es ihnen niemals erzählt!“

„Das glaube ich dir! Du wirst nicht so dumm sein und deine Familie in Gefahr bringen. Aber trotzdem muss von ihnen etwas durchgesickert sein! Denk nach! Hortest du Daten oder Mails von deinem Firmenrechner auf deinem privaten PC?“

„Nein, absolut nichts! Das weiß ich mit Sicherheit!“

Frank lehnte sich etwas zurück. „War das Essen deine Idee?“

„Ja.“

„Überprüfe die Handys der beiden!“

„Blödsinn, Frank!“, protestierte ich. „Denk mal nach! Sie wollten sich bestimmt nicht selbst in die Luft jagen!“

„Um das ausschließen zu können, musst du es überprüfen! Du hast keine Wahl, Danny! Eventuell gab es Insider in ihrem Freundeskreis? Vielleicht haben sie es irgendjemanden erzählt, ohne sich dabei etwas gedacht zu haben?“

„Ich habe heute um vierzehn Uhr den Tisch telefonisch reserviert. Da wäre es naheliegender, dass es einen Insider im Lotario gab.“

Frank klopfte mir auf die Schulter. „Eins nach dem anderen! Überprüfe zunächst Sally und Dilan! Dann ihre Freunde und Bekannten! Und erst am Schluss würde ich mir das Lotario-Personal vorknöpfen!“

„Sally und Dilan wussten nicht, welcher Tisch für uns reserviert wurde. Das wusste nicht einmal ich! Das konnte nur jemand vom Lotario wissen!“

Frank stand auf. „Wie du meinst! Aber pass bloß auf! Ihr hattet heute sehr viel Glück! Die Attentäter sind höchstwahrscheinlich noch auf freiem Fuß und ich schätze, dass sie dich genau in diesem Augenblick suchen! Sie werden ihre Fehler korrigieren wollen! Du musst gewaltig aufpassen, denn solange du nicht weißt, wer sie sind und von wem sie Informationen beziehen, musst du untertauchen! Um nicht entdeckt zu werden, musst du sicher gehen, dass die undichte Stelle nicht deine Liebsten sind, die dein Versteck vielleicht unwissend preisgeben! Ich glaube nicht, dass du noch einmal soviel Glück haben wirst, um ihnen zu entwischen! Beim zweiten Versuch macht mans bekanntlich besser!“ Er blickte zu den Fahrstühlen. „Ich werde mal sehen, wie weit sie mit Sally sind.“

„Soll ich mitkommen?“

„Nein, warte du solange auf Dilan!“

Ich erhob mich und reichte ihm die Hand. „Danke, mein Bruder!“

„Für dich immer gerne! Schließlich bin ich dir noch einiges schuldig.“

„Das bist du!“, grinste ich.

Frank nickte. „Ich bin gleich wieder zurück.“

Er hatte recht! Ich durfte jetzt nicht auf die beiden Rücksicht nehmen. Wenn ich den Attentätern auf die Spur kommen wollte, musste ich bei Sally und Dilan anfangen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob Sally am Nachmittag mit jemanden telefonierte. Da ich nicht ständig in ihrer Nähe war, konnte ich es weder bestätigen, noch ausschließen. Aber wer käme dafür in Frage? Allison Brooker, ihre beste Freundin? Die Verkäuferin bei Barnes Book Store, die mit Baumeister Harry verheiratet war? Oder Charlotte Reiser? Eine alte Schulfreundin, mit der sie zweimal in der Woche telefonierte? Charlotte war frisch geschieden und hatte keine Kinder. Vielleicht brauchte sie Geld? Nein, Blödsinn! Dann fiel mir noch Tom Farmer, ihr Chef, ein. Tom war der Geschäftsführer der Babette-Boutique in der Third Street. Warum sollte sie Tom an ihrem freiem Tag erzählen, wohin sie Essen ging? Sally's Eltern waren in Pension und großteils zuhause. Ihre Heimatstadt Tijuana besuchten sie einmal im Jahr. Die Stadt hatte zwar einen üblen Ruf, aber ich wage zu bestreiten, dass irgendjemand über mich Bescheid wusste und sich bemühte, über sie an mich heranzukommen. Dadurch, dass ich selten zuhause war, hatte ich in Santa Monica nicht viele gute Freunde, eher Flüchtigkeitsbekanntschaften. Wenn Sally die undichte Stelle war, dann wurde sie benutzt. Alles andere konnte ich ausschließen.

