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Damit die Opfer nicht vergessen gehen –
Die Verjährung bei Mord abschaffen?

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Gebannt sass ich vor dem Fernseher und verfolgte den Beitrag der Sendung «Aktenzeichen XY ungelöst» von Eduard Zimmermann zum Kristallhöhlenmord in Oberriet SG. Das Verbrechen geschah 1982, als ich Rechtswissenschaft studierte und als Freizeitjournalist über Kriminalfälle berichtete. Das Schicksal der beiden Mädchen, die damals während einer Velotour verschwanden und in Felslöchern tot aufgefunden wurden, wühlte mich auf. Ebenso der Fall der achtjährigen Rebecca Bieri, die in der luzernischen Tausend-Seelen-Gemeinde Gettnau entführt und ein halbes Jahr später in Niederbipp BE tot aufgefunden wurde.

Heute, 36 Jahre später, beschäftigen mich die Fälle aus meiner Studentenzeit in den siebziger und achtziger Jahren nach wie vor und lösen Betroffenheit aus. Denn sie sind mit schweren Schicksalen verbunden und bis heute ungeklärt. Umso mehr interessiert mich die Frage, wie die betroffenen Personen vor Ort mit der Last der ungeklärten Taten umgehen. Ich erkundete die Tatorte, bei der Kristallhöhle am Fuss des Alpsteingebietes, auf der Jurahochebene oberhalb Seewen SO, wo fünf Menschen in einem Wochenendhäuschen durch Schüsse aus nächster Nähe starben, und am Entführungsort von Rebecca Bieri auf dem Kühberg in Gettnau LU, sprach mit Angehörigen der Opfer, mit Zeitzeugen und mit Tatverdächtigen. Was bedeutet es für sie, wenn ein Mordfall nach so vielen Jahren ungelöst und verjährt ist?

Einzelne im Buch dargestellte Kapitalverbrechen sind auch jüngeren Datums, so etwa der Rätseltod von Ylenia im Jahr 2007 oder der Zoomord von Bad Ragaz im Jahr 2012 (im Buch mit «Mord im Heidiland» betitelt), ein Fall voller Irrungen und Wirrungen. Doch die meisten der im Buch dargestellten Morde sind nicht nur ungelöst, sondern auch verjährt und können strafrechtlich nicht mehr verfolgt werden, bleiben somit für immer ungeklärt.

In der Schweiz tritt die Verjährung bei Mord nach dreissig Jahren, bei vorsätzlicher Tötung schon nach fünfzehn Jahren ein. Selbst wenn sich noch interessante neue Erkenntnisse ergeben, sind strafprozessuale Zwangsmassnahmen wie Verhaftung oder Hausdurchsuchung nicht mehr möglich, können Personen gegen ihren Willen nicht mehr befragt werden. Mögliche Beweismittel wie die Kleidungsstücke der Opfer werden für immer beseitigt.

Die Frage kommt immer wieder aufs politische Tapet: Soll die Verfolgbarkeit eines Tötungsdeliktes befristet werden? Des schwersten aller Verbrechen? Ist die heutige Verjährungsregelung bei Mord sinnvoll? Braucht es sie überhaupt? Nachdem schon frühere Anläufe für Gesetzesänderungen gescheitert waren, sprach sich der Nationalrat klar für die Beibehaltung der heutigen Verjährungsregelung aus. In einer Motion vom März 2016 hatte der Zürcher SVP-Nationalrat Alfred Heer (57) ihre Aufhebung gefordert. Der Vorstoss wurde auf Antrag des Bundesrates abgelehnt.

Zwei Gründe führen die Verfechter der Verjährung ins Feld. Erstens lässt sich eine Tat mit der Zeit immer schwieriger nachweisen, und die Gefahr von Fehlurteilen wächst. Zweitens: Ausgehend vom christlichen Ideal des Verzeihens und Versöhnens nimmt der Gesetzgeber an, dass das Vergeltungsbedürfnis der Direktbetroffenen mit der Zeit in den Hintergrund rückt und dem Strafanspruch des Staates zeitliche Grenzen setzt. Konkret heisst dies: Die Zeit heilt Wunden, und selbst über schlimme Ereignisse wächst Gras.

