Читать книгу Skandale - Walter Brendel - Страница 5
Skandal um eine ermordete Edelhure (1957)
ОглавлениеSie war sehr aktiv im Stadtgeschehen und hat die Männer aus dem Auto heraus angesprochen und abgeschleppt, was für die damalige Zeit etwas Unerhörtes war. Eine sogernannte Edelhure, war die schöne Rosemarie Nitribitt. Ihre Freier waren Bänker, Manager und Wirtschaftsbosse. Sie war für ihre Zeit im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik Deutschland ein Statussymbol. 1957 wird die 24jährige in ihrer Wohnung erwürgt aufgefunden.
„Es sind mehrere Minuten des Würgens erforderlich“, sagt der ehemalige Mordermittler Axel Petermann, „die dem Täter endlos vorkommen müssen und man fast verzweifelt, weil das Opfer nicht stirbt.“
***
Mordsache Nr. 68331/57 war nicht der „ganz normale Prostituiertenmord“, als den ihn die Polizei verzeichnete. Die Fallakte Nitribitt legte Seite für Seite, Aussage für Aussage den ersten handfesten gesellschaftspolitischen Skandal der Nachkriegszeit frei. Es ging um Sex, Macht, Geld. Der Wirbel zog weite Kreise, Nitribitts Kundenkartei sich hoch bis in die höchsten Kreise der neu- und noch immer reichen Frankfurter Wirtschaftsbosse und sonstigen sogenannten besseren Gesellschaft hinein.
Ein mutmaßlicher Täter wird festgenommen und angeklagt. Was war geschehen?
Der 1. November 1957, am späten Nachmittag. Die Stiftstraße ist in den 50igern eine der teuersten Adressen Frankfurts (Main). Polizeibeamte lassen die Wohnungstür von Rosemarie Nitribitt in der Stiftstraße 36 öffnen. Die Putzfrau hatte einige Tage nichts von ihr gehört, hat die Wohnung dann aufgesucht du hat bemerkt, dass Brötchentüten vor der Wohnungstür standen. Sie wurde argwöhnisch. Die Putzfrau Erna Krüger zählt später selbst zum Kreis der Verdächtigen. Noch am Tattag hatte sie einen heftigen Streit mit Rosemarie Nitribitt.
Doch nun macht sie sich Sorgen, ruft die Polizei und bittet die Beamten, in der Wohnung nachzuschauen. Die Tür war nicht abgeschlossen, sondern nur zugezogen wurden. In der Küche finden die Polizisten einen Topf mit den Resten von Reisbrei. Der Pudel „Joey“ ist im Schlafzimmer eingesperrt. Die Tür zum Bad steht offen, an der Wand lehnt ein Rohrstock.
Im Wohnzimmer stoßen die Beamten auf Rosemarie. Sie liegt tot auf dem Boden, ein Bein auf dem Sofa, dass andere darunter. Neben dem Kopf ein blutiges Frottiertuch. Das Blut rührte von einer Platzwunde am Kopf her. Das Telefon ist von der Kommode gefallen, der Hörer blutverschmiert, daneben ein zerbrochener Aschenbecher.
Die Todesursache war erwürgen. Sie hat sich furchtbar gewehrt, es hat ein erbitterter Kampf stattgefunden, den sie letztlich verloren hat. Der Mörder wurde nie gefunden.
Nun will Axel Petermann den Fall noch einmal aufrollen. Er hat über 30 Jahre bei der Mordkommission in Bremen gearbeitet und in über 1000 Fällen ermittelt. Gleich zu Anfang besuch er die Stiftstraße in Frankfurt. Hier hat Rosemarie kann zwei Jahre bis zu ihrem Tod gelebt. Damals ein nobles Haus für wohlhabende Mieter, heute lässt sich das nur noch erahnen. Auch wenn der Mord nun 60 Jahre zurückliegt, will sich Axel Petermann selbst ein Bild machen.
„Für mich ist es immer wichtig, am Tatort gewesen zu sein, wenn ich ein Verbrechen analysieren soll. Ich will wissen, wie hat Rosemarie gelebt und gewohnt, wie kann ich mir die Situation vorstellen, wenn ich durch das Treppenhaus gehe oder dem Fahrstuhl benutze?“, so Petermann.
Soviel Jahrzehnte nach der Tat ist Axel Petermann vor allem auf die Ermittlungsakten angewiesen. Im Staatsarchiv Wiesbaden lagern rund 70 Ordner zu diesem Fall. Petermann steigt in die Recherche ein. Wer war diese Rosemarie Nitribitt eigentlich und wie wurde sie zur Edelhure?
Am 1. Februar 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, kommt Rosemarie Nitribitt in Düsseldorf zur Welt. Ihre Mutter ist erst 18 Jahre alt und als Putzfrau tätig. Die Behörden des Dritten Reichs stuften Maria als „schwachsinnig“ ein. Ihren Vater, einen Arbeiter aus Düsseldorf, der später Unterhaltszahlungen ablehnte, lernte Rosemarie vermutlich nie kennen. Rosemaries jüngere Halbschwestern Irmgard und Lieselotte hatten jeweils einen anderen Vater; vernachlässigt wurden alle drei gleichermaßen. So war es gut und richtig, dass das Jugendheim die fünfjährige Rosemarie 1937 „wegen Verwahrlosung“ ins Heim steckte. Im Nachhinein war es ein Glück: Im Frühjahr 1939 kam das Kind zu Pflegeeltern nach Niedermending in der Eifel. Bei dem 69-jährigen Pflegevater Nikolaus Elsen und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Anna Maria erlebte Rosemarie zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben Liebe und Geborgenheit. Während 1942 die leibliche Mutter mal wieder eine Haftstrafe verbüßte, feierte Rosemarie ihre Erstkommunion.
Zeugen dieser kurzen Zeit sagen, Rosemarie sei fröhlich, aufgeweckt und lebhaft gewesen. 1944 vergewaltige ein 18-jähriger Nachbarsjunge die elfjährige Rosemarie. Der Vorfall blieb nicht unbemerkt, aber in dem kleinen Eifeldorf, auch bei den Elsens, schwieg man das Verbrechen tot. Der Junge ging zur Wehrmacht. Rosemarie blieb zwei Wochen der Schule fern und geriet dann auf die schiefe Bahn. Die Vergewaltigung bleibt ungesühnt. Das hat sich ein Trauma bei dem Kind ausgelöst, irgendetwas war zerbrochen. Es lässt sich auch in den Jugendamtsunterlagen, die lückenlos erhalten sind, nachlesen, dass mit dieser Vergewaltigung der große Bruch mit und in ihrem Leben zustande kam. Danach gab es keine Kontakte oder enge Beziehung mehr zu ihrer Umwelt. Nichts prägt uns mehr als unsere Kindheit, die Zeit, in der wir arglos und verletzlich sind. Vier behütete Jahre vermochten nicht den Schmerz einer jungen Seele zu heilen, die immer wieder im Stich gelassen wurde. Je härter es das Leben mit Rosemarie meinte, desto härter wurde sie selbst. Sie wurde zur Einzelkämpferin und ab ihrem 12. Lebensjahr verhaltensauffällig.
