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I
ОглавлениеThora Moebius stützt ihre weissen, beringten Hände auf das steinerne Balkongeländer und schaut die morgenstille Strasse hinauf. Es ist sehr früh. Soeben steigt die Julisonne über die Ränder der Baumkronen, auf den breiten Kastanienblättern im Garten der Villa Moebius fängt sich das Licht. Schon seit einer ganzen Weile zwitschern die Vögel in den Ästen. Die Frau wartet mit einer sehnsüchtigen Ungeduld; sie trägt einen grauen Sportanzug, schlank geschnitten sitzt das Jackett über den Hüften, der Kragen einer seidenen Bluse schaut auf den Schultern hervor. In Breeches stecken die hohen Beine, braune Schnürstiefel trägt Thora Moebius bis an die Knie.
Ins Esszimmer geht sie zurück und ordnet Blumen auf dem zierlichen Frühstückstisch. In der elektrischen Kanne brodelt Kaffee. Drei Gedecke liegen bereit – es ist besser so, Thora hat ein Bündnis ihres Herzens für die Welt als Dreibund maskiert. In ihrer Seele tönt ein leises Jauchzen, ein Schweben heller Klänge singt hin und her.
Schon ist es wenige Minuten über vier Uhr früh. Die Köchin bringt ein Esspaket. „Ist es recht so, gnädige Frau?“
„Sehr schön, Emmi. Nur die Thermosflasche bitte noch etwas weicher einwickeln. Und sagen Sie Anton, er soll das Paket und meinen Rock auf der Maschine festschnallen.“
Gleich darauf nähert sich auf der Strasse ein scharfes Knattern, mit dem Ohr allein erkennt Thora den Motor. Eilig läuft sie wieder auf den Balkon hinaus. Die alte Köchin lächelt – seit mehr als drei Jahrzehnten dient Emmi im Hause Moebius, sie hat ihre junge Herrin als Wickelkindchen im Arm getragen, sie hat alles miterlebt, was in Thoras Seele an Licht und an Dunkelheit heraufkam: die beiden Ehen, die vorübergingen wie Sterne über einen nächtlichen Himmel; es blieb dunkel – – und nun seit langem schon die tiefe, strahlende Beruhigung. Die alte Frau lächelt traurig und bang. Sie nimmt das Esspaket unter den Arm und geht.
Thora Moebius steht abermals draussen auf dem Balkon, in ihrem schwarzen, kurzen Haar spielt der frische Morgenwind, ein Sturm von Jubel braust in ihrem Herzen. Äusserlich steht sie so ruhig und heiter, als geschähe nichts Besonderes – in den vergangenen zwei Jahren lernte sie sich ungeheuerlich in die Gewalt nehmen –
Auf der Strasse schwingt sich ein junger, stämmiger Mann mit blossem, verwirrtem Blondhaar aus dem Sattel eines Motorrades. Die Maschine verstummt. Der Diener Anton – der Mann der Köchin – kommt behäbig über den Kiesweg, um das Fahrzeug des Gastes hereinzubringen. Dann knirscht der Kies unter jungen, stürmischen Schritten, eine Hand fliegt in die Höhe: „Guten Morgen, Thora!“
„Guten Morgen, Thomas!“
Sie haben fast gleiche Namen, sie haben fast gleiche Herzen. Aber der Freund weiss es noch nicht – im späten Kindsein träumt die Seele ihres Sportkameraden Thomas Themal –
Sie hört seine ungeduldigen Sprünge auf der Treppe; dann steht er vor ihr und presst ihre Hand. „Sind Sie böse, dass ich mich verspäte? Ich musste erst meinen Bruder ins Gebhardheim bringen – Sie wissen: er führt heute das Klubauto.“ Ein khakifarbener Fahrtanzug, in den Hüften gegürtet, umhüllt die kräftige Gestalt. Auf der braunen Stirn hockt eine Windbrille, die reisst Thomas sich jetzt ab und wirft sie beiseite in einen Sessel. Seine grauen Augen leuchten – seltsam kindlich und rein stehen sie in dem männlichen Gesicht: neunzehn Jahre alt ist Thomas Themal –
Während sie das Frühstück bereitet, schlendert er mit rastlosen Füssen, wach und fahrtbegierig, durch das Zimmer. Die Tür zum Nebenraum ist offen – dort steht ein grosser Konzertflügel. Vorgestern abend waren Thora und Thomas in einer Aufführung der Zauberflöte, die Melodien klingen noch in der Erinnerung des Studenten. Früher schon, bevor er Thora Moebius kennenlernte, konnte er sehr hübsch Klavier spielen und singen. Das haben sie gemeinsam ausgebaut, sie spielen oft vierhändig und üben sich im Gesang. In einem anderen Raum des Hauses Moebius gibt es noch ein gutes Klavier. Wenn Thora und Thomas in besonders festlicher Laune sind, so setzen sie sich jeder an eins der Instrumente – machen alle Türen auf und fragen und antworten sich in der Musik ...
Thomas Themal klappt den Klaviaturdeckel auf, greift stehend ein paar Töne und summt mit einer leisen, merkwürdig tiefen Stimme:
„Bewahret euch vor Weibertücken,
Das ist des Bundes erste Pflicht –“
„Ei – Thora –“ lacht er, „das wollen wir dem Major sagen! Er soll den Spruch im Tanzzimmer des Klubheims an die Wand malen lassen!“
„Der Kaffee ist fertig, Thomas!“ lächelt sie im anderen Raum. Heisshungrig stürzt der Student sich über das Frühstück. „Wissen Sie, Thora: so früh klappt bei uns nichts. Detlev muss im Gebhardheim frühstücken, da hat er es aber nicht so gut wie ich hier bei Ihnen!“
Sie sorgt schweigend für ihn. Ihr ist zumut, als sässe sie mit andächtigen Händen vor einer kostbaren Menschenblume, die sich unendlich langsam zur Blüte entfaltet. Das strahlt jetzt von Monat zu Monat herrlicher auf, das hat eine freie Stirn, die keinen bösen Gedanken tragen kann! Das liebt Natur und Welt mit einer gläubigen Inbrunst – und noch hat keine Enttäuschung mit grimmigem Schlag den stolzen Nacken gebeugt. Dazu gesellt sich ein glühender Mut und eine Fahrtleidenschaft ohnegleichen. Schnellster Klubfahrer über tausend und fünftausend Meter ist Thomas Themal – und wenn er in diesem Jahr noch nicht Klubmeister geworden, so ist es darum, weil er im entscheidenden Rennen durch Ventilbruch ausscheiden musste.