War es vielleicht ein Verbrechen aus niederen Motiven? Ich verdiente zwar gut, aber ein Mordanschlag aus Geld- und Habgier schloss ich aus, weil nur meine Familie von meinem Vermögen profitiert hätte. Bargeld oder einen Tresor hortete ich zu Hause nicht. Nein, das Verbrechen betraf nicht meine Person als Daniel Graham, sondern den Geheimagenten Enbi. Daran gab es nichts zu zweifeln. Dann kam noch ein Verbrechen mit Erpressungsversuch infrage! Vielleicht kam jemand zufällig hinter meine Identität und beschaffte sich Informationen über mein Privatleben, indem er Sally erpresste. Wobei ich aber absolut nicht verstand, warum man uns nicht einfach mit einer Autobombe hochjagte? Oder im Haus? Warum stürmten die Typen nicht nächtens das Haus und erschossen uns, während wir im Bett schliefen? Wäre doch viel einfacher gewesen, oder? Warum musste es ein öffentlicher Ort sein? ... Auftragsbestätigung! Genau deshalb! Über einen Bombenanschlag in einem öffentlichen Lokal würden binnen Minuten sämtliche Medien berichten! Deshalb dort! Der Geldgeber beziehungsweise Auftraggeber erhielt mittels Medien die Bestätigung über die Auftragserfüllung und konnte sodann seinen Handlangern die vereinbarten Summen auszahlen.

Ich kam zu folgendem Schluss: Entweder haben die Täter einen von Sally's Freunde erpresst, um Informationen zu beschaffen oder sie hatten mich verfolgt und einen Handlanger unter das Hotelpersonal geschleust. Den Anschlag konnten sie erst nach meiner Reservierung erarbeitet haben. Ich entschloss mich, der Sache so rasch wie möglich auf den Grund zu gehen. Vorrangig musste ich aber Sally's Handy prüfen, wie es mir Frank riet. Dabei fiel mir ein, dass sie dieses blöderweise im Lotario liegen ließ, als sie Dilan zur Toilette begleitete. Ebenso blieb auch Dilan's Handy dort. Scheiße!

Wenn Sally's Eltern über das Abendessen Bescheid wussten, hätten sie bestimmt mehrmals versucht, sie zu erreichen. Weil es mir aber unmöglich war, dies nachzuprüfen, holte ich mein Handy aus der Tasche und rief Jose an. Nach siebenmaligen Läuten schaltete sich die Sprachbox ein. Ich überlegte, ob ich ihnen eine Nachricht auf das Band sprechen sollte, ließ es aber bleiben. Wenn er etwas über den Vorfall im Hotel wusste, hätte er mich schon längst angerufen. Somit legte ich wieder auf. Da fiel mir plötzlich ein, dass Dilan von einem gewissen Billy Morgan schwärmte, auf dessen Antwort sie ungeduldig wartete. Mein Gehirn ratterte. Eventuell steckte dieser Billy dahinter? Dilan ließ durchblicken, dass sie ihn noch nicht lange kannte. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass er ihr etwas vorspielte, ihr ein wenig den Kopf verdrehte, um an Informationen zu kommen! Dann ist Dilan die undichte Stelle! Ich musste mehr über diesen Billy herausfinden.

Ohne vorher anzuklopfen betrat ich die Behandlungszelle der Unfallaufnahme. Dilan lag auf einer Liege und ein Arzt bandagierte gerade ihren Fuß. Die Schwester saß vor dem Bildschirm und tippte den Bericht … oh Gott!

„Was machen Sie da?“, fragte ich sofort.

„Wer sind Sie?“, fragte der Arzt.

„Der Vater! Speichern Sie gerade die Daten meiner Tochter?“

Der noch sehr junge Arzt stellte sich mir in den Weg und verschränkte arrogant die Arme über der Hüfte. „Ja, die übliche Prozedur! Wieso?“

„Löschen Sie diese sofort!“

„Das kommt nicht in Frage! Wir brauchen die Generalien, um mit der Versicherung abzurechnen! Wir müssen ...“

„Nein, Sie müssen nicht!“, unterbrach ich ihn schroff, schlich an ihn vorbei und schubste die Assistentin mitsamt dem Stuhl gegen die vollverzinkten Schrankmöbel. Sie sprang daraufhin hoch und beschimpfte mich.

„Sind Sie verrückt?“, sagte der Arzt.

„Wurden Sie nicht aufgeklärt?“, antwortete ich emotionsgeladen. „Keine Datenspeicherung, die landesweit im Datennetz aufscheint!“

„Das können Sie uns nicht vorschreiben! Die Behandlung kostet! Wer bezahlt sie?“

„Lassen Sie sich etwas einfallen!“ Ich las Dilan's Daten auf dem Monitor. „Scheiße! Wie löscht man die Akte wieder?“

„Gar nicht!“

„Tun Sie, was mein Vater sagt!“, mischte sich Dilan plötzlich ein. Ihre Reaktion brachte nicht nur mich zum Staunen. Dem Arzt klappte regelrecht das Unterkiefer runter. „Was geht hier vor sich?“, fragte er.