Kurz nach Kriegsende befreundete Nitribitt sich mit zwei Prostituierten. Mit knapp 13 Jahren bot sie sich zum ersten Mal französischen Besatzungssoldaten an. Mit 14 Jahren hatte sie eine Abtreibung, die fast tödlich endete. Es war Anfang 1947, die Pflegeeltern waren längst überfordert und ließen Rosemarie einmal mehr in ihrem Leben im Stich. Erstmals lässt sie sich für Sex bezahlen. Der Pfarrer meldet das dem Jugendamt. Von geschlechtlichen Ausschweifungen ist in ihrer Akte die Rede und das sie sich wahllos mit Männern einlasse. Die Heranwachsende wird nun in diverse Erziehungsheime gesteckt, wo sie immer wieder ausreist. Rosemarie zieht es in die nahe Großstadt, über Koblenz nach Frankfurt. Das war die heimliche Hauptstadt der alten Bundesrepublik, eine Stadt voller enormer Wirtschaftskraft, mitten im Wiederaufbau, schon vorhandenes Nachtleben und gleichzeitig liberal geprägt. Hier arbeitet Rosemarie – immer noch minderjährig – bald als Prostituierte.
Eine Odyssee durch Erziehungsheime und Verwahranstalten begann, immer wieder schaffte Rosemarie es, abzuhauen. Mit 18 Jahren wird sie am Hauptbahnhof mehrfach von der Polizei aufgegriffen. Bis zur Volljährigkeit fehlen noch drei Jahre, doch kein Heim will sie aufnehmen. Nachdem die 18-Jährige im Sommer 1951 wegen „Landstreicherei“ drei Wochen Jugendstrafanstalt Frankfurt-Preungesheim verbüßt hatte, wollte kein Heim mehr den hoffnungslos renitenten Fall bei sich aufnehmen. Im April 1952 sperrte man die junge Prostituierte für ein Jahr in die berüchtigte Nazi-Arbeitsanstalt Brauweiler und ließ sie Tüten kleben. Das saß Rosemarie Nitribitt also in der Ära Adenauer am selben Ort, an dem in der Ära Hitler Konrad Adenauer eingesessen hatte.
Man wollte sie aus der Fürsorge entlassen, weil man einfach festgestellt hat, dass die junge Frau so problematisch ist und nichts mehr durch die Fürsorge getan werden konnte. Man hatte die Möglichkeit, sie nun als volljährig zu erklären und das tat man. Man wollte sie schlichtweg aus der Fürsorge loswerden.
Rosemarie versucht, wieder in Frankfurt, ihren Körper zu Geld zu machen. Als Tischdame zieht sie amerikanischen Soldaten das Geld für überteuerte Drinks aus der Tasche und regelmäßig lässt sie sich nun für Sex bezahlen. Sie wäre vielleicht gern noch was anderes geworden, was Bewerbungen als Mannequin dokumentierten und sie hatte auch einen diesbezüglichen Kurs besucht. Ihre derben Manieren, die arge Lese- und Rechtschreibschwäche und den breiten Eifel-Dialekt schliff sie in Kursen für Mannequins und gutes Benehmen zurecht. Zum bemühten Hochdeutsch kamen ein paar Worte Englisch und Französisch, man weiß ja nie, wer und was kommt. Stundenlang blockierte sie das Gemeinschaftsbad ihrer Pension am Stadtrand und ging anschließend in hochgeschlitzten Kleidern, glänzenden Nylons, hochhackigen Schuhen und Pudel Joe auf dem Arm auf Frankfurts Prachtboulevard im Bahnhofsviertel schaulaufen.
Rosemarie Nitribitt war der lebende Beweis dafür, dass das Laster mitten unter ihnen war. Zwischen ihren Heimaufenthalten tauchte sie immer wieder in Frankfurt am Main ab und träumte im Schatten von Bankenbauten und gen Himmel wachsenden Häusern von Geld und Ansehen. Einer Kollegin aus dem Milieu sagte Nitribitt, sie wolle eine reiche, anerkannte Ehefrau werden und einen großen Salon führen. Eine Weile arbeitete sie als Hausmädchen bei einer Bäckersfamilie, in einem Familiencafé und auf einer Hühnerfarm. Das meiste Geld verdiente die unbelehrbare Schulabbrecherin aber auf dem Strich.
„Keineswegs besonders attraktiv“ fand der Journalist Erich Kuby die Nitribitt, die postum in dessen Buch als „Des deutschen Wunders liebstes Kind“ auferstand. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ meinte später gnadenlos, „ihr durchschnittliches Gesicht mit der kurzen, etwas plumpen Nase und der leicht zynisch geschürzten Oberlippe wäre hinter keinem Ladentisch und keiner Ausschanktheke aufgefallen.“
Für Frauen gibt es in der Wirtschaftsmetropole nicht allzu viele Möglichkeiten, am Aufschwung teilzunehmen. Die verheiratete Frau arbeitet nicht, bleibt also nur ein Job als Sekretärin oder Verkäuferin. Rosemarie entschließt sich also, eine der 1200 Prostituierten Frankfurts zu sein.
Auf einer Polizeifoto von 1951 wirkt die damals 18-Jährige wirklich kein bisschen glamourös, eher mausgrau, aschfahl und sturzunglücklich. Aber Rosemarie Nitribitt mauserte sich. Wenn schon Hure, dann wollte sie keine billige sein. Sobald Nitribitt als volljährig galt und offiziell keinen Vormund mehr brauchte, erfand sie sich nagelneu. Den Aufstieg der Nitribitt kann man sehr gut anhand der Statussymbole verfolgen, mit denen sie sich stückweise aufwertete, offen kokettierte und klarstellte: Ich bin nicht für jedermann zu haben.
Schon der Teenager Rosemarie versuchte, seine ärmliche, erbärmliche Herkunft zu überspielen. In einer der wenigen stabilen Phasen ihrer Jugend entstand ein Foto, auf der sie in einem figurbetonten Kostüm, mit Schirm und breitkrempigem Hut als Requisiten die Grande Dame mimt. Anfangs steckte Nitribitt jeden Cent in ihre Inszenierung als mondäne Mätresse. Wenig Geld gab sie für Essen aus.
Auch wenn Ehebruch noch offiziell unter Strafe steht, ist das kein Hinderungsgrund für Männer, die es sich leisten können, sich im Nachtleben der Stadt zu amüsieren. Rosemarie fand sehr schnell Kontakt zu höheren Kreisen, weil sie eine gute Gesprächspartnerin war. Sie konnte zuhören und sich durchaus kultiviert unterhalten.
Ein wichtiges Statussymbol war in dieser Zeit das Auto. In Frankfurt findet jährlich die internationale Automobilausstellung statt. Die Menschen bestaunen Wagen, die die meisten sich gar nicht leisten können. Rosemarie aber schon.
Ihr größter Coup aber war also ein Auto. Bevor es ihr Markenzeichen wurde, bedeutete das Auto für Nitribitt die ultimative Freiheit. Darin entkam sie dem Rotlichtmilieu, machte sich unabhängig von einem Zuhälter. Nitribitt stand nicht am Bordstein und wartete auf vorbeifahrende Freier. Das „Rehlein“, so einer ihrer Kosenamen, ging selbst auf die Jagd.
Anfangs fuhr Nitribitt einen Ford, das Fahrzeug der unteren Mittelklasse. Nachdem sie ihren Taunus 12 M zu Schrott gefahren hatte, schenkte ein türkischer Unternehmer ihr 1954 das Geld für einen Opel Kapitän. Man gab ihr den Namen „Käpt’n Lady“. Eine Lady! Damals ein außergewöhnlicher Besitz für eine Frau Anfang der 21. Mit dem noblen 6-Zylinder tourt die Prostituierte durch Frankfurt und Umgebung auf der Suche nach Kundschaft.
