Читать книгу Die verborgene Kriminalität: Straftaten im Dunkelfeld - Volker Mariak - Страница 7
Оглавление1. Vorwort – zwei brisante gesellschaftliche Themen und die Probleme der Gewaltdefinition und der Ethik
Ach nein - noch ein Fachbuch über häusliche Gewalt? Muss das sein? Besteht nicht mittlerweile auch in Deutschland eine wahre Flut wissenschaftlicher Texte zu diesem Thema (Täter- und Opferbefragungen, offizielle Kriminalstatistiken, fachtheoretische Erklärungsansätze der einzelnen Disziplinen)? Ist dieses Sonderforschungsgebiet nicht allmählich „abgegrast“ und ausgeschöpft?
Für die LeserInnen (kaum überraschend?) lautet die klare Antwort hier „Jein“. So kommt es stets darauf an, mit welcher wissenschaftlichen Intention und Blickrichtung die Muster familiärer Gewalt untersucht werden. Wie so oft besteht auch hier kein Königsweg, der alle Tatvarianten, sozialen Kontexte und Präventionsziele mit gleich guter Erklärungskraft ethisch, pädagogisch, soziologisch, psychologisch und (straf-)rechtlich abdeckt.
a) So führen Lamnek u. a. in ihrer umfassenden, informativen Studie (der hier weitgehend gefolgt wird) zum Beispiel mit Blick auf den früheren Tabubereich „Gewalt gegen Kinder“ aus:
„Nicht nur in quantitativer Hinsicht, was die Anzahl an Publikationen zu diesem Thema betrifft, sondern auch qualitativ, was die theoretische Durchdringung anbelangt, ist dieser Bereich aus dem Themenkomplex ‚Gewalt in der Familie’ relativ gut erschlossen (was man in Bezug auf andere Ausrichtungen häuslicher Gewalt nicht unbedingt feststellen kann).“
(Lamnek, Siegfried; Luedtke, Jens; Ottermann, Ralf; Vogl, Susanne: „Tatort Familie. Häusliche Gewalt im gesellschaftlichen Kontext“; 3., erweiterte u. überarbeitete Auflg., 2013, Springer, Wiesbaden, 2012, S. 133)
b) Die „anderen Ausrichtungen häuslicher Gewalt“ betreffen zum Beispiel die wissenschaftlich bestätigte Opferrolle auch von Männern. So schreibt Gemünden in seiner Arbeit zur Gewalt in Partnerschaften im Hell- und Dunkelfeld:
„In der häuslichen Sphäre stehen Frauen den Männern bezüglich (körperlicher) Gewalt in nichts nach, im Gegensatz zu ihrem außerhäuslichen Verhalten.“
(Gemünden, J.: „Gewalt in Partnerschaften im Hell- und Dunkelfeld. Zur empirischen Relevanz der Gewalt gegen Männer“; in: Lamnek, S., und Boatcă, M. [Hrsg.]: „Geschlecht – Gewalt - Gesellschaft“, S. 342 und S. 351, Opladen, 2003)
Tatsächlich hat sich bisher gezeigt, dass die weitgehend verbreitete Meinung, familiäre Gewalt sei fast ausschließlich männliche Gewalt schlicht nicht auf die vorgefundene Realität zutrifft. Bei der Meinungsbildung kommen hier nach Lamnek u. a. Alltagstheorien in das Spiel, die zum einen auf Geschlechterstereotypen beruhen, also soziokulturell tradierten Bildern zu Unterschieden zwischen Mann und Frau, die etwa der Frau – genetisch oder hormonell bedingt – einen geringeren Aggressionstrieb zuschreiben und damit die größere Wahrscheinlichkeit der „Opferrolle“ (Lamnek u. a., 2012, S. 64 f.).
Zum anderen wirken auf die Meinungsbildung Geschlechtsrollenstereotypen ein, die über (sub-)kulturell vermittelte Erwartungen dem Mann und der Frau spezielle gewaltrelevante Verhaltensweisen unterstellen: Der Mann hat eher aktiv und aggressiv zu handeln, die Frau verstärkt passiv und defensiv. Man denke nur an die Alltagsweisheiten „richtige Jungen dürfen nicht weinen“ und „ein artiges Mädchen prügelt sich nicht“ (siehe dazu die ausführlichen Darlegungen bei Lamnek u. a., 2012, S. 64 f.). Dass vorgenannte Meinungsbilder sich auch auf das strafrechtliche Anzeigeverhalten der Betroffenen und der Personen ihres Umfeldes auswirken, ist eine logische Folge: Die Kriminalisierung der Gewalt geschieht geschlechtstypisch (Lamnek u. a., 2012, S. 66). Wir werden später sehen, dass diese Problematik bei der Erfassung intrafamiliärer Gewaltkriminalität ein bedeutendes Hemmnis bildet und Kriminalstatistiken stark verfälscht.