Seit zwei Jahren kennt Thora Moebius den Freund, seit dieser Zeit gibt es für sie keinen anderen Menschen auf der Welt. Ihre Eltern sind tot, im Krieg fiel der Vater. Ihre beiden Ehen hatten nur kurzen Bestand – sie ist frei. Aber zwischen ihr und Thomas sind alle Wege versperrt – elf Jahre älter als er ist Thora Moebius –
Die Welt würde sich zwischen sie beide stürzen, wenn ein anderes Band von einem zum anderen ginge als Sportkameradschaft. Das weiss Frau Thora, mit eiserner Beherrschung vergräbt sie ihre Empfindung in das innerste Herz. Als sei es gestern gewesen, so deutlich erinnert sie sich an den Tag der ersten Begegnung. Ein Abend im Gebhardheim war es – ein Jahr nach der Scheidung ihrer zweiten Ehe. Seit Jahren schon fährt Thora auf ihrem Motorrade – zum Entsetzen ihres früheren Gatten liebt sie das schnelle, schwanke, brausende Fahrzeug mit einer seltsamen Heftigkeit. Als ihre Ehe dann abermals zerbrach, bemühte die junge Frau sich, Einsamkeit und Vergangenes zu übertäuben. Sie schliesst sich einem grossen Motorradklub an – sie mischt sich unter einen Schwarm von Menschen, die prächtig gesund sind, mit sportlich durchgebildeten Körpern. Frau Thora Moebius bemerkt einen ganz jungen Mann, dessen Augen, Stirn und Haltung ihn deutlich unterscheiden von der Menge der gutmütigen Kameraden – je tiefer sie ihn kennenlernt, desto inniger offenbart sich ihr ein unerhört sicheres Wissen: Du bist es, auf den ich warten muss, solange ich leben werde – –
Hinfort sausen die Winde Deutschlands um die Stirn zweier Kameraden, Regen peitscht ihre Wangen! Und schöner wird Thora Moebius als je, ihr Körper kräftigt sich im täglichen Training zu einer stählernen, durch nichts zu erschütternden Gesundheit. Was als geheimnisvolle Ahnung einst an ihre Seele pochte, das bestätigt sich: vor ihr auf tut sich das weite Land eines Herzens, in das noch kein fremder Pflug Furchen schlug. Auch Thomas Themal hat keine Eltern mehr, sein älterer Bruder Detlev leitet mit eisenhartem Willen Thomas’ Berufsausbildung als Student der Medizin. Der ältere Themal ist Dozent der Chirurgie an der Universität Berlin – sich um die Seele seines Brüderchens zu kümmern, bleibt ihm wenig Zeit. Das wächst heran in einer Urwaldfülle, das ist beschwingt von schäumender Kraft, von einer leuchtenden Phantasie, von ungezügelter Wildheit.
Oft meint Frau Moebius, Thomas Themal trage sein Herz offen in der Brust. Hinter dem jetzt Neunzehnjährigen sind die Mädels her, das beginnt und endet mit einem Lachen, das ritzt das Herz ein wenig. Aber so meerweit schon ist seine Seele, dass die Schmachtenden ihn nicht fassen und umfassen können. Doch gerade jetzt steht Thomas wieder einmal in heftigen Flammen für ein Mädchen, das ebenso blutjung ist wie er. Alle Sehnsucht und den Zauber seiner überströmenden Innigkeit fängt Thora Moebius in ihren Händen auf – nicht ihn rettet sie für sich, aber sein Abbild –
Ein kleiner König der Schnelligkeit fegt über die Strassen des Vaterlandes! Die Wälder sind das Kloster, das seine Seele bewahrt – sein starker Körper tobt sich aus im Sattel der rastlos hämmernden Maschine. Da steht vor allem Anbeginn das Grosse und das Erhabene der Welt, das wehrt kleinen und staubigen Seelchen den Zutritt zu Thomas Themals Brust.
Dessen ist die Kameradin Zeuge: im Schwarm des Alltags ahnt sie den einzig wertvollen Gefährten. Sie hat niemals versucht, sein offenes Herz anzutasten. Kein anderer Weg zu Thomas’ Seele ist offen: nur dieser! Sie lernt Gefahren verachten, sie lernt den brennenden Stolz über Sportleistungen und Erfolge kennen. Von jeher schon überkam es sie wie ein Rausch, sobald sie von den unsichtbaren, den lärmenden Fittichen getragen wird. Auf ihrer kleinen, pfeilschnellen, graublauen Maschine Nürnberger Herkunft beteiligt sie sich an allen möglichen Veranstaltungen, trägt wie der Freund Medaillen und Plaketten heim von der Fahrt. Mit ihm sitzt sie an Bauerntischen und in fremden Klubhäusern – unspürbar lenkt sie sein ungebärdiges Herz, überall sucht sie aus innerstem Bestreben die Vollkommenheit seines herrenhaften Wesens zu runden. Mutter und Schwester wird sie ihm, den nur ein im ehrgeizigen Daseinskampf fechtender Bruder beschützt. Zwei der drei Himmel des Weibes öffnet Thora sich – in einsamen Stunden findet sie ein Wort für ihn: Du bist das Gleichnis meines Gottes –
Aber alsbald fühlt Doktor Detlev Themal – trotz und wegen seiner Berufsüberlastung Sportwart des Deutschen Motorradklubs – sich zu einer langen Unterredung mit Frau Moebius gezwungen: er vergewissert sich, ob auch wirklich nur Sportkameradschaft sie und seinen Bruder verbindet. Dem älteren Themal kann Thora mit hochmütigen Lippen eine Aufzählung all der flüchtigen Verliebtheiten bringen, die Thomas erlebt, und die er ihr harmlos selig beichtet. Zu seiner Beruhigung kann sie auf ihre eigenen Sportleistungen hinweisen und darauf, dass ein dritter Kamerad sich diesem Bündnis beigesellt hat: der junge Klubmeister Ernst Kossack trägt ihr sein gutmütig karges Herz entgegen, gemeinsam mit Thora und Thomas nimmt er Anteil an den grossen Sportveranstaltungen. Damit gibt Detlev sich zufrieden – was kann es schaden, wenn eine Frauenhand kommt und dem wilden Brüderchen die Wildheit abgewöhnt?
Aber seither führt Thora einen einzigen Kampf gegen die Krötenaugen der Welt. Niemand soll argwöhnen dürfen, es sei nicht recht zwischen ihr und dem Freund. Vorsichtiger als je wahrt Thora Herz und Gesicht, überall in Deutschland verteidigen die Kameraden zu dritt ehrenvoll den grausilbernen Wimpel des D. M. C. –
Dieser Dritte ist es, auf den das übrige Gedeck auf dem Frühstückstisch wartet. „Ernst könnte jetzt bald kommen!“ meint der Student. Um fünf müssen sie aufbrechen, denn eine Stunde später beginnt auf dem Tempelhofer Felde die diesjährige Ballonfuchsjagd des Klubs. „Wollen doch mal zusehen, Thora, ob wir dem Ernst heute seinen Silbernen Pokal abknöpfen können – !“ lacht Thomas schäumend.
Für diese Veranstaltung hat der Klub einen herrlichen Wanderpreis gestellt, der nun schon zweimal hintereinander in Ernst Kossacks Hände fiel; beim dritten Mal wird er ihn ganz gewinnen.
Thomas Themal hat heute Ursache zu besonderem Eifer. Im Ballon aufsteigen wird der Geheimrat Jakoby – sein Schüler ist Thomas Themal – sein erster Assistent ist Doktor Detlev Themal. Aber den Ballon führen wird Jakobys einziges Töchterchen Ilse –
Frau Thora lächelt. Sie füttert den Freund, schenkt ihm frischen Kaffee ein und freut sich an seiner Lebendigkeit. Eifersucht –? Eine Frau von dreissig Jahren, geschmückt mit solchen Gaben des Körpers und des Geistes, ist nicht eifersüchtig auf eine von höchster Anmut der Jugend gekrönte Neunzehnjährige. Nur: verwandeln möchte sich Thora können – mit aller abgestreiften Bangigkeit und Sehnsucht sich noch einmal umhüllen – um ihm den süssen Trug vorspiegeln zu können, den sein Herz jetzt noch begehrt ...
