Читать книгу Der Feind in meiner Ehe - Wally Gruber - Страница 7
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Eine Tochter
Nach den Flitterwochen fing also für mich wieder die Schule an. Ich hatte in der Schwangerschaft überhaupt keine Beschwerden. Den Sportunterricht richtete ich danach aus, dem werdenden Kind nicht zu schaden. Alles war in bester Ordnung. Noch immer besuchten mein Mann und ich uns abwechselnd am Wochenende in unseren Wohnorten. Ende der 20. Schwangerschaftswoche machten sich erste Kindsbewegungen bemerkbar. Wie wunderbar! Und beim ersten Kind besonders aufregend! Am Telefon erzählte ich gleich Matthias davon, dass ich das Kind spüren könne und er müsste, wenn er am Wochenende zu mir kommen würde, unbedingt die Hand auf den kleinen Bauch legen, um das Wunder zu erleben. Sehr kalt und emotionslos teilte er mir mit, dass er am Wochenende nicht kommen würde, da er noch ein Projekt abschließen müsse. Das fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Meine euphorische Stimmung fiel sofort auf den Nullpunkt.
Mein erster Gedanke: O Gott, diesen Mann hatte ich vor ein paar Wochen geheiratet!
Ich war sehr enttäuscht. Warum interessierte er sich nicht für meine Emotionen? Er hatte sein Nichtkommen nicht mal bedauert! Ich musste seine Botschaft einfach so hinnehmen. Konnte nichts dagegen tun. Zum zweiten Mal in unserer kurzen Ehe spürte ich Machtlosigkeit. Ich ging zur Selbstreflexion über. Hatte ich zu große Erwartungen an ihn? Hat er wirklich so viel Arbeit, dass er es nicht schafft, sich das Wochenende freizunehmen?
Seit der Hochzeit blieben auch die wöchentlichen Blumensträuße aus. Nicht, dass ich sie erwartet hätte, aber mir ist dieser Umstand nur aufgefallen und das habe ich gespeichert.
Ich hatte Matthias immer bewundert wegen seiner Schlagfertigkeit und seines rhetorischen Geschicks. Hier war er mir haushoch überlegen, was ich neidlos anerkannte. Körperlich eher zart und ohne große Muskelkräfte, hatte sich sein Mundwerk zu einer, wie er selbst behauptet, „Revolverfresse“ entwickelt. Auf sie war er sehr stolz! Mit ihr konnte und kann er zuschlagen, dass es genauso wehtut, als ob man eine Ohrfeige bekommen würde. Sein Credo, das er in geselliger Runde gern allen Freunden und Bekannten wissen ließ, lautete: „Lieber einen Freund verlieren, als auf eine Pointe verzichten.“ Das klang spontan sehr lustig, aber es bewahrheitete sich über die Jahre. Richtige Freunde hat Matthias bis heute nicht.
Ende des Jahres 1993 fing die Zeit des Mutterschutzes an. Da unsere junge Familie zusammen sein sollte, zog ich in die Stadt, in der die Werbeagentur beheimatet war, 200 Kilometer entfernt von meiner Heimat. Für mich war es nie ein Problem, andere Menschen kennenzulernen und schon bald traf ich mich mit anderen werdenden jungen Müttern zur Geburtsvorbereitung. Mitte Januar 1994 kam unsere Tochter Rebekka zur Welt. Es war eine unkomplizierte Spontangeburt. Für das erste Kind dauerte die schmerzhafte Prozedur auch nicht ungewöhnlich lang. Als wir nach der Versorgung gemeinsam in unserem Bett zur Station geschoben wurden, war ich der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt. Diesen heftigen Geburtsschmerz hatte ich nicht erwartet. Nun war aber alles gut, das Mädchen hatte perfekte Apgar-Werte und nun konnten wir uns beide im Krankenhaus erholen. Wie aufregend so eine Geburt ist! Unglaublich!
Schon am nächsten Tag schleppte ich mich zur Rückbildungsgymnastik im Krankenhaus. Nur nicht nachlässig werden! Obwohl mein Gewicht kurz vor der Geburt nur etwa 10 kg über dem Normalgewicht lag, wollte ich so schnell wie möglich wieder fit sein. Außerdem hatte ich mich schon zusammen mit dem Zwerg zum Babyschwimmkurs angemeldet. Eine sehr schöne Sache, die wir beide wenige Wochen später sehr genossen.