c) Entsprechende Hürden und Forschungsdefizite finden sich ebenfalls bezüglich sozialer Phänomene wie der Gewalt unter Geschwistern. So betonen Steck und Cizek noch 2001, dass dazu nur wenige Studien verfügbar sind und zum Beispiel die psychische Gewalt unter Geschwistern bis heute praktisch unerforscht blieb (Steck, M., und Cizek, B.: „Exkurs: Geschwisterliche Gewalt“; In: Bundesministerium für Soziale Sicherheit und Generationen [Hrsg.]: „Gewalt in der Familie. Gewaltbericht 2001. Von der Enttabuisierung zur Professionalisierung“; S. 184 ff., Wien, 2001. Ebenfalls in: Lamnek u. a., 2012,
S. 166).
Diesen dürftigen Erkenntnisstand sehen Lamnek u. a. auch mit Blick auf die sexuelle Gewalt zwischen Geschwistern oder die Gewalt von Kindern gegen ihre Eltern: Im letzteren Fall konstatiert die Forschungsgruppe, dass ein öffentlicher oder wissenschaftlicher Diskurs kaum stattfindet. Hierbei läge ein Themenbereich vor, der in der Gewaltdiskussion nur wenig Beachtung fände (Lamnek u. a., 2012, S. 166 sowie S. 169).
Es ist fast unnötig, zu sagen: Alle diese Mängel tragen dazu bei, dass ein angemessenes Bild über die Realität der Gewalt in Familien auch heute nicht erstellbar ist. Die ungenügende Erforschung „anderer Ausrichtungen häuslicher Gewalt“ verweist nicht zuletzt auf wissenschaftliche Defizite genereller Art. Ein entscheidendes Handikap der Forschungsarbeit ist, wie erwähnt, die begrenzte, besser gesagt: völlig unzureichende Datenlage. Bereits im Jahre 1995 konstatierte Schneider, es stehe …:
„… kein geeignetes Datenmaterial zur Verfügung, auf dessen Grundlage Aussagen über die Entwicklung von Gewalt in der Familie gemacht werden können.“ (Schneider, U.: „Gewalt in der Familie“. In: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, 26 [1], S. 45)
Diese Aussage wird von der Forschungsgruppe um Lamnek gut fünfzehn Jahre später weiterhin bestätigt (Lamnek u. a., 2012). Ihre Bewertung der Situation in der Bundesrepublik im Gegensatz etwa zur US-amerikanischen Forschung:
„In Deutschland hingegen gab es bislang nur wenig Forschung über Ausmaß und Wahrnehmung häuslicher Gewalt in der allgemeinen Bevölkerung und damit Versuche, auch jene Personen zu erreichen, die nicht durch offizielle Kriminalstatistiken oder das Aufsuchen familien- oder frauenpolitischer Hilfseinrichtungen bzw. staatlich geförderte Begleitforschung erfasst wurden.“ (Lamnek u. a., 2012, S. 51)
Gerade im Bereich der dringend benötigten Langzeitstudien bestünden fatale Forschungs- und Datendefizite: Lamnek u. a. führen in diesem Kontext aus, dass im deutschsprachigen Raum offensichtlich keine Arbeiten zur Gewalt in den Familien durchgeführt wurden – mit wenigen Ausnahmen im Forschungsbereich Gewalt in der Erziehung (Lamnek u. a., 2012, S. 54). Als Fazit lässt sich festhalten:
Bereits diese knappe Situationsbeschreibung zum Forschungsstand „häusliche Gewalt“ zeigt, dass ein allgemein befriedigendes Erkenntnisniveau in weiter Ferne liegt. Damit ist zugleich aber auch die gesellschaftlich hochrelevante Zielsetzung der Reduzierung von Gewaltbelastung in den Familien nur stark eingeschränkt erfüllbar. Diese Zielsetzung wäre effektiver zu erreichen durch kluge Nutzung des Indikators „Gewalt gegen Tiere“, der nachstehend kurz skizziert werden soll und neben „häuslicher Gewalt“ das zweite brisante Thema abd eckt.
Die vorliegende Arbeit bietet keine umfassende neue Datenquelle und ebenfalls kein elaboriertes fachtheoretisches Erklärungsmodell und könnte dennoch zu einem weiteren (zugegeben: recht kleinen) Schritt auf dem Wege der Gewaltreduzierung in unserer Gesellschaft beitragen. Die Arbeitsziele lassen sich durch drei Hauptelemente definieren:
Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs
Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems
Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere"
Diese drei Kernthemen sind im nachfolgenden Text in knapper Form vorzustellen
1. 1 Teilziel a: Neue Impulse, speziell im öffentlichen Diskurs
Zunächst einmal gilt: Die Darlegungen zum Stand der aktuellen Gewaltforschung richten sich nicht ausschließlich an den engen Kreis damit befasster Fachwissenschaftler. Vielmehr wird in besonderem Maße auch der öffentliche Diskurs angesprochen. „Häusliche Gewalt“ determiniert unsere angeblich so aufgeklärt-friedfertige deutsche Gesellschaft in unterschiedlichsten negativen Facetten, die nicht nur unserem ethischen Anspruch entgegenstehen. Damit wird das Gewalt-Thema - schlicht gesagt - viel zu wichtig, um es auf den universitären Elfenbeinturm zu begrenzen. Es ist somit ein wesentliches Arbeitsziel, interessierte Laien und Fachleute jeder Coleur aus behördlichen Praxis-Bereichen und Initiativen der Sozialhilfe oder Pädagogik kritisch über wesentliche Fragen und markante Inhalte im Erkenntnisstand zu informieren. Die Arbeit steht damit in einer Linie mit dem bereits veröffentlichten Beitrag zur „Spirale der Gewaltkriminalität“ (Mariak, V.: „Die Spirale der Gewaltkriminalität – Tierquälerei und Tiertötung als Vorstufe der Gewalt gegen Menschen“, 2., erweiterte Auflg., Verlag tredition. Hamburg, 2019). Sie ist, wenn man so will, also ein „Fortsetzungsroman" auf kriminologischer Basis.