Horch! Wieder ein Lärmen und Knallen von Fehlzündungen auf der Strasse vor der Villa – aber diesmal nicht das helle Stampfen eines mittelstarken Motors, sondern das tiefe Dröhnen einer schweren Sportmaschine.
Der Klubmeister Ernst Kossack erscheint im Frühstückszimmer. Eine lange, knochige, durchtrainierte Gestalt – nicht in der Fahrtuniform wie der Student, sondern in einem schnittigen Sportanzug mit breiten Knickerbockers. Unter den Arm geklemmt ein Strauss kostbarer Rosen. Kossack streift die Handschuhe von seinen Fingern – eine breite, besitzergreifende Hand streckt der schönen Frau die Blumen hin: „Morgen, Thora –“
„Sie kommen spät, Ernst! Dank für die Rosen! Nun frühstücken Sie schnell.“
Der Klubmeister setzt sich. In Thoras Gegenwart ist sein Benehmen untadelig. Aber der finstere Asketenkopf täuscht; zwei Passionen finden Raum hinter der schmalen Stirn, um die das zurückgestrichene Haar wie eine Pechkappe liegt – die Passionen: der Motor – und Thora ... Alle übrigen schönen Dinge der Welt sind für ihn höchstens – Passiönchen.
„Hast du heute wieder deine Hüte mitgebracht?“ spottet Thomas. Der Klubmeister arbeitet mit Messer und Gabel, dem Kameraden gibt er einen schrägen Blick. Im Alltag sitzt Ernst Kossack in der Fabrik seines Vaters – Willi Kossack & Sohn, Damenhüte en gros, Lindenstrasse. Er drückt einen Direktorsessel im Kontor, leitet die Bedienung prominenter Kundschaft und befindet sich das halbe Jahr auf Geschäftsreisen. Seiner Leidenschaft für das Motorrad wird väterlicherseits nur darum Raum gegeben, weil der Sohn es versteht, Sport und Geschäft zu verbinden. Die Damen des D. M. C. tragen ziemlich ausnahmslos Hüte der Kossackschen Fabrik – und zum heimlichen Spott der Kameraden lässt sich der beste Fahrer des Klubs auf Tourenfahrten eine Menge Musterkoffer mitschicken. Ein Geldmensch, vierundzwanzig Jahre alt, eine enge Seele – voll unbegriffener Sehnsucht nach Weite und Freiheit.
Über Thomas Themal wacht ein Bruder, der selbst ein Sportfanatiker ist. Ernst Kossack muss jede Minute der Freiheit gegen den hitzigen Widerstand seines Vaters ertrotzen. Unnötige Zeitverschwendung – kümmere dich um unsere Bilanzen – dummes Zeug, diese Herumtreiberei auf der Landstrasse. – Nun, meine acht Stunden sitze ich ab, ins Geschäft fahr’ ich mit der geliebten Maschine, und dann – Fahrthaube auf, Motor in Gang, frei ist die Welt!
„Dir, Thomas, würde der Spott vergehen, wenn du dich mit begriffsstutzigen Hutmacherinnen, mit Akkordlöhnen, mit schleimigen Schacherern herumschlagen müsstest. Du liebst den Beruf, für den du dich vorbereitest – kannst überhaupt nicht verstehen, wie mir zumut ist, wenn’s mal einen Tag Freiheit gibt ... Thora, ist noch eine Tasse Kaffee für mich da?“
„Überhasten Sie sich nicht, Ernst –“ sagt sie mitleidig und schiebt den beiden unersättlichen Freunden frische Brotschnitten hin. Sie kennt den wohltätigen Zauber, den sie über Ernst Kossack ausübt. Sobald der Klubmeister nicht in Thoras Nähe ist, wird er plump und prahlerisch, renommiert in Worten mit seinen Sporterfolgen und in Verschwendung mit seiner wohlgefüllten Brieftasche. Der Klubpräses musste ihn wiederholt verwarnen, denn in der armen Zeit brachte Kossacks Grossmannssucht einen unerwünschten Ton in das einfache Leben der Kameraden. Thora Moebius schätzt diesen Freund um seiner ehrlichen Art willen; doch im Grunde fehlen zwischen ihr und Kossack auch die bescheidensten Grundlagen einer Geistesgemeinschaft. Es bleibt bei einer ausgezeichneten Kameradschaft –
„So ein Sonntag!“ brummt der Klubmeister. „Am liebsten ginge ich in der Nacht auf den Sonntag gar nicht erst zu Bett. Kein Kontor, keine Plackerei, brauch’ mich von keinem Menschen schikanieren zu lassen. Äh – gestern haben wir einen grossen Sieg über die Konkurrenz erfochten, mit ein paar Pfennigen Nachlass pro Stück ... Siege gegen Zahlen. Aber heute, Thora – freie Landstrasse, der Silberne Pokal ... Kontorreiter bin ich sonst – Klubmeister bin ich heute!“
Unter geschliffenem Glas tickt die alte Biedermeieruhr fünf Silberschläge. Die Kameraden setzen die Lederkappen und die Brillen auf, schieben die Maschinen zur Strasse. Und wie die drei eisernen Herzen der Motoren aufbrausen, wie die Explosionen auf die Stahlkolben hämmern – so jauchzen im gleichen Takt die drei Herzen aus Fleisch und Blut.
*
Fast eine halbe Stunde geht Helga Hillesen auf der verstaubten, unansehnlichen Strasse zwischen den Schöneberger Mietkasernen auf und ab. Um diese Morgenzeit regt sich nur wenig Leben: verschlafene Strassenkehrer fahren ihre Karren ins Depot, Wandervögel schleppen Rucksäcke und Gitarren zum nahen Bahnhof.
Die Studentin seufzt. Bald muss Detlev Themal kommen – abermals wird Helga einer Ballonfuchsjagd auf Motorrädern zuschauen: zum dritten Mal und im dritten Jahr. So lange nun ist sie Doktor Themals ständige Begleiterin – seither wird die schon aus Kindertagen bestehende Freundschaft übertönt von jenem purpurdunklen, alles durchdringenden Klang. Helga Hillesen weiss: ein viertes Mal wird sie nicht mit auf die Fahrt gehen. Nun neigt eine hohe Empfindung sich zur Erde zurück wie die Flugbahn eines Geschosses, das steil zum Himmel stieg. Wenn Helga doch mit Detlev reden könnte! Im Alltag ist er zermürbt und abgehetzt von seiner nie rastenden ärztlichen Tätigkeit – und am Sonntag muss sie ihm die Ruhe und Ausspannung gönnen – –
Der Klubwagen faucht heran; am Kühler flattert der graue Wimpel des D. M. C. mit dem eingestickten silbernen Totenschädel.
