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Zweites Kapitel
Cannanore, die Fischer und das Meer

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Inhaltsverzeichnis

Ehe die Morgendämmerung hereinbrach, trieb es mich hinaus, um den stillen Kampf der roten Morgensonne mit dem grünlichen Silberlicht des Mondes zu sehen. Oft sah ich die einsamen, hohen Palmen am Meer auf der einen Seite in rote Glut getaucht, während die andere noch die silbernen Wahrzeichen des Mondlichts trug, aus dessen kaltem Leuchten sie langsam im Morgenwind zu erwachen schienen. In solcher Licht- und Farbenpracht standen sie gegen das bewegte Meer, dessen Stimmen den heraufeilenden Tag begrüßten.

Aber ich sollte diesen Morgen nicht zur Freude des herrlichen Anblicks gelangen, denn Panja hatte mit mir zu verhandeln.

„Sahib,“ rief er, als ich um Wasser bat, „was ist dies für ein Haus, in welches du eingezogen bist!“

Ich begann es zu beschreiben, aber er unterbrach mich mitleidig.

„Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht!“ rief er, und die herausfordernde Traurigkeit seiner Augen grenzte geradezu an Mißachtung.

„Sieh, Panja,“ sagte ich so freundlich, als es mir möglich war, „ich brauche nun Wasser, bedenke die Sitten meines Landes.“

Da führte mich Panja durch den Garten, ohne noch etwas zu sagen, denn er verzweifelte offenbar daran, mich anders als durch Tatsachen von der Ungerechtigkeit meiner Forderung zu überzeugen.

Die ganze Frische des indischen Frühlingsmorgens umfing uns. Alle Blüten strömten von Tau über, ihre Farben leuchteten im ersten Licht, so daß meine Augen das Entzücken dieser Pracht nicht zu fassen vermochten, und der Geruch von Nässe, Erde und tausend aufbrechenden Blumen ließ mich taumeln vor Glück. Auch über Panja kam dieser Rausch, als risse das irdische Lebensheimweh der Blühenden seine Seele, wie auch die meine, mit sich empor. Er hob die braune Nase in die Luft, lächelte breit in einfältigem Behagen und sah sich nach mir um. Mit allen Sinnen sog er die Frische und das Licht ein, und sein dunkler, nackter Körper glänzte von Tau.

Als wir am Ende des Gartens, dicht beim Palmendickicht, an der Zisterne anlangten, erblickte ich anfänglich nichts als eine turmartige Wildnis von Schlinggewächsen, und erst als Panja die Ranken zerteilte, gewahrte ich die zum Wasserspiegel niederführende Treppe, die wie in eine unterirdische Höhle hinabging. Die zerbröckelten Steinquadern in der Dämmerung waren von seltsamen Moosen übergrünt und fast ganz bedeckt, ein kühler Modergeruch kam mir entgegen, und Panja, der den Eifer seiner Entrüstung vergessen zu haben schien, warnte mich mit einem geflüsterten Wort und sah fast ehrfürchtig drein. Sein braunes Gesicht unter dem weißen Turban schaute aus einer Wolke halboffener, roter Blüten hervor, die so groß wie Kinderköpfe waren. Ein Falter, wie aus blauem Samt, erhob sich schläfrig aus ihrem Ampellicht und zog lautlos davon, in die Pflanzenwildnis hinein.

„Du darfst nicht hinabsteigen,“ sagte Panja, „überall hockt der Tod im halben Licht, hierhin geht er aus dem Tag der Menschen; tritt zurück. Ich habe das Wasser gesehen, es ist grün wie sterbendes Laub und von Pflanzen bedeckt, es trägt Blumen, die niemals ein Sonnenstrahl getroffen hat und die deshalb giftig sind, wie die Schlange und das Fieber, die bei ihnen wohnen.“ Dann besann er sich plötzlich, seine kindlichen Augen verloren ihren andächtigen Ernst und er sagte mit gerunzelter Stirn:

„Solch ein Haus mietest du! Wie lange willst du hier bleiben? Wir reisen nach Bitschapur zurück, ich werde alles in die Koffer stecken.“