Meine Tätigkeit als Lehrerin an der Schule war vorerst auf Eis gelegt, da ich mich um Rebekka kümmern wollte, bis sie das Kindergartenalter erreicht hatte. Danach könnte man ja weiterplanen. Außerdem war ich verbeamtet und eine Stelle an einer Realschule in Bayern war mir sicher. Also wurde ich Vollzeitmutter und genoss diese Berufung sehr.
Als Rebekka ein paar Wochen alt war, ging ich mit ihr zum Babyschwimmen. Was für ein Spaß für Mutter und Kind! Das machten wir nun jede Woche über einige Jahre.
Matthias war mittlerweile sogar an den Wochenenden in der Agentur, da sehr viele Aufträge reinkamen und die Erfolgsrichtung steil nach oben zeigte. Jeden Tag war ich mit dem Kinderwagen am Fluss unterwegs. Jeden Tag alleine. Auch samstags und sonntags. An den Wochenenden waren die anderen Familien immer komplett, ich war immer alleine mit dem Kind. Ich fühlte mich von meinem Mann alleine gelassen. Ich war einsam. Aber dieses Gefühl schluckte ich die meiste Zeit tapfer hinunter.
Wir sprachen darüber, dass die Lage für mich sehr unbefriedigend sei und ich auch gern meinen Mann an meiner Seite hätte. Aber es war nichts zu machen. Es wurde nicht nur an den Wochenenden gearbeitet, sondern auch nachts. War Matthias zu Hause, war er der liebste Papa der Welt. Eigentlich kam er nur zum gemeinsamen Abendessen nach Hause, kümmerte sich um Rebekka, um dann später wieder in die Agentur zu verschwinden. In den nächtlichen Stillpausen rief ich ihn oft an, um zu fragen, wann er nach Hause käme. Zwischen drei und vier Uhr morgens war für gewöhnlich die Antwort. Das war leider keine Ausnahme, das war die Regel.
Als Rebekka sechs Monate alt war, waren wir unterwegs in die Toskana, um zwei Wochen Urlaub zu machen. Diese Fahrt nutzte ich und hatte einen Sturm entfacht. Auf gar keinen Fall ginge das so weiter, dass ich sieben Tage die Woche flussauf- und -abwärts alleine den Kinderwagen schieben würde. Am Wochenende seien alle Familien komplett, nur ich würde immer alleine sein. Dafür wäre ich nicht in seine Stadt gezogen! Wenigstens einen einzigen Tag in der Woche solle er für die Familie da sein, entweder Samstag oder Sonntag. Ansonsten sei ich nicht bereit, ein zweites Kind zu bekommen. Ich hatte ihm das Messer auf die Brust gesetzt. Die einzige Wahl, die ich hatte.
In den nächsten Monaten wurde es besser, aber nicht gut. Er nahm sich entweder samstags oder sonntags Zeit für die Familie. Niemals beide Tage. Und dann auch nur tagsüber. Abends waren meine kleine Tochter und ich wieder alleine.
Sein berühmter Satz war stets: „Ich mache das doch alles für die Familie!“ Heute weiß ich: Er machte das alles in erster Linie für sich. Seine Agentur, seine Karriere, sein Verdienst.
Wir haben nicht schlecht gelebt. Eine kleine Wohnung hat uns genügt. Ansprüche hatte ich nicht viel.
Nun kam aber dazu, dass sich unsere süße kleine Tochter, die sehr pflegeleicht war, motorisch nicht gut entwickelte. Bis zum Alter von sechs Monaten war unser Kinderarzt, der die obligatorischen Untersuchungen durchführte, noch nicht beunruhigt. Aber als das Baby sich mit sieben Monaten immer noch nicht von der Bauch- auf die Rückenlage, oder umgekehrt, drehen wollte, mussten wir handeln. Rebekka musste zweimal in der Woche zu einer Physiotherapeutin, die sich auf Babys spezialisiert hatte, zur Vojta-Gymnastik. Das Kind wird in eine Art „Schwitzkasten“ genommen, dabei werden verschiedene Reflexpunkte mit den Fingern gedrückt, sodass das Kind zum Reflexumdrehen kommt. Die ganze Prozedur dauert ca. 20–25 Minuten, in denen das Baby aus vollem Hals schreit und sich gegen die unangenehme Position wehrt. Ich musste diese Behandlung von der Physiotherapeutin erlernen und mit Rebekka zweimal pro Tag arbeiten. Konsequent jeden Tag! Für eine Mutter gibt es wirklich schönere Aufgaben. Jeden Tag waren wir beide nassgeschwitzt. Aber was sein musste, musste sein. Es half dem Kind bei seiner Entwicklung. Und schließlich wollten wir ja nichts versäumen!
