Читать книгу Der Kampf ums Recht oder Das unsichtbare Böse, 2. Band - Walter Brendel - Страница 6
ОглавлениеDer Mann ohne Gesicht
Am 19. Januar 1923 wird Markus Johannes Wolf wird in Hechingen/Süd-Württemberg als Sohn des jüdischen Dramatikers und Arztes Friedrich Wolf geboren. Zusammen mit der Familie geht Wolf ab 1933 in die Emigration, anfangs in die Schweiz und nach Frankreich, ab 1934 in die Sowjetunion. Er arbeitet ab 1943 als Redakteur, Sprecher und Kommentator beim „Deutschen Volkssender“ in Moskau. Nach Kriegsende kehrt Wolf zusammen mit der „Gruppe Ulbricht“ zurück nach Deutschland und tritt 1946 in die SED ein. Ab 1953 arbeitet er als Leiter der Hauptabteilung XV, die den außenpolitischen Nachrichtendienst der DDR umfasst. Ab 1956 wird die Abteilung in Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des Ministerium für Staatssicherheit (MfS) umbenannt. Wolfs Spionagestrategie liegt vor allem im Eindringen in die westlichen Führungszentren und dabei besonders der bundesdeutschen Gesellschaft. Seine Agenten sollen auf bürgerlichem Wege in einflussreiche Stellungen gelangen und ihre Spionagetätigkeit erst aufnehmen, wenn sie dieses Ziel erreicht haben. Wolf unterstehen rund 4.000 Auslandsagenten, die er mit der „Präzision eines Schachspielers“ führt, wie Beobachter bekunden. Ab 1956 ist er Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit. Für Wahlen in das Zentralkomitee (ZK) der SED hat Wolf nie kandidiert. 1974 wird einer der ersten Agenten, die Wolf rekrutiert hat, der Kanzleramtschef Günter Guillaume, wird enttarnt. Die sogenannte Guillaume-Affäre führt zum Rücktritt Bundeskanzler Willy Brandt. Bei einem Besuch in Stockholm 1978 kann Wolff erstmals nach zwei Jahrzehnten photografiert werden. Bis dahin galt er im Westen als „Mann ohne Gesicht“. 1986 tritt Wolf auf eigenen Wunsch aus dem aktiven Dienst im MfS zurück und wird schriftstellerisch tätig. Nach der Widervereinigung flüchtet Wolf über Österreich in die UdSSR, da in der Bundesrepublik ein Haftbefehl gegen ihn vorliegt. 1991, bei seiner Rückkehr nach Deutschland wird er direkt nach der Grenzüberschreitung festgenommen. Nach kurzem Aufenthalt in der Untersuchungshaft darf Wolf sich bis zur Urteilsverkündung durch das Gericht wieder frei bewegen. Bei den Vernehmungen gibt Wolf keine früheren Mitarbeiter preis. Wolf wird 1993 zu sechs Jahren Haft wegen Landesverrates und Bestechung verurteilt. Das Urteil bleibt vorläufig, da das Bundesverfassungsgericht zur Frage der Strafbarkeit von Spionen eines untergegangenen Staates noch keine Entscheidung gefällt hat. Wolf genießt Haftverschonung. Im Oktober 1995 erfolgte die Aufhebung des Urteils von 1993 im Revisionsverfahren durch den 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofes. Der Fall wird zur Neuverhandlung an die untere Instanz zurückverwiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Mai den Beschluss veröffentlicht, dass DDR-Bürger nur eingeschränkt für ihre frühere Spionagetätigkeit strafrechtlich verfolgt werden können. 1996 erhebt das Oberlandesgericht Düsseldorf Anklage gegen Wolf wegen des Verdachtes der Körperverletzung und der Freiheitsberaubung. Wolf wird 1997 wegen Freiheitsberaubung in vier Fällen zu zwei Jahren Haft, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden, und einer Geldstrafe verurteilt. 1998 wird Wolf wegen Aussageverweigerung im Spionageprozess gegen den SPD-Politiker Gerhard F.. für drei Tage in Beugehaft genommen, weil er in einem Strafverfahren wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit gegen den Angeklagten F. die Aussage als Zeuge verweigert hat. Auf die Beschwerde des Zeugen Wolf hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs am 17. Januar 1998 die Vollziehung der Beugehaft ausgesetzt. Er hat nunmehr in der Sache entschieden.
