Читать книгу Kreaturen des Todes - 2. Band - Walter Brendel - Страница 5
Starb sie, weil sie zu viel wusste?
ОглавлениеAm 1. November 1957 findet die Polizei in Frankfurt/Main die Leiche der 24-jährigen Edelhure Rosemarie Nitribitt in ihrer Wohnung. Es ist der spektakulärste Kriminalfall der Nachkriegsära der Bundesrepublik Deutschland.
Die Presse stürzt sich auf den Mordfall. Sehr prominente Freier waren Kunden der Edelhure. Die Polizei gerät immer mehr unter Druck, den verzwickten Fall zu lösen. Doch eine Ermittlungspanne jagt die nächste. Am Ende bleibt der Fall ungeklärt - bis heute.
Ihr Tod schlägt mitten im Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre ein wie eine Bombe. Die Nitribitt ist nicht irgendwer. Sie ist Sensation und Provokation zugleich. Mit schwarzem Mercedes-Cabrio und weißem Pudel geht die stets elegant gekleidete Rosemarie Nitribitt öffentlich auf Kundenfang. Nicht dort, wo andere Prostituierte auf Freier warten. Auch in Edelhotels lockt sie männliche Gesellschaft an. Beim Geldadel wird sie unter der Hand als eine Art Trophäe gehandelt.
Rosemarie Nitribitt mit ihren Pudel
Frauen, die in den prüden 1950er-Jahren abends allein ausgingen, waren verschrien. Jene, die wie Rosemarie Nitribitt für Geld mit Männern schliefen, galten als Abschaum. Zeitzeugen berichten noch heute, dass sie aber fasziniert waren von der eleganten Dame im Luxusauto - heimlich natürlich.
Die Geschichte aus dem Frankfurter Rotlichtmilieu mutiert im piefigen Deutschland der 1950er-Jahre jedoch schnell zu einem ausgewachsenen Sittenskandal. Und die Polizei macht einen Fehler nach dem anderen. Der Hauptverdächtige wird von einem Gericht freigesprochen, die Ermittlungen werden eingestellt, der Mörder wird nie gefunden. Doch verbergen sich in den Ermittlungsakten nicht doch noch neue Hinweise?
In den fünfziger Jahren, als Westdeutschlands Wirtschaft wieder Fahrt aufnahm, symbolisierte vor allem das Auto den Wiederaufstieg des Landes. Der Mercedes-Stern war die Krönung dieses Symbols. Schnittige Karosserien der Oberklasse prägten das Marken- und Straßenbild.
1952 entwickelte Mercedes-Benz den SL - sportliche Leichtigkeit, blank poliert. Inoffiziell stand der SL für Luxus und Noblesse. Im Februar 1954 präsentierte der Konzern auf der Auto-Show in New York seinen eleganten Tourenwagen 190 SL. Ringo Starr, Alfred Hitchcock und Frank Sinatra fuhren ihn, aber vor allem bei Frauen war er wegen seiner grazilen Details beliebt. Berühmteste weibliche Fahrerin des 190 SL war aber nicht Grace Kelly, Gina Lollobrigida oder Zsa Zsa Gabor, sondern eine Frankfurter Hure. Einen «Nitribitt» nannte der Volksmund das 190er Cabrio.
Bis heute ist der Name von Rosemarie Nitribitt mit dem Modell von Mercedes verknüpft. In die Geschichte ging die Edelprostituierte aber weniger wegen ihres rasanten Untersatzes ein, sondern wegen der feinen Herren, die sie damit abschleppte. Unvergessen machen sie ihr mysteriöser gewaltsamer Tod im Jahr 1957 und der große Lärm, der ihm folgte. Es war, als hätte ihre Ermordung der Ära Adenauer jäh die Maske von ihrem zweiten Gesicht gerissen.
Mordsache Nr. 68331/57 war nicht der «ganz normale Prostituiertenmord», als den ihn die Polizei verzeichnete. Die Fallakte Nitribitt legte Seite für Seite, Aussage für Aussage den ersten handfesten gesellschaftspolitischen Skandal der Nachkriegszeit frei. Es ging um Sex, Macht, Geld. Der Wirbel zog weite Kreise, Nitribitts Kundenkartei sich hoch bis in die höchsten Kreise der neu- und «noch immer» reichen Frankfurter Wirtschaftsbosse und sonstigen sogenannten besseren Gesellschaft hinein.
Als «keineswegs besonders attraktiv» wurde sie beschrieben. Rosemarie Nitribitt im Jahr 1955.
Auch die Justiz des neuen Rechtsstaats bekleckerte sich nicht mit Ruhm: 22 Akten, zwei Tonbänder, Bildmaterial, Nitribitts Wohnungsschlüssel, eines ihrer Schamhaare und ihr sagenumwobenes Notizbuch mit angeblich über hundert bekannten Kundennamen verschwanden spurlos und tauchten erst fünfzig Jahre später teilweise wieder auf.
Die Ermittler waren fahrig und fahrlässig; der namhaften Verdächtigen nahmen sie sich fast fürsorglich an - interessierten sich bei Industriellenerbe Gunter Sachs mehr für die Direkteinspritzung seines 300-SL-Flügeltürers als für sein Alibi und fanden das Alibi «Golfunterricht» von Krupp-Erbe Harald von Bohlen und Halbach überzeugender als dessen Fingerabdrücke auf einer angebrochene Flasche Beaujolais in Nitribitts Wohnung. Am Ende verhaftete man einen, der nicht mehr oder weniger verdächtig war, aber wesentlich weniger wichtig und wohlhabend.
***
Am 01.11.1957 meldete der Hessische Rundfunk, dass am Nachmittag gegen 17 Uhr das 24jährige Mannequin Rosemarie Nitribitt in ihrer Wohnung in Frankfurt (Main) tot aufgefunden wurde und vermutlich ermordet wurde.
Die Tote brach mir allen Regeln ihrer Zeit und ihre Geschichte sollte den beschaulichen Deutschland der Nachkriegszeit den Atem verschlagen. Maria Rosalia Auguste „Rosemarie“ Nitribitt, wurde am 1. Februar 1933 in Düsseldorf geboren und starb vermutlich am 29. Oktober 1957 in Frankfurt am Main. Sie war eine Prostituierte, die ermordet wurde. Bei den polizeilichen Ermittlungen stellte sich heraus, dass sie Kontakt zu bedeutenden Persönlichkeiten hatte. Da der Mordfall nicht aufgeklärt werden konnte, kam es zu Vermutungen, dass einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik die Aufklärung zu verhindern suchten.