Trotzdem nimmt die Kritik an der Verjährung zu. Auch gemässigte Politiker und Experten stellen die Regelung in Frage, einzelne von ihnen gehen mit der Verjährung scharf ins Gericht, so auch der Basler Bundesverwaltungsrichter Philippe Weissenberger (53). Wie der Jurist aus den Reihen der Sozialdemokratischen Partei (SP) in der «Weltwoche» vom 15. März 2018 schreibt, nimmt der Gesetzgeber zu Unrecht an, dass die Gesellschaft die Tat nach so vielen Jahren verarbeitet habe.

Gewaltdelikte könnten die Gesellschaft weit länger erschüttern. Weissenberger prophezeit zudem, dass es wegen der neuen kriminaltechnischen Fertigkeiten und Möglichkeiten immer wahrscheinlicher wird, dass Mordfälle noch Jahrzehnte nach der Tat aufgeklärt werden könnten.

Zu den Kritikern der Verjährung gehört auch der frühere leitende Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, Andreas Brunner (69). In einem Beitrag der «Sonntagszeitung» vom 1. Oktober 2017 kommentierte er: «Die Verjährungsregelung schützt ausschliesslich Täter und nicht etwa die Opfer und deren Angehörige. Für Täter ist die Verjährung ein Gnadenakt der Gesellschaft. Entspricht diese Regelung dem Geist des 21. Jahrhunderts?»

Meine Recherchen zu diesem Thema und unzählige Gespräche mit betroffenen Personen, insbesondere auch zum «Kristallhöhlenmord», bestätigen diese Einschätzung der Kritiker. Sowohl die Verwandten der Opfer in Goldach als auch die Bewohner am Tatort in Kobelwald, Teil der Gemeinde Oberriet, haben das Verbrechen noch lange nicht vergessen. Die beschauliche Ortschaft Kobelwald kommt auch 36 Jahre nach dem Verbrechen nicht zur Ruhe, und bis heute entzünden sich dort immer wieder hitzige Diskussionen an der Frage: Wer hat die scheussliche Tat verübt und die Leichen der Mädchen im felsigen Gelände unterhalb der Kristallhöhle versteckt?

Augenscheine und Gespräche an anderen Handlungsorten von bekannten Mordfällen zeigen dasselbe Bild: Es ist eine Illusion zu glauben, dass dreissig Jahre nach einem Mord Normalität zurückkehrt und die Betroffenen zur Tagesordnung übergehen. Dies ist bei Diebstahl, Betrug oder einfacher Körperverletzung möglich, nicht aber bei Mord.

Kritiker der Verjährung empfinden es auch als ungerecht und stossend: Die Täter können sich nach Eintritt der Verjährung, spätestens nach dreissig Jahren, sicher fühlen und müssen nicht mehr fürchten, vom Staat zur Rechenschaft gezogen zu werden. Doch die Angehörigen der Opfer fühlen sich alleingelassen und leiden weiter – bis an ihr Lebensende.

Die unbefristete Verfolg und Strafbarkeit eines Mordes, also eine Regelung ohne Verjährung, kennen andere europäische Staaten wie Österreich oder Deutschland. Allerdings vor einem speziellen historischen Hintergrund: Kriegsverbrecher sollen auf keinen Fall geschont werden und auf das Vergessen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit hoffen können.

In der Schweiz gibt es diese Regelung bereits für pädosexuelle Straftaten. Darum wäre es nur konsequent, die Unverjährbarkeit auch für Mord vorzusehen. Zumal die Kriminaltechnik enorme Fortschritte macht und neue Methoden zur Verfügung stehen, die es vor dreissig Jahren noch nicht gab. Allen voran die DNA-Analyse, genetische Fingerabdrücke, welche Verbrecher am Tatort zurücklassen und die etwa in Haaren, Blut oder Speichel nachweisbar sind. Die heute bei der Spurensicherung zur Verfügung stehenden Mittel ermöglichen es, eine Person auch Jahrzehnte nach einem Verbrechen in Verbindung mit einem Tatort beziehungsweise einer Tat zu bringen.

Zwar ist ein DNA-Treffer noch kein Beweis für die Täterschaft. Hätten Spezialisten die DNA-Analyse jedoch schon vor dreissig und mehr Jahren professionell einsetzen können, wären wohl die bekanntesten ungelösten Mordfälle der Schweiz wie der Mord in Kehrsatz BE, der Fünffachmord in Seewen SO, der Mord an Rebecca Bieri und der Kristallhöhlenmord aufgeklärt.