In den fünfziger Jahren, als Westdeutschlands Wirtschaft wieder Fahrt aufnahm, symbolisierte vor allem das Auto den Wiederaufstieg des Landes. Der Mercedes-Stern war die Krönung dieses Symbols. Schnittige Karosserien der Oberklasse . Bereits Mitte 1956 erwarb Rosemarie Nitribitt den berühmten schwarzen Mercedes-Benz 190 SL mit roten Ledersitzen, für schlappe 18 000 DM, was sie sich in der Frankfurter Mercedes-Zentrale mit vielen Sonderwünschen bestellt und bar bezahlt hat und mit dem sie in Frankfurt sehr viel Aufsehen erregte und der ihr Markenzeichen wurde. Der Wagen ist geradezu eine Provokation. Einen „Nitribitt“ nannte der Volksmund das 190er Cabrio. Ein deutscher Arbeitnehmer verdient zu dieser Zeit im Schnitt 6 000 DM brutto im Jahr. Bis heute ist der Name von Rosemarie Nitribitt mit dem Modell von Mercedes verknüpft. Am 18. Mai 1956 registrierte die Kfz-Zulassung Frankfurt ein schwarzes Mercedes Cabrio 190 SL unter dem Kennzeichen H 70 6425. Chefärzte fuhren damals VW Käfer.
Nun ging es mit diesem Glanzstück von Auto auf Kundenfang. Trotz seiner sportlichen Erscheinung brachte es der kleine Roadster gerade mal auf 170 km/h, aber Nitribitt schaltete meistens ohnehin nur in den ersten oder zweiten Gang. Zur Kundenakquise fuhr sie langsam um den noblen „Frankfurter Hof“ herum oder an anderen Luxusschlitten vorbei. Deutsche Industrielle und ausländische Geschäftsleute passte sie am Flughafen Frankfurt ab. Bei schönem Wetter mit offenem Verdeck, oft mit einer dunklen Brille, manchmal mit Lichthupe. Sie pflegt ihre Prostitution ganz öffentlich und wird zu einer Sehenswürdigkeit der Großstadt. Sie blieb dann auch manchmal vor den „Frankfurter Hof“ stehen, täuschte irgendeine Panne vor, klappt die Motorhaube hoch und schaute unschuldig drein. Nun hielten gut betuchte Herren an und man kam ins Gespräch. So und ähnlich schaffte sie es in wenigen Jahren zur Edelprostituierten. Ein Frau, über die Frankfurt spricht und die ganz offensichtlich Männer zu faszinieren weiß. Diese zahlten bei ihr, je nach Einkommen, zwischen 50 und 250 DM für ein intimes Treffen. Sie hat am Tag zwischen sechs und neun Freier gehabt und hat das Geld sehr hart und gnadenlos zu sich selbst verdient.
In die Geschichte ging die Edelprostituierte aber weniger wegen ihres rasanten Untersatzes ein, sondern wegen der feinen Herren, die sie damit abschleppte. Unvergessen machen sie ihr mysteriöser gewaltsamer Tod im Jahr 1957 und der große Lärm, der ihm folgte. Es war, als hätte ihre Ermordung der Ära Adenauer jäh die Maske von ihrem zweiten Gesicht gerissen.
Im September 1955 zog Nitribitt, die längst mehr als 4000 DM im Monat einnahm, in die Stiftstrasse 36. Apartment Nr. 41, 4. Stock. Zwei Zimmer, Küche, Bad, 75 Quadratmeter, Parkettboden und Fußbodenheizung. Wer an der Türsprechanlage ihren Codenamen „Rebecca“ nannte, dem drückte sie die Tür auf. Im Telefonbuch bezeichnet sie sich als Mannequin, ihren Kindheitstraum. So stand die 1 Meter 60 kleine Prostituierte als nun zwischen einer Textilien- und Lederbekleidung und zwei Ärzten. Nitribitts Täuschung war zuletzt so vollendet, dass sie sich der Maklerfirma „Dröll und Scheuermann“, die über jeden neuen Mieter umfassende Erkundigungen einholte, als selbständiges Mannequin mit einem Monatseinkommen von 800 DM „einwandfrei“ verkaufte.
Dann taucht ein neuer Name in Rosemaries Leben auf. Heinz Christian Pohlmann, ein Handelsvertreter, geboren am 21. Mai 1921 in Wuppertal. Er wird später für die Polizei der Hauptverdächtigte sein. Der Mann ist mehrfach vorbestraft und immer in Geldnot.
Heinz Pohlmann lud sie eines Tages zum Tee in seine Junggesellenwohnung ein und blieb ein „platonischer Freund“. Das homosexuelle „Pohlmännchen“, stellte Nitribitt einmal resigniert fest, konnte ihre „Liebe nicht erwidern“. Wie es genau zu der Bekanntschaft kommt, bleibt unklar. Pohlmann bekam von Rosemarie kleinere Aufträge, kümmerte sich um das Auto, wartete in der Küche, wenn ihr die Kundschaft nicht ganz geheuer vorkam, hat den Pudel ausgeführt und hatte die Fähigkeit, gut Reisbrei zu kochen. Das war eines der Gerichte, die Rosemarie regelmäßig aß und er kochte auch den letzten Reisbrei, der dann bei der Obduktion in der Rechtsmedizin im Magen der Toten noch vorgefunden wurde.
Pohlmann liebt, wie seine Freundin Rosemarie, teure Autos. Allerdings fehlt ihm das nötige Geld dazu. Zwar ist er als Handelsvertreter durchaus erfolgreich, doch an das Einkommen der Prostituierten kommt er nicht ansatzweise heran. Ihr Kundenkreis wird immer exklusiver und prominenter. Sie hatte zwar ein elegantes, aber elitäres Auftreten und wenn sich die Fotos vom Tatort und der gesamten Wohnung anschaut, war immer noch ein Rest von Bürgerlichkeit im Spiel. Womöglich war es für die Herren, die zu ihr kamen, eine Mischung aus deutscher Gemütlichkeit und prickelnder Erotik.
Das geht auf. Rosemarie Nitribitt verdient bis zu 8 000 DM im Monat. Da sie keine Steuern zahlt und auch keinen Zuhälter aushalten muss, gehört sie zu den Top-Verdienern der jungen Bundesrepublik. Offenbar weiß keiner so gut wie sie, die Marke Sex zu vermarkten. Ihr Auftreten ist keineswegs verschämt, sondern offensiv und selbstbewusst. Sie lässt sich vor oder während des Sex von ihren Kunden fotografieren. Häufiger lädt die noch Kolleginnen ein, um auch Gruppensex zu bieten und dabei wird gegenseitig fotografiert. Diese Fotografien werden quasi als Trophäen beim nächsten Treff wieder präsentiert.
Die Polizei findet Unmengen von solchen Fotos im Nachlass der Prostituierten. Sie werden über Jahrzehnte weggeschlossen, um betroffene Männer zu schützen. Einige bisher unveröffentlichte Bilder zeigen Rosemarie Nitribitt, wie man sie bisher noch nicht sah, im vertrauten Umgang mit älteren Herren. Händchenhaltend bei einer Abendveranstaltung oder ganz intim zu zweit in ihrer Wohnung.
Auch einer der prominentesten Männer seiner Zeit findet sich in der Fotosammlung. Harald von Bohlen und Halbach, einer der sechs Söhne von Gustav von Bohlen und Halbach. Aufgewachsen in der legendären Villa Hügel in Essen. Er gehört einer der reichsten industriellen Familien in Europa an. Der Krupp-Konzern ist über Jahrzehnte die bedeutendste Stahl- und Eisenschmiede. Wäre seine Beziehung zu Rosemarie damals bekannt geworden, wäre es für die Familie und die Firma ein unglaublicher Skandal gewesen, zumal er nicht einfach nur ein Freier ist.