Auf dem Rückwege trafen wir Pascha, den Koch, der über die Straße kam und auf das Haus zuging. Einen roten Tonkrug mit Wasser auf der Schulter, schritt er durch die Sonne, die inzwischen aufgegangen war. Aus dem Hause drang Holzfeuergeruch. Pascha grüßte mich mit der freien Hand und schritt stumm an mir vorüber. Mir war zumute, als sei er stolz auf sein Land und auf seine Pflicht, gönnte mir das erste nicht und täte das zweite um seiner selbst willen. In seinen großen, samtartigen Augen, unter den langen Wimpern, verbarg sich sein Verlangen nach den Bergen. Seine männliche Gestalt entzückte mich, ich empfand plötzlich den Namen, den ich ihm zugelegt hatte, als lächerlich und wünschte mir, den seinen zu wissen, nur um ihn vor mich hinsagen zu können, diesen fremdartigen Namen seines fremden Geschlechts aus den Bergen. Mich ergriff aufs neue jene sonderbare Traurigkeit, die mich in Indien nie verlassen hat, und die dem menschlichen Herzen, allem Unerforschbaren gegenüber, eigentümlich ist.

Panjas empfindsamer Sinn für alle meine Regungen, die sein Interessengebiet berührten, ahnte auf seine Weise, daß Paschas wortlose Tätigkeit mir wohlgefiel. Er sagte:

„Diese Hunde aus den Felsspalten haben eine Spürnase für alles Genießbare. Er wird aber vergessen, das Wasser zu kochen, und morgen hast du Fieber, Sahib. Ich werde also nach dem Rechten sehen.“

Er ging ins Haus, und gleich darauf hörte ich Elias klagen. Die Sonnenstrahlen wärmten bereits spürbar, obgleich ihr Licht noch rötlich war. Der Garten dampfte, und Vogelstimmen, mit den ersten Lauten der ausschwirrenden Insekten gepaart, drangen aus der nebligen Morgenschwüle des Dickichts. Ich verließ den gärenden Garten und betrat den rötlichen Sandweg, der unter uralten wilden Feigenbäumen breit dahinführte, auf Cannanore zu, in freierer Luft. Mein Haus lag etwa in der Mitte zwischen der Stadt und dem Meere; um die eine oder das andere zu erreichen, mochte etwa eine Viertelstunde Wegs zu gehen sein. So entschloß ich mich, die Stadt zu einem kurzen Besuche zu betreten, während Pascha den Tee bereitete.

Der breite Weg war fast leer, über Cannanore lag ein bläulicher Holzfeuerrauch, der aus den Palmen stieg, die Ortschaft war ganz von ihnen verborgen, wie die meisten Städte und Dörfer der fruchtbaren malabarischen Küste. Es war so still umher, daß ich das Rauschen des Meeres an den Felsen vernahm, und das Sonnenlicht war von unfaßbarer Milde und Wohltat. Ein Ochsenwagen knatterte langsam heran, die hohen Räder mahlten leise im Sand, und ein Hindu hockte auf der Deichsel, dicht zwischen den Schwänzen der prächtigen, geduldigen Tiere, sein Kinn zwischen den mageren Knien. Er blinzelte scheu zu mir herüber, ohne einen Gruß zu wagen, die gewaltigen Hörner der Ochsen schaukelten gemächlich wohl einen Meter lang über den blendend weißen Rücken.