1. 2 Teilziel b: Darlegung des Hellfeld- / Dunkelfeld-Problems
Es besteht die Binsenwahrheit, dass die zivilisatorische Tünche des modernen Menschen mit ihrem Credo der Friedfertigkeit, der Gleichberechtigung aller und der Fairness im Zusammenleben auch in angeblich ethisch hochentwickelten Demokratien wie der Bundesrepublik oft genug nur hauchdünnn ist. Wirklich krass zeigt sich diese Tatsache in den amtlich aufgedeckten Straftaten gegen eigene Familienmitglieder (Hellfeld). Oftmals sind Frauen und Kinder als physisch schwächere Kontrahenten die Opfer häuslicher Gewalt, wenngleich sich auch eine Vielzahl von Fällen nachweisen lässt, in denen Männer in die Opferrolle gelangen - jedoch der Exekutive nur geringfügig bekannt und somit weitgehend ohne Sanktion.
Neben dem Hellfeld der polizeilich erfassten häuslichen Gewaltdelikte besteht ein immenses Dunkelfeld von familiären Gewalthandlungen, die - aus welchen Gründen auch immer – nicht zur Anzeige gebracht werden und in den Familien bzw. den Privathaushalten für Außenstehende „nicht existent" sind. Wahrgenommen wird allein die heile, bürgerlich-normale Fassade. Schaut man also nur auf das Zahlenwerk der jährlichen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), dann sollte jedem Interessierten bewusst sein, dass damit keinesfalls die „Kriminalitätswirklichkeit“ erfasst wird, sondern einzig und allein ein winziger Ausschnitt daraus. Wie sich die Relationen von Hellfeld und Dunkelfeld zueinander positionieren, veranschaulicht das nachstehende Schema:
(Quellen: Eigene Darstellung nach Abbildungen des Dunkelfeld-Hellfeld-Zusammenhangs in der kriminologischen Forschung. Siehe dazu zum Beispiel: Balschmiter, Peter, u. a.: „Erste Untersuchung zum Dunkelfeld der Kriminalität in Mecklenburg-Vorpommern“, der Abschlussbericht vom 25. 07. 2017, Dunkelfeldbefragung Mecklenburg-Vorpommern, Befragung zu Sicherheit und Kriminalität 2015 in Mecklenburg-Vorpommern, Projektleitung: Peter Balschmiter, Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Polizei und Rechtspflege des Landes MV, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, S. 15, Abb. 1: Verhältnis von absolutem und relativem Dunkelfeld; zitiert nach: Bundeskriminalamt 2015, S. 2)
Schema der Dunkelfeld – Hellfeld - Datenrelationen
Die vorstehende Übersicht zeigt das Datengefüge zum Kriminalitätsgeschehen im Hellfeld- und Dunkelfeldbereich. Auszugehen ist von einem absoluten Dunkelfeld, für das keine umfassenden Kenntnisse bestehen (1). Aus diesem Bereich entnimmt die Dunkelfeldforschung ihre Daten und deckt somit einen Bruchteil der Kriminalitätswirklichkeit auf (2). Zudem erfassen die Ermittlungsbehörden (primär die Polizei in der PKS) einen weiteren, wesentlich geringeren Teil der Kriminalität durch vorgelegte (Straf-)anzeigen. Dieser Ausschnitt „firmiert“ in der offiziellen Statistik unter dem Begriff Hellfeld (3). In wenigen Fällen besteht eine Deckungsgleichheit der Daten aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik. Diese Vermengung wird oft als gemeinsame Schnittmenge dargestellt (4). In beiden Datenerhebungen (Forschung und Polizei) finden jedoch auch Fälle ihren Platz, die strafrechtlich nicht relevant bzw. nicht zutreffend sind. „Fehlinterpretationen“ von Ereignissen entstehen sowohl bei Befragten als auch bei privaten Anzeigenden und Polizeikräften durch ihre individuell gefärbte Sicht auf soziale Konfliktsituationen (5 und 6). Nur am Rande: Verzerrungen resultieren auch durch Kriminalität, die nicht als solche gewertet und berichtet wird – etwa weil man sich nicht mehr genau erinnert oder Ereignisse als „alltagsnormal“ und „Familiensache" interpretiert. In diesen Fällen findet sich oftmals die Bezeichnung „doppeltes Dunkelfeld“, und natürlich sind sie ebenfalls Bestandteil des absoluten Dunkelfeldes. Letztendlich ergeben sich auch im Bereich der „Fehlinterpretationen“ Datenüberschneidungen aus Dunkelfeldforschung und Polizeilicher Kriminalstatistik (7). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass in der einschlägigen kriminologischen Literatur eine weitere Differenzierung genannt wird, welche die sogenannte „Grauzone" der Kriminalität umfasst (Balschmiter, Peter, u. a., 2017, S. 16):