Nitribitt sprach den 41-Jährigen im März 1957 in der Nähe des „Frankfurter Hofes“ aus ihrem Cabrio heraus an. Nach einer kurzen Spritztour durch die Stadt hatten sie laut seiner späteren Aussage „G. V.“, also Sex. 200 DM gab er ihr danach.
Die Nitribitt sei ihm einfach „sympathisch“ gewesen, sagte von Bohlen und Halbach später. Die Anlagen des Vernehmungsprotokolls der „Spur 32“ beweisen: Harald war verliebt. Bei den „Korrespondenzunterlagen“ handelt es sich um 19 stark romantisierte Liebesbriefe und Gedichte. Er schickte Blumen und Küsse und eine Christophorus-Plakette für ihr Mercedes-Cabrio, die sie erinnern sollte, vorsichtig zu fahren. Er schrieb seiner Postkarten mit Bergmotiven aus St. Moritz, aus Tirol, aus dem „Ritz Carlton“ in Montreal, rief sie vom Apparat seiner Mutter Bertha aus an, oder besuchte sie in ihrer Wohnung. Auf einem Foto sitzt er auf ihrem Chippendalesessel. „Seiner Seele Seligkeit“ wollte von Bohlen und Halbach für eine Nacht auf ihren „mondscheinblassen“ Brüsten dahingeben. Er schenkte Rosemarie Schmuck, Perlenohrringe, eine Pferdegruppe aus Porzellan, bald besaß sie einen Schmuckkoffer aus Leder, Schweizer Uhren, Wein aus der Kruppschen Hauskellerei.
Aber was sie wirklich wollte, bekam sie nicht. Das Leben verläuft nicht nach „Pretty Woman“-Drehbuch. Nitribitts Spitzname „Gräfin Mariza“ ließ sie in der Hierarchie unter ihresgleichen aufsteigen - aber die deutschen Familiendynastien waren moralische Instanzen. Und Nitribitt war keine, die man heiratet. Er hat sie unterstützt, gefiel sich in der Rolle des Gönners, pflegten sehr enge Beziehungen. Aber es war eine Liebesbeziehung ohne Zukunft, den er schrieb auch: „Zum Heiraten müssen wir wohl auf dem Mond fliegen“. Von dem alleinstehenden Krupp-Spross hatte Nitribitt silbern gerahmtes Foto auf ihrem Musikschrank stehen. Sie bezeichnete ihn als ihren festen Freund. Von Bohlen und Halbach machte sich kaum Illusionen. Sein „Fohlen“, dem er „1000 Zuckerstücke ins Maul stecken“ wollte, musste er auf „Rehchen“ umtaufen, weil schon ein anderer sie „Fohlen“ rief.
Einmal überredete Nitribitt ihn, mit ihr das Haus zu verlassen, sie gingen zu „Betten Raab“, wo er ein Muster für Steppdecken und Kopfkissen ihres Doppelbetts aussuchen sollte. Klingt, als habe Nitribitt ein wenig Nestbau betrieben. Noch vor der Angst vor Aids und der Selbstverständlichkeit der Pille sorgte von Bohlen und Halbach immer für Präservative, damit Nitribitt ihm kein Kind anhängen konnte.
Vor dem jungen Krupp empfängt Rosemarie Nitribitt 1957 einen weiteren Harald in ihrer Wohnung. Und der nannte sie „Fohlen“. Ebenfalls ein prominenter Industrieller. Dieser ist im Gegensatz zum Krupp-Sohn sogar verheiratet. Harald Quandt, ein Mann mit bewegter Geschichte. Seine Mutter Magda lässt sich früh scheiden und heiratet 1931 Joseph Goebbels. 1945 tötet sie sich im Führerbunker nicht nur selbst, sondern auch Haralds sechs Halbgeschwister.
Eines Samstagabends tauchte Rosemarie Nitribitt im November 1956 im drei Stunden entfernten Bad Homburg auf dem feudalen Anwesen der milliardenschwere Industriellenfamilie Quandt auf. Sie trug ein hautenges Cocktailkleid, stellte sich dem 35 Jahre alte Harald Quandt auf der Geburtstagsparty von dessen 28-jähriger Frau als Rebecca Wolf vor, nippte am Sekt und ging wieder, denn sie lernte auf dieser Party auch Gunter Sachs kennen, was auch einen Einblick in die Partykultur dieser Zeit gibt. Rosemarie verschwand mit Gunter Sachs und kehrt am frühen Morgen zur Party zurück. Sie erzählte, wie sie die Zwischenzeit verbracht hat und das wurde beifällig zur Kenntnis genommen. Sie verkaufte sich geschickt - dem millionenschweren 24-jährigen Mathematikstudenten Gunter Sachs verrechnete sie die ersten beiden Treffen inklusive Dreier und Mundverkehr nicht, was ihm schmeichelte (ihre Freundin Irene verlangte 50 DM).
Die Polizei schickte bei Gunter Sachs’ detailreichem Verhör über Nitribitts sexuelle Vorlieben die Stenotypistin aus dem Raum und entschärfte die erwähnten Blow-Jobs zu „Mundverkehr“.
Im April oder Mai 1957 kam Quandt eines Abends auf die Idee, die Nitribitt aufzusuchen, sagte er später aus. Nitribitt servierte eine Flasche Sekt, dann redeten sie ungelenk über ein lustiges Buch, Quandt gab ihr 150 DM, sie zogen sich nackt aus und hatten ein sexuelles Erlebnis.
Im Opel gabelte Nitribitt 1953 Ernst Wilhelm Sachs auf, den 24-jährigen Erben der Präzisionskugellager-Werke Fichtel & Sachs. Das schicke Gefährt sprach mehr und hochkarätigere Kunden an, das Prinzip verstand sie. Junggeselle Ernst Wilhelm Sachs, in den Nitribitt sehr verliebt war, wie sie ihrer Freundin Irene erzählte, ließ die Edelhure zwar ein paar Tage in seiner Schweinfurter Wohnung bleiben - länger aber nicht, obwohl er dort alleine lebte. Ihr Verhältnis beschrieb Sachs als „ohne jegliche ernste Absichten“. 1957 heiratete er das echte Mannequin Model Eleonora Vollweiler.
Auch der bekannte Rennfahrer Fritz Huschke von Hanstein gehörte zu Rosemaries Kundenkreis. Er besucht sie oft und macht ihr Geschenke. Zum Zerwürfnis kommt es, als sie ihm bei einem Autorennen besucht und feststellt, dass er seine verheiratete Frau dabei hatte.
Der Klarinettist Fatty George durfte ihren Mercedes fahren und machte sie mit dem Jazzpianisten Joe Zawinul bekannt, der ihr Kunde wurde.
Zu ihrer Laufkundschaft zählten bald Chefredakteure und Filmemacher, Prinzen, Fürsten, Barone. Ob die Bundeskanzler Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger und ein Bruder des Bundespräsidenten Gustav Heinemann sich an „Rebecca“ erfreut haben; angeblich besaß der US-Geheimdienst Fotos von Bonner Politikern auf Nitribitts Bettkante, konnte nie bewiesen werden.
In nur anderthalb Jahren legte die tüchtige Nitribitt aber auch im Schritttempo 42 000 km zurück. Innerhalb von nur vier Jahren etablierte sie sich als erste Edelprostituierte der Nachkriegszeit. Bald war sie so bekannt, dass eine echte Frankfurter Dame des konsularischen Corps von Männern belästigt wurde, weil sie dasselbe Mercedes-Modell in der gleichen Farbe fuhr.