Am zerfallenen Stadttor erhob sich zur Rechten und zur Linken eine einsame Palme, jene nach rechts, diese ein wenig nach links geneigt und ihre Fächerkronen, über den flachen Dächern der Häuser, zeichneten sich dunkel und deutlich gegen den klaren Morgenhimmel ab, die Stämme waren von der Sonne bemalt, wie mit roter Farbe. Ich sah durch das Tor in die bereits belebte Basarstraße, in der die eiligen nackten oder weiß bekleideten Gestalten sich zwischen den niedrigen Häusern bewegten und die Händler ihre Straßenläden öffneten und ihre Waren ausbreiteten. Der Wächter am Tore erhob sich, um sich tief zu verneigen, wobei er sein Gesicht mit den Händen bedeckte. Ich beschritt die Basarstraße und empfand die Stille und das Erstaunen, die ich hinter mir zurückließ; nur die Brahminen, die graue Schnur auf der nackten Brust, gingen stumm und steil an mir vorüber, ohne zu grüßen und ohne sich umzuschauen. Ich erblickte schöne Gestalten und stolze Gesichter unter ihnen und las aufs neue aus ihren Zügen die ferne Verwandtschaft mit den germanischen Völkern unseres Erdteils, deren Wesen die Jahrtausende nicht ausgelöscht haben. Sie haben lange das gewaltige Reich beherrscht, bis Mohammed seine Fahnen inmitten ihrer Königsschlösser aufpflanzte und ihnen langsam mehr und mehr die furchtbare und geheimnisvolle Macht erschütterte, die heute nur noch tief im Lande, in düsterer Gewalttat und mystischem Dunkel waltet. Bis auch Mohammeds Zeichen und die Pracht seiner Könige erblaßte, als das Gebrüll des britischen Löwen sich über dem Meer erhob und das Land erfüllte. Als ich mich nach kurzem Gang zum Heimweg wandte, sah ich die Umrisse des englischen Forts gegen das Meer. Seine Kanonen sind Tag und Nacht auf das Schloß des Hindukönigs, im Herzen der Stadt, gerichtet, um es beim ersten Zeichen einer Revolte in Trümmer zu legen. Unter dem stummen eisernen Mund, der unerbittlich und unveränderbar unter der zornigen Sonne und dem ruhigen Mond auf die Stadt schaut, flackern die letzten, schüchternen Reste der alten Königsmacht von Cannanore.

Es war freilich mancherlei in meinem Hause vorzubereiten, bevor ich es zu dauerndem Aufenthalt behalten konnte, und beim Tee sprach ich mit Rameni und Panja über die Maßnahmen. Rameni hatte seine offenen Schuhe vor meiner Tür stehen lassen und versuchte während unserer Unterhaltung vergeblich ein erträgliches Verhältnis zu dem Liegestuhl zu finden, den ich für ihn aufgerichtet, und den er aus Höflichkeit angenommen hatte. Endlich stand er auf und ordnete sein weißes Gewand, aus dem von den Knien ab seine mageren braunen Beine schauten.

„Es soll alles nach deinem Willen geschehen, Sahib“, sagte er so liebenswürdig, als sein furchtbares Englisch zuließ. Panja verachtete ihn so angestrengt, daß ihm der Schweiß ausbrach.

Es war herrlich auf der Veranda. Der Morgen des indischen Frühlings – es war nach unserer Zeitrechnung Ende Oktober – ist frisch und erquickend, erst nach drei oder vier Stunden wird die Sonne wirklich heiß. Panja wurde guter Laune, als Rameni gegangen war.

„Wie das Schwein stinkt“, sagte er freundlich. „Er wird dich überall betrügen, Sahib. Wenn deine Reichtümer nicht unermeßlich wären, so würde dieser Schurke dein Untergang sein. Zuerst werde ich nun die Ameisen vernichten, sie fressen alles, was sie finden. Wenn man Whisky zwischen die Steinplatten gießt und zündet ihn an, so ist es um die Tiere geschehen. Gib eine Flasche, ich werde beginnen, wenn du ans Meer gehst.“

Ich schlug vor, es mit Petroleum zu versuchen, das man sicher in der Stadt auftreiben würde.

Panja schüttelte sich.

„Die armen Tiere“, sagte er.

Nach einer Weile rückte eine Schar alter Weiber mit Besen, Eimern und Tuchfetzen heran, deren Anblick zuerst den ahnungslosen Elias und dann auch mich vertrieb. Nur Panja hielt dem Ansturm dieser wilden Amazonen stand, weil ihm daran gelegen war, seine Autorität in Szene zu setzen.

