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DIGITALBIOGRAFISCHE EINSTIMMUNG
ОглавлениеPAULA ist im Februar 2018 geboren. Statistisch hat sie gute Chancen, das Jahr 2100 zu erleben. Wie wird die Welt dann aussehen? Vielleicht werden die Autos von den Straßen verschwunden sein. Es gibt sich selbst steuernde fliegende Fahrzeuge, die allen zur Verfügung stehen. In den Innenstädten gibt es keine Probleme mehr mit Parkplätzen und Feinstaub. Aus den Straßen sind längst überall Radwege geworden. Weil es gesund ist, wurde das Radfahren beibehalten. Die Räder sind herkömmliche Räder oder digital gesteuerte High-Tech-Bikes. Paula ist es gewohnt, die technischen Geräte im Haushalt über Sprachanweisungen zu steuern. Manches machen die Geräte auch längst selbst. Die Waschmaschine erkennt die Kleidungsstücke und wählt das richtige Waschprogramm aus.
Paula ist mein Enkelkind. Ich habe meinen ersten Computer 1987 gekauft. Da war gerade Paulas Mutter geboren. Der Computer war für mich erst einmal eine sehr komfortable Schreibmaschine. Meine Examensarbeit hatte ich noch mit einer ganz normalen Schreibmaschine, nicht einmal elektrisch, getippt. Dann gab es Schreibmaschinen, in denen man ungefähr eine Zeile abspeichern und im Display bearbeiten konnte. Der Computer war da etwas ganz anderes. Die Bedienung war nicht ganz einfach. Um Dateiverzeichnisse anzulegen und zu verwalten, habe ich ein paar DOS-Befehle gelernt und so direkt auf der Ebene des Betriebssystems gearbeitet. Programmieren habe ich nicht gelernt, obwohl ich mir immer mal wieder überlegt hatte, das zu tun. Als Paulas Mutter zwei Jahre alt war, saß sie schon hin und wieder mit mir vor dem Computer. Wir haben auf einer Piano-Tastatur mit der Maus geklimpert oder mit dem Malprogramm „Paint“ herumgespielt. Der Bildschirm war zweifarbig – beim ersten Computer schwarz und grün, beim zweiten schwarz und bernsteinfarben. Bei der Arbeit an meiner Doktorarbeit habe ich Texte in den Computer geschrieben – irgendwann war es mit ergänzenden Zeichensätzen möglich, auch Hebräisch und Griechisch zu schreiben. Für bibliografische Arbeiten benutzte ich ein einfaches Datenbankprogramm. Ein nächster Entwicklungsschritt war dann die Steuerung über Bildschirmsymbole. Als mir ein Freund Mitte der 90er-Jahre erstmals zeigte, wie das Internet funktioniert, war ich skeptisch, ob sich das durchsetzen würde. Das Einwählen über ein Modem hat mal funktioniert, mal nicht. Der damalige Telekom-Chef Ron Sommer hat bekanntlich gesagt: „Das Internet ist eine Spielerei für Computerfreaks, wir sehen darin keine Zukunft.“ Es kam anders. Irgendwann wurden fleißig E-Mails geschrieben und das Internet war so selbstverständlich, dass es zum Nachteil wurde, in einer Region zu leben, die keinen schnellen Zugang zum Internet hatte. Als Paulas Mutter Abitur machte, war nicht nur Internet selbstverständlich. PowerPoint-Präsentationen gehörten zum Schulalltag und durften auch als Prüfungsleistung erbracht werden. Längst hatte sich auch die mobile Kommunikation geändert. Es gab Handys, mit denen nicht nur telefoniert, sondern eifrig „gesimst“ wurde. Aus den Handys wurden Smartphones – hoch leistungsfähige Kleincomputer, die Telefon, Kamera, Rechner und vieles mehr sind. Die aber vor allem einen ständigen Zugang zum Internet ermöglichen. Vor allen Dingen durch die Messenger-Dienste und die sozialen Netzwerke haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten enorm ausgeweitet. In der Familiengruppe von WhatsApp gibt es fast täglich ein neues Paula-Bild. So sind die Großeltern als „digital immigrants“ (digitale Einwanderer) über die „digital native“-Eltern bestens über die Entwicklungsschritte der Digital Natives 2.0 (oder sind die ganz Kleinen jetzt schon 3.0?) informiert. Welche Veränderungen diese neue Generation dann in 30 oder 60 Jahren oder um die Jahrhundertwende beschreiben wird, ist kaum wirklich zu sagen. Und mit Prognosen möchte ich mich zurückhalten. Ich lag damals beim ersten Kontakt mit