Eine Prostituierte, die in aller Öffentlichkeit ihre Freier suchte, war eine beispiellose Provokation. Mit dem Gesetz wollte Nitribitt aber nicht mehr in Konflikt geraten. Der berüchtigte Kuppeleiparagraph verbot bis 1969 selbst Eltern noch bei Strafe, unverheiratete Paare im selben Zimmer schlafen zu lassen. Ihr damals hypermodernes, mit weißen Marmorplatten verkleidetes Mietshaus am Eschenheimer Turm schien Nitribitt der ideale unscheinbare Ort für ihr Gewerbe. Es war kein schmutziges Stundenhotel, nein: Rosemarie empfing ihre Kunden im bürgerlichen, fast spießigen Ambiente, das sie „Ernstl“ Sachs’ Wohnung abgeschaut hatte.
Rosemarie Nitribitt war weder rasend schön noch klug. Diese kindliche blonde Person, deren Leibspeise Milchreis war, strahlte eine finstere Lebensweisheit aus. Sie war die Frau, die außer Geld keine Ansprüche stellte und für Geld Fantasien erfüllte. Sie sah Schwulen gerne beim Sex zu, liebte lesbisch und schlug auch mit dem Rohrstock bis zur geschlechtlichen Befriedigung zu. Andere Männer erinnerten sich an eine zärtliche Geliebte. Manche kauften sich Zeit, wollten Nähe und nur reden; sie selbst musste dabei kaum etwas sagen.
In kürzester Zeit hatte sich die Frau, die große Mühe hatte, ihren eigenen Namen zu schreiben, einen Namen gemacht. „Die Nitribitt“ sprach sich herum, in einem erstaunlich großen Einzugsgebiet zu den klangvollsten Namen. Es gibt wenige Bilder von Rosemarie Nitribitt, die meisten sind gestellt. Für einen Freier schnuppert sie in Strapsen an einem enormen Strauß Gladiolen. Für alle Freier posierte sie an ihrem Mercedes.
Was hatte alle diese Männer an der Frau so fasziniert? Darüber rätselt nicht nur die Polizei. Die Männer sahen eine hübsche, gut gekleidete, saubere Frau mit einer eigenen Wohnung und man konnte angenehm mit ihr plaudern.
Geradezu legendär ist der Kalender von Rosemarie. Hier listet sie chiffriert die Treffen mit ihren Freiern auf und was sie ihr bezahlen. Man hat anhand dieser Einnahmen ausrechnen können, dass sie bis Oktober 1957 Einnahmen von etwa 81 000 DM hatte. Sie hatte immer Bargeld in ihrer Wohnung, am Tag ihrer Ermordung knapp 20 000 DM.
Ist Rosemarie Niribitt das Opfer eines Raubmörders geworden? Der berühmten schwarzen Mercedes-Benz 190 SL war nämlich verschwunden, in der Geldkassette fehlte das Bargeld. Viele Legenden ranken sich aber auch um ein Tonbandgerät, was in ihrem Wohnzimmer steht. Das löste Spekulationen aus, sie sei eine Industriespionin, sei für den Geheimdienst tätig usw. Als die Polizisten die Leiche der jungen Frau finden, ist am defekten Tonband der Aufnahmeknopf gedrückt. Dort ist ein Gespräch „festgehalten, wo man sie dreimal hintereinander undeutlich sagen hört: “Lassen Sie mich in Ruhe“ und die Aufnahme endet mit einen Knax. Was dann passiert, lässt sich nur vermuten. In perverser Fürsorglichkeit hatte der Täter den Kopf der Toten auf ein rosafarbenes Frottee-Handtuch gebettet. Rosemarie Nitribitt wurde von hinten erwürgt, ihr Mörder drückte so heftig zu, dass sich seine Fingernägel in ihren Kehlkopf gruben. „Vor der Tat hat ein kurzer Kampf stattgefunden“, vermerkten die Ermittler. Offenbar wurde Rosemarie von einem Besucher niedergeschlagen, wo sie sich eine stark blutende Platzwunde zuzog. Aber sie ist nicht bewusstlos. Sie greift nach dem Telefon, um Hilfe zu rufen, doch ihr Mörder ist schneller. Minuten später liegt sie tot am Boden.
Im Hessischen Staatsarchiv lagern bis heute die Freier-Fotos, die Tatort-Fotos und die Berichte der Polizei, die Rosemarie gefunden haben. Mordermittler Petermann kann davon ableiten, was am Tattag in der Wohnung geschah. „Es spricht für eine eskalierende Situation. Es spricht nicht für eine Tatplanung, dem Täter schien gar nicht bewusst gewesen zu sein, wie er das Opfer angreifen sollte. Das hat sich nach und nach ergeben, die Situation hat sich hochgeschaukelt. Die Beteiligten haben gestritten, es kam zum Krach und der Täter explodierte förmlich und schlug zu.“
Der Todeszeitpunkt hat sich nie genau bestimmen lassen, da die beiden Polizeibeamten, die die Leiche gefunden haben, zuallererst das Fenster im Wohnzimmer aufgerissen haben, weil es wirklich furchtbar in der Wohnung gerochen hat. Da aber war die Temperatur noch nicht gemessen wurden und damit gab es nie einen exakten Todeszeitpunkt und eine möglich exakte Bestimmung von Alibis.
Zusammenfassend: Am Nachmittag des 1. November 1957 fand die Polizeistreife „Frank 40“ Rosemarie Nitribitt mit eingeschlagenem Schädel in ihrer Wohnung in der Stiftstrasse auf. Die Leiche der 24-Jährigen lag auf dem Perserteppich vor dem Sofa. Ihr anthrazitfarbenes Kostüm war hochgerutscht, ein Strumpfhalter sichtbar. Fenster und Gardinen waren geschlossen. Es war dunkel und stank bestialisch. Im Schlafzimmer winselte der eingesperrte Pudel. Die Fußbodenheizung lief auf Hochtouren, Nitribitts Gesicht war blutverkrustet und grotesk aufgedunsen, die Verwesung hatte in der Hitze bereits eingesetzt.
Axel Petermann rekonstruiert die letzten Minuten im Leben der Rosemarie Nitribitt. Wenn der Ermittler weiß, was am Tatort passiert ist, kann er wichtige Rückschlüsse auf dem Mörder ziehen. Wo finden sich Blutspuren? Wurden Möbel verschoben oder umgeworfen? Dazu überträgt er alle Details von Fotos und Berichten der Mordkommission in eine Zeichnung. Ergebnis: Rosemarie wurde in der finalen Lage erwürgt.
Noch in der Nacht nach ihrem Auffinden wird Rosemarie Nitribitt obduziert. Sehr genau beschreiben die Rechtsmediziner jede Verletzung. Auch diese Details überträgt der Mordermittler in eine Skizze.
Nach dem Auffinden der Leiche ist der Polizei schnell klar, wer da ermordet wurde. Entsprechend groß ist der Auftrieb am Tatort. Ermittler Horst Werner Radoi sagt aus: „Ich bin gegen 18.15 Uhr am Tatort eingetroffen und wurde von vier Kollegen erwartet. Zwei davon waren Schutzpolizisten und einer hat mich sofort unterrichtet, dass es sich um die Nitribitt handelt, die uns ja bekannt war, bis gegen 20 Uhr kamen immer mehr Kriminalisten und Kriminaltechniker in die Wohnung, so dass am Ende 26 Personen anwesend waren, was meines Erachtens und an der Spurensuche und weiteren Ermittlungen beeinträchtigte.“ Im Klartext: Die Polizei war erst einmal hilflos am Tatort überfordert und nachlässig. Eine ganze Reihe von Leuten lief durch die Wohnung, nicht nur Polizisten, sondern auch schon Journalisten. Die durften in die Wohnung rein, durften in der Wohnung rauchen, durften sich ansehen, was sie wollten.