„Darüber hinaus zählt Schneider 35 Delikte, bei denen der Täter nicht abgeurteilt (Einstellung durch die Staatsanwaltschaft) oder nicht verurteilt wird (Freispruch mangels Beweises) zum relativen Dunkelfeld. Er bezeichnet Delikte bei denen der Täter nicht ergriffen bzw. überführt wurde auch als ‚Graufeld der Kriminalität’ […] Für die Kriminalitätsmessung im Hell- und Dunkelfeld ist dies von Bedeutung, weil bei diesen Sachverhalten nicht aufgeklärt werden kann, ob es sich tatsächlich um Kriminalität (oder z.B. um eine zivilrechtliche Angelegenheit und damit um eine falsche Sachverhaltseinschätzung) handelt oder ob auch tatsächlich angezeigte Straftat vorliegt (z. B. Vortäuschung eines Sexualdelikts).“
Im Fazit ist die Feststellung wichtig, dass weder Dunkelfeld-Daten noch Hellfeld-Statistiken das deutsche Kriminalitätsgeschehen abbilden können und auch in der Ergänzung dazu nicht dazu in der Lage sind.
1. 3 Teilziel c: Diskussion des Indikators „Gewalt gegen Tiere“
Wie bereits in der oben erwähnten Arbeit (Mariak, 2019) wird Gewalt gegen Menschen mit voraufgehender oder parallel stattfindender Gewalt gegen Tiere verknüpft. Wie sich in einer Vielzahl US-amerikanischer Studien bestätigte, gehen Tierquälerei und Tiertötung oftmals einher mit Gewalthandlungen gegen Menschen. Leider hat sich diese Erkenntnis zunächst nur in wenigen deutschen Forschungsarbeiten etabliert. Deutlich wird jedoch - speziell für die Problematik „häusliche Gewalt“: Tierquälerei und Tiertötung sind wissenschaftlich haltbare Indikatoren, die frühzeitig Auskunft geben können über Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung im familiären Binnenbereich und im näheren sozialen Umfeld. Bei den US-Forschern Spencer, Kohl und McDonald heißt es dazu:
„In recent years, a strong connection has been made between animal abuse and domestic violence. Because abusers target the powerless, crimes against animals, spouses, children, and the elderly often go hand in hand.”
(Spencer, Kohl und McDonald, 2012, S. 2; Zitat: URL Hodges, C.: „Why You Should Join The War On Animal Cruelty”, in: Coalition for Ani mal Justice) Und weiter führt die Forschungsgruppe aus:
„The deadly violence that has occurred in schools in recent years has, in most cases, begun with cruelty to animals. […] Many of the school shooters committed acts of animal cruelty before turning their aggression on classmates, teachers, and parents.” (Spencer, Kohl u. McDonald, 2012, S. 4)
Eine weitere Stimme aus dem Kreis US-amerikanischer Fachwissenschaftler sei hier gehört. Die erfahrene Kriminologin Prof. Karel Kurst-Swanger (Oswego State University of New York) betont, mit Blick auf vielfältig vorliegende Forschungsresultate, ebenfalls den Zus ammenhang von häuslicher Gewalt und Tierquälerei / Tiertötung:
„However, the evidence is clear that there is a strong connection that should not be minimized. When humans are vulnerable to abuse and neglect, animals are likely to be as well. When animals are identified as being abused or neglected, it is feasible that humans may also be at risk of victimization. The risk within abusive families appears to be of greatest concern. Yet, little has been done to document the extent, on a large-scale basis, of the conditions in which animal mistreatment exists within abusive family environments. Animal welfare officials have long known that many victimized animals live with problematic families. At the same time, child and adult protective caseworkers and domestic violence advocates have observed or heard reports from their clients that animals have been mistreated. Most states have no protocols or formal policy to address the cross-system issues inherent when both animals and humans are at risk of abuse.”