„Mein Vater sagte Löschen! Tun Sie es! Wir werden alle sterben, wenn Sie es nicht tun!“

„Ich kann sie nicht mehr löschen, selbst wenn ich wollte!“

„Dann überschreiben Sie sie!“, forderte ich ihn auf.

„Was soll das? Habt ihr etwas angestellt?“, fragte der Arzt.

„Das wollen Sie nicht wissen, glauben Sie mir!“, antwortete ich. „Überschreiben Sie einfach die Daten!“

„Und wessen Personalien soll ich stattdessen eintragen?“

„Den ihrer Großmutter, ihrer Erbtante, egal! Aber zögern Sie nicht!“, befahl ich.

„Kathrin, tun Sie was der Mann verlangt!“, sagte der Arzt zur Schwester.

„Und wen trage ich jetzt ein?“, fragte sie ungehalten.

Der Arzt drängte sich zum Bildschirm und rief eine Patientenliste auf. Mir fiel auf, dass seine Hände während der Suche zitterten. Er hatte Angst … und das war gut so!

„Nehmen Sie Charles Reinard!“, sagte er.

„Wie geht es Mum?“, fragte mich Dilan.

„Frank sieht gerade nach ihr. Wie sieht's bei dir aus?“

„Nichts gebrochen. Dein Freund hatte mit seiner Diagnose unrecht.“, grinste sie süffisant.

„Supinationstrauma.“, mischte sich der Arzt ein. „Das Sprunggelenk und das Bindegewebe sind nicht gerissen oder gebrochen. Sie hatte Glück. Ich habe ihr eine Salbe verschrieben, mit der sie den Knöchel dreimal täglich behandeln muss. In den nächsten Wochen sollte sie das Bein nicht unnötig belasten.“

„Danke, Doktor!“, sagte ich. „Wären Sie so freundlich und lassen uns einen Augenblick alleine?“

„Ich bin mit der Behandlung fertig. Sie können sich draußen unterhalten.“, antwortete er.

Wir verließen das Zimmer.

„Was gibt’s, Dad?“, fragte sie mit erwartungsvollen Augen.

„Wer ist dieser Billy Morgan?“

„Wieso willst du das wissen?“

„Bitte beantworte die Frage!“

„Ich kenne ihn vom Internet.“

„Hast du ihn schon einmal getroffen?“

„Nein, deshalb wollte ich heute nicht mitfahren. Weil er sich mit mir treffen wollte.“

„Ein Date?“

„Ja.“ Sie blickte verlegen zu Boden.

„Wann wollte er dich treffen?“

„Heute Abend! Sagte ich schon!“

„Wie sieht er aus? Hat er dir ein Foto geschickt?“

„Nein, es war ein Blind-Date. Er schrieb, dass er Football spielt und sehr sportlich ist.“

Ich stieß genervt Luft aus. „Verdammt, Dilan! Sieh dich bitte im Spiegel an! Du bist ein wunderschönes Mädchen … Frau! Warum suchst du dir einen Kerl aus dem Internet?“

„Das ist meine Sache!“, erwiderte sie beschämt. „Das geht dich nichts an, Dad!“

„Du weißt überhaupt nichts über den Kerl, oder? Du weißt nicht, wie er aussieht, was er so treibt, geschweige denn, wer er ist.“

„Du meinst, dass er etwas mit dem Anschlag zu tun hat?“, überlegte sie.

„Natürlich!“, herrschte ich sie an. „Hast du ihm geschrieben, dass du heute Abend mit uns im Lotario bist?“

„Ich weiß es nicht mehr.“

Ich blickte ihr tief in die Augen und erkannte sofort, dass sie mir etwas verschwieg. „Dilan! Raus mit der Wahrheit!“

„Ich weiß es nicht mehr! Das Handy habe ich im Lotario vergessen und kanns nicht sagen.“

„Handy? Ich dachte, dass du ihn vom Internet kennst?“

„Willkommen in der Gegenwart, Dad!“, antwortete sie zynisch. „Das Internet funktioniert auch mit dem Handy!“

„Und wieso hast du dann befürchtet, eine Nachricht zu verpassen?“

„Weil ich … naja, ich wollte lieber zuhause bleiben.“

„Na gut, lassen wir das! Es sollte kein Problem sein, deinen Nachrichtenordner abzufragen! Verrate mir die Seite, deinen Benutzernamen und das Passwort!“

„Verdammt, Dad!“ Sie drehte sich zur Seite und lehnte sich an die Wand. „Das ist privat!“

„Jetzt nicht mehr! Du sagst mir sofort die Login-Daten! Und vorweg kannst du mir auch Billy's Benutzernamen geben!“

„Was hast du vor?“

„Ich werde den Kerl ausfindig machen und zur Rede stellen!“

„Und wenn er mit der Sache nichts zu tun hat?“

„Die Sorge kannst du getrost mir überlassen!“

„Okay, ich machs Mum zuliebe!“, sagte sie und gab sich geschlagen. „Er hat mich auf flirt-challenge.com angeschrieben und sich unter billy66 eingeloggt.“

„Dass er Billy Morgan heißt, hat er dir in den Chats verraten?“

„Ja, und dass er in Inglewood lebt und in der High-School-Football-League spielt. Zurzeit wartet er auf ein Stipendium an der Universität in Sacramento.“

Ich holte mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer eines weiteren Freundes - Adam DeWitt. Nach mehrmaligen Läuten hob er ab.