Auf einer Kommode steht ein großer Bilderrahmen mit mehreren Fotos, darunter auch eine Aufnahme des Krupp-Erben. Ein Beamter lässt das Bild verschwinden. Auf späteren Tatortfotos taucht daher das Bild nicht mehr auf. Die Polizei ist von Anfang an bemüht, die prominenten Kunden der Nitribitt zu schützen. Wohl wissend, dass die Journalisten schlüpfrige Sensationen wittern. Das Medienecho war riesig, erst einmal in Frankfurt, weil sie dort allen Journalisten bekannt war. Sie wussten alle, wer sie war, wovon sie lebt und wer das blonde Mädchen im Auto ist. Da war das Medien-Echo riesengroß und als sich dann herausgestellt hat, dass sie Kontakt in erste Kreise des Wirtschaftswunders hatte, gab es folgerichtig auch ein überregionales Medieninteresse, was die Ermittler entsprechend unter Druck gesetzt hat. Die Diskretion der Polizei sorgt für viele Spekulationen und täglich für neue Schlagzeilen. Und so konnten düstere Legenden wuchern. „War die ‹blonde Rosemarie› eine Agentin des Ostens?“, rätselte die Frankfurter „Abendpost“. „Wurde Rosemarie Nitribitt telefonisch hypnotisiert?“, fragte sich die „Welt“ ernsthaft. Der Nitribitt-Skandal ist der Aufreger des Jahres.
Dass Nitribitt die Gespräche ihrer stöhnenden Besucher oft heimlich auf Tonband aufzeichnete, wussten diese nicht. Warum sie das überhaupt tat, wird man wohl nie wissen.
Auch damals wussten die Leute bereits, dass es Bordelle gibt und dass dort Männer hingehen. Es zeigte aber auch welche Gesellschaft dahingeht und welche Gesellschaftskreise Kontakt zu Edelprostituierten suchten. Das fand man spannend, denn es einen ganzen Schleier vom bürgerlichen Geschwafel über Familie und christliche Werte. Das war damals so verlogen, wie es das auch heute noch ist.
Es gibt eigentlich zwei Skandale. Zu einem, wie kann mal als Prostituierte so viel Geld verdienen, denn die Vermögenslage der Nitribitt wurde ja nach und nach bekannt und der zweite Skandal war, warum findet man den Täter nicht.
Als der Mord an der Prostituierten Nitribitt bekannt wurde, empörte die Öffentlichkeit daran vor allem „die Tatsache, dass man damit reich werden konnte“, schreibt Christian Steiger in seiner akribisch recherchierten „Autopsie eines deutschen Skandals“. 1954 verdiente Nitribitt netto siebenmal mehr als ein durchschnittlicher Bundesbürger im Jahr brutto. Nitribitt vererbte ihrer Mutter 70 000 DM aus zehn Monaten Arbeit 1957. „Nur manche der Männer, die sie besuchen, verdienen mehr als Rosemarie Nitribitt“, so Steiger.
Im Grunde hat Rosemarie Nitribitt nicht nur dem oberen Drittel Deutschlands Dienste erwiesen. Immerhin zeigte die Hure im Pelzmantel, dass die Deutschen wieder wer waren. Ein Callgirl nannte man in den Folgejahren eine Nitribitt, so wie man um ein Tempo bittet, wenn man ein Papiertaschentuch möchte.
Der Druck auf die Ermittler ist gewaltig. Hinzu kommt die verworrene Spurenlage. Theoretisch kommt jeder Freier als Täter in Frage. Der Kreis der Verdächtigten ist so ungewöhnlich groß. Allein im Kalender der Nitribitt finden sich über 60 Namen. Es gab eine Unzahl von Spuren und von Hinweisen in aller Welt. Es gab griechische Offiziere, es gab britische Kaufleute, es gab eine britischen Schriftsteller, mit dem sie eine enge Beziehung hatte und der nicht wusste, wovon sie lebt und der dann furchtbar enttäuscht, weil er sich in Rosemarie ernstlich verliebt hatte. Es gab amerikanische Flugkapitäne, saudische Prinzen – eine riesige Anzahl von Kontakten.
Das entscheidende am Fall Nitribitt ist, dass - wenn sie mit normalem Menschen Kontakt gehabt hätte – wäre es nicht so kompliziert gewesen. Aber die große Anzahl von Politikern, Wirtschaftsbossen, Generälen, Vorstandsvorsitzende – das war schon allerhand.
Um möglichst viele der Freier zu befragen und Einzelheiten erfahren zu können, setzt die Polizei die Männer unter Druck, mir einem Aufruf in Radio. So im Hessischen Rundfunk am 03.11.1957: „In der Frankfurter Wohnung der 24jährigen Ermordeten Rosemarie Nitribitt ist eine große Anzahl Fotos von Männern und Frauen gefunden wurden, deren Personalien noch nicht festgestellt werden konnte. Die Frankfurter Kriminalpolizei fordert diese Personen in ihrem eigenen Interesse auf, sich umgehend zu melden, weil sich zunächst auf diesem Weg versucht werden soll, die Identität festzustellen.“
Man wollte den Männern diskret zu verstehen geben, die Polizei zu kontaktieren, bevor sie selbst von Polizisten besucht oder angerufen werden. Absolute Diskretion wurde zugesichert.
Vor allem die ganz prominenten Freier müssen sich um ihren Ruf keine Sorgen machen. Die Polizei nahm sich ihrer fast fürsorglich an - interessierten sich bei Industriellenerbe Gunter Sachs mehr für die Direkteinspritzung seines 300-SL-Flügeltürers als für sein Alibi und fanden das Alibi „Golfunterricht“ von Krupp-Erbe Harald von Bohlen und Halbach überzeugender als dessen Fingerabdrücke auf einer angebrochene Flasche Beaujolais in Nitribitts Wohnung. Harald von Bohlen und Halbach wurde extra an einem Sonntag im Frankfurter Polizeipräsidium vernommen und auch sonst kommen ihm die Mordermittler großzügig entgegen. Es wurde durch den rückwärtigen Eingang hereingelassen, dass er nicht den Fotografen, die am Haupteingang warteten, in die Hände fiel. Es war schon klar, dass die Ermittler die Vorgaben hatten, kein Aufsehen zu erregen und die prominenten Freier nicht allzu hart anzugehen.
Unter Verdacht steht aber gleich die Putzfrau Erna Krüger. Sie macht widersprüchliche Angaben und sie hatte offenbar gerade Streit mit Nitribitt gehabt. Zudem wusste sie, dass die Prostituierte große Summen Bargeld in ihrer Wohnung aufbewahrte. Die Putzfrau wurde natürlich sehr eingehend befragt, die Polizei hat auch erkannt, dass es ein Tatmotiv geben könnte und das auch die Persönlichkeitsstruktur zur Tat passen könnte und letzten Endes haben auch die Spuren am Tatort, der sehr erbitterte Kampf, davon gesprochen, das natürlich auch eine Frau die Täterin sein konnte. Das wurde nie ausgeschlossen. Ist also die Putzfrau die Mörderin?
Der Profiler Petermannhält das für wenig wahrscheinlich. Er hat noch nicht erlebt, dass eine Frau eine andere so heftig über Minuten hinweg würgt, bis sie stirbt, hat er noch nicht erlebt. Es ist eindeutig das Handeln eines Mannes.