Das Haus war in wenig Tagen derart instand gesetzt, daß ein beschauliches Leben voll reicher Eindrücke für mich hätte beginnen können. Auch Panja fand sich bald in unsere neue Lebenslage, und es kamen stille, herrliche Frühlingstage, die ich nie vergessen werde. Die beständige Sonne weckte mich, und meine durch tiefen Schlaf belebten Sinne empfingen die ferne Stimme des Meeres, das mich Tag für Tag in sein glitzerndes Bereich hinablockte. Die Fischer wurden meine ersten Freunde in Cannanore, und ich hatte mich bald daran gewöhnt, ihre Arbeit mit ihnen zu teilen. Es gelang mir, ihr anfängliches Mißtrauen zu zerstreuen, und ich lernte von ihnen, wie sie von mir.

Wir saßen in der Abenddämmerung bis tief in die Nacht hinein auf den schwarzen Uferfelsen, die in geraden, hohen Blöcken weit in die Meerflut hineindrangen. Oft mußten wir von einem Steinplateau zum andern springen, oder über schmale Holzbretter balancieren, um bis an das äußerste Riff zu gelangen, von wo aus die Angeln weit in die See geschleudert wurden. Neben uns, zur Rechten und zur Linken, wogte still die ungeheure Wassermasse, erst in tiefem, klarem Blau, dann färbte sie sich langsam rot und blendete den Blick, bis sie endlich tiefschwarz und drohend auf und ab stieg, so daß es erscheinen konnte, als tauchte der Fels in einem unbeweglichen dunklen Spiegel auf und nieder. Weit hinter uns donnerte die Brandung, und hinter ihr ging über den Palmen der rötliche Mond auf.

Es war in der Hauptsache auf den Fang größerer Fische abgesehen, die Angelhaken hatten die Größe eines gekrümmten Kinderfingers und waren mit dem Eingeweide erbeuteter Fische umwickelt. Etwa vier bis fünf Meter vom Köder entfernt war ein Stückchen leichter Baumborke als Schwimmer an der Leine befestigt, und die Angeln wurden über dem Kopf in Kreisform geschwenkt, so daß sie bis zu zwanzig Metern weit ins Meer hinaus gelangten. Dann hockten die Männer sich nieder und verharrten unbeweglich, wie mit dem Fels verwachsen, bis ein leises Rucken am Seil sie vom Erfolg ihrer Mühe unterrichtete.

Oft kam das wogende Meer bis hart an unsere nackten Füße, dann wieder sahen wir es viele Meter tief unter uns. Selbst in der Nacht erkannten die Leute deutlich das Herannahen einer größeren Welle, und ein leiser Zuruf warnte mich, damit ich mich am Felsen festhalten möchte. Wenn dann für Augenblicke der Steinboden den Blicken entschwand und nichts als das leise brodelnde nächtliche Element unter mir kenntlich war, hatte ich anfangs ein dumpfes Gefühl der Angst, ja der Todesfurcht zu überwinden, und nur die unerschütterliche Gelassenheit meiner Nachbarn sicherte meinen Mut.

Die Männer hielten ihre Leinen niemals fest in den Händen, sondern nur leicht zwischen den Fingern, weil es vorkam, daß ein Haifisch anbiß, und weil der erste Ruck ihnen hätte verhängnisvoll werden können. In solchem Fall, den ich einmal erlebt habe, schreckte ein lauter Zuruf alle empor. Ich sah die Leine wie ein Ankerseil in rasender Schnelligkeit ins Meer gleiten und wie ihr Ende hastig um einen Felsvorsprung gewickelt wurde. In den meisten Fällen war das Gerät dann verloren; zuweilen gelang es aber, das Raubtier durch die Felslücken bis auf den Strand zu schleifen, und ich erschrak über die Lebenskraft und Wildheit des Gefangenen, der trotz seiner Hilflosigkeit einen geradezu einschüchternden Widerspruch gegen seine Bändiger an den Tag legte. Man befestigte den Rest der Angelschnur mit einem Pflock im Sande, ohne den Haken zu lösen, und ließ das Tier auf dem Trockenen sterben, so gut und rasch es konnte. Erst am andern Tage oder nach Stunden bemächtigten sich die Frauen alles Verwendbaren von seinem glatten Leibe, dessen Fleisch nicht genossen wird.