Die zu Lebzeiten als Frankfurter Edelprostituierte bekannte Nitribitt erlangte nach ihrem Tod landesweite Berühmtheit. Rosemarie Nitribitt war vor allem in Frankfurt am Main schon zu Lebzeiten bekannt und nach ihrem Tode erschienen zahlreiche Medienberichte über sie. Dennoch gibt es nur wenige gesicherte Erkenntnisse über ihr Leben.
Als Rosemarie Nitribitt am 1. Februar 1933 in Ratingen bei Düsseldorf kurz nach Hitlers Machtergreifung zur Welt kam, war ihr Vater vor ihrer Geburt abgehauen und ihre 18-jährige Mutter Maria immer noch Putzfrau. Die Behörden des Dritten Reichs stuften Maria als «schwachsinnig» ein.
Rosemarie, wie sie sich später nannte, kam also als nichteheliches Kind zur Welt. Ihren Vater, einen Arbeiter aus Düsseldorf, der später Unterhaltszahlungen ablehnte, lernte Rosemarie vermutlich nie kennen. Sie wuchs, wie ihre beiden Halbschwestern, in ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Mutter in Ratingen und Düsseldorf auf.
Rosemaries jüngere Halbschwestern Irmgard und Lieselotte hatten jeweils einen anderen Vater; vernachlässigt wurden alle drei gleichermaßen. So war es gut und richtig, dass das Jugendheim die fünfjährige Rosemarie 1937 «wegen Verwahrlosung» ins Heim steckte. Die Mutter musste mehrere Freiheitsstrafen verbüßen. Rosemarie wurde mehrmals in ein Kinderheim eingewiesen, wo sie als schwer erziehbar galt und mehrfach ausriss.
Im Nachhinein war es ein Glück: Im Frühjahr 1939 kam das Kind zu Pflegeeltern nach Niedermending in der Eifel. Bei dem 69-jährigen Pflegevater Nikolaus Elsen und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Anna Maria erlebte Rosemarie zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben Liebe und Geborgenheit. Während 1942 die leibliche Mutter mal wieder eine Haftstrafe verbüsste, feierte Rosemarie ihre Erstkommunion. Zeugen dieser kurzen Zeit sagen, Rosemarie sei fröhlich, aufgeweckt und lebhaft gewesen.
1944 vergewaltige ein 18-jähriger Nachbarsjunge die elfjährige Rosemarie. Der Vorfall blieb nicht unbemerkt, aber in dem kleinen Eifeldorf, auch bei den Elsens, schwieg man das Verbrechen tot. Die Tat wurde den Behörden nie bekanntgegeben und der Täter nie zur Rechenschaft gezogen, obwohl man im Dorf wusste, wer es war. Der Junge ging zur Wehrmacht. Rosemarie blieb zwei Wochen der Schule fern und geriet dann auf die schiefe Bahn.
Nichts prägt uns mehr als unsere Kindheit, die Zeit, in der wir arglos und verletzlich sind. Vier behütete Jahre vermochten nicht den Schmerz einer jungen Seele zu heilen, die immer wieder im Stich gelassen wurde. Je härter es das Leben mit Rosemarie meinte, desto härter wurde sie selbst. Sie wurde zur Einzelkämpferin und ab ihrem 12. Lebensjahr verhaltensauffällig.
Kurz nach Kriegsende befreundete Nitribitt sich mit zwei Prostituierten. Mit knapp 13 Jahren bot sie sich zum ersten Mal französischen Besatzungssoldaten an. Mit 14 Jahren hatte sie eine Abtreibung, die fast tödlich endete. Es war Anfang 1947, die Pflegeeltern waren längst überfordert und ließen Rosemarie einmal mehr in ihrem Leben im Stich.
Eine Odyssee durch Erziehungsheime und Verwahranstalten begann, immer wieder schaffte Rosemarie es, abzuhauen. Nachdem die 18-Jährige im Sommer 1951 wegen «Landstreicherei» drei Wochen Jugendstrafanstalt Frankfurt-Preungesheim verbüßt hatte, wollte kein Heim mehr den hoffnungslos renitenten Fall bei sich aufnehmen. Im April 1952 sperrte man die junge Prostituierte für ein Jahr in die berüchtigte Nazi-Arbeitsanstalt Brauweiler und ließ sie Tüten kleben. Das saß Rosemarie Nitribitt also in der Ära Adenauer am selben Ort, an dem in der Ära Hitler Konrad Adenauer eingesessen hatte.
Schon als Heranwachsende verdiente sie ihr erstes Geld mit Prostitution. Später zog sie nach Koblenz, anschließend nach Frankfurt am Main, wo sie – immer noch minderjährig – als Kellnerin und Mannequin arbeitete, bald aber wieder als Prostituierte. Sie wurde aufgegriffen und erneut in ein Erziehungsheim eingewiesen, aus dem sie bald wieder ausriss. Von April 1952 bis April 1953 saß Rosemarie Nitribitt in der „Rheinischen Landes-Arbeitsanstalt Brauweiler“ in der Abtei Brauweiler bei Pulheim ein. Da sie als schwerer Fall galt, wurde sie vorzeitig (d. h. vor dem 21. Lebensjahr) für volljährig erklärt, damit sie entlassen werden konnte.
Sie gab sich große Mühe, ihre einfache Herkunft zu verbergen. Um in Gesellschaft nicht durch mangelnde Bildung und fehlende Weltbürgerlichkeit aufzufallen, lernte sie Englisch, Französisch und belegte Kurse für „gutes Benehmen“. Ein Freier schenkte ihr 1954 einen Opel Kapitän, damals ein außergewöhnlicher Besitz für eine Frau Anfang 20. Andere Freier luden sie in den Urlaub ans Mittelmeer ein.
Hinterlassenen persönlichen Aufzeichnungen zufolge und nach Recherchen der Frankfurter Kriminalpolizei erwirtschaftete Nitribitt in ihrem letzten Lebensjahr ein unversteuertes Einkommen von etwa 90.000 DM. Bereits Mitte 1956 erwarb sie den berühmten schwarzen Mercedes-Benz 190 SL mit roten Ledersitzen, mit dem sie in Frankfurt sehr viel Aufsehen erregte und der ihr Markenzeichen wurde. Der Verbleib des Mercedes ist unklar.