Viele Männer geraten unter Verdacht, doch Axel Petermann grenzt dem Kreis der möglichen Täter weiter ein. Angriffe gegen den Körper, den Hals sind immer ein Zeichen von Nähe zum Opfer, besonders auch beim Sexualverbrechen, aber in diesem Fall kann man davon ausgehen, dass eine solche Motivation beim Täter nicht vorlag. Täter und Opfer kennen sich in der Regel, wenn eine solche Tötungsart vorliegt.
Einiges deutet daher auf Nitribitts Vertrauten Heinz Pohlmann hin. Er ist stets in Geldnot und weiß, dass Rosemarie viel Bargeld in der Wohnung hat. Die Liste seiner Vorstrafen ist lang. Im Krieg wurde er wegen Plünderungen in Frankreich verurteilt, später fällt er öfters wegen Betrug und Urkundenfälschung auf, und auch ganz aktuell ist Pohlmann im Bedrängnis, denn er hat Geld seiner Firma veruntreut. Wieder droht ihm ein Strafverfahren, wenn er die Summe nicht schnell zurückerstattet. Und tatsächlich verfügt Pohlmann kurz nach dem Mord über große Mengen an Bargeld. Er kann dann schnell nach der Tat seine Schulden bei seinem Arbeitgeber begleichen. Er bringt als in sehr kurzer Zeit einen Betrag von 20 000 bis 22 000 DM auf, hat aber vorher Mühe, Rechnungen zu bezahlen.
Die Ermittler lassen Pohlmanns Wohnung in Frankfurt, Röderbergweg 217, durchsuchen. Seinen plötzlichen Reichtum erklärt er mit widersprüchlichen Versionen. Die Beamten suchen nach einer mausgrauen Hose mit Flecken an den Knien, die er am Tattag noch in die Reinigung brachte. Rost- oder Blutflecken? Die Hose geht zu den Akten. Es lässt sich aufgrund der Reinigung kein Blut mehr nachweisen. Für Pohlmann spricht aber, dass er sich am 2. September selbst bei der Polizei gemeldet hat und er gibt zu, Rosemarie am Tattag in ihrer Wohnung besucht zu haben. Und auch ein Alibi scheint vorhanden zu sein, durch Besuche, der er bei einer Nachbarin durchgeführt hat. Zwei Stundenwill er allein zu Hause gewesen sein, dann kurz in einer homosexuellen Bar und einen Freund abgeholt haben. Das sind alles Angaben, die später überprüft werden aber nicht bestätigt werden können. Die Zeugen sagen zwar, dass es diese Treffen gegeben habe, aber man wisse nicht mehr den genauen Tag.
Am Ende verhaftete man Pohlmann als Hauptverdächtigten du er sitzt 10 Monate in Untersuchungshaft. Pohlmann, der nicht mehr oder weniger verdächtig war als andere, aber wesentlich weniger wichtig und wohlhabend. Im Dezember 1958 kommt er jedoch wieder frei, da das Landgericht Frankfurt keinen dringenden Tatverdacht sieht. Der geschäftstüchtige Pohlmann verkauft seine Sicht der Dinge der Zeitschrift „Quick“ für 18 000 DM.
Das war damals ein relativ großer Knaller, dass ein Tatverdächtigter seine Erinnerungen über das Mordopfer gegen Honorar ausbreitet. Pohlmann wittert bald die Chance auf noch mehr Geld. Mit einen Hamburger Anwalt verhandelt er über den Verkauf seines Wissens über Krupp. In einem geheimen Vertrag werden Pohlmann von einer Essener Firma 200 000 DM Schweigegeld geboten. Der beendet damit die Zusammenarbeit mit „Quick“. Begründer wurde es damit, dass die Zeitung das Tabu bricht und den Namen Harald von Bohlen und Halbach nennt, was er sich schon fast gewünscht hat, um aus der Belastung der Affäre herauszukommen.
Mordermittler Petermann studiert die Vernehmungsprotokolle, die die Beamten nach stundenlangen Verhören von Pohlmann hinterlassen haben. Ist es vorstellbar, dass ein Mörder so lange und standhaft seine Tat leugnet, bei der Polizei und bei der Presse? Der Profiler verweist auf Pohlmanns Vorstrafen. „Pohlmann ist ja eigentlich ein Betrüger und nun stellen Sie sich die Persönlichkeit eines Betrügers vor. Er muss ja andere überzeugen, etwas zu geben, was er unter normalen Bedingungen nicht machen würde. Und damit muss er überzeugend sein. Er spielt eine Rolle im Theater.“
Seine Bühne ist der Prozess. Knapp zweieinhalb Jahre später beginnt das Verfahren gegen Pohlmann. Die Staatsanwaltschaft war überzeugt, dass er der Täter ist und dass man auch die notwendigen Beweise dazu hat. Schon Tage vorher war in Frankfurt eine Stadt in voller Spannung. Man drängte sich am Gerichtsgebäude und wartete auf Einlass. Es bildeten sich große Schlangen vor dem Saal des Schwurgerichts. Der Prozess umfasst 11 Verhandlungstage und es tritt eine Unzahl von Zeugen auf. Doch die großen Sensationen, auf die das Publikum wartet, bleiben aus. Für keinen der prominenten Freunde gab es eine peinliche Situation. Auch musste keiner später vor Gericht aussagen. Andere, nicht so prominente Zeugen mussten aber erscheinen und wurden auch mit Klarnamen angesprochen. Sie machten ihre Aussage und erwähnten mit keinem Wort die prominenten Freier. Pohlmanns Verteidiger Alfred Seidl hatte den Todeszeitpunkt infrage gestellt, den die Polizei für den Nachmittag des 29. Oktober 1957 angenommen hatte, und bekam Recht. Unter anderem hatten die am Tatort eintreffenden Beamten versäumt, die Temperatur der Leiche oder die Umgebungstemperatur in der laut Polizeibericht sehr warmen, fußbodenbeheizten Wohnung Nitribitts zu messen, was für die exakte Bestimmung der Todeszeit unbedingt notwendig gewesen wäre. Auch gab es Zeugenaussagen, wonach Nitribitt nach dem von den Ermittlern vermuteten Todeszeitpunkt noch Besorgungen erledigt habe (in der nahegelegenen Metzgerei Matthiae) und auf der Großen Eschenheimer Straße gesehen worden sei. Für diesen Zeitraum besaß der Angeklagte nach Ansicht des Schwurgerichts ein Alibi.
Voller Spannung wurde das Urteil am 12. Juli 1960 erwartet. Ist Pohlmann der Mörder? Die Richter verlesen das Urteil vor laufenden Kameras, was zur damaligen Zeit noch erlaubt war. Der Angeklagte Heinz Pohlmann wird freigesprochen und die Verfahrenskosten trägt der Steuerzahler, besser gesagt, die Staatskasse. Man habe trotz erheblicher Zweifel an der Herkunft des vielen Geldes, das sich unmittelbar nach der Tat in seinem Besitz befand und wahrscheinlich aus der Wohnung Nitribitts entwendet worden war, nicht mit letzter Sicherheit die Täterschaft Pohlmanns in der Mordsache erkennen können, hieß es in der Urteilsbegründung des Frankfurter Schwurgerichts. Die Urteilsverkündung wurde mit Beifall quittiert. Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf eine Revision.
Die langen Ermittlungsergebnisse von Polizei und Staatsanwaltschaft zerplatzten im Gerichtssaal wie Seifenblasen. Und das war wahrscheinlich auch der Grund, dass es danach keine weiteren Ermittlungen in der Sache gab.