„Du siehst müde aus, Detlev –“
„Komm – steig ein, es ist schon sehr spät.“
Und alle innigen Worte und Gedanken verblassen vor Doktor Themals knapper Geste, mit der er zur Eile mahnt. Die Gummis rollen, unter Bahnüberführungen donnert der Hall des Motors auf. „Hei! Sportwart bin ich heute! Aber wieder eine Nacht fast ohne Schlaf, Helga! Um elf riefen sie mich zu einer Sterbenden in die Charité hinüber, ich kam erst zwei Stunden nach Mitternacht heim – und um halb vier weckte mich Thomas ...“
„Lieber –“ bittet sie, „du solltest dich an den Klub wenden, dass er dich von deinem Ehrenamt entbindet. Es gibt andere, die nicht so überlastet sind wie du –“
Detlev höhnt. „Wenn es nach dir ginge, so müsste ich wohl auf diese einzige Freude und Freiheit verzichten ... Aber mir genügt zum Ausschlafen die Ewigkeit, wenn ich tot bin –“
Helga kennt diesen Fanatismus: überall setzt Detlev Themal sich schonungslos ein – und das, was er Erholung nennt, ist nur eine andere Form der Arbeit und Anspannung aller Sinne. Heute wird er im Klubauto die Fuchsjagd seiner Kameraden leiten und überwachen – mit dem Präses Major von Gulbrow teilt er sich ferner in die Leitung des Sommerfestes, das für den Abend geplant ist. Eine riesenhafte Seele, mächtig dem Irdischen zugewandt, fordert nur ein Geschenk von ihrer Zeit: Tätigkeit –
Und so kann Helga auch diesmal den Freund, den Geliebten nicht behelligen mit ihrer Qual und Angst, mit der drängenden Sehnsucht. Was tust du – bin ich nicht mehr in deinen Gedanken, wendest du dich ganz von mir ab? Aber sie sagt es nicht – sie schaut in sein zugeriegeltes Gesicht: eine Mensurnarbe züngelt sich auf seiner Stirnkante, sonst ist das ganze Antlitz kalt und muskelhart. Ein Streber – sagen die Kollegen und die Studenten; ein Könner! sagen die Professoren. Jeder prophezeit ihm eine Zukunft, die an die Sterne reichen wird – aber keiner liebt ihn. Gut Freund ist er mit seinem Bruder Thomas – doch einzig Helga Hillesen glaubt, dass es sich lohne, Detlev Themal zu lieben ... Viel mehr Leid als Lust bringt diese Leidenschaft, sie fordert ein unablässiges Sichbeugen vor Detlevs kantigem Wesen und Willen. Und dennoch spürt Helga Hillesen in knirschender Angst, dass die Bahn sich senkt. Manchmal sehnt das junge Mädchen sich, Detlev Themal sei noch so jung und kindhaft wie sein Bruder Thomas. Den Werdegang des Freundes erlebt sie seit einem Jahr, seit er bei Geheimrat Jakoby, einem der bedeutendsten Internisten der Gegenwart, Fuss gefasst hat – nun ist sein Stern im Aufgehen nach langem, hartem Kampf um Anerkennung – nun streift Detlev Themal die Schlacken seines Werdens ab.
Helga will sich und ihm den sonnenstrahlenden Morgen eines freien Sportabenteuers nicht durch traurige Gedanken verderben. „Freue dich, Detlev! Und denke heute an nichts als an den schönen Tag. Wird der Geheimrat den Ballon führen – ?“
„Will mir Mühe geben, Helga. Der Geheimrat? Nein – Fräulein Jakoby führt den ‚Eridanos’, ihr Vater lässt sie aber nicht allein im Ballon aufsteigen. Sie hat vor drei Wochen ihr Examen als Ballonführerin gemacht –“
Die Studentin sieht mit klopfendem Herzen, wie Detlevs verschlossenes Gesicht sich aufhellt. Sie wirft ein: „Fräulein Jakoby ist kaum neunzehn Jahre alt –“
„Das schadet nichts! Der Geheimrat steigt immer nur auf, um sich zu erholen. Fräulein Jakoby ist der beweglichere Geist – gib acht, wie sie uns an der Nase herumführen wird.“
Fräulein Jakoby ... Seit mehr als einem halben Jahre beobachtet Helga das. Die Brüder Themal sind häufige Gäste ihres Meisters und Lehrers; an vielen Vormittagen operiert Detlev Themal in der Privatklinik des Geheimrats und bleibt dann zum Essen dort. Und Thomas, der Student, darf zuweilen zur Teestunde bei dem gnädigen Fräulein erscheinen – zum Dank dafür, dass er ihr das Fahren auf dem Motorrade beibringt ... „Ich glaube auch, lieber Detlev: sie wird euch an der Nase herumführen ...“
Ein Seitenblick des Führers streift sie. „Solche Bemerkungen kannst du dir schenken, Helga. Ich jedenfalls bin nicht der Mann, der an der Nase herumgeführt wird.“
„Aber dein Bruder ... Nun – mich geht das nichts an. Ich bin ja jetzt –“
Detlev Themal steuert in die freie Allee hinaus. „Was bist du jetzt –?“
„Lieber,“ lächelt sie, „lass uns die Sonne von Herzen geniessen.“
Schneller faucht der Wagen. Halb sechs Uhr in der Sonntagfrühe! Am Südrand des Feldes bläht sich eine gelbe, vielgeflickte Ballonhülle. Eine Unmenge von Motorrädern steht in einer Reihe aufmarschiert. Am Strassenrand warten gemietete Autos, in denen die hellgekleideten Damen des Klubs erschienen sind. Mit Hallo wird der Sportwart begrüsst. Soeben zeichnen sich Thomas Themal, Frau Moebius und der Klubmeister Kossack in die Startliste. Fahrer auf Fahrer kommt aus Berlin herangeschnurrt und stellt seine Maschine ans Ende der Reihe. Wimpel regen sich unter nickelblitzenden Lenkern. Noch wimmelt die bunte Gesellschaft durcheinander, studiert Karten, prüft die Motoren und schaut dem Zug der Pilotballons nach, die am Füllplatz in Abständen hochgelassen werden und die Flugrichtung am Himmel vorausdeuten. Braunwangige Gesellen, meist in derben Fahrtuniformen, freuen sich über den einzigen Tag der Berufsfreiheit. Sie ziehen ihre Sportuniformen an – zur Antäusarbeit des Alltags holen sie sich neue Kämpferkraft an der weiten, freien, mütterlichen Erde.
„Morgen, Doktor!“
Ein wenig zurückhaltend, aber freundlich reicht Detlev Themal dem Klubmeister die Hand. Der junge Mann ist ihm zu formlos, zu ungeistig, zu eng – jedoch: ein braver Kamerad. „Guten Morgen, Herr Kossack. Glück auf die Fahrt! Werden Sie uns heute den Silbernen Pokal endgültig entführen?“
„Unter uns, Doktor! Wenn ich ihn gewinne, werde ich ihn dem Klub wieder zur Verfügung stellen.“
„Gewinnen Sie ihn mal erst ...“
Höflich zieht der Arzt die schmale, feste Hand der Frau Moebius an die Lippen. Sie ist die zweite Vorsitzende des Klubs, eine hochherzige Kameradin. Mit deutlichem Misstrauen duldet er die Freundschaft zwischen ihr und seinem Bruder. In diesem Fall mag es gut sein, dass Thomas ein Träumer ist, über den Frau Thoras sportgestählte Schönheit einstweilen keine Macht besitzt. Detlev lässt es gar nicht ungern zu, dass sein Bruder offenbar heftig in das junge Fräulein Jakoby verschossen ist. Kann ich begreifen, Brüderchen, kann ich begreifen ...
„Sind Sie traurig, Fräulein Hillesen?“ Seit langer Zeit kennen sich Thora und Helga, sie beide spüren eine Schicksalsgemeinschaft: Jede von ihnen ist mit einem der Brüder Themal innig verbunden. Zwar das Herz, das von Thora Moebius geliebt wird, befindet sich in jäher, stürmischer Entfaltung – aber das andere Herz, in Detlev Themals Brust, verschliesst sich, es hat sich niemals völlig geöffnet.