Am 1. November 1957 wurde Nitribitt mit einer Platzwunde am Kopf und Würgemalen am Hals tot in ihrer Wohnung in Frankfurt am Main in der Stiftstraße 36 am Eschenheimer Turm aufgefunden. Laut Obduktion war ihr Tod zwanzig bis dreißig Stunden vorher eingetreten.
Nitribitt wurde auf dem Nordfriedhof in Düsseldorf beigesetzt. Ihr Kopf wurde zuvor abgetrennt und von der Frankfurter Staatsanwaltschaft als mögliches Beweismittel zurückgehalten. Er wurde später der Frankfurter Polizei als Lehrmittel für die Kommissarsausbildung übergeben und im Kriminalmuseum Frankfurt ausgestellt. Nach 50 Jahren, im Dezember 2007, gab die Staatsanwaltschaft den Schädel Nitribitts frei. Er wurde am 10. Februar 2008 in ihrem Grab auf dem Nordfriedhof beigesetzt; Spender finanzierten eine Verlängerung der Nutzungsdauer.
Die Beamten ermittelten gegen einige, zum Teil prominente Verdächtige, darunter waren Angehörige der Familie Krupp (Harald von Bohlen und Halbach), Harald Quandt, Ernst Wilhelm Sachs sowie sein jüngerer Bruder Gunter Sachs. Hingegen lassen sich in Film und Fernsehen immer wieder kolportierte Gerüchte über hochrangige Kunden Nitribitts aus dem Bonner Politikbetrieb, wonach neben dem damaligen Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm auch der spätere Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger auf der Besucherliste der Prostituierten gestanden hätte, anhand der einschlägigen Zeugenaussagen und Vernehmungsprotokolle nicht belegen.
Der mit dem Fall befasste Kriminalkommissar Alfred Kalk sagte über das Notizbuch, in dem Nitribitt ihre Kontakte festhielt: „In dem Buch standen Namen, aber die waren nicht aus der großen Welt der Mächtigen und Reichen, sondern ganz normale Bürger. Das Höchste war ein Bankdirektor aus Bad Homburg.“
Nitribitt hatte in ihrem Taschenkalender von 1957 insgesamt 60 Namen aufgeschrieben. Der Besitzer eines Lebensmittelgeschäfts in München wurde beschattet und im Dezember 1958 mehrmals verhört, weil Nitribitt seinen Namen zusammen mit den Stichworten „Düsseldorf“ und „München“ in dem Taschenkalender notiert hatte. Im Januar 1959 wurde dem Verdächtigen mitgeteilt, dass die Ermittlungen gegen ihn eingestellt wurden. Zwölf Stunden später erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt.
Kaum erklärbare Ermittlungspannen der Frankfurter Kripo nährten den Verdacht einer planmäßigen Vertuschung. Einige Akten verschwanden spurlos, die Beamten machten zahlreiche Fehler. Über Jahre und Jahrzehnte wurde spekuliert, dass brisante Akten und Verhörprotokolle vorsätzlich beiseitegeschafft worden seien, um prominente Freier und Verdächtige aus Politik und Wirtschaft zu schützen.
2013 stießen jedoch Archivare der Frankfurter Polizei in ihren Archiven auf die verschollen geglaubten Dokumente. Das Spurenbuch und einige ausgewählte Dokumente waren bis 1972 von den Frankfurter Ermittlern aktiv weitergeführt und dann nach Schließung des Falls schlicht im Archiv vergessen worden. Mit dem Auffinden der Akten können viele der Verschwörungstheorien, die sich um den Fall ranken, als widerlegt betrachtet werden. Lange Zeit verloren geglaubte Teile der 24-bändigen Ermittlungsakten lagern im Polizeiarchiv Frankfurt. Darunter befinden sich vier Bände mit Vernehmungen, das Notizbuch von Rosemarie Nitribitt, weitere erkennungsdienstliche Bilder von Tatverdächtigen, 19 Liebesbriefe, Postkarten und Gedichte von Harald von Bohlen und Halbach.
Die vielfache Behauptung, in der Wohnung Nitribitts sei ein laufendes Tonbandgerät gefunden worden, das die Ankunft des letzten Besuchers aufgezeichnet habe, kann mittlerweile als widerlegt gelten. In der Wohnung wurde zwar ein Grundig-Tonbandgerät sichergestellt, mit dem aber zuletzt Schallplatten aufgenommen worden waren. Die Aufnahme von Sprachaufzeichnungen wäre schon aus technischen Gründen nicht ohne weiteres möglich gewesen. Am Ende des eingelegten Tonbands befand sich tatsächlich eine Sprachsequenz, die offensichtlich zu einem früheren Zeitpunkt aufgenommen worden war, und zwar gegen die Laufrichtung der übrigen auf dem Band befindlichen Musikaufnahmen. Die schlechte Qualität der Sprachaufzeichnung erklärt sich durch den Bandlauf beim ersten Abspielen des Bandes durch die Frankfurter Kripo. Spielt man die Sprachsequenz gegen den Bandlauf der Musikaufnahmen ab, hört man, wie Nitribitt ihren Hund zu sich ruft.
Der Hauptverdächtige war ein Freund Nitribitts, der damals 34-jährige Handelsvertreter Heinz Christian Pohlmann, welcher 1990 in München verstarb. Er wurde angeklagt, aber im Juli 1960 mangels Beweisen freigesprochen. Man habe trotz erheblicher Zweifel an der Herkunft des vielen Geldes, das sich unmittelbar nach der Tat in seinem Besitz befand und wahrscheinlich aus der Wohnung Nitribitts entwendet worden war, nicht mit letzter Sicherheit die Täterschaft Pohlmanns in der Mordsache erkennen können, hieß es in der Urteilsbegründung des Frankfurter Schwurgerichts.
Pohlmanns Verteidiger Alfred Seidl – der spätere bayerische Innenminister – hatte den Todeszeitpunkt infrage gestellt, den die Polizei für den Nachmittag des 29. Oktober 1957 angenommen hatte, und bekam Recht. Unter anderem hatten die am Tatort eintreffenden Beamten versäumt, die Temperatur der Leiche oder die Umgebungstemperatur in der laut Polizeibericht sehr warmen, fußbodenbeheizten Wohnung Nitribitts zu messen, was für die exakte Bestimmung der Todeszeit unbedingt notwendig gewesen wäre. Auch gab es Zeugenaussagen, wonach Nitribitt nach dem von den Ermittlern vermuteten Todeszeitpunkt noch Besorgungen erledigt habe (in der nahegelegenen Metzgerei Matthiae) und auf der Großen Eschenheimer Straße gesehen worden sei. Für diesen Zeitraum besaß der Angeklagte nach Ansicht des Schwurgerichts ein Alibi. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Revision.