Eines Abends kam Matthias von der Arbeit nach Hause, während wir wieder mal mitten in der an den Nerven zehrenden Behandlung waren. Er sah die schreiende Tochter, samt der schwitzenden Frau, nahm das Kind auf den Arm mit den Worten: „Ach, du arme Rebekka. Quält dich deine Mutter wieder mal so schrecklich?“ Um ein Haar hätte ich geheult. Es war nur meiner eisernen Selbstdisziplin geschuldet, dass es nicht dazu kam. Die Tränen hinunter schluckend dachte ich nur: ICH mache hier diesen Scheißjob, nicht DU!!! Du bist ja fein raus. Ich bin diejenige, die sich zweimal am Tag bei ihrem Kind unbeliebt machen muss, nur um diese in ihrer Entwicklung nach vorne zu bringen. Ich war wütend und frustriert zugleich. Aber ich wollte die Stimmung nicht zerstören und habe nichts gesagt. Ein Fehler, wie ich jetzt weiß. Wir hatten ein gemeinsames Abendessen und dann ging Matthias wieder zurück in den Betrieb. Wie jeden Abend. Es gab kein gemeinsames Familienleben. Er meinte nur, er könne ja momentan nichts für das Baby tun, da ich es stillte, und er hätte ja so wahnsinnig viel Arbeit. Ich glaubte, ihm den Rücken stärken zu können, damit er zusammen mit seinem Geschäftspartner die Werbeagentur erfolgreich führen würde. Und: Ich war ja eine selbstständige und gut organisierte, junge Frau. In seinen Augen konnte ich sehr gut mit mir selbst und dem Baby zurechtkommen.
Natürlich konnte ich das. Sehr gut sogar. Ich spulte mein Pflichtprogramm ab: Babyschwimmen, Krabbelgruppe, zweimal in der Woche Vojta-Gymnastik mit der Physiotherapeutin, lange Spaziergänge an der frischen Luft mit dem Kinderwagen. Vollzeitmutter, jeden Tag 24 Stunden. Die ganze Woche.
Sexuell war nicht mehr viel von meinem Mann zu erwarten. Er richtete es sich so ein, dass es so etwa alle zwei Wochen zum Sex kam. Manchmal waren es sogar nur alle vier Wochen. Ich hatte mich darauf eingestellt und klagte nicht.
Da ich immer noch im Sinfonieorchester Geige spielte und außerdem mit einem erfolgreichen Sporttheater des Öfteren auf allen möglichen Bühnen stand, organisierte ich diese Wochenenden mit Baby und Babysitter. Dafür war es notwendig, Rebekka und alles Gepäck ins Auto zu laden und freitags 200 Kilometer zu meinen Eltern zu fahren. Sowohl meine Mutter als auch meine Schwägerin waren oft als Babysitter bei meinen Aktivitäten dabei. Diese wollte ich auf keinen Fall aufgeben, da ich ja schon meinen Beruf als Lehrerin wegen der Familie auf Eis gelegt hatte. Die aktiven Wochenenden, angefüllt mit Orchesterproben oder Auftritten mit dem Sporttheater ließen sich recht gut organisieren, inklusive der Stillpausen für Rebekka. Meine Familie hatte mich dabei tatkräftig unterstützt. Sonntagabends saß ich wieder im Auto und wir beide fuhren zurück in unser Alltagsleben.
Manchmal ging ich in die Agentur, nur um meinen Mann zu besuchen. Rebekka hatte ich natürlich dabei und alle waren sehr nett zu ihr. Sie war ein Sonnenschein! Eines Tages setzte ich mich in den Aufnahmeraum des Tonstudios, in dem für gewöhnlich die Takes für die Rundfunkspots aufgenommen wurden. In diesem Raum stand ein Klavier. Ich hatte zwar Musik studiert, aber mein Können am Klavier hielt sich in Grenzen. Darum nutzte ich kurz dieses Instrument im Aufnahmeraum, um in Zeitlupe „Alla Turca“ von Mozart zu üben. Als Geigerin hatte ich schon immer Schwierigkeiten, die beiden Notensysteme für rechte und linke Hand gleichzeitig zu lesen. Dafür braucht es wirklich Übung. Mit dem Klavierspielen hatte ich sehr spät angefangen – erst im Studium bekam ich Unterricht bei einer sehr guten und geduldigen Klavierlehrerin. Nun saß ich also in besagtem Aufnahmeraum und versuchte mich an Mozarts berühmtem Marsch. Natürlich war ich nicht sehr erfolgreich, aber ich hatte mich durchgebissen und war froh, dass die Tür zum schallisolierten Aufnahmeraum geschlossen war und mich niemand in meiner Stümperhaftigkeit hören konnte. Vor allem nicht die Angestellten meines Mannes!