„Hallo Adam! Hier Enbi!“

„Danny? Sag, was ist da in Santa Monica los?“

„Das ist der Grund, warum ich anrufe.“

„Das dachte ich mir.“, seufzte er. „Ein Mann, seine Frau, seine Tochter, eine Bombe, eine Schießerei … Ich lag mit meiner Vermutung richtig.“

„Ich brauche deine Hilfe! Ich muss jemanden ausfindig machen.“

„Das wird ein wenig dauern.“

„Bist du zuhause?“

„Nein, ich habe in fünf Minuten ein Briefing.“

„Die Infos, die ich brauche, sind dringend! Ich brauche sie sofort.“

„Was soll ich Miles sagen?“

„Kannst du nicht Erica auf das Briefing schicken?“

„Für die Operation Yellow Sand bin ich verantwortlich.“

„Bekommt ihr Grünes Licht?“

„Vermutlich.“

„Kannst du mir trotzdem helfen?“, fragte ich etwas ungehalten.

Ich konnte sein Grübeln beinahe hören. „Warte, ich kläre das schnell ab und rufe zurück.“ Dann legte er auf.

„Wer ist Erica? Wer ist Adam? Wer ist Enbi?“, bombardierte mich Dilan sofort. „Wer bist du?“

Ihre letzte Frage tat mir richtig weh. Schlimm für einen Vater, wenn seine Tochter sich das fragen musste.

Ich holte tief Luft. „Adam ist ein Freund, Erica seine Assistentin und Enbi bin ich!“

„Enbi? Warum nennt man dich Enbi?“

„Meine Anstellung bei TRAVUS ist bloß Tarnung.“

„Tarnung? Wofür?“, fragte sie verwirrt. Ich verweigerte ihr die Antwort, aber ihre besorgte Miene verriet mir, dass sie sich damit nicht zufrieden gab. „Dad! Sag mir gefälligst, was du dort tust!“

„Das ist kompliziert.“

Sie deutete zum Behandlungszimmer. „Mum und ich wurden verletzt! Mum muss operiert werden und du meinst, dass es zu kompliziert ist, um mir die Wahrheit zu sagen?“

„Ich sagte schon, dass es nicht der richtige Zeitpunkt ist.“

„Ja, aber ich will jetzt nicht wissen, warum man uns töten wollte, sondern wer du bist! Ich will nicht warten, bis es mir jemand anders erzählt!“

Ich suchte nach einer Antwort, nach Worten, wie ich es ihr am Verständlichsten erklären konnte. Im Laufe meines Lebens war ich mit den schwierigsten und gefährlichsten Aufgaben konfrontiert gewesen, aber noch nie war ich so überfordert wie jetzt. Immer wieder schossen mir abgehakte Satzfragmente in den Kopf, aber ich war zu feige, um sie laut auszusprechen.

„Frank ist kein Arzt! Weder sieht er aus wie einer, noch benimmt er sich so.“, setzte sie fort. „Er hat dir gesagt, dass du nach Marina del Rey fahren sollst, richtig?“

„Frank ist ein Freund! Mehr brauchst du im Moment nicht über ihn zu wissen.“, antwortete ich. Ausflüchte, Danny, Ausflüchte, flüsterte mir das Gewissen, Du solltest ihr die Wahrheit sagen! Du bist aufgeflogen! Aus Erfahrung müsstest du wissen, was jetzt folgt! Es wird nicht einfacher werden, wenn du schweigst! Es wird schlimmer werden und wenn du deiner Familie nicht die Wahrheit sagst, werden es andere tun – wie es Dilan sagte! Du wirst deine Frau und deine Tochter verlieren! Du wirst alleine dastehen, wenn du es nicht tust! Sag es ihr jetzt! Sag ihr, wer du bist! Sag es ihr!

„Danny!“, rief Frank, der plötzlich auf dem Treppenabsatz stand. „Kann ich dich kurz sprechen!“

„Bist du so eine Art Geheimagent?“, fragte Dilan noch im Vorbeigehen, aber ich antwortete nicht.

„Was ist los?“, fragte ich.

Er holte tief Luft. „Sally!“

„Wird sie schon operiert?“

„Sie hat es nur in den Schockraum geschafft!“, flüsterte er.