Nach der Strafprozessordnung darf kein Zeuge zu einer Aussage gezwungen werden, durch die er sich der Gefahr aussetzen würde, wegen einer Straftat verfolgt zu werden. Für Markus Wolf besteht unter bestimmten Umständen noch die Gefahr der Strafverfolgung durch die Justiz der Bundesrepublik Deutschland, weil er seine Tätigkeit als Spionagechef der DDR auch außerhalb der DDR ausgeübt hat und insoweit nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das verfassungsrechtliche Verfahrenshindernis nicht ohne weiteres eingreift. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Markus Wolf wegen Anstiftung oder versuchter Anstiftung zum Landesverrat durch F., in dessen Sache er die Aussage verweigert hat, noch strafrechtlich belangt werden kann. Denn ein solches - noch nicht verjährtes - Verbrechen war nicht Gegenstand der Anklage des Generalbundesanwalts gegen den Zeugen Wolf in dem vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf abgeschlossenen Strafverfahren. Dem Zeugen Wolf steht, wie meist bei Tatbeteiligten, ein umfassendes Auskunftsverweigerungsrecht zu. - Beschluss vom 25. Februar 1998 - StB 2/98 –
Er war immer im Dienst der Partei. Sein Leben war erfolgreich und kompliziert. Wolf, früher das Vorbild für Dunkelmänner in Spionagethrillern, sieht sich selbst schon seit 1987 mehr als Schriftsteller, als Agentenführer. Die Geschichte ist schwierig, aber ihr Held ist es auch. Er war nicht nur Zeuge. Er war Akteur an entscheidender Stelle. Markus Wolf war Generaloberst und Chef der HVA. „Der Mann ohne Gesicht“ wurde er im Westen genannt. Ganz gleich wer an der Macht war, Markus Wolf nahm daran Teil. Markus Wolf ist eine der interessantesten und umstrittensten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Der stellvertretende Minister für Staatssicherheit und Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung befehligte mehr als 4.000 Spione. Sein berühmtester Angestellter: Günter Guillaume, der Agent, der Kanzler Willy Brandt zu Fall brachte.
Tag X - Günter Guillaume
In Bonn nahm am 24. April 1974 die westdeutsche Spionageabwehr Günter Guillaume unter Spionageverdacht fest. Der Mann im Dunstkreis des Bundeskanzlers, sein persönlicher Referent, ist ein Top-Agent der Stasi. Willy Brandt zieht die Konsequenzen. Beide waren bereits ein Jahr lang observiert worden. Noch im letzten Brandt-Urlaub in Norwegen sah Guillaume alle für den Kanzler eingehenden Faxe. Die Umstände und politischen Verantwortungen für den späten Zugriff der Ermittlungsbehörden sind bis heute nicht restlos geklärt. Innenminister war damals Hans Dietrich Genscher.
Guillaume war 1956 als angeblicher Flüchtling von der DDR-Staatssicherheit in die Bundesrepublik eingeschleust worden. Er sollte zu einem der erfolgreichsten sogenannten Kundschafter für den Frieden werden. DDR-Spionagechef Markus Wolf hatte seinen dicksten Fisch direkt neben dem Bundeskanzler platziert. Zuvor durchlief der Agent eine scheinbar normale Karriere, war SPD-Mitglied geworden und arbeitete ab 1970 in der Abteilung Wirtschaftspolitik im Kanzleramt. Ab 1972 saß Guillaume dort, wo ihn Ostberlin hinhaben wollte, bei Willy Brandt.
Der völlig konsternierte Regierungschef übernahm in einem kurzen Brief an Bundespräsident Gustav Heinemann die politische Verantwortung „für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume“ und erklärte seinen Rücktritt. Brandt war menschlich tief enttäuscht über die Verantwortlichen in der DDR, mit denen er auf dem Weg der Entspannungspolitik war.