Die Unterlagen des Gerichtsverfahrens befinden sich heute im Hessischen Hauptstaatsarchiv in Wiesbaden, legen aber nichts mehr wesentlicheres offen, als hier berichtet.
Versuchen wir, das wenig bekannte zu rekonstruieren. Sie war selbstbewusst, fuhr einen Mercedes und wohnte allein in einem Frankfurter Appartement - alles Affronts in den 1950er-Jahren in der BRD. Es war eine konservative Zeit, in der die Freiheiten der Frau unangebracht waren. Doch was die einen provozierte, zog die anderen wiederum magisch an. Nitribitt war eine der schillerndsten Figuren der Nachkriegszeit - mit einem tragischen Ende.
Über ihre Liebe war nahezu alles zu erfahren, zumindest über die käufliche. Denn die 24-Jährige war eine, ja – Nutte, Edelhure, Luxus-Prostituierte? „Mannequin“, ließ Rosemarie Nitribitt ins Telefonbuch eintragen. Dabei hatte die zierliche Blondine als Model nie Fuß gefasst: Dazu war ihr Eifeler Dialekt zu breit, ihr Auftreten zu unfein und vorlaut. Also ging sie unter dem Namen Rebecca anschaffen, wurde innerhalb weniger Jahre erst zur berühmtesten Lustdame des Frankfurter Nachtlebens – und dann zu einem der großen deutschen Kriminalfälle.
Dieser Fall scheint prädestiniert für all die Romane, Filme, Dokumentationen, die selbst noch Jahrzehnte nach Nitribitts Tod entstanden. Der Sittenskandal, der Sex, die Verschwörungstheorien: Ein Drehbuchautor hätte die grausigen und mysteriösen Einzelheiten des bis heute ungeklärten Verbrechens kaum besser arrangieren können.
Das rosafarbene Frotteetuch, das der Mörder ihr unter die Kopfplatzwunde legte, nachdem er sie mit beiden Händen erwürgt hatte. Die schlampigen Polizeiermittlungen, die mehr zu vertuschen als aufzudecken schienen – weil Männer aus den höchsten Kreisen involviert waren, wie man munkelte. Oder jener schicksalhafte Moment im Herbst 1957, als Rosemarie Nitribitt vor einem Glas Sekt in einer Bad Homburger Bar saß und sagte: „Irgendwann schlägt mir noch jemand den Schädel ein.“
Wenige Wochen später, am 1. November, fand man sie dann zu Hause, in der Nummer 41 des Frankfurter Apartmenthauses Stiftstraße 36. Die Leiche lag im überhitzten Wohnzimmer, halb verwest.
Der Mord war damals ein Fall für die Mordkommission, den Erkennungsdienst und die Gerichtsmediziner. Die Liste der Personen am Tatort war überraschend lang und auch der Vizepräsident sowie der Pressesprecher der Polizei waren anwesend. Doch weshalb erregte der Mord an einer Prostituierten so viel Aufmerksamkeit?
Das lässt sich an den Fundsachen in der Wohnung sehr gut ableiten, die von der Polizei sichergestellt wurden. Die Ermittler fanden unter anderem mehr als 1.000 DM in bar, Goldschmuck sowie Briefe eines namhaften Freiers und Tonbänder. Die Kripo versuchte, den Namen des prominenten Herren aus der Wirtschaft zu verschleiern und verwischte die Spuren.
Doch nicht nur der namhafte Industrielle vergnügte sich mit der jungen Dame: Ein großer Teil der Frankfurter High Society klopfte an Nitribitts Tür.
Sogar ein Fürst und ein Bonner Politiker sollen zu ihren Kunden gezählt haben. Die Gerüchteküche um ihre Kundenliste brodelte genauso wie die Frage nach dem Täter. War der Mörder etwa eine Person aus der Oberschicht?
Als potenzielle Täter, denen man einen Mord zutrauen würde, kamen viele infrage. Rosemarie Nitribitt war eine begehrte Prostituierte und harte Konkurrenz für andere leichte Mädchen und deren Zuhälter. Zudem standen auf ihrer Kundenliste genügend Herren, die eine Liaison mit einer Prostituierten um jeden Preis hätten vertuschen wollen.
Rosemarie Nitribitt war eine Frau, die Aufsehen erregte. Sie ging nicht auf den Straßenstrich, sondern fuhr durch die Stadt, parkte vor Luxushotels und suchte sich ihre Freier selbst: erst in einem Opel Kapitän, dann im glamourösen Mercedes 190 SL, schwarz, rote Ledersitze, Weißwandreifen. Eine attraktive Frau, stets geschmackvoll gekleidet, Nerzmantel, Brillantring, dazu ein weißer Pudel namens Joe. Sie suchte sich zahlungskräftige Kunden, bot ihre Dienste aber auch mal für einen 50-Mark-Schein an und scheffelte so ein Vermögen.
Raubmord, vermuteten daher die Ermittler und verhafteten nach monatelanger Stümperei den Handelsvertreter Heinz Pohlmann, einen chronisch verschuldeten Freund Nitribitts. Der Indizienprozess endete allerdings, wie wir wissen, mit Freispruch.
Weitere Prominente wurden verhört, doch deren Spuren verschwanden auf mysteriöse Weise im Laufe der Ermittlungen - wodurch die Verschwörungstheorien noch angefeuert wurden. Für Außenstehende war es nicht verständlich, warum ausgerechnet in diesen Fällen Spuren verwischt oder ihnen nicht nachgegangen wurde.
Ein Verdächtiger der Polizei stammte aus der Mittelschicht, der jedoch nur deshalb beschuldigt wurde, weil er Geldsorgen hatte - Nitribitt wiederum hatte ein großes Vermögen angehäuft. Doch auch von ihm ließen die Ermittler letztlich ab.