(Kurst-Swanger, Karel: „Animal abuse: The link to family violence”; in: Jackson, Nicky Ali [Ed.]: „Encyclopedia of Domestic Violence”, Routledge, New York und London, 2007, S. 26)
Mittlerweile wird ebenfalls in der deutschsprachigen Forschung – wenn auch sehr verhalten - auf die wichtige und (primär von US-Forschern) belegte Indikatorfunktion der Gewalt gegen Tiere hingewiesen. So findet sich in der das weite und diffizile Feld familiärer Gewalt umfassend abdeckenden Forschungsübersicht von Lamnek u. a. immerhin der Hinweis, dass Formen psychischer Gewalt auch Drohungen und Nötigungen beinhalten, die sich auf mögliche Gewalt gegen Tiere beziehen:
„Weitere Formen psychischer Gewalt, die weit weniger auf Verständnis stoßen als der kurzfristige Liebesentzug, sind Drohungen, Nötigungen und Einschüchterungen. Auch die Androhung, Dritte zu verletzen (Verwandte, Haustiere) wird eingesetzt, um den eigenen Willen durchzusetzen.“ (Lamnek u. a., 2012, S. 115)
Mit Blick auf den „Klassiker“ physische Gewalt stellen Lamnek u. a. klar, dass dazu neben sexueller Gewalt wie etwa der Vergewaltigung auch die Gewalt gegen „Sachen“ zu rechnen ist, die für den Geschädigten einen Wert haben. In der Aufzählung heißt es dann: „… z. B. Kleidungsstücke, Andenken, Spielzeug oder auch Haustiere…“ (Lamnek u. a., 2012, S. 9. Hervorhebung durch V. Mariak). Am Rande interessant ist hier die Benennung der Haustiere als „Sachen“, wobei Lamnek u. a. dieses Wort immerhin in Anführungszeichen setzen und derart als bedenkenswert hervorheben.
Man folgt hier wohl der immer noch aktuellen deutschen Rechtslage, nach der Tiere eben als „Sachen“ definiert werden (z. B. StGB § 242 (Diebstahl: Strafrechtlicher Begriff der Sache) oder rechtlich als solche zu behandeln sind (BGB § 90a Satz 3). Damit resultiert auch im Fall der ärgsten Tierquälerei – juristisch-logisch korrekt – nur eine Beschädigung „lebender“ Sachen (siehe dazu auch: Mariak, 2019, S.32 ff.).
Insgesamt bleibt jedoch als positiv festzuhalten: Auch in deutschsprachiger Forschung (Deutschland und Österreich) wird nunmehr anerkannt, dass angedrohte oder ausgeführte Tierquälerei und Tiertötung (psychische oder physische Gewalt) in das Spektrum der bestimmenden Faktoren „häuslicher Gewalt“ zu zählen ist. Nun rechtfertigt sich Sozialforschung nicht als Selbstzweck: Sie ist grundsätzlich dem ethischen, soziokulturellen und auch (straf-)rechtlichen Nutzen der Gesellschaft und ihrer Teilgemeinschaften verpflichtet. Das bedeutet im konkreten Fall: Zielsetzung ist die Minderung innerfamiliärer Gewalt, die – zumindest anzustrebende – körperliche und geistige Unversehrtheit der Familienmitglieder. Der Indikator „Gewalt gegen Tiere“ wäre folglich in der Präventionsarbeit und praktischen Familienhilfe vor Ort einsetzbar. Polizeiliche Behörden und die Judikative könnten mit dieser Zusatzinformation ihre Eingriffe durch das Früherkennen häuslicher Gewalt effektiver gestalten und fatale Eskalationen verhindern.
Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich ist Tierschutz keinesfalls speziesistisch zu begrenzen auf ein soziales Vehikel zur Verminderung der Gewalt im rein zwischenmenschlichen Bereich. Wir wären dann wieder bei Immanuel Kant und seiner These: eine Verrohung des Menschen durch Tierquälerei führe ebenfalls zu Unbarmherzigkeit und Brutalität gegenüber seinen Mitmenschen. Die gängige Interpretation der Kantischen Tierethik unterstellt, dass diese Aussage nicht etwa das Leid und Unrecht anprangert, welches betroffenen Tieren widerfährt. Vielmehr handle nach dieser Tugendlehre Kants der Tierquäler nur verwerflich, weil er seine Pflicht gegen sich selbst und seine Mitmenschen verletzt: Indem er Tiere quäle, mindere er zugleich seine sozial wertvolle Fähigkeit zur Empathie gegenüber der eigenen Spezies (URL Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften [drze], Kapitel III.: „Kernfragen der ethischen Diskussion. Der moralische Status von Tieren und Menschen.“, Abschnitt: „1. Tiere haben keinen genuinen moralischen Status: sie sind nicht um ihrer selbst willen schützenswert“. Siehe dazu auch: Mariak, 2019, S. 14 f.
Zur Kantischen Tierethik siehe: Kant, Immanuel: „Die Metaphysik der Sitten“, Teil: „Episodischer Abschnitt. Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: das, was Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere zu halten“, § 17, Sammlung Hofenberg, vollständige Neuausgabe mit einer Biographie des Autors, Hrsg.: Karl-Maria Guth, 2. Auflage, Verlag: Contumax, Berlin, 2016. S. 224 f.)
