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Einführung

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Karl Marx ist einer der umstrittensten Autoren der Weltgeschichte. Verflucht und gehasst, geliebt und verehrt. Im 20. Jahrhundert war mehr als ein Drittel der Menschheit Regimen ausgesetzt, die sich auf ihn beriefen - und zumeist scheiterten. Seine scharfsichtigen Analysen scheinen gerade in Zeiten epidemischer Finanz- und Wirtschaftskrisen aktueller denn je. Ausgehend von den wenig bekannten Reisen in Marx' letztem Lebensjahr nach Algier, Monte Carlo und Paris, zeigt ihn die Dokumentation, teilweise aus der Sicht seiner jüngsten Tochter Eleanor.

Es geht bei einem Buch über Karl Marx nicht um Pointen, die Lösung eines Kriminalfalls oder die Entdeckung einer Weltneuheit. Es geht darum, wie Bilder über Marx und sein Werk entstehen, wie sie neu geformt und politisch gerastert werden. Es geht um Zugänge zur Figur und was sie ausmacht.

Es geht auch um die Familie des Mannes, der Hegel vom Kopf wieder auf die Füße stellte und dem Kommunistischen Manifest literarischen Furor verlieh: um den Tod seiner vier Kinder und der Ehefrau. Den immerwährenden Vorwurf, Marx habe sich mehr um seine Studien und die Politik gekümmert als um die Seinen. Die Armut im Exil, die ständigen Geldsorgen. Und trotzdem habe Marx Bedienstete und eine Geliebte gehabt – was auch immer damit suggeriert werden soll.

Die fortwährende Aktualität des Alten aus Trier, seiner Analysen, seiner Kritik, seiner ganzen Denkart zu betonen, erfährt man darüber anhand seiner Schriften, die uns bis heute bewegen sollten.

Ausbeutung ist keine Abweichung von der Normalität, sie drückt sich nicht nur in besonders schlimmen Arbeitsverhältnissen aus. Marx sah darin vielmehr ein grundlegendes Feature des Kapitalismus, etwas, das man nicht einfach löschen, dabei aber das ganze Betriebssystem behalten kann.

Marx wusste sehr wohl um die enorm progressive Kraft, mit der kapitalistische Verhältnisse die Welt, in der sie sich ausbreiteten, zivilisierten, ja demokratisierten. Und doch sah er auch den "stummen Zwang" der ökonomischen Verhältnisse, der sich gerade dort noch wirkungsvoller entfalten kann, wo Freiheit und Gleichheit der Bürger respektiert sind, wenn der alte Marx seiner Eleanor gesteht, einst an der Börse spekuliert zu haben. Gegen den Vorwurf, es handele sich um "Blutgeld", verteidigt er sich mit den Worten, Geld sei weder gut noch böse, "es ist nur völlig ungleich verteilt".

Nein, Marx sah Geld vor allem als soziales Verhältnis, etwas, das im Kapitalismus den Waren erst ihren gesellschaftlichen Charakter verleiht. Für Marx erschien die Verteilungsfrage deshalb auch nicht – wie heute so oft – als eine der gesellschaftlichen Moral, die man mit dem Wohlverhalten reicher Leute beantworten könnte.

Marx wäre hier eher mit Brecht gut verstanden, der 1934 dichtete: "Reicher Mann und armer Mann standen da und sah'n sich an / Und der arme sagte bleich, wär ich nicht arm, wärst du nicht reich." Selbst wenn alle es besser wollten, gerechter, wohliger – das war der Punkt, den Marx gemacht hatte –, werde der Kapitalismus die Verhältnisse aus sich hervorbringen, die Engels damals in der Lage der arbeitenden Klasse in England so drastisch beschrieb. Und von der heute immer noch ausreichend Sozialstudien und Reportagen berichten.

Marx war nie mit einem Gedanken fertig; wie die Welt sich weiterbewegt, dachte auch er immer weiter.

Zwischen dem ganz frühen, radikaldemokratischen Marx, dem Marx der Kapital-Jahre, dem Politiker Marx und dem Ökonomen gibt es mehr Unterschiede als das Bild, das dieses Buch zu zeichnen vermag.

Karl Marx schätzte ihr Urteil zu seinen Thesen. Als Haushälterin und enge Vertraute hat Helene Demuth Karl und Jenny Marx bis zu deren Tod begleitet. "Lenchen", wie sie von allen genannt wird, wird Hausmädchen und enge Vertraute der Familie Marx. Im Revolutionsjahr 1849 folgt sie ihr nach London ins Exil. Die fleißige Haushälterin versorgt den Haushalt, erzieht die Kinder und organisiert die Finanzen. Oft bleibt sie ohne Lohn, denn die Haushaltskasse ist meist leer. Karl Marx gibt auf ihr Urteil, ihren "Arbeiterstandpunkt" viel, da sie in der Lage ist, "gerade heraus ihre Meinung zu sagen".

Die Haushälterin wiederum ist der Familie treu ergeben. Sohn Henry Frederick, den sie im Juni 1851 zur Welt bringt, wächst in einer Pflegefamilie auf. Erst lange nach seinem Tod wird in der Öffentlichkeit bekannt, dass Karl Marx dessen Vater ist. Der uneheliche Sohn von Marx lässt den großen Kritiker recht schlecht aussehen, jedenfalls charakterlich.

Lenchen Demuth bleibt bei der Familie und pflegt Karl Marx bis zu dessen Tod 1883. Am 4. November 1890 stirbt sie mit 70 Jahren in London. Beerdigt wird sie im Grab von Karl und Jenny Marx so, wie die beiden es sich zu Lebzeiten gewünscht hatten.

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Dass sich autoritäre Regime auf Marx beriefen, die furchtbare Verbrechen begingen, wird hier keinesfalls verschwiegen. Es wird aber auch nicht versucht, Marx per direkter Linie für etwas in Haftung zu nehmen, das er weder gewollt noch vorgezeichnet hatte. Man muss Marx als Werkzeug des Verstehens begreifen, nicht als Werkzeug der Errichtung politischer Systeme.

Mit seiner Prophetenmähne wirkt Marx jedem vertraut, als Weltgeist, Wegweiser, Schreckgespenst. Aber kaum jemand kennt den Menschen dahinter, so wie ihm seine Tochter Eleanor erlebt hatte, mit all seinen Widersprüchen, Anspruchsgeist und ewigen Zweifler, der selber von sich sagte, ich bin kein Marxist. Ein egomanischer Sturkopf, der doch die Menschheit liebte. Kinder einer besseren Zukunft, der den Seinen jetzt noch Not und Opfer abverlangte.

„Alle Produktionsmittel entwürdigen den Arbeiter zum Anhängsel der Maschine. Geldmachen ist das treibende Motiv. Produktion erscheint nur als notwendiges Übel dazu. Alle kapitalistischen Nationen ergreift periodische ein Schwindel, den sie zur Geldmacherei frei von lästiger Produktion nutzen. Geld erniedrigt alle Götter der Menschen und verwandelt sie in eine Ware. Dier herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse. Nach uns die Sintflut ist der Wahlspruch jedes Kapitalisten.“

Nicht der Beginn eines großen Denkers steht im Zentrum, sondern dessen letzte Tage. Was bleiben wird, fragt Marx und spricht die Befürchtung aus: vielleicht nur eine Fußnote der Geschichte. Unsinn, würde Engels erwidern, wir sind erst am Anfang.

Karl Marx - Die letzten Jahre

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