In den Brillengläsern der Studentin funkelt Morgensonne, der Wind spielt in den Falten des schlichten Staubmantels. Helga Hillesen hat nicht viel Geld – wäre Detlev Themal nicht, so wäre sie niemals Mitglied des feudalsten Motorradklubs geworden. Ihre Armut ist einer der tausend Ringe, mit denen Helga fest an die Erde geschmiedet ist – einer der Gründe, warum sie dem ins Licht fliegenden Geliebten unbequem wird. „Ach, gnädige Frau, das Leben könnte so schön sein – aber nun muss ich den ganzen Tag mit dem quälenden Gedanken kämpfen, dass jemand mich vielleicht als Fessel empfindet, der in den Himmel steigen will ...“
Weithin über das muntere Bild der schlendernden und flirtenden Kameraden gleitet Thora Moebius’ Blick hinüber zum Eridanos, der nun an Stricken in die Höhe gelassen wird; hoch über dem Korb schwankt die gelbe Kugel im Wind. Thora lässt sich nicht ins Herz schauen, sie ist fast ein Jahrzehnt älter als die braunlockige Studentin – „Liebes Fräulein Helga – Doktor Themal hat Sie sicherlich in freundlichen Gedanken zur Fahrt aufgefordert –“
„Ach – eine freundliche Gewohnheit. Innerlich – – – Sie kennen Detlevs Energie nicht. Nun ist er so weit, dass er nach höchsten Universitätskronen greift – und er weiss: dazu braucht er – Protektion!“
Der Mann, von dem sie reden, hat sich bei dem hinkenden Klubpräses gemeldet: Diesem hängt eine Prothese am linken Knie, der Rest liegt in Flandern; man kann ebensogut sagen: Der Major a. D. von Gulbrow liegt in Flandern begraben, ein Rest von ihm – ein Schatten, ein Gespenst – sitzt alltags an einem tintenbespritzten Agententisch: Grundstücksvermittelung, Häuser- und Vermögensverwaltung ... Die beiden Herren sehen die Startlisten durch und begeben sich zum Ballon. Fräulein Jakoby leitet die Beendigung der Füllarbeiten: ein zierlich schönes Mädchen, ungewöhnlich sicher und herrscherhaft, von blühender Jugend geschmückt. Beiseite sitzt der Geheimrat im kümmerlichen Sandgras und sieht vergnügt, aller Verantwortung frei, dem kommandierenden Töchterchen zu. Jakobys Haar ist grau, das Gesicht von Schmissen zersägt, die Stirn von Gedanken gefurcht. In der Charité hat man ihm den Spitznamen „Jupiter“ gegeben; wenn ein anderer seiner Assistenten als gerade Doktor Themal daherkommen würde – Jakoby bliebe ruhig im Gras sitzen, zumal er den Major schon begrüsste. Aber Detlev Themal hat seinem Herrn und Meister so etwas wie Respekt beigebracht.
Korrekt und selbstbewusst legt der junge Dozent flüchtig die Hand an die blaue Sportmütze: Zwischen der Scylla des Untergebenseins und der Charybdis einer Überheblichkeit findet er unbedingt sicher die genaue Linie. Ein Herrenmensch. Lächelnd reicht Ilse Jakoby ihm die schlanke Hand.
Seltsam – denkt der alte Major mit einem Frösteln – sie lächeln sich an ... Vor Ilses Brust hängt ein Feldstecher, mit dem sie den grossen und den kleinen Pilotballons nachschaut. Geheimnisse birgt der schöne Morgen in den gläsernen Lüften, nach Südwesten zieht milder Bodenwind, fast nach Osten treibt die Höhe. Ein Wetter, wie der D. M. C. es sich besser nicht wünschen könnte für seine Fuchsjagd.
„Gnädiges Fräulein!“ sagt der Sportwart Themal, „Sie werden gebeten, zunächst ganz niedrig über dem Boden zu bleiben, bis Ihre Verfolger aus dem Stadtgebiet herausgekommen sind. Sonst geht unseren Jungen der Ehrgeiz durch, und es hagelt Strafmandate. Ich werde vom Klubauto aus eine Leuchtrakete abschiessen – das soll Ihr Zeichen sein: Hohe Jagd!“
„Sie dürfen sich auf allerlei Überraschungen gefasst machen, Doktor Themal ...“ kündigt Ilse an.
Der Geheimrat lacht behaglich.
„Um so schöner!“ sagt Detlev Themal. „Sie können oben in der Luft herauf- und heruntergehen, wie es Ihnen passt. Sie dürfen sogar eine Zwischenlandung machen. Möglichst genau nach zwei Stunden landen Sie dann an der ersten besten Strasse. Wer von den Motorradfahrern als Erster den Korbrand nach der Landung berührt, dem überreichen Sie wie im vorigen Jahr den Fuchsschwanz.“ Aus der Rocktasche zieht Detlev einen richtigen roten Fuchsschwanz hervor, der schon die meisten Haare verloren hat. „Sind Sie fertig, gnädiges Fräulein? Glück ab!“ Jakobys besteigen den Korb. Leicht klettert das Fräulein, schwerfälligen Leibes zwängt sich der Geheimrat zwischen den Stricken hindurch. Detlev Themal eilt zu den Kameraden zurück und setzt eine Trilleflöte an die Lippen, ein gellender Pfiff schrillt über das weite Feld. Schon wiegt Fräulein Jakoby den Ballon ab.
Das hohe Sportabenteuer beginnt! Zwei Meter über der Erde schwimmt der Korb, Sand gleitet herab – langsam, ruhevoll steigt der alte Ballon ins Strahlende empor. Als er den Boden verlässt, als die Arbeiter die letzten Stricke freigeben und mützenschwenkend ihr „Glück ab!“ schreien, greifen die Fahrer an die Hupen und Hörner der Maschinen, und ein ohrenbetäubendes Tuten, Tönen und Schnarren grüsst die entschwindenden Luftschiffer. In den Lärm hinein hämmern schon die ersten Motoren Ungeduldiger – es ist ein würdiger Aufstieg! Auf die sanften Fittiche des Morgenwindes wird der Eridanos genommen, in Baumhöhe treibt er westwärts auf die grosse Schar der Motorfahrer zu, hebt sich ein wenig – segelt hoch über den Köpfen dahin.
Ilse Jakoby beugt sich über den Korbrand und schaut hinab auf den versinkenden Boden. Fahrtlust glüht in den braunen Gesichtern der Fahrer. Drunten steht die Meute in einem langen Glied, sauber ausgerichtet, ein jeder links neben seiner Maschine – achtunddreissig Soldaten der Schnelligkeit. Doch einen Augenblick darauf verwandelt sich das straffe Bild der Harrenden in ein regellos voranflutendes Chaos. Zur Strasse faucht das Klubauto – hinter ihm her die wilden Jäger. Dann sammelt der Major auf dem verlassenen Startfeld die Damen des Klubs und bringt sie zur Bahn. Er wird sie nach Klein-Machnow führen, in seine Villa; die berühmte Gastfreundschaft der Majorin wird Triumphe feiern. Dort wird der ganze Klub sich nach der Jagd versammeln. Sehr gern wäre der Major im Auto dem Ballon hinterdrein gefahren, aber er fügt sich vergnügt in die angenehme Aufgabe, während eines Vormittags für ein gutes Dutzend fröhlicher, eleganter junger Damen zu sorgen. –
Weit schon, fern über den Dächern, treibt der Eridanos; Ilse Jakoby lässt ihn mit dem langsamen Bodenwind schwimmen. Dann schweben sie über Teltow, dann rast unten auf freier Landstrasse die Schar der lärmenden Jäger daher. Sie haben sich schon verstreut, einige befinden sich gen Süden strebend auf der Zossener Strasse – das Gros hält sich möglichst dicht unter dem Ballon.