Nach meiner Übezeit verließ ich den Aufnahmeraum Richtung Regieraum, in dem Matthias gerade arbeitete. Prompt und mit breitem Grinsen präsentierte er die Tonaufnahme, die er gerade von meinem „Alla Turca“-Versuch gemacht hatte. Ich fühlte mich so erniedrigt und blamiert! Er hatte mir vorgeführt, wie schlecht mein Klavierspiel war. Ich konnte keine Worte finden, so sprachlos war ich. In diesem Aufnahmeraum übte ich nie wieder. Für viele Jahre hatte ich nach diesem Ereignis das Klavierspielen eingestellt. Sogar heute, nach so vielen Jahren, ist es mir lieber, wenn mich beim Klavierüben niemand hört. Der Schmerz sitzt noch immer tief. Mein Mann fand das alles einfach nur lustig.
Nachdem ich mit Rebekka viele Wochen mit Vojta-Gymnastik gearbeitet hatte, stellte die Physiotherapeutin auf Bobath-Gymnastik um. Langsam, aber sicher drehte sich das Kind von selbst auf die Bauchlage und wieder zurück. Mit vierzehn Monaten fing Rebekka an, sich in den Vierfüßlerstand hochzudrücken. Ein Alter, in dem andere Kinder schon selbständig laufen. Sie war immer noch sehr zart und hatte trotz der vielen Übungen recht wenig Kraft. Aber ich hatte sie ohne Pause die letzten Monate gefördert. Nun fing, sehr langsam und zögerlich, das Krabbelalter an. Wir hatten schon einen kleinen Erfolg geschafft. Aber was würde aus ihrer motorischen Entwicklung in Zukunft werden? Mit anderen Babys verglichen, hatte unser Kind einen deutlichen Entwicklungsrückstand. Ich war skeptisch, aber immer noch hoffend, dass dieser Rückstand würde ausgeglichen werden können. Wir arbeiteten doch so intensiv daran! Das eigene, aktive Sporttreiben hatte mich gelehrt, niemals aufzugeben. Genauso sah ich das in Bezug auf Rebekka. Sie machte jeden Tag brav ihre Übungen mit mir und wehrte sich nicht dagegen. Unser täglich Brot.
Mit zwei Jahren kam die Frühförderung dazu, die einmal pro Woche bei uns in der Wohnung stattfand. Rebekka konnte nun endlich frei laufen, aber sie war noch immer sehr wacklig unterwegs. Außerdem hatte sie ganz fürchterliche X-Füße. Sie lief quasi auf der Innenseite des Fußes, wenn sie keine guten Schuhe anhatte.
Meine damalige Stepptanzlehrerin war Hippotherapeutin und sie sagte mir, ich solle mit Rebekka mit dem Training auf einem Pferd beginnen. Ohne Sattel müsste sich das Kind an der Mähne festhalten und die Knie fest ans Pferd drücken. Durch das Ausgleichen der Bewegung des Pferdes würde außerdem ihr schlechtes Gleichgewicht geschult. Gesagt, getan. Den Ratschlag befolgten wir gern und ich fuhr mit ihr zweimal pro Woche zu einem Pferdehof in der Nähe und führte sie zwanzig Minuten auf einem Pony sitzend durch das Gelände. Durch das Ausgleichen der Bewegungen des Pferdes bekam sie ein viel besseres Gleichgewicht und durch den Innendruck der Schenkel drehten sich allmählich ihre Füße und sie konnte sich mehr auf die Fußsohle stellen. Ich führte sie auch noch im Gelände umher, als ich zum zweiten Mal schwanger und unser Sohn Julian auf die Welt gekommen war.