Willy Brandt am 07.05.1974: “Am Abend des 6. Mai habe ich dem Bundespräsidenten meinen Rücktritt erklärt und damit die politische und persönliche Verantwortung für Fahrlässigkeit im Zusammenhang mit der Agentenaffäre übernommen.“ Günter Guillaume wird vom Oberlandesgericht Düsseldorf zu 13 Jahren Haft wegen Landesverrats verurteilt. Nur acht wird er absitzen müssen. Noch während Guillaume hinter Gittern sitzt, wird diese Villa in der DDR für seine Rückkehr vorbereitet. Die Stasi richtet den exklusiven Ruhesitz am Bötzsee bei Berlin für den verdienten Top-Spion her. 1981 wird Guillaume in die DDR abgeschoben. Dort erwartet ihn der Karl-Marx-Orden. Die Stasi feiert den Spion in einem Film. Und: Guillaume darf endlich auch seine Villa beziehen. Monatsmiete 330 Mark Ost.
Der Zusammenbruch der DDR ändert für den Spion im Ruhestand nicht viel: Zwar schlägt der Versuch fehl, das Anwesen zum Schnäppchenpreis von gut 90.000 Mark zu kaufen, doch der Rausschmiss bleibt ihm erspart.
Pierre Boom ist 17, als das Bundeskriminalamt seine Eltern Christel und Günter Guillaume im Frühjahr 1974 vor seinen Augen verhaftet. Christel Guillaume, Angestellte bei der Hessischen Landesvertretung, und Günter Guillaume, Referent des Bundeskanzlers Willy Brandt, werden des Landesverrats beschuldigt und im Dezember 1975 zu langen Haftstrafen verurteilt. Brandt zieht die bekannten Konsequenzen aus der „Affäre Guillaume“.1975 siedelt Pierre in die DDR über. Seine Eltern werden 1981 aus der Haft in die DDR entlassen. Zum Jahreswechsel 1987/88 stellt Boom einen Ausreiseantrag und kommt im Mai 1988 zusammen mit Frau und Kindern wieder in die Bundesrepublik. Er nimmt den Mädchennamen seiner Mutter an. Pierre Boom lebt heute als freier Journalist in Berlin. Er erinnert sich:
Am 24. April 1974 stürmten morgens um 6.32 Uhr 20 BKA-Beamte die elterliche Wohnung und verhafteten die Eltern wegen dringenden Verdachts des Landesverrats. „Es waren Ferien und ich durfte ausschlafen. Sehr früh am Morgen war Unruhe in der Wohnung. Meine Zimmertür war angelehnt. Ich habe wahrscheinlich eine Weile gebraucht, bis ich richtig wach war, und bin dann aufgestanden, zur Tür gegangen – der ganze Flur war voller Menschen, hauptsächlich Männer, alle in Zivil, aber in Anzügen. Ich dachte: „Was ist denn da los?“ – aber in dem Moment, es waren wahrscheinlich nur Minuten, drehte sich schon jemand zu mir um und sagte: „Herr Guillaume, gehen Sie bitte in Ihr Zimmer zurück und ziehen Sie sich an.“ Ich erinnere mich, dass ich mich aufs Bett gesetzt habe, zum Fenster gegangen bin, und da sah ich unten, wo normalerweise keine Autos parken durften, überall Autos, zivile. Ich glaube, mich auch zu erinnern, dass unten vorm Haus Uniformierte, bewaffnete Uniformierte Aufstellung genommen hatten. Das hat dann die Verwirrung noch vergrößert.“
Die Eltern wurden in der DDR als „Kundschafter des Friedens“ geehrt, hielten Vorträge, erhielten Auszeichnungen.
„Es gibt ja die Regel, wenn ein Agent auffliegt, ist er „verbrannt“, er wird zum Sicherheitsrisiko. Richtig in den Apparat hineinlassen wollten sie meine Eltern nicht. Mein Vater hätte sich auch ein politisches Amt vorstellen können, im Außenministerium zum Beispiel. Allerdings hätte der ehemalige Kanzlerspion wohl kaum eine politische Funktion auf internationalem diplomatischem Parkett wahrnehmen können. Meine Eltern haben das nicht wirklich verstanden und fühlten sich nicht gebraucht, fehl am Platz.“
Günter Guillaume stirbt 1995 in Berlin. Kein anderer Spion hat das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR so belastet wie Guillaume. Die Politik der Verständigung ging dennoch weiter.