Die Problematik dieser philosophisch üblichen Interpretation wurde in früherem Text bereits erörtert. Sie soll daher hier nicht weiter vertieft werden (siehe dazu: Mariak, 2019, S. 14 ff.). Es ist jedoch zu betonen, dass aus kriminologisch-pragmatischer Sicht Tierquälerei bzw. Tiertötung oftmals das „Probierfeld“ für die Gewalt gegen Menschen darstellt. Der Zusammenhang zwischen beiderlei Gewaltformen wurde, wie erwähnt, wissenschaftlich ausführlich belegt. So gesehen ist Tierschutz ebenfalls Menschenschutz: Die Beachtung des Indikators „Gewalt gegen Tiere“ bzw. „Tierquälerei / Tiertötung“ kann in gefährdeten Familien deutliche Warnzeichen für die Wahrscheinlichkeit weiterer Übergriffe aufzeigen. Tierschutz und Gewaltprävention als Primärziel dieser speziellen, familienbezogenen Sozialforschung? Das klingt zunächst einmal logisch und ethisch erstrebenswert, birgt aber soziologischen bzw. kriminologischen Sprengstoff und bedarf weiterer Vermittlungsarbeit in Forschung und Praxis.
Eine abschließende Bemerkung. Es heißt durchaus zu Recht: „Wer Tiere quält, der quält letztlich auch Menschen" bzw., er hätte keine Skrupel, die Gewaltspirale eine Drehung weiter zu treiben. Aber ist er damit automatisch auch ein Psychopath? In jedem der folgenden Fallbeispiele beging der Täter schlimmste Gewalt gegen Mensch und Tier und wurde von forensischen Experten prompt als Psychopath bezeichnet. Doch diese Definition hat ihre Tücken und scheint immer dort Anwendung zu finden, wo psychiatrische Gutachter mit ihrem Latein am Ende sind. Um etwas Licht in dieses wissenschaftliche „Dunkelfeld" zu bringen, sind zentrale Fragen zu stellen: Welchen Erklärungswert hat die oftmalige, gern genutzte Psychopathie-Zuschreibung mit Blick auf (häusliche) Gewalt? Wird durch dieses Konzept das Gewalthandeln verständlicher? Oder handelt es sich nur um eine Leerformel, einen praktischen Sammelbegriff ohne Krankheitswert? Und was genau ist ein Psychopath, wie wird er - wissenschaftlich fundiert - von „normalen“ Mitmenschen abgegrenzt?
Natürlich lässt sich hier keine erschöpfende Antwort geben, aber es soll doch versucht werden, dieses wichtige Erklärungsmuster kritisch zu hinterfragen, um ein erstes, bescheidenes Meinungsbild zu ermöglichen.
1. 4 Ein kurzes Wort zu Definitionsproblematik & Zitierweise
a)
Am Beginn jeder soliden wissenschaftlichen Studie steht die Definition des Forschungsgegenstandes und der relevanten Variablen. In diesem Fall ist die inhaltlich und logisch schlüssige Erklärung dessen, was man unter „häuslicher bzw. familialer Gewalt“ und der „Gewalt gegen Tiere“ versteht, natürlich ein Muss. Andernfalls redet man wie der Blinde von der Farbe und öffnet Missverständnissen und Analysefehlern Tür und Tor. Nur: wie lassen sich diese Begriffe angemessen fassen? Leider ist eine kurze Darlegung wissenschaftlicher Definitionsmöglichkeiten unvermeidbar, wenn die Verdeutlichung dieser Problematik ansteht. Um es mit einem Klassiker der empirischen Sozialforschung zu sagen:
„Intersubjektive Überprüfbarkeit des Forschungsprozesses setzt präzise Definitionen voraus. Diese haben üblicherweise die Form von Nominaldefinitionen: ‚Wir verstehen unter x einen Gegenstand mit den Eigenschaften E1 bis En.’“
(Kromrey, Helmut, unter Mitarbeit von Ollmann, Rainer: „Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung“, 3. Auflage, S. 70; Verlag: UTB / Leske & Budrich, Opladen, 1986)
Gemeint ist damit eine wissenschaftliche Begriffsbildung, die es vermeidet, wie zum Beispiel in Realdefinitionen „das Wesen“ der Sache erfassen zu wollen. Im Gegensatz zu Nominaldefinitionen - die im Rahmen der gegebenen Forschung auf Zweckmäßigkeit und die Vereinbarung eines bestimmten Sprachgebrauchs abstellen – beinhalten Realdefinitionen den Anspruch, das Wesentliche eines Phänomens wie etwa Gewalt hervorzuheben. Am Ende dieser zentralen Vorentscheidungen steht jedoch die Operationalisierung:
„Die Gesamtheit der operationalen Vorschriften wird häufig auch als ‚operationale Definition’ eines Begriffs bezeichnet. In dem hier gebrauchten Sinn ist ‚operationale Definition’ jedoch nicht eine weitere Definitionsmöglichkeit neben der Nominal- und der Realdefinition, sondern sie ist ein in der Forschung für jeden Begriff - gleichgültig, auf welche Art definiert; gleichgültig, ob mit direktem oder indirektem Bezug - notwendiger Übersetzungsvorgang in Techniken bzw. Forschungsoperationen.“ (Kromrey, 1986, S. 84)
Dieser „Übersetzungsvorgang" schafft jedoch ein zentrales soziologisches Problem: Es ensteht bei dem Versuch, den Gewaltbegriff möglichst präzise zu erfassen und für die Forschungspraxis der Surveys und Statistiken einzugrenzen: Die stets am Anfang stehende Kardinalfrage lautet hierbei: Welche Handlungen oder Unterlassungen müssen definiert und unter den Gewaltbegriff subsumiert werden, um überhaupt sinnvolle, inhaltsgenaue Aussagen treffen zu können? Schlicht gesagt: Was zählt als Gewalt? In ihrer Erörterung des Gewaltbegriffs zeigen Lamnek und Boatcă (Lamnek, Siegfried; Boatcă, Manuela [Hrsg.]: „Geschlecht – Gewalt – Gesellschaft"; Leske und Budrich, Opladen, 2003, S. 15; Hrsg: Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Band 4) auf, welche Bandbreite der Definitionsversuche es in den Sozialwissenschaften bereits gegeben hat. Von der verbalen Gewalt über die strukturell-kulturelle Gewalt bis hin zur symbolischen Gewalt ist alles vertreten. Dieser Diskurs soll hier aber nicht Thema sein. In der Regel erfolgt die Unterscheidung jedoch recht pragmatisch nach physischer und psychischer Gewalt gegen Personen sowie nach der Gewalt gegen Sachen, wobei so mancher deutscher Sozialwissenschaftler gern der dumm-verquasten, bundesrepublikanischen Gesetzgebung folgt und Tiere ebenfalls als („lebende") Sachen begreift.
Mit Blick auf den angehäuften soziologischen „Erklärungsreichtum" wird daher auch vor einem inflationär genutzten Gewaltbegriff und daraus resultierenden „Thematisierungsfallen" gewarnt (Lamnek und Boatcă , 2003, S. 15; siehe auch: Heitmeyer, W., und Hagan, J.: „Gewalt. Zu den Schwierigkeiten einer systematischen internationalen Bestandsaufnahme“, in: Heitmeyer, W., und Hagan, J., [Hrsg.]: „Internationales Handbuch der Gewaltforschung", Wiesbaden, 2002, S. 21). Lamnek und Boatcă führen dazu aus:
„Dieses Spektrum von Definitions(ver)suchen, das von der ‚minimalistischen' Vorstellung von Gewalt als Aktionsmacht bis hin zur Gewalt als ‚gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit' (Berger/Luckmann 1971) auf der mikro- wie auf der makrosozialen Ebene - und somit als Definitionsmacht - reicht, findet sich auf jedem Gebiet der Gewaltforschung in nuce wieder, […]“ (Lamnek und Boatcă , 2003, S. 16)
Wer also meint, dass ein gut operalisierbarer Gewaltbegriff durch die Definitionen des deutschen Strafgesetzbuches bereits vorgegeben und soziologisch sinnvoll nutzbar sei, wandelt auf einem schmalen Grat. Der juristische Gewaltbegriff wird durch die jeweilige Gesellschaftsform, ihre aktuellen Machtstrukturen und kulturellen Prägungen bestimmt. Dies zeigt sich zum Beispiel an der Deliktform der in früheren Gesellschaften durchaus legitimen körperlichen Züchtigung von Frau und Kind durch den „Paterfamilias". Es zeigt sich ebenfalls an der relativ neuen strafrechtlichen Sensibilität für Übergriffe wie dem sogenannten „Stalking". Fazit: Der strafrechtliche Gewaltbegriff ändert sich im Zeitablauf und primär mit dem Wechsel derjenigen, die in den Gemeinschaften das „Sagen" haben und somit auch legislative Definitionsmacht besitzen. Da dies lange Zeit eine nur von Männern gehaltene Position war (und auch heute sind wir noch ein gutes Stück von echter Gleichberechtigung entfernt), ist der Gewaltbegriff ebenfalls von Determinanten im Geschlechterverhältnis abhängig und weitgehend „männlich“ geprägt.