Ilse Jakoby ist nicht eingespannt in den erbarmungslosen Lebenskampf. Ihr scheint das, was sich da unten vollzieht, ein harmlos fröhliches Spiel. Dazu das prickelnd süsse Gefühl: All die jungen Herren sind hinter mir her ... Auch fünf junge Damen steuern eigene Maschinen unter den Achtunddreissig, aber man kann sie nicht aus dem Schwarm herausfinden.
Der Geheimrat weiss besser, wer die da unten sind; er lehnt über dem Korbrand und schaut zu den knatternden Gesellen hinab, die zum Greifen nah unter ihm fahren. Kaum vierzig Meter hoch treibt der Ballon im südwestlichen Wind. Drunten arbeiten durchtrainierte Körper spielend leicht unter den Stössen der elenden Strasse; Knie, die sich an die Tankkästen schmiegen, federn die ganze Gestalt ab. Braune Gesichter blicken ehern ruhig fahrtvoraus – hinter den Brillen verbergen sich Augen, in sich gekehrt und von Lebensleuchten erfüllt.
Mit einer gewissen Ergriffenheit betrachtet Jakoby die straffen, sportgestählten Menschen: Die alle werden sich morgen über Aktenberge, Geschäftsbücher und Schreibtische beugen, keiner kann rasten im Alltag. Nun erjagen sie sich einen Zipfel köstlicher Freiheit. Solche Morgenstunden, windesselig durchbraust in eine taufrische Welt hinein, dünken denen da unten Zugaben an das Mass des Lebens, Geschenke der unerbittlichen Natur an die verrinnende Jugend oder an die Lebensreife. Diese Beglückten werden sich am Montag mit verzehnfachter Lebensinbrunst in ihren Beruf hineinstürzen – wach und durchgerüttelt, während die Kollegen den Sonntag verschlafen oder in zahmen Spaziergängen vertrödelt haben. Glücks übergenug, wenn solch ein Tag die Ketten zerbricht.
Niemals kann der Geheimrat allein im Ballon aufsteigen; seine Hände sind von Röntgennarben völlig zerfressen und derartig empfindlich, dass er in Augenblicken der Gefahr nicht imstande wäre, die schweren Sandsäcke vom Haken zu heben. Sogar beim Operieren kämpft sein zäher Wille mit heftigen Schmerzen, wenn Jakoby die Messer und Zangen bedienen muss. In spätestens einem Jahrzehnt werden die Instrumente aus den kraftlosen Händen des meisterhaften Chirurgen sinken. Kommt dieser Tag, so wird Jakoby dankbaren und kühlen Herzens sich die Mündung einer Pistole an die Stirn setzen: Ich habe gearbeitet, ich war in meinem Kreis Schöpfer meiner Zeit – Ehre und Wohlstand lohnten die Mühe – ich habe gelebt – –
Drunten im Klubauto streckt Helga Hillesen eine Leuchtpistole in die Luft, der gleissende Strahl einer Rakete fährt schräg in den Himmel. Die Jagd geht auf! Sekunden später wuchten zwei pralle Sandsäcke vom Ballonkorb nieder und knallen in ein Weizenfeld – senkrecht himmelan schiesst der Eridanos. „Ilse!! Wie oft soll ich dir sagen, dass es unbedingt verboten ist, die vollen Säcke abzuwerfen. Schütte den Sand doch aus –“
Im eiligen Steigen kitzelt der Wind von oben nach unten. „Ich werde die beiden Säcke bezahlen, Papa. Unter uns war bloss ein Getreidefeld.“
„Das darfst du nicht, Kindchen. Wer Sport treibt, soll die Sportgesetze achten –“
„Ach, Papa –“ grollt sie im schwankenden Korb, „musst du denn immer auf dem Katheder stehen – ?“
Am Rande der hingelagerten Tiefe glänzen Potsdams Türme im Dunst, ganz weit zurück liegt Berlin. Langsam dreht sich der Ballon; wo er schwebt, scheint die Achse der Welt zu sein. In fünfzehnhundert Metern fast gen Osten treibend, entzieht sich der Eridanos seinen enttäuschten Verfolgern. Jakoby und seine Tochter lehnen vergnügt über dem Korbrand und sehen zu, wie die Masse der Motorradfahrer ratlos auf den Südweststrassen anhält; endlich fährt drunten der ganze Schwarm zurück und biegt in einem Dorf gen Osten ein. Ilse lacht: „Sie sollen nur kommen! Wenn wir sie bei Zossen haben, gehen wir wieder herunter. Später machen wir eine Zwischenlandung und locken unsere Jäger ganz von den Strassen weg ...“
Das Wild schlägt Haken und narrt die Meute ...
Auf der Südstrasse hält das Dreigestirn Themal-Moebius-Kossack die bewährte Fahrtbrüderschaft, solange es angehen mag. Am Himmel treibt der Eridanos schräg auf die Landstrasse zu. Der Klubmeister schlägt vor, dass man sich noch weiter östlich entferne. „Das kenne ich –“ sagt Thomas Themal, „die kommen gleich wieder herunter, und der Bodenwind geht Südwestsüd.“
„Schön. Macht’s, meine Lieben. Ich meinerseits verziehe mich an die Spreewaldgrenze. Sicher – dort werden sie heruntergehen!“ Er winkt, seine rotbraune, schwere Maschine mit den beiden Scheinwerfern knattert in eine Strasse zur Linken.
Mitten in Thoras fahrtseliges Herz fällt eine Stunde köstlichster Einsamkeit mit dem Freund. Dem Klubmeister gönnt sie den Sieg – denn jener liegt in den Fesseln eines ungeliebten, durch Familientradition aufgezwungenen Berufes, nur im Sport blüht diese graue Seele auf, bedeckt sich mit den Farben einer sauberen Lebensfreude. Doch Thomas Themal nimmt das Leben überall von der schönsten Seite – ihm bringt der Tag Glücks genug. Also Thomas – gönne dem Kameraden seinen Pokal – – aber wenn du ihn dir holst, so will ich mich freuen für dich.
Die Hände fest um die Lenker gespannt, Zündung und Gasgemisch aufs Optimum regulierend, ziehen die zwei Motorkameraden in die Heide hinein und an Forsten vorbei. In der schnellen Fahrt donnern die Motoren, und die Maschinen sind schon vollkommen staubbedeckt. Solche Fahrt ist eine Sonntagsandacht von besondrer Weihe, zugebracht in der einen, grossen, einigen Kirche Gottes! Dazu singen die beiden Motoren die tiefe Grundmelodie gleich einem Orgelbass – ein ganzer Chor von Stimmen klingt hinein: Das Schwirren der Ventile, das Summen des Dynamos – – dazu singt des Studenten Blut in Lebensjauchzen!