Politiker, Geheimdienstchef und Krimineller
Am 28. Dezember 1907 wird Erich Fritz Emil Mielke wird in Berlin-Wedding als zweites von vier Kindern einer Arbeiterfamilie geboren. 1925 erfolgte sein Eintritt in die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Am 9. August 1931, als bei einer Demonstration auf dem Berliner Bülowplatz die Polizeihauptleute Lenk und Anlauf hinterrücks erschossen werden, wird Mielke als Bereitschaftsführer des Parteiselbstschutzes und mutmaßlicher Schütze des Mordes angeklagt. Er flieht in die Sowjetunion. Er wird 1934 in Deutschland in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Im Juni 1945 kehrt er nach Kriegsende zurück nach Berlin. Er wird Mitglied der KPD und nach deren Zusammenschluss mit der SPD 1946 der SED. Er wird Leiter der Polizeiinspektion Berlin-Lichtenberg. 1947, am 7. Februar: Das Amtsgerichts Berlin-Mitte erlässt Haftbefehl gegen Mielke wegen Doppelmordes an den Polizisten Anlauf und Lenk im Jahre 1931. 1950 bis 1953 wird er Staatssekretär und stellvertretender Minister im Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zu dessen Aufbau er entscheidend beigetragen hat. 1957 bis 1989 fungiert er als Minister für Staatssicherheit. Als Leiter des Staatssicherheitsdienstes baut Mielke das Spitzel- und Überwachungssystem, das alle Lebensbereiche der DDR-Bürger durchdringt, weiter aus. Am 7. November 1989 tritt Mielke als Minister für Staatssicherheit zusammen mit der Regierung Stoph zurück und am 8. November erfolgt der Rücktritt zusammen mit dem gesamten Politbüro des SED. Am 17. November beschließt die Volkskammer die Aufhebung des Abgeordnetenmandats Mielkes. Am 3. Dezember erfolgt der Ausschluss aus dem ZK und der SED. Wegen Schädigung der Volkswirtschaft kommt Mielke am 7. Dezember in Untersuchungshaft, wo er am 9. März 1990 aus gesundheitlichen Gründen aus der Untersuchungshaft entlassen wird. Im Juli erfolgt Haftbefehl gegen Mielke wegen Errichtung von Isolierlagern und Unterstützung von RAF-Aussteigern in der DDR. Er wird in die Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen eingeliefert. Im Oktober 1990 wird er zunächst in die Untersuchungshaftanstalt Moabit überstellt. Am 19. Oktober Haftbefehl wegen Vertrauensbruch und Untreue. Von 1990 bis 1992 erfolgte die Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Im März 1991 ergeht Haftbefehl wegen versuchten Mordes durch Unterstützung von RAF-Terroristen und im Mai 1991 Haftbefehl in Zusammenhang mit den Mauerschüssen. Im November kommt es zum Haftbefehl wegen der Todesschüsse an den Polizeioffizieren Anlauf und Lenk im Jahre 1931. 1992, am 4. Januar: Mielke kommt wieder in die Untersuchungshaftanstalt Moabit, wo am 9. Februar der Prozess am Berliner Landgericht wegen der Todesschüsse 1931 beginnt.