Pohlmann verlässt das Gericht als freier Mann. Niemand wird mehr wegen Mordes angeklagt oder verurteilt. Und viele dachten sich, es ist gut, dass nicht die Namen der prominenten Freier herausgekommen sind. Axel Petermann ist heute noch davon überzeugt, dass der Freispruch Pohlmanns ein großer Fehler war. Nach seiner Überzeugung kam Pohlmann gegen 13 Uhr zu Rosemarie Nitribitt. Gegen 14 Uhr klingelte das Telefon und ein Freier wollte in einer halben Stunde vorbei kommen. Pohlmann kocht in der Küche seinen Reisbrei für die Nitribitt. Möglicherweise fragt er sie dabei, ob sie ihm Geld leiht. 14:30 kommt der Freier und Pohlmann geht. Wunschgemäß verprügelt die Nitribitt den unbekannten Freier im Schlafzimmer mit dem Rohrstock. Anschließend macht sie sich im Bad frisch und stellt den Stock in einer Ecke ab. Pohlmann kommt zurück und fordert wieder Geld, diesmal noch dringlicher. Diese lehnt ab. Pohlmann schlägt wutentbrannt mit dem Aschenbecher zu. Nitribitt versucht das Telefon zu erreichen. Pohlmann kommt ihr zuvor und erwürgt sie. Er nimmt das Geld, wischt Spuren mit dem Handtuch ab und verlässt die Wohnung.
Pohlmann zieht nach München und schweift fortan, bis zu seinem Tod 1990. Konnte ein Mörder so viel Jahrzehnte mit dieser Schuld leben?
Rosemarie Nitribitt wird am 11. September 1957 in Düsseldorf beerdigt. Allerdings ohne Kopf. Dieser ist in Frankfurt bei der Kriminalpolizei als Beweismittel geblieben, weil sie ja diese Schädelverletzung hatte und verblieb dort bis 2008, bevor er bestattet wurde. Böse Zungen behaupten, dass es besser gewesen wäre, die Vagina aufzubewahren.
Der Mensch Maria Rosalia Auguste Nitribitt und ihr Leben blieben oft auf der Strecke. Dabei zeichnen Zeitzeugen und Zeugenaussagen das Bild einer starken Frau, der ihr kurzes Leben nichts schenkte, die aber an dessen Ende einen Dienstwagen fuhr, den sich die meisten ihrer Kunden trotz steigender Konjunktur nicht leisten konnten. „Fressen und saufen wollen sie alle, aber schaffen will niemand mehr“, soll die Frau mit dem unstillbaren Lebensdurst einmal gesagt haben. Vom Rand der Gesellschaft aus entlarvte Rosemarie Nitribitt Doppelmoral schon zu Lebzeiten und schlug daraus mächtig Kapital.
Zerbrechlich war die christlich-demokratische Bundesrepublik unter Adenauer, im Brennpunkt des heißesten Kalten Krieges. Die Russen schossen als Trockenübung schon einmal ihre Sputniks in die Erdumlaufbahn, und nach der NS-Katastrophe bemühte Deutschland sich tunlichst, die Trümmer der Vergangenheit beiseite- und seine „bürgerliche Wohlanständigkeit“ herauszukehren. Benimmbücher fanden in den Fünfzigern reißenden Absatz, Unmoral aber fand, wenn überhaupt, im Sperrbezirk am Rande der Gesellschaft statt. So schön, so verlogen.
Es ist beinahe unerträglich, wie selbstgerecht und zugleich lächerlich verklemmt es da zuging. Wie sich die voyeuristische Boulevardpresse und die klatschsüchtige Gesellschaft an dem Sittenskandal weideten, ohne das Treiben beim Namen zu nennen. „Wer waren ihre Freunde?“, fragte die „Frankfurter Rundschau“ nach Nitribitts Tod und suchte selbstverständlich ihre Freier.
Auch die Justiz des neuen Rechtsstaats bekleckerte sich nicht mit Ruhm: 22 Akten, zwei Tonbänder, Bildmaterial, Nitribitts Wohnungsschlüssel, eines ihrer Schamhaare und ihr sagenumwobenes Notizbuch mit angeblich über sechzig bekannten Kundennamen verschwanden spurlos und tauchten erst fünfzig Jahre später teilweise wieder auf. Die Ermittler waren fahrig und fahrlässig.
Bekannte und Weggefährten beschrieben die Nitribitt als charmant, vulgär und verspielt; als knallhart und dominant; und als einsam und voller Ängste. Rosemarie Nitribitt hatte wenig Freunde, und selbst die waren eher Bekanntschaften.
Im Rahmen ihrer Möglichkeiten hatte Nitribitt viel erreicht. Aber die Grenzen ihrer Entfaltung waren deutlich. So war und ist es nun mal: Der Kunde hat das letzte Wort. Da es nach oben nicht weiterging und sie auf keinen Fall wieder nach unten wollte, kostete Nitribitt in vollen Zügen alles aus, was sie um sich herum zu fassen bekam: In ihrem dreiteiligen Kleiderschrank stapelten sich Spitzenwäsche und über 50 Paar Schuhe. Mitten im Sommer 1957 kaufte sie sich einen Wildnerzmantel für 11 000 DM und einen ebenso wertvollen Brillantring. Erspartes lagerte sie am Finanzamt vorbei in einer blauen Kassette im Wohnzimmerschrank.
Starb sie, weil sie zu viel wusste?
Vielleicht ist es wahr, dass Rosemarie Nitribitt im Konsumrausch den Bogen auch mit ihren Kunden überspannt hat. Bis heute halten sich Gerüchte, dass sie sterben musste, weil sie zu viel wusste. Dass sie Spitzenpolitiker und Wirtschaftsbosse mit Scheinschwangerschaften oder deren Bloßstellung erpresste.
Eines der Gerüchte über Rosemarie Nitribitt klingt wie ein Ende, das man ihr alternativ gewünscht hätte. Angeblich wollte sie aussteigen, in eine Bar, eine Pension oder ein Gestüt investieren. Wollte sie doch noch ihren alten Traum von einem „grossen Salon“ erfüllen, nicht als Ehe-, sondern als Karrierefrau?
Die Wahrheit ist: Kurz vor ihrem Tod bestellte Nitribitt ein schwarzes Mercedes Coupé 300 S mit dunkelgrünen Sitzen für 34 500 DM, weil ihre Kunden sich über den unbequemen Einstieg des SL beschwert hatten. Am 29. Oktober war der Wagen abholbereit. Gegen 15 Uhr an diesem Tag empfing Nitribitt den letzten Freier, danach kaufte sie gegen halb fünf Uhr in Fritz Matthias Metzgerei ein Pfund Kalbsleber für Pudel Joe. Das Auto holte sie nicht mehr ab. Rosemarie Nitribitts Ende war wohl unausweichlich. „Irgendwann schlägt mir noch einer den Schädel ein“, sagte sie einmal zu einem Bekannten.
Bis zuletzt kämpfte Rosemarie Nitribitt. Bis zuletzt war sie von Scheinheiligkeit umgeben. Der Pfarrer verweigerte ihr das letzte Geleit. Ein anonymer Auftraggeber spendete ihr, dem Freudenmädchen, den Grabstein mit der biblischen Inschrift: „Nichts Besseres darin ist, denn fröhlich sein im Leben“. Noch nach über 60 Jahren ist Nitribitts Grab gepflegt, manchmal stehen frische Blumen darauf.
Der Traum vom sozialen Aufstieg der Rosmarie Nitribitt endete böse.