Aus den höheren Kreisen, in denen sie verkehrte und die Polizei Befragungen anstellte, drang dagegen gar nichts. Dabei hatte die junge Frau die halbe Wirtschaftswunderprominenz im Adressbuch stehen; zu ihren Kontakten zählten etwa die Millionärsbrüder Gunter und Ernst Wilhelm Sachs oder auch Harald Quandt, Sprössling des Großindustriellen-Clans.
Der Krupp-Erbe Harald von Bohlen und Habach schrieb ihr gar Liebesbriefe; nur eine Hochzeit kam für ihn nicht infrage. Tatsächlich geriet Harald von Bohlen und Halbach ins Visier der Ermittler, es wurde schließlich ein Teilabdruck seiner linken Hand an einer Flasche Rotwein am Tatort gefunden. Am Ende gab sich die Polizei jedoch mit einem Alibi der Haushälterin aus der Krupp-Familie zufrieden.
In der prüden, biederen Adenauer-Republik war schon allein die Existenz dieser Frau skandalös; eine derartige Liaison wäre aber schlicht undenkbar gewesen.
Ob es tatsächlich Liebe zwischen ihnen war? Möglich. Rosemarie Nitribitt gab sich rätselhaft, zeigte sich von mädchenhaft über verführerisch bis vulgär und abgebrüht in allen Facetten. Laut Christian Steiger, Autor des Buchs „Rosemarie Nitribitt – Die Autopsie eines deutschen Skandals“, sehnte sie sich aber eigentlich nach Nähe, Familie und einem Häuschen auf dem Land, kurz: einer bürgerlichen Existenz.
Das klingt unbedingt nicht nach „Rebecca“, womöglich aber nach der unehelich geborenen Maria Rosalie Auguste, wie Nitribitt in Wirklichkeit hieß. Jener jungen Frau, die erst in einer Pflegefamilie und dann in brutalen Erziehungsheimen aufgewachsen war, mit elf vergewaltigt wurde, immer wieder abhaute und sich schon als Teenager Soldaten andiente. Jener jungen Frau, die sich oft unglücklich verliebte, Affären mit Männern oder auch Frauen hatte und zuletzt Geld und Verehrer um sich scharte. Nur die echte Liebe, die blieb ihr verwehrt. Die käufliche Liebe machte sie dafür berühmt – und wurde ihr wohl zum Verhängnis.
Der Mörder ist bis heute nicht gefasst, doch die Verschwörung rund um die Krupp-Familie hat nie ein Ende gefunden. Heinz Pohlmann schrieb für die Illustrierte "Quick" an der Serie "Quick sucht den Mörder der Nitribitt", die nach einigen Folgen jedoch eingestellt wurde.
Hintergrund war eine Zahlung der Firma Krupp an den Autoren, aufgrund dessen Pohlmann die Arbeit an der Reihe stoppte. Der Industriellen-Familie ging es dabei darum, ihren Namen aus dem Spiel zu lassen. Doch seitdem ranken sich unzählige Mythen um die gesamte Geschichte, die in mehreren Filmen verarbeitet wurde.
Kein Wunder: Schließlich bieten die Fehler der Polizei, absichtlich verwischte und seltsamerweise verschwundene Spuren sowie die nicht nachgegangenen Fährten genug Stoff für jede Menge Krimis.
Als Kind vergewaltigt, geriet Rosemarie Nitribitt früh auf die schiefe Bahn. Im fabrikneuen Cabrio wirbelte sie die verstaubte Ära Adenauer auf. Doch ihr Traum vom sozialen Aufstieg endete böse.
Rosemarie Nitribitt im Jahre ihre Ermordung
Zerbrechlich war die christlich-demokratische Bundesrepublik unter Adenauer, im Brennpunkt des heißesten Kalten Krieges. Die Russen schossen als Trockenübung schon einmal ihre Sputniks in die Erdumlaufbahn, und nach der NS-Katastrophe bemühte Deutschland sich tunlichst, die Trümmer der Vergangenheit beiseite- und seine «bürgerliche Wohlanständigkeit» herauszukehren.
Es ist beinahe unerträglich, wie selbstgerecht und zugleich lächerlich verklemmt es da zuging. Wie sich die voyeuristische Boulevardpresse und die klatschsüchtige Gesellschaft an dem Sittenskandal weideten, ohne das Treiben beim Namen zu nennen. «Wer waren ihre Freunde?», fragte die «Frankfurter Rundschau» nach Nitribitts Tod und suchte selbstverständlich ihre Freier.
Die Polizei schickte bei Gunter Sachs’ detailreichem Verhör über Nitribitts sexuelle Vorlieben die Stenotypistin aus dem Raum und entschärfte die erwähnten Blow-Jobs zu «Mundverkehr». Benimmbücher fanden in den Fünfzigern reissenden Absatz, Unmoral aber fand, wenn überhaupt, im Sperrbezirk am Rande der Gesellschaft statt. So schön, so verlogen. Ernst Wilhelm Sachs ließ die Edelhure zwar ein paar Tage in seiner Wohnung bleiben – länger aber nicht.
Rosemarie Nitribitt war der lebende Beweis dafür, dass das Laster mitten unter ihnen war. Zwischen ihren Heimaufenthalten tauchte sie immer wieder in Frankfurt am Main ab und träumte im Schatten von Bankenbauten und gen Himmel wachsenden Häusern von Geld und Ansehen. Einer Kollegin aus dem Milieu sagte Nitribitt, sie wolle eine reiche, anerkannte Ehefrau werden und «einen großen Salon führen». Eine Weile arbeitete sie als Hausmädchen bei einer Bäckersfamilie, in einem Familiencafé und auf einer Hühnerfarm. Das meiste Geld verdiente die unbelehrbare Schulabbrecherin aber auf dem Strich.
«Keineswegs besonders attraktiv» fand der Journalist Erich Kuby die Nitribitt, die postum in dessen Buch als «Des deutschen Wunders liebstes Kind» auferstand. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» meinte später gnadenlos, «ihr durchschnittliches Gesicht mit der kurzen, etwas plumpen Nase und der leicht zynisch geschürzten Oberlippe wäre hinter keinem Ladentisch und keiner Ausschanktheke aufgefallen.»
Auf einer Polizeifoto von 1951 wirkt die damals 18-Jährige wirklich kein bisschen glamourös, eher mausgrau, aschfahl und sturzunglücklich.