Trotz des monatelangen Reittrainings fiel Rebekka beim Laufen oft hin und ihre Reflexe waren so verzögert, dass sie viele Wunden an Stirn, Kinn oder an den Schläfen davontrug. Auch die Feinmotorik war nicht altersentsprechend, obwohl die Therapeuten der Frühförderung sich viel Mühe gaben. Die Entwicklungsberichte waren jedes Mal ernüchternd. Wir mussten uns eingestehen, dass Rebekka sich nicht wie ein normales Kind entwickeln würde. Wir waren traurig und ratlos.
Auch ihre Sprache bestand nur aus ein paar Silben und wenigen Wörtern. Sie konnte sich nicht richtig ausdrücken. Wir gingen auf die Suche nach einem geeigneten Kindergarten für unser Töchterlein. Gott sei Dank fanden wir ganz in der Nähe unserer Wohnung einen wunderbaren Integrativen Kindergarten, in dem behinderte und nicht-behinderte Kinder zusammen aufwachsen durften. Die Leiterin der Einrichtung, eine unfassbar positive, liebenswerte und offene Frau, hatte die kleine, zarte Rebekka gleich ins Herz geschlossen und im Alter von drei Jahren und acht Monaten begann für unser Mädel die Kindergartenzeit.
Sie fühlte sich sofort pudelwohl. Zeitgleich suchte ich nach einer weiteren motorischen Entwicklungsmöglichkeit und fand sie beim Mutter-Kind-Turnen eines Sportvereins. Dies sollte für viele Jahre unser nachmittäglicher Zeitvertreib einmal pro Woche bleiben. Julian war bald auch dabei. Er entwickelte sich prächtig. Nun erst hatte ich einen Vergleich. So wie er sollte sich also ein Kind normalerweise entwickeln.
Rebekka sprach immer noch sehr schlecht und artikulierte, ohne Spannung in den Mundraum zu bringen. Sie nuschelte sehr und nur wenige Menschen konnten sie verstehen. Ihr selbst machte das nichts aus. Sie war ein sehr fröhliches Kind.
Mit vier Jahren fing sie an, mit Logopäden*innen zu arbeiten. Die ersten Jahre zweimal pro Woche. Später nur noch einmal. Sieben lange Jahre fuhr ich mein Kind zur Sprechtherapie und holte sie danach wieder ab. In dieser Zeit wurde vieles besser, aber bis heute artikuliert Rebekka nicht sauber und muss immer wieder daran erinnert werden, „ordentlich“ zu sprechen. Auch der Wortschatz ist begrenzt. Sie kann sich gut mit Menschen unterhalten, aber sie verwendet dafür nur einfache Wörter und Satzstrukturen.
Als Rebekka gut vier Jahre alt war, hörten wir von einem Bekannten, dass eine Therapieform in Belgien dem Kind eventuell helfen könnte. Er selbst wurde dort von seiner Legasthenie geheilt und fand es ziemlich unglaublich, was mit ihm passiert war. Also informierten wir uns und fuhren zur „Tomatis-Therapie“ nach St. Truiden, Belgien, 600 Kilometer von zu Hause entfernt. Beim ersten Besuch sollten wir zehn Tage bleiben. Mittlerweile hatte der Entwicklungsstand des Mädchens eine deutliche Retardierung erreicht. Vor allem der sprachliche Bereich machte uns große Sorge. Rebecca war durch die Hypotonie der Mundmuskulatur kaum zu verstehen. Die weiteren Besuche im Tomatis-Zentrum waren jedes Mal für fünf Tage anberaumt. Alle sechs Wochen machten wir beide uns auf den Weg. Ich tat alles, um dem Mädchen bei seiner Entwicklung zu helfen. Kämpfte mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft gegen die Entwicklunsverzögerung meiner Tochter an.
Rebekka machte jedes Mal kleine Entwicklungssprünge nach vorne und so brachten wir sie in den kommenden drei Jahren insgesamt achtundzwanzig Mal nach Belgien, um die Entwicklung unserer kleinen Tochter anzukurbeln. Fünfundzwanzig Fahrten davon hatte ich alleine mit ihr unternommen.
Die Kosten dafür mussten wir selbst übernehmen. Die Krankenkasse hatte es abgelehnt, diese alternative Therapieform zu bezahlen.