Sportkameradschaft, wundervolles Bündnis unserer Zeit! Die Mucker wissen es nicht – noch singen uns keine Lieder davon. Man lernt es nicht kennen hinter dem Ofen, nicht im schwülen Tanzsaal oder im trägen Sand. Aber wo der Ski lange Strähnen in den Schnee reisst – wo Hacke und Seil an senkrechten Felsen herauftasten – wo rastlos hämmernde Motoren um die Wette sausen – – dort findest du die Blume der Sportkameradschaft. Stürzest du, so will ich dir helfen – lachst du über Gefahren und Mühen, Kameradin, so will ich Gefahr wie Mühen und dein Lachen herrlicher mitempfinden. Und dass du schön bist und ein junges Weib, das schwingt nur an mein Ohr wie ein ferner, seliger Gesang.
Thora Moebius weiss: So empfindet Thomas für sie. Solange sie neben dem Freund am Steuer ihrer Maschine sitzt, mildert sich in ihrer Brust die sengende Flamme. Wäre nicht zwischen ihnen die Sportkameradschaft – es wäre nicht zu tragen für Thora. Sie hegt und hütet ihn mit ihrer Seele, kühner und männlicher reift sein Herz. Sie weiss, dass alle Wege versperrt sind – aber sie wartet mit einem starken Mut, dass er eines Tages verwandelte Augen zu ihr aufschlagen wird: Du bist es – –
Dann – dann – – Weiter kann Thora noch nicht denken –
Doch mit denselben Augen, die einst erwachen werden aus dem Traum des Kindseins, blickt Thomas Themal immer wieder zur Höhe hinauf, wo der Eridanos im Blauen hängt. „Das ist heute eine besondere Wettfahrt, Thora! Einen Becher und eine Klubmedaille – und privatim ein Herz für mich. Darum jagen wir!“
Droben im hohen Ballonkorb späht Ilse Jakoby nach ihren Verfolgern. Jetzt befindet sich die Masse der Jäger ganz weit im Osten, viele sind sogar dem Ballon schon über die Zossener Südstrasse hinaus gefolgt. Jetzt schiesst tief, tief unter dem Ballon das Klubauto über die staubige Landstrasse –
Jetzt zieht Ilse Jakoby kräftig an der Ventilleine. Der Eridanos fällt. Sausender Wind kitzelt von unten nach oben, scharfer Druck presst die Ohren. Der Geheimrat hat die Sandschaufel in der Hand und bremst zum Zorn seines Töchterchens den scharfen Fall. Tiefer, tiefer! Jetzt schreibt die Fahrt schon einen Bogen nach Süden, nun hängt der Ballon hundert Meter hoch über Waldgipfeln, hebt sich ein wenig und treibt nach Südwesten. Alles, was nach Osten gefahren ist, kehrt abermals um und folgt lachend und wütend dem geschickten, fliegenden Fuchs.
Dicht vor den surrenden Motoren Thomas Themals und der Frau Thora Moebius kreuzt der Ballon zum zweitenmal hoch über die Südstrasse – südwestlich segelt er, lautlos und riesenhaft wie ein Fabeltier. Ilse Jakoby hält den linken Arm in die Stricke gefasst, Sonne blitzt auf ihrem blossen Blondhaar – spöttisch schwenkt sie den Fuchsschwanz zu den Fahrern hinunter.
Der Student und seine Kameradin halten an. Thora zerrt eine Karte hervor und stellt mit zwei Blicken fest, dass hier südwestlich nur Feldwege führen. Im Augenblick darauf hetzen und jagen die beiden Fahrzeuge auf Zossen zu, ganz weit in den Süden. Dort biegen sie ein – und auf elenden Feldwegen rattern sie immer näher gegen den Eridanos, dessen Korbrand jetzt mit des Geheimrats sachkundiger Hilfe wenige Meter über den wiegenden Ähren eines Erntefeldes im trägen Bodenwinde schwebt. Thomas Themal prescht voraus, er achtet nicht auf die schleudernde, über hartgetrocknete Wagenspuren stampfende Maschine. In den Fussrasten fängt er beinahe stehend die furchtbaren Stösse des Feldwegs ab. Heran muss er als Erster an den Ballon – muss den Silbernen Pokal gewinnen, muss als Sieger vor diesem Mädchen stehen ...
Er befindet sich noch mehr als einen halben Kilometer von dem Eridanos entfernt und biegt rücksichtslos auf ein Heideblachfeld ein, als der Korb sacht und mit kaum merklichem Stoss auf den Boden aufsetzt. Zugleich sieht Thomas Themal, wie mitten aus einem Wald heraus ein Motorrad über die Wiese rast. Verdammt – Meister Kossack! Der Hutfabrikant liegt fast über dem Lenker. Der Eridanos sitzt bombenfest am Boden ...
Ilse Jakoby zerrt zwei Sandsäcke los und stellt sie auf den Korbrand – die soll der Geheimrat mit den kranken Händen festhalten. Das Töchterchen selbst hängt sich stöhnend und lachend zwei weitere Säcke in die schlanken Finger. Als Ernst Kossack etwa hundert Meter entfernt ist, stürzt er über den Löchern eines Karnickelbaus. Er lässt die Maschine liegen und rast mit Riesenschritten auf den Ballon zu. Von der anderen Seite kommen Thomas Themal und weit hinter ihm andere Kameraden fahrend über das Blachfeld daher. Schon streckt der Klubmeister in keuchendem Lauf siegtrunken seine Hände aus – –
Da plumpsen vier Sandsäcke über den Korbrand, wie eine riesige Kanonenkugel schiesst der Eridanos in die Luft ... „Nehmen Sie die Säcke mit –!“ höhnt eine helle Stimme aus der Höhe. Jakobys mächtiges, dröhnendes Spottgelächter verklingt im Blauen ...
Vor vier umgestürzten Sandsäcken versammelt sich die Schar der knatternden Helden. „So eine Hexe!“ schimpft der Klubmeister. „Noch zehn Schritte, dann hätte ich meinen Pokal gehabt ...“
Thomas Themal lacht zufrieden, schüttet die Sandsäcke aus und stopft die Hüllen in seine Packtaschen. Zwei Augenblicke darauf fegt Ernst Kossack mit tanzenden Rädern vorbei zum Feldweg.
Allgemeine Ratlosigkeit. Wo ist hier eine anständige Strasse? Wie lange bleibt der Ballon noch oben?
Der Geheimrat hat den leichtsinnig sausenden Aufstieg mit dem Ventil abgebremst: „Nicht zu hoch, Ilse – in fünfzehn Minuten müssen wir herunter –“
Das Mädchen frohlockt: „Haft du eben den jungen Herrn gesehen, Papa – nicht den langen, der zu Fuss lief – den anderen, der als nächster auf seinem Motorrad herankam? das ist der junge Themal –“
„Themal? Ich denke, mein Assistent fährt mit dem Auto –“
„Ich meine den jüngeren Themal, den Bruder –“
„Doktor Themal hat einen Bruder? Seit wann denn? Weiss ich ja gar nicht –“
„Aber Papa!! Der jüngere Themal ist schon ein paarmal bei uns zum Tee gewesen, ausserdem sitzt er täglich in deinem Seminar –“
Hoch und weit wird der Ballon südwestlich über Äcker und Felder hingeweht. Durch die friedliche Sonntagmorgenstille tönt das Motorensurren der vollkommen zersprengten Jägerschar. „Ein junger Themal? Es kann sein, dass ich mich dunkel erinnere. Was ist denn mit ihm?“
Das Töchterchen errötet leicht. „Was an mir liegt: der soll als Erster an den Ballon ...“ Wenn es möglich ist, so will Ilse dem jüngeren Bruder Doktor Themals eine kleine Gnade erweisen. Der Student ist sprudelnd lustig, Ilse mag ihn sehr gern – auch wenn er schwerlich einen Vergleich mit dem grossen Bruder aushält. Thomas hat ihr in den letzten Wochen das Motorfahren beigebracht, und in etwa Monatsfrist wird Ilse Jakoby ihren Führerschein erhalten. Ein etwas unbequemer Sport. Sie hat sich vorgenommen, ihn dennoch zu erlernen. Der ältere Themal liebt dies lärmende, stinkende, schmutzige, unelegante Fahrzeug mit unbegreiflicher Zähigkeit – er wirbt und arbeitet dafür, auch wenn er seit einem schweren Sturz nur noch selten darauf fährt. Detlev Themal hat zu Ilse Jakoby gesagt: „Sie sollten es auch lernen, Sie würden mir eine grosse Freude damit machen.“ Detlev Themal ist ein merkwürdiger Mensch, weit über seine zweiunddreissig Jahre hinaus gereift; er besitzt eine schier hypnotische Willensgewalt, seine Lebensbahn wird zehnfach höher, ehrenvoller und glänzender aufsteigen als die aller anderen Männer, die Ilse Jakoby kennt ... Auch der Vater glaubt es.