Mich durchfuhr ein kalter Schauer. „Willst du mir sagen, dass ...“

„Genau das.“ Er presste die Lippen fest zusammen. „Es tut mir leid!“

Ich blickte zu Dilan, die noch brennend auf Antworten wartete. Mein ganzer Körper krampfte zusammen und obwohl ich den Inhalt der Nachricht noch nicht realisieren konnte, kämpfte ich bereits mit den Tränen. „Wo ist sie jetzt?“

Im selben Moment vibrierte das Handy. Ich zog es aus der Tasche und hob ab.

„Ich habe mit Miles gesprochen!“, sagte Adam. „Ich habe das mit dem Briefing geregelt. Wo bist du jetzt?“

„In einem Krankenhaus in Marina del Rey.“

„Okay, bleib wo du bist, Dan! Hast du verstanden ... Dan?“

Verdammt! Er teilte mir gerade eine verschlüsselte Botschaft mit! Alle Kollegen nannten mich entweder Enbi oder Danny. Niemand nannte mich Dan! Deshalb beschloss ich vor langer Zeit, Dan als Codewort für Danger zu verwenden, wenn es Adam nicht möglich war, frei zu sprechen. Von diesem Code wussten nur er und ich! Einvernehmlich beschlossen wir, dieses Codewort in einen Satz zu knüpfen, der das Gegenteil von dem Gesagten ausdrückte. Somit sagte er mir gerade, dass ich keinesfalls dort bleiben durfte, wo ich mich gerade aufhielt. Es drohte unmittelbar Gefahr! Mir stockte der Atem. „Ich bin hier sicher! Wo sollte ich sonst hin?“, fragte ich.

„Das werde ich dir noch mitteilen. Jetzt ist es wichtig, dass du in Sicherheit bist.“

„Verstanden!“ Ich legte auf und blickte zu Frank. „Wir müssen hier weg! Und zwar so schnell wie möglich!“

„Wer war das?“

„Ein Freund!“

„Wieviel Zeit bleibt uns?“

„Keine! Wir müssen sofort losfahren.“

„Was ist los?“, fragte Dilan, die zwischenzeitig zu uns humpelte.

„Wir müssen das Krankenhaus verlassen!“

„Aber was ist mit Mum!“

„Mum ist hier in guten Händen! Sie wird gerade operiert! Wir können im Moment nichts für sie tun!“, log ich. Dann wechselte ich einen kurzen Blick mit Frank, der sich regelrecht fassungslos darüber zeigte, dass ich meine Tochter anlog. „Verdammt! Los jetzt!“, murmelte ich.

„Du ziehst mich in diese Sache hinein?“, fragte Frank.

„Du steckst schon mittendrin!“

„Na toll! Wie in guten alten Zeiten!“

Da Dilan nicht laufen konnte, packte ich sie und trug sie auf den Armen durch den Korridor. „Starte schon einmal den Cherokee!“, forderte ich Frank auf.

„Und wie? Du hast doch keine Schlüssel, oder?“

„Ich habe das Schloss zerstört. Er lässt sich mit allem starten, das ins Schloss passt! Ein Schraubenzieher liegt auf der Rückbank!“

„Okay!“ Frank eilte voraus.

„Sind wir wieder in Gefahr?“, fragte Dilan.

„Nicht, wenn wir uns beeilen.“

„Und Mum?“

„Nein! Mum tut keiner etwas! Sie sind nicht hinter ihr her!“

„Bist du dir sicher!“

„Ganz sicher!“

„Muss ich mitkommen? Kann ich vielleicht bei Mum bleiben?“

„Nein!“

„Aber sie sind doch nur hinter dir her, oder? Mum möchte mich bestimmt sehen, wenn sie aufwacht.“

„Nein, du kommst mit!“

„Ich bin verletzt! Dad! Ich kann ...“

„Keine Widerrede, Dilan! Du kommst mit!“

Zwei Minuten später saßen wir im Cherokee und Frank verließ auf schnellstem Wege das Krankenhaus. „Wohin?“, fragte er.

„Richtung Norden!“

„Zurück nach Santa Monica?“

„Fahr einfach Richtung Norden!“

„Wie du meinst!“

Nachdem wir das Krankenhausgelände verlassen hatten, beruhigte ich mich wieder. Ich blickte mich ein wenig um und konnte im Freien keine Auffälligkeiten entdecken. Adam war ein treuer, vor allem kompetenter Kollege, der mich immer unterstützte und mein Auge und Ohr bei jedem Auftrag war. Ich wusste, dass er ein Wohnmobil im Norden versteckte, irgendwo in den Tuna Canyons. Deshalb lotste ich Frank erstmal Richtung Norden.