dem Internet gründlich schief. Allerdings ist zu erkennen, dass die Veränderungen sehr groß sein werden. Und vor allen Dingen werden sie wohl sehr viel schneller kommen als das, was ich als meine Digital-Biografie beschrieben habe. Aus der Biografie ist vielleicht zu erkennen, dass ich kein Technik-Freak war und bin, der auf jede neue Entwicklung sofort einsteigt. Aber als aufgeschlossen und auch experimentierfreudig würde ich mich schon bezeichnen. Mittlerweile ist mein Tabletcomputer für mich fast unentbehrlich geworden. Ich lese nicht nur Tageszeitungen auf dem Tablet, ich nutze es permanent, um aktuelle Nachrichten zu verfolgen, morgens die Tageslosung und den täglichen Bibeltext zu lesen, E-Mails zu beantworten und mir über das Netz Informationen zu beschaffen. Ich habe neue Technik immer sehr gerne genutzt, wenn ich den Eindruck hatte: Das hilft mir jetzt bei meiner Arbeit und bei der Kommunikation. So halte ich es auch heute. Zögerlich war ich bei Facebook, weil ich dachte, dass es zu viel Zeit beansprucht. Seit zwei Jahren nutze ich Facebook, und zwar als sogenannte „Person des öffentlichen Lebens“. Ich poste in meiner Funktion als Kirchenpräsident und habe es ganz gut in meine Arbeit integrieren können. Was dort zu lesen ist, schreibe ich selber. Die Öffentlichkeitsarbeit unserer Kirche unterstützt mich nur insofern, als sie für Bilder sorgt und Verweise auf andere Berichterstattungen hinzufügt.
Die digitale Technologie hat Kommunikation verändert und damit für sehr viele Menschen auch das tägliche Leben. Das ist offenkundig. Digitalisierung ist allerdings weitaus mehr. Digitale Technologie durchdringt nahezu alle Lebensbereiche. Deshalb wird sich vieles weiter verändern. Büros sind schon lange ohne Computer nicht mehr vorstellbar. Aber die Entwicklung geht weiter. Viele Routineaufgaben, aber nicht nur die, können von Systemen erledigt werden, die über sogenannte Künstliche Intelligenz (KI) gesteuert werden. Dies wird die Arbeitswelt verändern, und zwar nicht nur in den großen Fabrikhallen der industriellen Fertigung. Unsere unmittelbare Lebenswelt in unseren Wohnungen und Häusern wird immer digitaler werden. In der Medizin geschieht bereits vieles, Diagnose und Behandlung in Krankenhäusern und Arztpraxen werden sich wandeln. Es eröffnen sich großartige Möglichkeiten – manches, wovon Menschen immer geträumt haben. Zugleich macht das auch vielen Menschen Angst. Wo wird das hinführen? Machen wir uns als Menschen vielleicht sogar selbst überflüssig? Werden uns die Maschinen, die wir bauen, irgendwann beherrschen?
Ich bin überzeugt: Es ist richtig, solche Fragen zu stellen und Digitalisierung nicht einfach geschehen zu lassen. Sie muss gestaltet werden. Deshalb sollte mehr darüber nachgedacht und geredet werden. Es muss auch manches geklärt und entschieden werden. Mit diesem Buch möchte ich dazu einen Beitrag leisten. Was ich anbiete, ist ein Versuch, besser zu verstehen, was durch die Digitalisierung geschieht, und klarer zu erkennen, wo und wie wir handeln müssen. Ich schreibe nicht als Fachmann für Digitalisierung, sondern als Theologe und Pfarrer in einer kirchenleitenden Funktion. Dies mache ich, weil die Digitalisierung natürlich auch die Kirche herausfordert. Aber das steht für mich hier nicht im Vordergrund. Ich bin überzeugt, dass mit der Digitalisierung Grundfragen menschlichen Lebens berührt sind. Und darauf gibt es auch eine theologische Sicht, die ich für hilfreich und orientierend halte.
Im ersten Abschnitt beschreibe ich, warum die Digitalisierung eine so große Veränderungskraft hat. Mit der Digitalisierung sind sehr weit gespannte Erwartungen, ja sogar Erlösungsfantasien verbunden. Darum geht es im zweiten Kapitel. Der dritte Teil nimmt Entwicklungen in der Kommunikation, der Lebens- und Arbeitswelt, der Medizin und der Künstlichen Intelligenz in den Blick. Am Ende skizziere ich, was uns als Einzelne und als Gesellschaft herausfordert, und mache auch Vorschläge, was meines Erachtens zu tun ist.