Als Rebekka sechs Jahre alt war, ließ ich sie einen ganzen Tag lang im Kinderzentrum München untersuchen. Man stellte einen deutlichen Entwicklungsrückstand im motorischen, sprachlichen und kognitiven Bereich, also eine Retardierung, fest. Den Grund dafür konnten mir die Ärzte nicht sagen. Ich war enttäuscht und fühlte mich zum ersten Mal ausgelaugt. Ich hatte sechs Jahre lang wie eine Löwin um die Entwicklung meiner Tochter gekämpft. Sollte das alles umsonst gewesen sein? Die vielen Arztbesuche, die Therapien und der Logopädieunterricht? Die Fahrten nach Belgien? Ich war das erste Mal richtig frustriert. Ich hatte das alles doch gemacht, damit eine Besserung eintritt!
Die ganze Familie hatte gehofft. Wir wurden von der Realität bitter enttäuscht.
Zum Schuleintritt besuchte Rebekka eine Förderschule in einer kleinen Stadt. Nach fünf Jahren wechselte sie auf eine Schule für Körperbehinderte. Sie hatte zusammen mit ihrem Behindertenausweis nun auch offiziell den Stempel „Behinderung“ bekommen. Das war nicht leicht für uns zu akzeptieren. Mir ging es nicht gut. Mit Matthias konnte ich darüber nicht reden. Er hätte es nicht verstanden. Er meinte nur: „Du machst das super mit Rebekka.“ Das sollte auch so ziemlich das einzige Lob bleiben, das er mir aussprach.
Mit ungefähr acht Jahren fing unsere Tochter mit dem Reiten an. Sie brauchte länger als die anderen Kinder in der Gruppe, aber sie lernte, sich gut auf dem Pferd zu halten und es vorwärtszureiten. Schließlich fing sie nach einigen Jahren sogar mit dem Springen an. Ich war sehr erstaunt, dass ihr das ohne viel Mühe gelang.
Im Winter zuvor hatte sie mit ihrem Bruder Julian den ersten Skikurs besucht. Auch hier brauchte sie länger als er, aber schlussendlich konnte sie in langsamen Bögen eine flache Piste hinunterfahren. Ich war sehr stolz auf sie!
Bis heute zählen Reiten, Schwimmen, Skifahren und Radfahren zu ihren Lieblingssportarten. Fußball musste sie immer mit den beiden Brüdern spielen.
Inlineskates und Eislauf standen ab und zu auch auf der sportlichen Liste.
Durch das jahrelange Reittraining verbesserte sich ihr Gleichgewicht immens und sie konnte nun viel schneller und sicherer laufen. Motorisch ist Rebekka wirklich gut in Schuss, was dem Umstand geschuldet ist, dass ich nie aufgegeben habe, sie zu fördern und zu fordern.
Auch die musikalische Förderung hatte ich übernommen. Nachdem Julian und Rebekka einen Kurs der musikalischen Frühförderung besucht hatten, fing ich mit den beiden mit Blockflötenunterricht an. Auch hier benötigte Rebekka mehr Zeit, um Notenschrift und Griffe zu lernen. Aber es war kein Problem. Sie lernte langsam, aber stetig.
Als Julian sechs Jahre alt war, begann ich mit seinem Klavierunterricht. Er war sehr schnell und es dauerte nicht lange, da brauchte er eine „richtige“ Klavierlehrerin.
Rebekka wollte nun auch Klavier lernen. Also machte ich mit ihr die ersten Schritte an diesem Instrument. Bis heute sitzen wir zusammen am Klavier, probieren und üben neue Stücke und es ist erstaunlich, wie gut sie sich die Musik merken kann. Wenn möglich, spielt sie die Stücke auswendig. Auch hier braucht sie recht lange, bis die kleinen Stücke sitzen, aber wenn sie sie im Gedächtnis verankert hat, kann sie sie immer wieder abrufen. Auch das ist bewundernswert mit ihrem Handicap.
Heute lebt Rebekka in einer anthroposophisch geprägten Dorfgemeinschaft und ist sehr glücklich. Sie liebt das Leben auf dem Land und die Menschen dort und ist sehr gut aufgehoben. Rebekka arbeitet als Haushaltshilfe in einer der Wohngruppen. Einmal im Monat kommt sie über das Wochenende zu uns, freut sich auf unser Pferd und reitet mit ihm Dressur und ins Gelände. Sogar leichtes Springtraining steht ab und zu auf dem Programm. Auch den Winter- und den Sommerurlaub verbringt sie bei uns zu Hause. Beim Skiurlaub ist sie jedes Jahr dabei. Sie fährt alle Pisten ohne Angst im Carvingschwung hinunter und hat sehr viel Spaß dabei.
Sie hat sich prächtig entwickelt und ist eine glückliche junge Frau.