Gegen Norden zu brachen die dunklen Küstenfelsen jählings ab, und es breitete sich, soweit das Auge reichte, die freie Bucht entlang, weißer Sand aus. Oft wuchsen Palmen, besonders wenn sie einem kleineren Bach das Geleite gaben, bis dicht an den Meeresstrand hinab. Dort sah man, noch nahe dem Ort, die bunten Boote der Eingeborenen in Reih und Glied im Sand, und weiter hinaus begann eine Stille und Verlassenheit, die wohl dazu angetan war, ein empfindsames Herz zu locken.

Dort lag ich oft am Wasser, bohrte mich in den Sand und warf die Lasten meiner unnützen Gedanken weit von mir. Es war herrlich, der Stimme des Meers zu lauschen, die die ganze Welt zu beherrschen schien, und die endlos langen, ebenmäßigen Wogen zu betrachten, welche heranliefen wie sanfte Windwellen unter blaßblauer Seide, sich lautlos hoben und sich mit jubelndem Erbrausen, in ein weites Lichtband zerbrechend, auf den geduldigen Strand warfen. Das ging so lange so fort, wie nur immer die Sinne sich in Geduld und Traum hinzugeben vermochten, denn das Meer kennt keine Zeit. In seiner Stimme sind weder Hoffnungen noch Verheißungen, keine Liebe und kein Drohen, weder Wahrsagungen noch Beschwichtigungen. Das Wesen des Meeres hat keine Gemeinschaft mit dem unsrigen, und nichts als ein beseligter Unfriede erwacht in uns, wenn wir uns ihm zu nähern trachten, nur seine Größe erhebt uns, wie alle großen Formen dem Gemüt eine Ahnung künftiger Freiheit vermitteln. Das Meer enthält keine Maßstäbe für unsere Rechte oder für unsere Pflichten, wie die Erde sie uns bietet, die uns trägt und ernährt und deren Schicksal dem unsrigen verwandt ist. Die Dichter haben das Meer selten verstanden, sie haben es nur beschrieben, aber wer würde durch sie ein Bild von seiner unermeßlichen Gewalt und Freiheit bekommen, wenn er das Meer niemals gesehen hätte? Nur in jenem ins Mystische hinüber verblühenden Geiste des großen, gottberauschten Schwärmers der Apokalypse leuchtet ein wahrsagerisches Licht vom Wesen des Meers auf, als er das Tausendjährige Reich in seinen unendlichen Visionen erblickt, und vom Meer sagt, es sei nicht mehr. In dieser Erkenntnis liegt eine tiefe Ahnung vom Wesen des Meers, das nicht wie die Erde verflucht scheint, und keinem Gericht, keiner Wiederkehr und keinem Wandel unterstellt ist.

So hat auch das Meer keineswegs eine Verwandtschaft mit der Seele des Menschen, wie manche festgestellt haben, die weder das eine noch die andere kennen, und die nur deshalb, weil sie in der Seele etwas Bodenloses wittern, auf den Gedanken gekommen sind, sie wäre vielleicht so tief wie der Ozean in der Mitte. Das ist ein leichtfertiger Schluß, der schwer zu erweisen ist, die einzige Ähnlichkeit zwischen solchen Seelen und dem Meer ist die, daß man oft in beiden herumfischt, ohne etwas zu fangen. –

Einmal fand ich am Strand einige große Meerschildkröten, die auf dem Rücken lagen und nach Wasser schnappten. Aus den Spuren nackter Füße, die sie wie ein in den Sand eingeprägter Lorbeerkranz umgaben, ließ sich leicht entnehmen, daß diese Tiere sich nicht freiwillig in solche Lage begeben hatten und daß sich ein menschlicher Zweck mit dieser Grausamkeit verband. Und richtig sah ich unter den Bäumen einen braunen Hinduknaben flüchten, dessen Respekt vor mir so groß war, daß er eine Palme bis an den Wipfel erklomm.