Aber Rosemarie Nitribitt mauserte sich. Wenn schon Hure, dann wollte sie keine billige sein. Sobald Nitribitt mit 21 Jahren volljährig war und offiziell keinen Vormund mehr brauchte, erfand sie sich nagelneu. Den Aufstieg der Nitribitt kann man sehr gut anhand der Statussymbole verfolgen, mit denen sie sich stückweise aufwertete, offen kokettierte und klarstellte: Ich bin nicht für jedermann zu haben.
Schon der Teenager Rosemarie versuchte, seine ärmliche, erbärmliche Herkunft zu überspielen. In einer der wenigen stabilen Phasen ihrer Jugend entstand eine Foto, auf der sie in einem figurbetonten Kostüm, mit Schirm und breitkrempigem Hut als Requisiten die Grande Dame mimt. Anfangs steckte Nitribitt jeden Pfennig in ihre Inszenierung als mondäne Mätresse. Wenig Geld gab sie für Essen aus. Im Magen hatte sie auch an ihrem Todestag nur ein wenig Reis.
Stundenlang blockierte sie das Gemeinschaftsbad ihrer Pension am Stadtrand und ging anschließend in hochgeschlitzten Kleidern, glänzenden Nylons, hochhackigen Schuhen und Pudel Joe auf dem Arm auf Frankfurts Prachtboulevard im Bahnhofsviertel schaulaufen.
Im Telefonbuch stand die 1 Meter 60 kleine Prostituierte als «Mannequin» zwischen einer Textilien- und Lederbekleidung und zwei Ärzten. Nitribitts Täuschung war zuletzt so vollendet, dass sie sich der Maklerfirma «Dröll und Scheuermann», die über jeden neuen Mieter umfassende Erkundigungen einholte, als selbständiges Mannequin mit einem Monatseinkommen von 800 DM «einwandfrei» verkaufte.
Im September 1955 zog Nitribitt, die längst mehr als 4000 DM im Monat einnahm, in die Stiftstrasse 36. Apartment Nr. 41, 4. Stock. Zwei Zimmer, Küche, Bad, 75 Quadratmeter, Parkettboden und Fußbodenheizung. Wer an der Türsprechanlage ihren Codenamen «Rebecca» nannte, dem drückte sie die Tür auf.
Ihr größter Coup aber war ihr Auto. Bevor es ihr Markenzeichen wurde, bedeutete das Auto für Nitribitt die ultimative Freiheit. Darin entkam sie dem Rotlichtmilieu, machte sich unabhängig von einem Zuhälter. Nitribitt stand nicht am Bordstein und wartete auf vorbeifahrende Freier. Das «Rehlein», so einer ihrer Kosenamen, ging selbst auf die Jagd.
Im Opel gabelte Nitribitt 1953 Ernst Wilhelm Sachs auf, den 24-jährigen Erben der Präzisionskugellager-Werke Fichtel & Sachs. Das schicke Gefährt sprach mehr und hochkarätigere Kunden an, das Prinzip verstand sie. Am 18. Mai 1956 registrierte die Kfz-Zulassung Frankfurt ein schwarzes Mercedes Cabrio 190 SL unter dem Kennzeichen H 70 6425. Rote Echtledersitze, Radio und Weisswandreifen. Rosemarie hatte die 17 700 DM dafür bar hingeblättert. Chefärzte fuhren damals VW Käfer.
Trotz seiner sportlichen Erscheinung brachte es der kleine Roadster gerade mal auf 170 km/h, aber Nitribitt schaltete meistens ohnehin nur in den ersten oder zweiten Gang. Zur Kundenakquise fuhr sie langsam um den noblen «Frankfurter Hof» herum oder an anderen Luxusschlitten vorbei. Deutsche Industrielle und ausländische Geschäftsleute passte sie am Flughafen Frankfurt ab. Bei schönem Wetter mit offenem Verdeck, oft mit einer dunklen Brille, manchmal mit Lichthupe.
Tatverdächtige Heinz Pohlmann bei einem polizeilichen Ortstermin. (Frankfurt/Main, 4. Juli 1960)
In nur anderthalb Jahren legte die tüchtige Nitribitt aber auch im Schritttempo 42 000 km zurück. Innerhalb von nur vier Jahren etablierte sie sich als erste Edelprostituierte der Nachkriegszeit. Sie verkaufte sich geschickt - dem millionenschweren 24-jährigen Mathematikstudenten Gunter Sachs verrechnete sie die ersten beiden Treffen inklusive Dreier und «Mundverkehr» nicht, was ihm schmeichelte (ihre Freundin Irene verlangte 50 DM). Bald war sie so bekannt, dass eine echte Frankfurter Dame des konsularischen Corps von Männern belästigt wurde, weil sie dasselbe Mercedes-Modell in der gleichen Farbe fuhr.
Eine Prostituierte, die in aller Öffentlichkeit ihre Freier suchte, war eine beispiellose Provokation. Mit dem Gesetz wollte Nitribitt aber nicht mehr in Konflikt geraten. Der berüchtigte Kuppeleiparagraph verbot bis 1969 selbst Eltern noch bei Strafe, unverheiratete Paare im selben Zimmer schlafen zu lassen. Ihr damals hypermodernes, mit weißen Marmorplatten verkleidetes Mietshaus am Eschenheimer Turm schien Nitribitt der ideale unscheinbare Ort für ihr Gewerbe. Es war kein schmutziges Stundenhotel, nein: Rosemarie empfing ihre Kunden im bürgerlichen, fast spießigen Ambiente, das sie «Ernstl» Sachs’ Wohnung abgeschaut hatte.
Rosemarie Nitribitt war weder rasend schön noch klug. Diese kindliche blonde Person, deren Leibspeise Milchreis war, strahlte eine finstere Lebensweisheit aus. Sie war die Frau, die außer Geld keine Ansprüche stellte und für Geld Phantasien erfüllte. Sie sah Schwulen gerne beim Sex zu, liebte lesbisch und schlug auch «mit dem Rohrstock bis zur geschlechtlichen Befriedigung» zu. Andere Männer erinnerten sich an eine zärtliche Geliebte. Manche kauften sich Zeit, wollten Nähe und nur reden; sie selbst musste dabei kaum etwas sagen. Vom Rand der Gesellschaft aus entlarvte Nitribitt Doppelmoral und schlug daraus mächtig Kapital.