Ich überlegte, warum er mir verschlüsselte Nachrichten mitteilte. Steckte auch Miles Cabrol, der Leiter unserer Abteilung, hinter dem Anschlag? Aber warum stellte sich Adam auf meine Seite? Wenn meine eigene Abteilung gegen mich arbeitete und den Anschlag inszenierte, fragte ich mich, warum mich Adam vorwarnte? Er war der technische Leiter und wäre mit der Beschattung und der Durchführung des Anschlags beauftragt worden. Irgendetwas stimmte hier nicht!

Als wir gerade auf den Freeway auffuhren, läutete wieder das Handy.

„Adam?“

„Ja! Bist du noch im Krankenhaus?“

„Nein, wir sind schon weg!“

„Ich konnte vorhin nicht sprechen, weil Miles mithörte. Er befahl mir, deinen momentanen Aufenthaltsort herauszufinden.“

„Steckt er hinter dem Anschlag?“

„Nein, aber er will deinen Kopf!“

„Warum?“

„Das will ich nicht am Handy besprechen! Es hat etwas mit deinem letzten Auftrag zu tun!“

„Was?“, zischte ich. „Wovon sprichst du?

„Du weißt, wovon ich spreche! Der Behälter! Nur verstehe ich nicht, warum du dich jetzt an mich gewandt hast.“

„Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon du gerade sprichst? Wer hat den Anschlag auf meine Familie und mich veranlasst? Cabrol?“

„Ich denke, dass du das sehr wohl selbst weißt!“

„Nein, ich habe keine Ahnung, wer das getan hat!“ Mir kam sein Gerede verdächtig vor. Ich überlegte, ob er mich zusammen mit Cabrol in eine Falle locken wollte. „Hört Cabrol mit?“

„Bist du verrückt? Dann hätte ich nicht dafür gesorgt, dass du rechtzeitig verschwinden konntest. Unsere Leute sind gerade vorort und stürmen das Krankenhaus.“

„Wenn Cabrol nicht mithört, frage ich mich ...“

„Ich habe eine private Kommunikationsschleuse eingerichtet! Niemand kann unser Gespräch mithören!“

„Du hintergehst deine Vorgesetzten?“

„Ja.“

„Warum tust du das?“

„Weil hier etwas gewaltig stinkt und ich es herausfinden möchte, bevor sie dich festnehmen, falsche Geständnisse ausquetschen und für den Rest deines Lebens in ein finsteres kaltes Loch werfen!“

„Was zum Teufel läuft hier gerade?“

„Angeblich hast du das Land aus Geldgier verraten!“

„Geldgier?“

„Du hast es ziemlich dumm angestellt, wenn du illegale Beträge bei einem renommierten Bankinstitut deponierst und das Konto mit dem Namen deiner Frau benennst. Das war sehr dumm … was überhaupt nicht zu dir passt!“

„Welches Bankkonto? Welche Bank?“

„Harlam & Nauters, eine Schweizer Privatbank.“

„Ich besitze kein Konto in der Schweiz!“, widersprach ich.

„Jetzt schon!“, antwortete er gleichgültig. „Du fährst jetzt auf den Pacific Coast Highway auf und biegst ungefähr dreißig Meilen vor Malibu auf die Tuna Canyon Road ab. Die schmale Bergstraße führt dich zu einer Kreuzung vor der ein Laubbaum steht, dessen Stamm sich fast um neunzig Grad in den Straßengraben neigt. Du biegst in die Kreuzung und folgst der rechten Fahrspur bis zu einer Weggabelung. Später mündet sie in einen Sandweg. Linkerhand wirst du einen Abgrund entdecken, der völlig mit Laubbäumen verdeckt ist. Darunter steht mein Camper. Wir treffen uns dort!“

„Wann?“

„Ich mache mich in zwanzig Minuten auf den Weg!“

„Warum riskierst du den Job für mich?“

„Weil hier etwas gewaltig stinkt! So, und jetzt mach dich auf den Weg!“ Er legte auf.

„Wer war das?“, fragte Frank.

„Wieder Adam. Er sagte, dass wir Richtung Malibu fahren müssen.“

„Und dann?“

„Dann biegst du auf den Tuna Canyon Road ab!“

„Die wilde Bergstraße!“, nickte er. „Ich weiß, wo das ist.“

„Und was passiert mit Mum?“, fragte Dilan, die neugierig ihren Kopf zwischen die Vordersitze steckte. „Wird sie nach der Operation in ein anderes Krankenhaus verlegt?“

„Nein.“, erwiderte ich kurz und bündig. Frank blickte mich wieder entrüstet an. Ich konnte direkt seine Gedanken lesen – Wann willst du ihr die Wahrheit sagen? Sally ist tot!