Die Schildkröten waren in dieser Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit einem langsamen Tode in der unbarmherzigen Sonne ausgesetzt, der um so qualvoller war, als sie nicht wie die Fische rasch sterben, wenn sie ihrem Element entrissen worden sind, sondern eine zähe Lebensdauer, auch auf dem Trockenen, beweisen. In der Tat war auch der Gesichtsausdruck einzelner von ihnen bereits sehr verstimmt, anderen hing der merkwürdig häßliche Kopf schon leblos nieder, an dem faltigen Hals, der mir wie ein welker, rissiger Schlauch erschien. Ich kehrte mit großer Mühe diejenigen um, die mir noch regsam genug für eine Fortsetzung ihres Daseins erschienen, aber sie taumelten wie betrunken hin und her und fanden das Wasser erst, als ich ihnen den Weg wies. Dort schwammen sie rasch und erregt hinaus und tauchten sobald als möglich unter, sichtlich im Zweifel darüber, ob dieser Vorgang eine Tatsache war, oder nur eine neue greuliche Vorstellung ihrer Fieberphantasien im Sonnentod.

Später erfuhr ich, daß die Tiere von den Eingeborenen in diese Lage gebracht werden, damit sie sterben, denn sie können sich nicht aus eigenen Kräften wieder umkehren. Auf diese Weise gewinnen die Leute das sehr begehrte Schildpatt, ohne einen Eingriff in das Leben der Tiere vorzunehmen, was ihnen verboten ist und auch ihrer Überzeugung widerspricht. Die Tiere sterben auf diese Art durch den Willen der Gottheit und werden so nach Vorstellung der Hindus nicht von Menschen getötet; offenbar ersieht man aus der Tatsache, daß die Götter die Schildkröten nicht wieder umdrehen, ihren Beschluß, sie zum Nutzen der Menschheit sterben zu lassen.

Übrigens hatte ich es mit jener Handwerkerkaste in Cannanore endgültig verdorben, denn eben jener Knabe, welcher mir Achtung erwies, hatte von seinem hohen Versteck aus meine Maßnahmen wahrgenommen und er nahm Anlaß, diese Neuigkeit in Cannanore zu verbreiten.

Es gab am Strand vielerlei Krebse und allerhand kleines Meergesindel, mit dem ich mich einließ, auch Ratten kamen bisweilen die Bäche herab und erkundeten, ob das Meer Tote angeschwemmt oder ausgewühlt hatte. Eine bestimmte Kaste in Malabar begräbt ihre Pesttoten am Meer im Sand; zwar werden meist die Sandbänke und Inseln gewählt, aber häufig findet man auch die Spuren der Gräber an der Küste.

Einmal machte ich die Bekanntschaft einer größeren Fliege, die nur einen Flügel hatte und den Rest ihres Lebens am Gestade zu verbringen schien. Ich beobachtete sie, während ich am Strand lag und rauchte. Sie suchte sich die Steine aus, die besonders rund, blank und heiß waren, und es schien, als bevorzugte sie die weißen. Wenn sie eine Weile auf einem solchen gesessen hatte, faßte sie einen anderen ins Auge und versuchte ihn mit einem sprungartigen Flug zu erreichen, aber sie landete jedesmal auf irgendeinem dritten, weil sich leider das Fehlen ihres einen Flügels beim Einhalten der Richtung bemerkbar machte.

Jedesmal schaute sie anfänglich etwas verdutzt um sich, ergab sich aber dann ihrem merkwürdigen Schicksal, immer anderswo landen zu müssen, als sie gewollt hatte. Mit einem etwas bekümmerten, aber keineswegs gereizten Ausdruck orientierte sie sich über die ihr bestimmte Umgebung, schließlich schien die Sonne auch hier, und sie blieb sitzen, im heißen Licht, vor dem glitzernden Wasser.