Das Verfahren wurde auf der Grundlage der Originalanklageschrift aus dem Jahre 1934, noch versehen mit den Radnotizen des Nazistaatsanwalts, und der Vernehmungsprotokolle von Gestapo und SA geführt. Die Berliner Staatsanwaltschaft machte sich nicht einmal die Mühe, die Anklage abzuschreiben - sie wurde lediglich kopiert. In der Hauptverhandlung wurde demzufolge erst einmal davon ausgegangen, dass die nazifaschistische Justiz 1934 rechtsstaatlich funktionierte. Der Verteidigung Mielkes oblag es demgegenüber zunächst, Beweismittel für das rechtsstaatswidrige Zustandekommen von Aussagen in den Jahren 1933 und 1934 zu erbringen. Da war die Schweizer Justiz 1935 bereits weiter. Die Anklage von 1934 umfasste nämlich auch den in die Schweiz emigrierten Heinz Neumann, führendes KPD-Mitglied und nach Auffassung der Nazis Drahtzieher der Ereignisse von 1931. Daher stellte Deutschland 1935 ein Auslieferungsersuchen. Doch dieses wurde von der bürgerlichen Schweiz auch mit dem Hinweis auf die bekannten Methoden der Hitlerjustiz abgelehnt.
Am 19. Oktober: Haftbefehl wegen 68 Opfern an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. 1992 bis 1995 erfolgt die Inhaftierung in der Untersuchungshaftanstalt Berlin-Moabit. Am 26. Oktober 1993 kommt es zur Verurteilung durch das Berliner Landgericht zu sechs Jahren Gefängnis wegen „in Tateinheit begangener zweier vollendeter Morde und eines versuchten Mordes“ im Jahre 1931. Im August 1995 wird er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitige aus der Haft auf Bewährung entlassen. 1998, im August: Alle Verfahren gegen Mielke werden aus gesundheitlichen Gründen eingestellt. Erich Mielke kommt endgültig nicht mehr vor Gericht. Das noch offene Verfahren wegen der Toten an der Mauer sei vom Berliner Landgericht wegen andauernder Verhandlungsunfähigkeit des 90jährigen endgültig eingestellt worden, sagte Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen. Auch die übrigen Vorwürfe würden nicht mehr aufgerollt. 1994 hatte das Berliner Landgericht schon einmal das Verfahren um die Toten an der Grenze gegen Mielke eingestellt, weil er auf Dauer verhandlungsunfähig sei. Diesen Beschluss hob später jedoch der Bundesgerichtshof auf Antrag der Anklagebehörde auf. Mielke-Anwalt Stefan König bezeichnete die Verfahrenseinstellung als längst überfällig.
Am 21. Mai 2000 stirbt Erich Mielke im Alter von 92 Jahren in einem Altenpflegeheim in Berlin-Hohenschönhausen wo er am 6. Juni in einem anonymen Urnengrab auf dem Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde beigesetzt wird.
Mielke war von 1957 bis zur Wende im November 1989 Minister für Staatssicherheit (MfS). Das von ihm geleitete MfS war die wohl meistgefürchtete und -respektierte Institution in der DDR. Eine DDR ohne Mielke ist heute nicht mehr vorstellbar, zu lange hat er hinter den Kulissen die Fäden in der Hand gehalten und die Umsetzung der Parteibeschlüsse nach eigenem Gutdünken durchgesetzt, zum großen Teil mit Gewalt. „Wer ist wer?“ war Mielkes Credo, auf dem er seinen Schnüffelapparat im In- und Ausland aufbaute. Er war der Herr über Operative Vorgänge, Inoffizielle Mitarbeiter; er entschied, ob ein politisches Urteil auf Tod lautete oder nicht. Wenn es in der am Ende in aller Stille gescheiterten DDR-Führung einen Repräsentanten des Roten Wedding gegeben hat, dann war das Erich Fritz Emil Mielke.
Erich Mielke wuchs mit der kommunistischen Jugendorganisation auf, früh und mit Begeisterung engagierte er sich in der Handballgruppe des Arbeitersportvereins „Fichte“. Bis er dann auch dem paramilitärisch organisierten, zeitweise verbotenen Rot-Frontkämpferbund beitrat. Dort grüßten sich die Genossen in den späten zwanziger Jahren im sicheren Lebensgefühl der unmittelbar bevorstehenden proletarischen Erhebung mit der Formel: „Bis bald, in Sowjetdeutschland!“ Wie viele seiner Altersgenossen war auch Erich Mielke früh in eine politische Kameradschaft geraten, die in den Stürmen und Bedrohungen der Zeit ein Minimum an Geborgenheit versprach. Nebenbei gab sie den Jugendlichen, wofür Jugendliche in einem bestimmten Alter ohnehin empfänglich sind: Eine feste politische Überzeugung, einen Standpunkt, eine Hoffnung auf den Weg in eine bessere Zukunft. Damals nannte man das Weltanschauung.