Um angesichts dieser Probleme nicht handlungsunfähig zu werden, hat man daher in der Forschung versucht, das Gewaltgeschehen durch Konzentration auf einen „unverzichtbaren Kern“ einzugrenzen (von Trotha, T.: „Zur Soziologie der Gewalt.", in: von Trotha, T. [Hrsg.]: „Soziologie der Gewalt.“, in: KZfSS Sonderheft Nr. 37, Opladen, 1997, S. 14). Mit dieser Intention lassen sich etwa die Operationalisierungs-Ansätze von Neidhardt und Popitz verknüpfen, die auch bei Lamnek und Boatcă genannt werden. (Lamnek und Boatcă 2003, S. 16). So lautet der Definitionsvorschlag von Neidhardt zum Beispiel: Gewalt sei eine … :
„physische Zwangseinwirkung von Personen mit physischen Folgen für Personen“ (Neidhardt, F.: „Gewalt - soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs.", in: BKA [Hrsg.]: „Was ist Gewalt? Auseinandersetzungen mit einem Begriff.", Bd. 1, Wiesbaden, 1986, S. 123; zitiert nach: Lamnek und Boatcă , 2003, S. 16)
Und Popitz spricht von Gewalt als einer … :
„Machtaktion, (…) die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“ (Popitz, H.: „Phänomene der Macht.", Tübingen, 1992, S. 48; zitiert bei: Lamnek und Boatcă, 2003, S. 16)
So klar gefasst diese engeren Definitionsversuche klingen: Es fehlt u. a. eine entscheidende Komponente – die Ausübung psychischer Gewalt. Aktionen des Psychoterrors in Partnerschaften und Familien werden hier völlig ausgeblendet. Generell erfährt dieser eng begrenzte Gewaltbegriff eine wie folgt begründete Ablehnung:
„[…], dass sich erstens dadurch der Forschungsgegenstand seinerseits mit verengt, indem bestimmte Handlungen, die zum Kontext von Gewalt gehören, nicht mehr erfasst werden […]; und zweitens die grundsätzliche Kritik an der Objektivierbarkeit eines historisch und kulturell konstituierten Gewaltbegriffs, dessen Abhängigkeit von sozialen und normativen Kontexten selbst durch die Anbindung an die Materialität von Schmerz und Verletzung nicht aufgehoben werden kann […]“
(Lamnek und Boatcă, 2003, S. 16)
Wie auch immer die Kritik bezüglich einer „Präzisierung der Reichweite" (Lamnek und Boatcă, 2003, S. 17) des Gewaltbegriffs ausfällt (und diese Diskussion ist längst noch nicht abgeschlossen), so bleibt stets eine zentrale Problematik auch für die „verengte" Operationalisierung von Gewalt: Die unterschiedliche Sichtweise befragter Täter und Opfer auf verübte Gewalthandlungen. Je nach persönlicher Sozialisation, nach subjektivem Rechtsempfinden und eigener Interessenlage wird der betroffene Personenkreis recht unterschiedliche Bewertungen verübter oder erlittener Übergriffe vornehmen und bekunden. Damit findet sich - abgesehen von Filterprozessen der Exekutive und der Judikative - auch auf dieser Ebene kein für alle verbindlicher, einheitlicher Maßstab der Gewalt. Dass sich unter diesen Umständen polizeiliche Hellfeld-Statistiken und Resultate der Dunkelfeldforschung nicht 1: 1 gegeneinander aufrechnen lassen und selbst Dunkelfeldstudie nicht stets auch mit Dunkelfeldstudie „kompatibel“ und „komparabel" ist, liegt auf der Hand.
b)
Zum Abschluss noch eine Überlegung, die nicht zuletzt dazu führte, dass exemplarische Darstellungen von häuslicher Gewalt anhand gut dokumentierter Kurzbiografien als Kern vorliegender Schrift gewählt wurden. Gewaltforscher wie zum Beispiel der Rechtswissenschaftler und Soziologe Jürgen Gemünden betonen die Dringlichkeit einer tieferen wissenschaftlichen Sicht auf die Konfliktfelder in Partnerschaft und Familie:
„Wir brauchen nicht nur quantitative Forschung wie in den USA, sondern auch qualitative Forschung, die Gewalt als Teil von Kommunikation in Partnerschaften begreift."
(Gemünden, Jürgen: „Gewalt in Partnerschaften im Hell- und Dunkelfeld. Zur empirischen Relevanz der Gewalt gegen Männer“; in: Lamnek und Boatcă, 2003 , S. 351)
Genau diese Mechanismen der (Fehl-)Kommunikation, der Aggression, und die letztlich daraus erwachsende psychische und physische Gewalt lassen sich in den nachfolgenden Fallbeispielen besonders gut beobachten. Hierbei wird aber nicht nur Gewalt in Partnerschaften aufgezeigt, sondern auch innerfamiliäre Kindesmisshandlung, welche oftmals die Wurzel für eigenes, späteres Gewalthandeln darstellt.
Ein letztes Wort zum Prozedere: Sowohl in den zehn Kurzbiografien als auch im folgenden zweiten Teil mit vorwiegend theoretischem Inhalt wurden längere Zitate genutzt. Dies geschah, um der Leserin bzw. dem Leser Experten-Meinungen und fachliche Darlegungen ohne fremden, sprachlichen Filter nahebringen zu können. Vielfach ist die spezielle Wortwahl von Gutachtern und Gewaltforschern entscheidend. In diesen Fällen sollte man auf die eigene „stille Post" verzichten, damit fachlich Interessierte möglichst aus erster Hand zu unverfälschter Information gelangen und sich ein angemessenes, persönliches Urteil bilden können.