Eines Samstagabends tauchte Rosemarie Nitribitt im November 1956 im drei Stunden entfernten Bad Homburg auf dem feudalen Anwesen der milliardenschwere Industriellenfamilie Quandt auf. Sie trug ein hautenges Cocktailkleid, stellte sich dem 35 Jahre alte Harald Quandt auf der Geburtstagsparty von dessen 28-jähriger Frau als Rebecca Wolf vor, nippte am Sekt und ging wieder. «Im April oder Mai 1957» kam Quandt eines Abends «auf die Idee [...], die Nitribitt aufzusuchen», sagte er später aus. Nitribitt servierte eine Flasche Sekt, dann redeten sie ungelenk über «ein lustiges Buch», Quandt gab ihr 150 DM, sie zogen sich nackt aus und hatten «ein sexuelles Erlebnis».
In kürzester Zeit hatte sich die Frau, die große Mühe hatte, ihren eigenen Namen zu schreiben, einen Namen gemacht. «Die Nitribitt» sprach sich herum, in einem erstaunlich großen Einzugsgebiet zu den klangvollsten Namen.
Zu ihrer Laufkundschaft zählten bald Chefredakteure und Filmemacher, der Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein, Jazzmusiker Joe Zawinul, Prinzen, Fürsten, Barone. Auch Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger und ein Bruder des Bundespräsidenten Gustav Heinemann sollen sich an «Rebecca» erfreut haben; angeblich besaß der US-Geheimdienst Fotos von Bonner Politikern auf Nitribitts Bettkante.
Harald Quandt nannte Nitribitt ihren «Harald den Ersten». «Harald der Zweite» schien Nitribitts bester Fang. Harald Georg Wilhelm von Bohlen und Halbach, Sohn der Stahlbaronin Bertha Krupp, war Junggeselle und laut Boulevard der «reichste Mann Deutschlands». Nitribitt sprach den 41-Jährigen im März 1957 «in der Nähe des Frankfurter Hofes» aus ihrem Cabrio heraus an. Nach einer kurzen Spritztour durch die Stadt hatten sie laut seiner späteren Aussage «G. V.», also Sex. 200 DM gab er ihr danach.
Die Nitribitt sei ihm einfach «sympathisch» gewesen, sagte von Bohlen und Halbach später. Die Anlagen des Vernehmungsprotokolls der «Spur 32» beweisen: «Harald der Zweite» war verliebt. Bei den «Korrespondenzunterlagen» handelt es sich um 19 stark romantisierte Liebesbriefe und Gedichte. Er schickte Blumen und Küsse und eine Christophorus-Plakette für ihr Mercedes-Cabrio, die sie erinnern sollte, vorsichtig zu fahren «und nicht so ganz plötzlich in die Kurve» zu gehen oder gar «frech» zu überholen. Er schrieb seiner «Sehnsucht» Postkarten mit Bergmotiven aus St. Moritz, aus Tirol, aus dem «Ritz Carlton» in Montreal, rief sie vom Apparat seiner Mutter Bertha aus an, oder besuchte sie in ihrer Wohnung.
Auf einem Foto sitzt er auf ihrem Chippendalesessel. «Seiner Seele Seligkeit» wollte von Bohlen und Halbach für eine Nacht auf ihren «mondscheinblassen» Brüsten dahingeben. Er schenkte Rosemarie Schmuck, Perlenohrringe, eine «Pferdegruppe aus Porzellan», einen Werkzeugkasten und einen Tirolerhut. Bald besass sie einen Schmuckkoffer aus Leder, Schweizer Uhren, Wein aus der Kruppschen Hauskellerei.
Aber was sie wirklich wollte, bekam sie nicht. Das Leben verläuft nicht nach «Pretty Woman»-Drehbuch. Nitribitts Spitzname «Gräfin Mariza» ließ sie in der Hierarchie unter ihresgleichen aufsteigen - aber die deutschen Familiendynastien waren moralische Instanzen. Und Nitribitt war keine, die man heiratet.
Sein «Fohlen», dem er «1000 Zuckerstücke ins Maul stecken» wollte, musste er auf «Rehchen» umtaufen, weil schon ein anderer sie «Fohlen» rief.
Schon Junggeselle Ernst Wilhelm Sachs, in den Nitribitt «sehr verliebt» war, wie sie ihrer Freundin Irene erzählte, ließ die Edelhure zwar ein paar Tage in seiner Schweinfurter Wohnung bleiben, wir erwähnten es schon, - länger aber nicht, obwohl er dort alleine lebte. Ihr Verhältnis beschrieb Sachs als «ohne jegliche ernste Absichten». 1957 heiratete er das echte Mannequin Model Eleonora Vollweiler.
Von dem alleinstehenden Krupp-Spross hatte Nitribitt wiederum ein silbern gerahmtes Foto auf ihrem Musikschrank stehen. Sie bezeichnete ihn als ihren festen Freund. Von Bohlen und Halbach machte sich kaum Illusionen. Einmal überredete Nitribitt ihn, mit ihr das Haus zu verlassen, sie gingen zu «Betten Raab», wo er ein Muster für Steppdecken und Kopfkissen ihres Doppelbetts aussuchen sollte. Klingt, als habe Nitribitt ein wenig Nestbau betrieben. Noch vor der Angst vor Aids und der Selbstverständlichkeit der Pille sorgte von Bohlen und Halbach immer für Präservative, damit Nitribitt ihm kein Kind anhängen konnte. Als sie ihn auf eine Ehe ansprach, meinte er, da müsse man «auf den Mond fahren». «Also gute Nacht, träume süss», schrieb er ihr einmal.
Es gibt wenige Bilder von Rosemarie Nitribitt, die meisten sind gestellt. Für einen Freier schnuppert sie in Strapsen an einem enormen Strauß Gladiolen. Für alle Freier posierte sie an ihrem Mercedes.
Eine der seltenen Fotos, auf dem sie sich nicht inszeniert hat, entstand wenige Tage vor ihrer Ermordung. Gegenüber ihrer Wohnung in der Stiftstrasse befand sich das inzwischen abgerissene Redaktionsgebäude der «Frankfurter Rundschau». Der «FR»-Fotograf Kurt Weiner erkannte die Frau, die da alleine und scheinbar unbeobachtet tief in ihrem Ohrensessel versunken am Fenster schlief und die hohen Schuhe auf dem Sims ruhen ließ.