Es sind die proletarischen Lieder der Zeit, die neben Filmen wie „Kuhle Wampe“ bis heute eine einprägsame Vorstellung davon geben, wie diese Welt zwischen der kleinen Freiheit des Schrebergartens, der Spartakiade und der Hoffnung auf ein besseres Leben ausgesehen hat. Es war die Solidarität, die dem Proletarier aus der Vereinzelung befreite, ihm zu kollektiver Kraft, zu Selbstsicherheit und politischer Wirksamkeit verhalf. Die Solidarität, das Kollektiv waren Selbsthilfe, Stütze und Kampfform zugleich. Sie stählten den Einzelnen als Kämpfer, aber auch als Bedrohten, der den Gefahren der Verelendung, der Verzweiflung ausgesetzt war.
Dazu kam die gemeinschaftliche Lust der jungen Leute am Katz- und Mausspiel mit der Polizei, das bestenfalls halbbewusste Zündeln an einer in ihren gesellschaftlichen Grundlagen äußerst instabilen Demokratie: „Links, links, links, der Rote Wedding mar-schiert, hier wird nicht gemeckert, hier wird nicht gelacht, denn was wir spielen, ist Klassenkampf unterm Hintern der Bourgeoisie...“ Das war die Fun-Welt des jungen Mielke, halb weltverbesserisch, halb jugendlich-abenteuerlustig. Blutiger Ernst wurde es für ihn persönlich erst, als er von der KPD-Führung am 9. August 1931, im Alter von 23 Jahren, zum Doppelmörder gemacht wurde.
Mielke und sein Mittäter Erich Ziemer gehörten damals dem PSS, dem Parteiselbstschutz, einer radikalen, militärisch durchorganisierten Abspaltung des Rot-Frontkämpferbundes. Die Mitglieder, die selbstverständlich Decknamen trugen und im Geheimen agierten, übten „die Kunst des Aufstandes“ und verstiegen sich in die Vorstellung, sie selbst seien die deutsche Sturmtruppe der kommunistischen Weltrevolution. Die intellektuellen Anführer hielten die sehr jungen Kämpfer ihrer Privatarmee ständig in einer Art Fünf-vor-zwölf-Stimmung. Mitte 1931 stand für sie fest: „Der bevorstehende Kampfwinter muss Sowjetdeutschland bringen.“ Der Hauptfeind war tragischerweise die als „sozialfaschistisch“ eingestufte SPD. Gegen sie ging die KPD im Sommer 1931 ein „taktisches Bündnis“ mit Hugenberg und Hitler ein. Die Folgen sind bekannt.
Die Polizistenmorde auf dem Berliner Bülowplatz, der später in Horst-Wessel-Platz und dann in Rosa-Luxemburg-Platz umbenannt wurde, stellten für Mielke die Lebensweichen. Die politisch Verantwortlichen - Ernst Thälmann, Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck - hatten zwei junge Männer instrumentalisiert. Anschließend ließen sie die beiden - gegen den erklärten Willen Mielkes - in die Sowjetunion abtauchen. Obwohl viel zu jung und parteiorganisatorisch unerfahren, wurde Mielke dort an der Lenin-Schule zum Berufsrevolutionär ausgebildet. Diese durchaus nicht selbstbestimmte Wendung in seiner Biografie machte ihn zum Aktivisten im euro-päischen Bürgerkrieg: In der stalinistischen Sowjetunion, im Spanischen Bürgerkrieg, in Frankreich und später in der SBZ/DDR.