Die Verfechter der Verjährung, einschliesslich der Bundesrat, halten an der heutigen Gesetzesregelung fest. Sie fürchten Nachteile für die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens und ein Wiederaufleben der «Rachejustiz». Tatverdächtige könnten auf wackliger Beweisgrundlage vor Gericht gezerrt und abgeurteilt werden. Nach ihrer Argumentation nimmt die Zuverlässigkeit der Beweise mit der Zeit ab, insbesondere Zeugenaussagen, und es wächst die Gefahr von Fehlurteilen.

Die Gegner der Verjährung wehren sich zwar vehement dagegen, dass ein Tötungsdelikt nach Jahren abgehakt und vergessen werden soll. Grund dafür ist aber nicht die Vergeltung, sondern die Aufklärung des Verbrechens. Die Betroffenen leben in der Hoffnung, dass die quälende Ungewissheit irgendwann ein Ende hat.

Skeptisch gegenüber der heutigen Verjährungsregelung bei Mord ist auch der Zürcher Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat Daniel Jositsch (53). Er plädierte in einem Interview mit dem «Sonntagsblick» vom 6. März 2016 für eine Lösung nach englischem Vorbild. Demnach wirkt sich die lange zeitliche Distanz zum Verbrechen strafmildernd für den Täter aus. Die Strafe kann reduziert oder ganz erlassen werden.

Vielleicht das Zukunftsmodell für die Schweiz. Ursprünglich betrachtete ich die Verjährung im Sinne der Konfliktberuhigung als etwas Gutes und stufte die Kritik daran als rechtspopulistische Stimmungsmache ein. Aufgrund unzähliger Gespräche mit Betroffenen bin ich heute jedoch der Ansicht, dass die Verjährung bei Mord abgeschafft und dessen Verfolgbarkeit ohne zeitliche Schranke ermöglicht werden soll – wenigstens zur Wahrheitsfindung. Dies liegt sogar im Interesse der Tatverdächtigen, die sich mittels DNA-Beweis vom Verdacht für immer befreien wollen.

Nicht ganz richtig ist der Einwand, die Verjährungsregelung bei Tötungsdelikten habe nur für die Allerwenigsten von uns praktische Bedeutung. Wer davon betroffen ist, trifft es umso härter. Und davon berührt ist nicht nur ein enger Kreis von Angehörigen, wie man landläufig meint. Gerade in der heutigen medialen Welt löst ein schweres Verbrechen weit über die Region hinaus Betroffenheit aus. Deshalb ist auch die Aufklärung und Aufarbeitung eines Mordes ein Anliegen, das weite Bevölkerungskreise betrifft.

Ebenfalls unzutreffend ist das Argument, dass die Aufklärung von Mordfällen nach vielen Jahren so gut wie nie vorkomme. In Deutschland und in den USA werden solche Fälle immer wieder publik. Es handelt sich um sogenannte «Cold Cases», die von den Ermittlern nach sogar 35 und 40 Jahren mit frischem Elan und neuen Lösungsansätzen aufgegriffen werden – oft mit Erfolg.

Das zeigen Beispiele aus jüngster Zeit. Im September 2017 wurde in Hamburg ein 58-jähriger Mann gefasst, der 1981 eine 35-jährige Mutter von drei Kindern getötet hat. Der Fall beschäftigte die Polizei während Jahrzehnten. Nach 36 Jahren gelang ihr der Durchbruch. Den entscheidenden Hinweis lieferte eine neue Zeugin, die durch die sozialen Medien auf zwei neue Polizeivideos zum Fall aufmerksam geworden war. Der Mann, der wegen anderer Delikte schon im Gefängnis sass, ist geständig.

Im Mai 2018 gab die Polizei in Nienburg, Bundesland Niedersachsen, die Aufklärung des «Angler-Mordes» bekannt, der im Juli 1984, also vor 34 Jahren, für Schlagzeilen gesorgt hatte. Ein 49-jähriger Angler wurde an einem Seitenarm der Weser erschlagen und ausgeraubt. Ein neuer Zeuge und die geraubten Gegenstände, darunter eine silberne Taschenuhr, führten auf die Spur des Täters, eines heute älteren Mannes aus der Gegend des Tatortes.