Ich wollte es noch nicht wahrhaben! Ich konnte nicht glauben, dass Sally … das Liebste auf der Welt … wirklich tot? Bis jetzt waren es bloß Worte, die aus dem Mund eines Freundes flossen und solange Dilan und ich in Gefahr waren, konnte ich ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie würde Fragen stellen, Vorhaltungen machen und mich beschimpfen. Schließlich war es meine Schuld! Die Diskussionen, die Tränen, konnte ich im Moment nicht brauchen, weil ich einen kühlen Kopf bewahren musste, bis wir endlich in Sicherheit waren. Für Sally konnte ich nichts mehr tun. Und so beschloss ich die Trauer auf später zu verschieben, wenn ich es mir leisten konnte, den schmerzlichen Verlust zuzulassen. Wie es aussah, verstand mich nicht einmal Frank, obwohl er ganz genau wusste, was es bedeutete, eine Sache zuende zu bringen, bevor man trauerte. Wir hatten gemeinsam genug Freunde verloren. Viele sind in unseren Armen gestorben, aber bevor das Gefecht nicht vorbei war, durften wir uns nicht von Gefühlen leiten lassen. Wir mussten konzentriert bleiben, selbst dann noch, wenn es uns unmöglich erschien. Und jetzt war es genauso! Ich war noch im Gefecht! Keine Zeit zu trauern!

„Du bist plötzlich so … kalt!“, regte sich Dilan auf. „Du antwortest mir ständig mit inhaltsleeren Floskeln! Ja! Nein! Warte! Sag ich später! … Dad, verdammt!“

„Beruhige dich, Schatz!“

„Genau, Beruhige dich, Schatz! Das geht schon den ganzen Abend so! Jetzt sag mir endlich die Wahrheit!“, brüllte sie.

Ich blickte zu Frank, der unsere Auseinandersetzung über den Rückspiegel verfolgte. „Dilan!“, mischte er sich ein. „Dein Dad und ich sind SEAL's!“

Dilan's Gesicht verzog sich zu einer angewiderten Grimasse. Dann sammelte sie sich kurz und explodierte regelrecht. „Ihr seid was?“

„SEAL's!“, antwortete Frank mit ruhiger Stimme. „Spezialeinheit der Navy, Ausbildung in Coronado. Du hast sicher davon gehört.“

Sie warf sich zurück auf die Rückbank und schlug die Hände über den Kopf zusammen. „Dann hatte der Krieg nie ein Ende für dich?“

„Ja, Schatz!“, sagte ich. „Der Krieg hatte nie ein Ende!“

„Du … du bist jedesmal in den Irak geflogen, wenn du sagtest, dass du Auslandsgeschäfte tätigst? Statt Spielzeugpuppen zu verkaufen, hast du Leute umgebracht?“, stöhnte sie verärgert und überrascht zugleich.

„Nein, Schatz! Warte mit einem Urteil! Ganz so ist es nicht gewesen.“

„Wie war es dann?“, brüllte sie. „Du bist einer dieser Verrückten, die sich während der Ausbildung fast umbringen, um sich der Washingtoner Diktatur unterzuordnen und ihr Leben für Gott Vaterland opfern!“ Völlig fassungslos suchte sie nach den richtigen Worten. „Wie passen wir da rein? Deine Familie! Du hast Mum und mich jahrelang belogen!“

„Ich habe euch beschützt!“, entgegnete ich.

„Vor was? Vor wem?“, gestikulierte sie wild mit den Armen. „Da ist niemand! Das sind nur die Geister, die dein republikanischer Präsident erschaffen hat, um die Ölfelder der Saudis einzuheimsen! Und du bist sein Werkzeug!“

„Wir sind in Afghanistan und Irak einmarschiert, um den Frieden zu sichern! Der Anschlag auf die Twin Towers hat gezeigt, dass wir viel zu lange damit gewartet haben!“

„Da waren keine Flugzeuge! Das war doch nur ein intriges Spiel der Regierung! Sieh dir die Videos auf YouTube an!“

Frank schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Nicht schlecht! Deine Tochter hat wirklich Temperament!“

„Das ist nicht witzig, Frank!“, entgegnete ich erbost und wandte mich wieder Dilan zu. „Du willst anhand von ein paar YouTube-Video's wissen, was wirklich passiert ist?“

„Na klar! Immerhin ist das Internet die Aufklärungsmacht der Zukunft! Selbst WikiLeaks hat darüber berichtet! Dann hat man die Aufdecker verfolgt und so getan, als ob sie Verrückte wären!“

„Blödsinn! Jede Regierung hat die Mittel, andere auszuspielen! WikiLeaks war ...“