Diese plötzliche, unfreiwillige Wendung ließ Mielke bis zum Lebensende gleichsam unerwachsen bleiben, unfähig zur Umkehr, zum Umdenken oder auch nur zum Selbstzweifel. Alle, die ihn in dieser geistigen Fixierung auf die frühen dreißiger Jahre zu stören schienen, wurden automatisch zu Feinden in der DDR: Es waren die „Abweichler“, die „Verräter“, die „Sozialdemokraten“ und „Renegaten“. Um es in seinen Worten von 1962 zu sagen: „Wir sind verpflichtet, dass wir einheitlich und geschlossen hinter unserer Parteiführung stehen. Die Beschlüsse unserer Partei sind goldrichtig. Wir haben eine saubere Politik in der DDR.“
Eine Woche nach den Bülowplatz-Morden schrieb Carl von Ossietzky in der „Weltbühne“ eine Vorschau auf den späteren Aufstieg und Fall der DDR: Die KPD werfe massenhaft diejenigen hinaus, „die unter Kollektivismus nicht den Verzicht auf eigenes Denken verstehen“, und bilde „in ihrer Geistesenge das Musterbild eines Staates, in dem die Autarkie ausgebrochen ist. So kann einmal Deutschland aussehen, wenn die Apostel der eigenen Kraft sich durchsetzen sollten.“
Diesen von der KPD in ihrer borniertesten Phase geschmiedeten Menschentypus verkörperte Erich Mielke. Den meisten wird er als gewissensschwacher Verfolger, Herr der Spitzel, Mörder und Staatskrimineller in Erinnerung bleiben. Aber er war auch das Opfer einer Verblendung, die ihn zum Repräsentanten der Tragödien des 20. Jahrhunderts macht. Wie er in seinen letzten Jahren darüber dachte, wissen wir nicht. Einmal, 1993, äußerte er sich so: „Da sind Millionen gefallen - für Nichts. Für Nichts. Alles, wofür wir gekämpft haben - in Nichts hat es sich aufgelöst.“
Worin unterscheidet sich der juristische Umgang mit der DDR-Vergangenheit in Deutschland seit 1990 von der Praxis anderer Transformationsländer - vorzugsweise in Osteuropa?
Beim Blick auf die osteuropäischen Transformationsstaaten zeigt sich, wie sehr der jeweils eingeschlagene Weg der „Vergangenheitspolitik“ mit den Grundzügen der vorherigen politischen Ordnung, der Art des Übergangs und Besonderheiten der nachfolgenden Demokratie korrespondiert. Dementsprechend war deutsche „Vergangenheitspolitik“ mit ihrer Präferenz einer umfassenden Verfolgung von DDR-Unrecht maßgeblich durch den Charakter der Wiedervereinigung geprägt. Die amerikanische Publizistin Tina Rosenberg beschreibt sie als Vorgang, bei dem Ostdeutschland von einer vergleichsweise gesunden und stabilen Demokratie geschluckt wurde. Spätestens 1991 sei gesamtdeutsche politische Stabilität eingekehrt. Tatsächlich bestand nach dem 3. Oktober 1990 im vereinigten Deutschland keinerlei Gefahr einer Restaurierung alter Verhältnisse mehr. Rücksicht auf politische Unsicherheiten oder Zwänge war nicht geboten. Ganz entscheidend hatte dazu ein rasanter Elitenaustausch in allen Sphären der Gesellschaft beigetragen. An personellen Ressourcen mangelte es nicht. Zumeist waren es Westdeutsche, mit denen die Ostdeutschen ausgetauscht wurden. Auch einstmals Verfolgte und Unterdrückte des DDR-Systems waren jetzt - jedenfalls in gewisser Weise - selbst Teil der Macht in der Demokratie und konnten ihren Willen zur Ahndung von Unrecht durchsetzen. Was jedoch die Justiz betraf, erfolgte die Strafverfolgung in aller Regel durch Richter und Staatsanwälte aus dem Westen. So fand die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unter allseits gesicherten Machtverhältnissen statt, resultierte daraus eine ausgesprochen geringe Neigung zu Amnestiedebatten, die immer wieder aufgeschoben wurden. Hierin zeigen sich gravierende Unterschiede zu anderen Transformationsgesellschaften Osteuropas: Dort geriet der Bruch mit dem alten System nicht derart radikal wie in Deutschland, wurde Demokratie nicht implantiert, sondern musste erst herausgebildet werden, konnten (und sollten) auf bisherige Eliten nicht völlig ausgegrenzt bleiben. Das hat eine andere „Vergangenheitspolitik“ geprägt und natürlich Schlussstrich- und Versöhnungsmentalitäten befördert. In Russland, Weißrussland, der Ukraine - teilweise in Rumänien und Bulgarien - sah der Elitenwechsel zuweilen so aus, dass die zweite Reihe der einstigen Nomenklatura an die Spitze des Staates strebte. In Tschechien konzedierten Politiker wie Vaclav Havel, die früher selbst Verfolgte waren, dass eine klare Trennlinie zwischen Tätern und Opfern nicht gezogen werden könne. Überdies kamen ökonomische Faktoren in Betracht - Deutschland wollte und konnte sich seine Form von Vergangenheitsbewältigung auch finanziell leisten.