Ich faßte eine gewisse Neigung zu dieser flüchtigen Freundin meiner einsamen Stunden am Meeresstrand. So sehr viel besser ging es schließlich im Leben auch mir nicht, und im Grunde kam es uns beiden auf die Sonne an. Ich erzählte ihr, wie ich es mit dem Dasein hielt, aber da sie nicht auf mich achtete, warf ich mit kleinen Steinen nach ihr, die lustig über die runden Brüder ihrer Jahrtausende kollerten und vergnügt klirrten. Die meisten dieser Steine waren prächtig abgerundet, ich nahm einen von ihnen in die warme Hand und polierte ihn sorgenvoll. „Du bist noch nicht rund genug, mein Kleiner“, und ich warf ihn ins Meer zurück, damit ihn die Flut noch ein paar weitere tausend Jahre lang abschliffe. Es kam mir auf tausend Jahre nicht an, so wenig wie auf einen Tag. Aber vielleicht würde dieser Stein mich nicht vergessen, sicherlich war es ihm noch nicht geschehen, daß einer dieser vergänglichen Menschlein sich seiner annahm und plötzlich einen solchen Eingriff in seine gemächliche Entwicklung machte.

Das Meer trug leichte und liebliche Gedanken in meinen Sinn, törichte und sinnvolle, aber niemals schwere. Seine Gaben waren Traum, Vergessen und Schlaf, sie stiegen mit der flimmernden, heißen Luft in unbekannte Regionen empor, und der flüchtige Seewind trug sie von dannen. Die Menschen meines verflossenen Lebens versanken in einem schimmernden All, in welchem ich wesenlos, wie sie selbst, dahintrieb, und auch die Liebe wurde zur Erinnerung.

Nie aber, daß Langeweile oder Mißmut mich plagten, das Leben war ein makelloses Gefäß, angefüllt mit dem klaren alten Wein lieblicher Sinnenfreude und heiterer Daseinslust. Ich begriff die Menschen dieses Landes und dieser Sonne, die kein anderes Begehren zu bewegen schien, als das Dasein auf solche Art als seligen Bestand auszukosten und sich dem selbsttätigen Walten von Erstehen und Vergehen, den vergänglichen Glücksgütern der Erdenzeit gegenüber wahllos und zufrieden, ohne Bedenken, anheimzustellen. Was den Unedlen zu einem Anlaß anteillosen Verkommens wurde, das wurde im verwandten Geist den Edlen zu einer tiefen Offenbarung tatlosen Versinkens in einer hellseherischen Demut der Selbstbeschränkung.

Zuweilen zollte ich am Strande dem Tode eine kleine Abschlagszahlung auf seine künftigen Rechte und schlief ein, aber die Stimme des Meerwassers ging mit mir in das dunkle, ruhige Land. Die Monotonie seiner frischen Stimme verwandelte sich in meinen Träumen in einen beredten Glanz von großer Mannigfaltigkeit, und ich erfuhr Wunder und Sagen vom Gang der Welt, die ein ganzes Buch füllen würden, aber etwas an der Weisheit des Meerwassers verhinderte mich daran, so törichte Pläne zu fassen. „Ich sage es allen,“ rief es gleichmütig, „warum willst du es tun? Niemand wird Dinge durch Menschen hören, die ihm die Natur nicht vertraut, und ihr, die ihr nicht einmal euch selbst versteht, wie wollt ihr mich, das Meer, in seinem heiligen Wesen erfassen?“ Als ich erwachte, sah ich im Abendglanz auf der Silberleiste der Meerflut groß und nah ein schwarzes Boot im roten Himmelsschein dahinfahren, das von vier Männern angetrieben wurde, die stehend ruderten, und die mir gleichfalls schwarz erschienen, weil das Licht hinter ihnen mich gelinde blendete.

Vielleicht fuhren sie ins Weite hinaus, vielleicht kehrten sie heim, ich wußte es von ihnen so wenig wie von mir.