„Vergiss WikiLeaks!“, unterbrach sie mich forsch. „Darum geht’s doch gar nicht! Mich interessiert, welche Rolle du dabei spielst! Immerhin bist du fast drei Wochen im Monat nicht zuhause! Was hast du Mum gesagt, wenn sie dich während eines Feuergefechts angerufen hat? He Schatz, da läuft gerade Rambo im Fernsehen! Red mir bloß nicht ein, dass die vielen Narben auf deinem Körper vom Kistenschleppen stammen!“ Sie grunzte hämisch. „Und was wäre gewesen, wenn man dich gefangen genommen hätte? Hätte Mum dann den Fernseher aufgedreht und gesagt: He Dilan! Komm, sieh mal, Dad ist im Fernsehen! Auf Al Jazeera! Hinter ihm steht ein Krieger in schwarzer Ninja-Kluft und schneidet ihm gerade den Kopf ab!“

„Beruhige dich, Dilan!“

„Aber sicher doch!“, sagte sie und machte eine abfällige Geste. „Beruhige dich! Warte noch! Sag ich dir später! Deine verlogenen Bleib-ruhig-Floskeln kannst du dir in Arsch stecken!“

„Halt! So redest du nicht mit mir!“, ermahnte ich sie. Bei allem Verständnis für ihre Situation hatte sie dieses nun bis zur Verträglichkeitsgrenze ausgereizt.

„Was dann?“, sagte sie. „Was machst du, wenn ich nicht aufhöre? Mich schlagen? Mich erschießen? Machst du mit mir dasselbe wie mit deinen Feinden? … Soldat?“

„Schluss jetzt!“, brüllte Frank und blieb neben dem Pannenstreifen stehen. „Ich will kein Wort mehr von euch hören! Und zwar von euch beiden!“ Er drehte kurz seinen Oberkörper zurück zu Dilan. „Wir sind keine Mörder! Auch wenn es dir nicht passt, steht dir nicht das Recht zu, in diesem Ton zu sprechen! Wir haben keine Politik betrieben, sondern für den Landesfrieden gekämpft!“

„Ihr habt die Unruhen geschaffen! Weil es Washington so wollte! Dann habt ihr diese noch mit Waffengewalt niederschlagen. Den Frieden unseres Landes hat Washington gefährdet und nicht gesichert!“

„Du kannst uns nicht die Schuld an der Lage im Osten geben!“, versuchte ich ihr zu erklären. „Wir sind keine einfachen Soldaten! Wir sind diejenigen, die die psychopathischen Führer in dieser Region aufspüren und zur Rechenschaft ziehen! Wir sind diejenigen, die gefangen genommene Journalisten, Handelsreisende sowie alle anderen amerikanischen Bürger, aus der Geiselhaft befreien!“

„Man sieht ja, wie oft euch die Aktionen gelingen! Von zehn Fällen maximal ein- oder zweimal! Bei zehn Geiselnahmen rollen acht Köpfe! Der neunte wird mittels Lösegeld freigekauft und erst den zehnten schießt ihr frei! Eure Taktik geht nicht auf!“

„Du hast keine Vorstellung von unserer Arbeit!“, regte ich mich auf. „Glaubst du wirklich, dass die Medien über jeden einzelnen Vorfall berichten? Die Medien lieben negative Berichterstattung! Du hast keine Ahnung, wie schwierig es ist, eine Geiselbefreiung in feindlichem Gebiet unter Zeitdruck zu planen, zu taktieren und umzusetzen! Du hast keine Ahnung, wieviele Menschen wir im Laufe der Zeit gerettet haben oder wieviele Anschläge auf Touristenzentren vereitelt wurden! Du hast von dieser Welt, in der wir leben, keinen blassen Schimmer!“

„Richtig, Dad! Ich habe keine Ahnung, in welcher Welt du lebst! Genausowenig Ahnung, wie du von meiner Welt hast!“

„Wer hat dir diese Meinung eingeimpft? Das College? Irgendwelche Friedensaktivisten wie Code Pink? Das sind alles Leute, die Anhänger suchen, die Wahrheit nicht kennen und Menschen manipulieren wollen, um zu profitieren! Diese Leute kennen die Wahrheit nicht! Und sie vertreten nicht deine Interessen, sondern nur ihre eigenen!“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte zornig zur Seite. „So wie du!“

„Auch wenn ich für meine Familie nicht immer da war, habe ich es für euch und für das Vaterland gemacht! Ich habe euch beschützt!“

„Vor wem, Dad? Vor den Mudschaheddin oder vor der eigenen Regierung? Wie ich vorhin hörte, haben Amerikaner, also deine eigenen Kameraden, den Anschlag auf uns verübt, nicht wahr? Du hättest uns nicht vor den Moslems beschützen sollen, sondern vor deinen eigenen Freunden!“

„Es ist noch ungewiss, wer hinter dem Anschlag steckt! Ich werde es aber herausfinden und die Verantwortlichen samt Hintermänner zur Rechenschaft ziehen!“

Der Spielzeughändler

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