Allein in der ZENTRALEN ERMITTLUNGSSTELLE REGIERUNGS- UND VEREINIGUNGSKRIMINALITÄT (ZERV) in Berlin waren mehr als 500 Beamte und 200 Ermittler der Berliner Polizei tätig. Die Kapazitäten eines Rechtsstaates - seine vorhandenen juristischen Instrumentarien - wurde ausgeschöpft. Die Erwartungen der strafrechtlichen „Vergangenheitspolitik“ gegenüber der Justiz waren entsprechend groß. Es kursierte das Wort vom „kreativen Juristen“, der das Unrecht greifen könne. Wo es zu „kreativ“ wurde, musste diese „Vergangenheitspolitik“ durch die höchsten deutschen Gerichte korrigiert werden. Interventionen des Bundesverwaltungsgerichtes und des Bundesarbeitsgerichts betrafen rigide Entlassungen im öffentlichen Dienst. Das Bundesverfassungsgericht erklärte das „Rentenstrafrecht“ für verfassungswidrig, ohne es gänzlich zu beseitigen. Dasselbe Gericht machte Schluss mit der Praxis der Berufsverbote gegenüber Rechtsanwälten und Notaren. Für nicht verfassungskonform wurde auch die Praxis der Verurteilungen von DDR-Spionen erklärt. Der Bundesgerichtshof schränkte die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung von Richtern und Staatsanwälten der DDR deutlich ein und korrigierte auch ein solch kurioses Verfahren wie das gegen Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der sich mit dem Vorwurf konfrontiert sah, ausreisewillige DDR-Bürger als Vermittler erpresst zu haben. Problematisch blieben hingegen die vom BGH abgesegneten bizarren Verfahren gegen Erich Mielke wegen der Polizistenmorde von 1931 sowie gegen Alexander Schalck-Golodkowski wegen Verstoßes gegen Embargo-Vorschriften. Im Mielke-Prozess hätten die Verjährung und die zweifelhafte Beweislage anerkannt werden können, bei Schalck fällt die fragwürdige Anwendung eines Gesetzes der Militärregierungen von 1949 auf. Bedenkt man die bisher skizzierten Umstände, dann erscheint es berechtigt, den DEUTSCHEN SONDERWEG vor allem als logisch und systemimmanent zu kennzeichnen und zugleich die Frage zu stellen, ob er auch vernünftig und notwendig war. Strafrecht im klassischen Sinne galt eher als Strafrecht für den Fall des „normalen Verbrechens“. Eine strafrechtliche Reaktion auf staatliches Unrecht schien nicht in dieses Gefüge zu passen. Das war und ist beim Völkerstrafrecht anders. Gerade in jüngster Zeit lassen sich dabei Fortschritte verzeichnen - auch hinsichtlich der Beachtung im nationalen Recht. Man denke an das Statut von Rom für einen ständigen INTERNATIONALEN STRAFGERICHTSHOF, die begonnene Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen in Chile und Argentinien. Diese Entwicklungen sind indes nur eine Seite des strafrechtlichen Schutzes der Menschenrechte. Die andere besteht darin, auch mit dem nationalen Strafrecht nach dem Untergang diktatorischer Systeme eine solche Schutzfunktion zu entwickeln. Es geht letztlich um die Frage nach Leitlinien für ein menschenrechtsschützendes Strafrecht.