Am 24. April 2018 verbreitete die Kriminalpolizei von Sacramento im US-Bundesstaat Kalifornien die Erfolgsmeldung: Der seit mehr als vierzig Jahren gesuchte «Golden State Killer» ist gefasst. Dieser soll zwischen 1976 und 1986 mindestens 12 Morde und 45 Vergewaltigungen begangen haben. Er spionierte seine Opfer während Monaten aus, ehe er sie überfiel, misshandelte und tötete. Die DNA eines Verwandten führte zur Identifizierung des Serienmörders, eines heute 72 Jahre alten Ex-Polizisten. Dieser wurde inzwischen mehrfach verhört, das Gerichtsurteil steht noch aus.

Auch in der Schweiz spielt Kommissar Zufall viele Jahre nach einem Verbrechen der Polizei in die Hände. Beispiel Fünffachmord von Seewen SO im Jahr 1976: Zwanzig Jahre nach der Tat, im Jahr 1996, wurde in Olten bei einem Wohnungsumbau die Tatwaffe, das Winchester-Gewehr mit abgesägtem Lauf, gefunden. Dadurch entstand eine völlig neue Ausgangslage für die Ermittler. Pech für sie, dass der Besitzer der Waffe nicht mehr auffindbar war. Sonst wäre der berühmteste Rätselmord der schweizerischen Kriminalgeschichte heute womöglich gelöst. Und im Oktober 2015 gestand ein in Basel wohnhafter Mann einen Mord an einer jungen Frau, den er 28 Jahre zuvor, im Sommer 1987, in Karlsruhe begangen hatte. Die Tat ereignete sich in einem Karlsruher Park unweit des Konzertgeländes, wo am gleichen Tag Rocklegende Tina Turner auftrat. Der Mann sagte, das schlechte Gewissen plage ihn. Er wolle reinen Tisch machen. Polizeiliche Abklärungen ergaben, dass er die Wahrheit sagte.

Es trifft zwar zu, dass Ermittler heute schon in mehreren Kantonen nach mehr als dreissig Jahren neuen Hinweisen nachgehen und Spuren verfolgen. Allerdings sind prozessuale Zwangsmittel wie Hausdurchsuchung oder Verhaftung ausgeschlossen, und somit bleibt auch die Wahrheitsfindung auf der Strecke. Würde ein Täter einen in der Schweiz begangenen Mord nach über dreissig Jahren zugeben, ähnlich wie beim Mord in Karlsruhe, hätte das rechtlich nicht einmal Konsequenzen. Täter bleiben unbehelligt. Die Behörden sind nicht verpflichtet, sich zu erklären oder gar aktiv zu werden.

Das Resultat meiner Recherchen ist eine Auswahl bekannter ungeklärter Mordfälle und erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Auch habe ich die Fälle mit unterschiedlicher Intensität und Tiefenschärfe recherchiert. Im «Sonntagsblick» vor zwei Jahren veröffentlichte ich zwei Artikelserien über ungelöste Morde, die ich inzwischen weiterentwickelt und thematisch erweitert habe. Zudem veröffentlichte ich 1997 ein Buch über Mordprozesse in der Schweiz.

Speziell achtete ich beim Verfassen des vorliegenden Buches auf Verständlichkeit und Leserlichkeit der Texte und unterschied deshalb nicht juristisch streng zwischen Begriffen wie «Mord», «Tötung», «Doppelmord» etc., wie dies in einer wissenschaftlichen Abhandlung notwendig wäre.

Eine Sonderstellung in diesem Buch nehmen berühmte Indizienprozesse ein, allen voran der Kehrsatzer Mordprozess und der Braunwalder Steinschlagprozess. Beide sind mir ebenfalls aus meiner Studienzeit gut bekannt. In beiden Fällen wurden erstinstanzliche Verurteilungen in Freisprüche umgewandelt. Somit sind auch diese Kriminalfälle ungeklärt. Die Mordprozesse zeigen das erbitterte Ringen um die entscheidende Frage: schuldig oder unschuldig? Und sie führen mich zum Schluss, dass auch Gerichte keine Garanten der Wahrheitsfindung sind und ebenso wie die Menschen, aus denen sie bestehen, unberechenbar und stimmungsabhängig entscheiden.

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