Ein bedauernswertes Ereignis dieser Zeit, das den Wert meines Charakters in den Augen der Einwohner Cannanores ernstlich in Frage stellte, ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben. Von Jugend auf habe ich den Hang verspürt, Schmetterlinge und Käfer zu sammeln, es aber leider auf diesem Gebiet niemals zu Erfolgen gebracht, im Gegenteil begleitete mich stets ein spürbares Mißgeschick bei solchen Unternehmungen, und es lag nachweislich kein Segen darauf. Der prächtige Kasten mit einem Glasdeckel, den meine Eltern mir zur Förderung meiner lehrreichen Neigung schenkten, wurde bald zu einer Goldgrube billiger Ernährung für eine kleine, lausartige Sorte von Parasiten, die über meine gesammelten Insekten herfielen und sie verzehrten. Auf den Rat eines erfahrenen Schulfreundes hin erwarb ich das prächtige Schutzmittel, das Naphthalin genannt wird, aber die Parasiten fielen auch über das Naphthalin her, fraßen es auf und gediehen dabei zusehends. So sah ich die Resultate meiner Bemühungen zuschanden werden bis auf einen rötlichen Erdfloh, der hoch an einer rostigen Stecknadel hockte und kaum größer war, als ihr Knopf.

Es wäre sicherlich besser gewesen, wenn ich mir diese Erfahrungen meiner Jugend auch in Indien zunutze gemacht hätte, anderseits aber wird es jedem verständlich sein, daß meine alte Leidenschaft bei der außerordentlich mannigfaltigen und prächtigen Insektenwelt Indiens aufs neue angeregt wurde. Ich schlug Panjas Einwände in den Wind und ließ in Cannanore bekanntgeben, daß ich Erwachsenen oder Kindern für jeden Schmetterling oder Käfer, die mir in meine Niederlassung gebracht würden, den Preis von einer Anna zu zahlen bereit sei.

Am Morgen nach dieser Kundgebung weckte mich in aller Frühe ein seltsames Geräusch vor meinem Hause, das ich anfänglich vergeblich zu erkennen trachtete, bis ich endlich herausbrachte, daß es ein Volksgemurmel war. Erschrocken trat ich ans Fenster und erkannte nun eine auffallend geordnete Reihe von Menschen, Kindern, Greisen, Frauen mit Säuglingen auf den Hüften, Männern und Jünglingen, auch fehlte es nicht an Bettlern, Straßendirnen und Landstreichern. Die Reihe machte gehorsam den Bogen des Gartenwegs mit, schlängelte sich durch die offene Pforte und ging dann auf Cannanore zu. Es war nicht abzusehen, wie lang sie war; diese Erfahrung blieb mir anfänglich erspart, wie es das Leben bei harten Schicksalsschlägen seinen Opfern zuweilen dadurch erleichtert, daß es nicht sofort die ganze Fülle des Ungemachs offenbart.

Panja sagte nur: „Sahib, die Leute bringen die Tiere.“

Ich muß gestehen, daß ich in große Verwirrung geriet und mich nur mühsam fassen konnte, aber es gelang mir doch, weil ich Panja den Triumph nicht gönnte, der hinter seinen stillen Augen lauerte, welche schräg und erwartungsvoll ohne Unterbrechung auf mir ruhten.

„Hast du kleine Münze genug?“ fragte ich ihn fröhlich, während ich mich rasch ankleidete. Panja fragte mich ernst, ob ich genug große hätte.

Da nahm ich Elias an mich, setzte den Korkhelm auf und betrat mutig die Veranda meines Hauses. Ein beifälliges Murmeln der Erwartung begrüßte mich. Recht gelegentlich, als läge mir nur daran, ein paar Schritte in der Frische des Gartens zu tun, trat ich bis an die Pforte und schaute die Straße nach Cannanore hinab. Die Kette der wartenden Menschen erstreckte sich weiter, als meine Augen reichten, fern unter dem Dach der wilden Feigenbäume verlief sie im Laubschatten wie ein schwarzer Kohlestrich, auf dem roten Latrittweg. Elias zog sich still ins Haus zurück, weil dieser Anblick ihm neu war, und auf der Veranda empfingen mich wieder Panjas ruhig abwartende Augen; er hatte einen Liegestuhl für mich herausgetragen.

Indienfahrt

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