Wenige Tage vor ihrer Ermordung gelang dem damaligen Fotografen Kurt Weiner ein Schnappschuss von Rosemarie Nitribitt am Fenster ihrer Wohnung in der Stiftstrasse
Bekannte und Weggefährten beschrieben die Nitribitt als charmant, vulgär und verspielt; als knallhart und dominant; und als einsam und voller Ängste. Rosemarie Nitribitt hatte wenig Freunde, und selbst die waren eher Bekanntschaften.
Der Klarinettist Fatty George durfte ihren Mercedes fahren und machte sie mit dem Jazzpianisten Joe Zawinul bekannt, der ihr Kunde wurde. Heinz Pohlmann, damals Handelsvertreter und später Hauptverdächtiger, lud sie eines Tages zum Tee in seine Junggesellenwohnung ein und blieb ein «platonischer Freund». Das homosexuelle «Pohlmännchen», stellte Nitribitt einmal resigniert fest, konnte ihre «Liebe nicht erwidern».
Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hatte Nitribitt viel erreicht. Aber die Grenzen ihrer Entfaltung waren deutlich. So war und ist es nun mal: Der Kunde hat das letzte Wort. Da es nach oben nicht weiterging und sie auf keinen Fall wieder nach unten wollte, kostete Nitribitt in vollen Zügen alles aus, was sie um sich herum zu fassen bekam: In ihrem dreiteiligen Kleiderschrank stapelten sich Spitzenwäsche und über 50 Paar Schuhe. Mitten im Sommer 1957 kaufte sie sich einen Wildnerzmantel für 11 000 DM und einen ebenso wertvollen Brillantring. Erspartes lagerte sie am Finanzamt vorbei in einer blauen Kassette im Wohnzimmerschrank.
Als der Mord an der Prostituierten Nitribitt bekannt wurde, empörte die Öffentlichkeit daran vor allem «die Tatsache, dass man damit reich werden konnte», schreibt Christian Steiger in seiner akribisch recherchierten «Autopsie eines deutschen Skandals». 1954 verdiente Nitribitt netto siebenmal mehr als ein durchschnittlicher Bundesbürger im Jahr brutto. Nitribitt vererbte ihrer Mutter 70 000 DM aus zehn Monaten Arbeit 1957. «Nur manche der Männer, die sie besuchen, verdienen mehr als Rosemarie Nitribitt», so Steiger.
Im Grunde hat Rosemarie Nitribitt nicht nur dem oberen Drittel Deutschlands Dienste erwiesen. Immerhin zeigte die Hure im Pelzmantel, dass «die Deutschen», alle Deutschen, wieder wer waren. Ein Callgirl nannte man in den Folgejahren eine Nitribitt, so wie man um ein Tempo bittet, wenn man ein Papiertaschentuch möchte.
Vielleicht ist es wahr, dass Rosemarie Nitribitt im Konsumrausch den Bogen auch mit ihren Kunden überspannt hat. Bis heute halten sich Gerüchte, dass sie sterben musste, weil sie zu viel wusste. Dass sie Spitzenpolitiker und Wirtschaftsbosse mit Scheinschwangerschaften oder deren Blossstellung erpresste.
Da der Mord an ihr nie aufgeklärt wurde, konnten düstere Legenden wuchern. «War die ‹blonde Rosemarie› eine Agentin des Ostens?», rätselte die Frankfurter «Abendpost». «Wurde Rosemarie Nitribitt telefonisch hypnotisiert?», fragte sich die «Welt» ernsthaft. Dass Nitribitt die Gespräche ihrer stöhnenden Besucher oft heimlich auf Tonband aufzeichnete, wussten diese nicht. Warum sie das überhaupt tat, wird man wohl nie wissen.
Eines der Gerüchte über Rosemarie Nitribitt klingt wie ein Ende, das man ihr alternativ gewünscht hätte. Angeblich wollte sie aussteigen, in eine Bar, eine Pension oder ein Gestüt investieren. Wollte sie doch noch ihren alten Traum von einem «großen Salon» erfüllen, nicht als Ehe-, sondern als Karrierefrau?
Die Wahrheit ist: Kurz vor ihrem Tod bestellte Nitribitt ein schwarzes Mercedes Coupé 300 S mit dunkelgrünen Sitzen für 34 500 DM, weil ihre Kunden sich über den unbequemen Einstieg des SL beschwert hatten. Am 29. Oktober war der Wagen abholbereit. Gegen 15 Uhr an diesem Tag empfing Nitribitt den letzten Freier, danach kaufte sie gegen halb fünf Uhr in Fritz Matthias Metzgerei ein Pfund Kalbsleber für Pudel Joe. Das Auto holte sie nicht mehr ab. Rosemarie Nitribitts Ende war wohl unausweichlich.
Am Nachmittag des 1. November 1957 fand die Polizeistreife «Frank 40» Rosemarie Nitribitt mit eingeschlagenem Schädel in ihrer Wohnung in der Stiftstrasse auf. Die Leiche der 24-Jährigen lag auf dem Perserteppich vor dem Sofa. Ihr anthrazitfarbenes Kostüm war hochgerutscht, ein Strumpfhalter sichtbar. Fenster und Gardinen waren geschlossen. Es war dunkel und stank bestialisch. Im Schlafzimmer winselte der eingesperrte Pudel. Die Fußbodenheizung lief auf Hochtouren, Nitribitts Gesicht war blutverkrustet und grotesk aufgedunsen, die Verwesung hatte in der Hitze bereits eingesetzt.
In perverser Fürsorglichkeit hatte der Täter den Kopf der Toten auf ein rosafarbenes Frottee-Handtuch gebettet. In der Geldkassette fehlte das Bargeld. Rosemarie Nitribitt wurde von hinten erwürgt, ihr Mörder drückte so heftig zu, dass sich seine Fingernägel in ihren Kehlkopf gruben. «Vor der Tat hat ein kurzer Kampf stattgefunden», vermerkten die Ermittler. Auf dem im Übrigen defekten Tonband vom Tattag hört man Nitribitt dreimal hintereinander undeutlich sagen: «Lass mich los.»
Bis zuletzt kämpfte Rosemarie Nitribitt. Bis zuletzt war sie von Scheinheiligkeit umgeben. Der Pfarrer verweigerte ihr das letzte Geleit. Ein anonymer Auftraggeber spendete ihr, dem Freudenmädchen, den Grabstein mit der biblischen Inschrift: «Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein im Leben». Noch nach über 60 Jahren ist Nitribitts Grab gepflegt, manchmal stehen frische Blumen darauf.