„Wir müssen herunter, Ilse!“
Sie prüft die Armbanduhr, deren Brillanten im Sonnenlicht auffunkeln. Schade – die Hülle ist noch fast ganz prall, und etwa zehn Sandsäcke hängen noch an den Korbseiten. Also Ventil – sacht steigt der Ballon herab. Etwa drei Kilometer voraus liegt quer zur Flugbahn ein breiter Strassenwinkel – dazwischen ein Kartoffelfeld mit vertrocknenden, braunen Trieben, also ein schöner Landungsplatz, man wird nicht viel Flurschaden anrichten. Ilse Jakoby drückt den Ballon herab und fängt ihn in hundert Meter Höhe – bindet auch das Schlepptau los.
Ein Motor surrt fern. Den Sinkenden entgegen wirbelt eine Staubwolke. Ist es der junge Themal? Nein, der hat einen gelben Fahrtanzug an. Jetzt senkt die Bahn des Eridanos sich so steil, dass der Geheimrat einen halbvollen Sandsack ausschütten muss. Das Schlepptau schwappt zwischen Obstbäumen hindurch quer über die Landstrasse. Der Klubmeister Kossack auf seiner rasenden Maschine kann nicht mehr vor der lebendigen Hanfschlange stoppen, sein Vorderrad wird zur Seite gerissen; der Fahrer stürzt aus dem Sattel, seine Maschine überschlägt sich. Aber ehe die beiden entsetzten Zuschauer in den Lüften noch einen Gedanken hätten fassen können, springt der lange Kerl wieder auf die Beine, reisst das Vierzentnergewicht von Stahl und Eisen vom Boden auf und rennt es in Gang, um den Strassenwinkel zu umfahren. „Landen, Ilse, landen!“
„Drüben, Papa – an der anderen Strasse!“
Scharf weggeweht, dreissig Meter hoch über gilbenden Sträuchern, treibt der Eridanos dahin. Auf der Strasse lässt ein Motorradfahrer seine donnernde Maschine durch den Strassengraben klettern, schwingt sich wieder in den Sattel und prescht in schneidigem Ritt über die steinhart getrockneten Kartoffelfurchen – dem Ballon entgegen. Dann wendet er, fährt unmittelbar hinter den Landenden motorlärmend drein. Ilse ruft: „Vorsicht, Herr Themal, Vorsicht!“
Ein zweiter Fahrer schiesst von der Strasse daher. Dicht vor Thomas Themal schlägt der Korb auf den Boden, tanzt aber im nächsten Augenblick wiederum haushoch in der Luft. Warnungsrufe schallen. Abermals prallt der Korb herab – im gleichen Augenblick bauscht sich die Hülle, mitten in der vielgeflickten Seide öffnet sich die Reissbahn, das Gas entweicht, schlaff und tot senkt sich die stolze Hülle des Eridanos zur Seite.
Zwei Sekunden darauf knattert Thomas Themal heran und berührt den Korbrand, noch ehe die beiden Luftschiffer sich aus dem Gewirr der Stricke befreit haben. Im Sattel sitzend stösst der Student einen schrillen Jubelruf aus und schwenkt den Fuchsschwanz, den Ilse Jakoby ihm gereicht hat. Ernst Kossack befindet sich noch ein Stück entfernt in wilder, halsbrecherischer Fahrt – er hält an, zieht seine Maschine auf den Ständer, schlendert ingrimmig an den Korb heran und sichert sich den zweiten Platz. „Glückwunsch, Thomas – nun hast du den Pokal –“ presst er mit zornigen Lippen hervor und quetscht wütend dem Kameraden die Hand.
„Vielen Dank, Ernst,“ flüstert der Student, „musst nicht traurig sein. Im nächsten Jahr kannst du ihn dir wiederholen.“ Dann hilft der Sieger seiner lieblichen Beute aus dem Korb. Am Rande der Strasse saust das Klubauto heran, Doktor Themal kommt gelassenen Schrittes daher über das Feld. Über Thomas’ Augen hinweg lächelt Ilse Jakoby dem anderen Themal entgegen –
*
Der Garten des Klubheims ist so angelegt und gehalten, wie viele Gärten in der Grunewaldkolonie: ein mächtiger Rasen, jetzt in der Dämmerungsstunde von unzähligen Lichtchen festlich erhellt – ein Blumenrand, ein Springbrunnen, Jasminstauden überall – und hier und dort in schweigender dunkler Höhe die Kiefern. Nackte Stämme werfen purpurn das Licht zurück, das aus den Fenstern und aus den bunten Lampions heraufglänzt.
Vor der Freitreppe sammelt sich ein Menschenschwall: auf den Ruf des Majors strömen junge Herren im Smoking und junge Frauen in hellen Sommerkleidern herbei. Nur die tiefgebräunten Gesichter und die Klubabzeichen an den Seidenaufschlägen und im Ausschnitt erinnern daran, was diese Menschen als innerstes Erlebnis pflegen.
Herr von Gulbrow ruft die Sieger auf: „Thomas Themal!“ Lachend kommt der Student die Treppe herauf; schwarz und glatt sitzt der Smoking um seine breiten Schultern, das braune Gesicht strahlt, die Doppelreihe der prachtvollen Zähne blinkt.
Droben steht auf einem Tischchen das Prunkstück des Klubs: der Silberne Pokal. Eingraviert darin die Namen vieler früherer Sieger, zweimal hintereinander Kossacks Name. Ein Pfropfen knallt. Ilse Jakoby füllt den Pokal mit Schaumwein und reicht ihn dem diesjährigen Sieger.
„Ihr Ausweis, Herr Themal?“ schmunzelt der Präses.
„Hier der Fuchsschwanz, Herr Major!“
Leicht ist das Kleid der anmutigen Ballonführerin, blühend steigt der Hals aus dem Spitzenschaum des Ausschnitts. Aus Ilses Händen empfängt Thomas die funkelnde Trophäe – ferner eine goldene Klubmedaille zu seinen drei silbernen – letztens einen Gutschein über hundert Liter Benzin und zehn Liter Öl: Stiftung des Geheimrats Jakoby. Die Sitte verlangt es, dass Thomas Themal nun einen Trinkspruch sagt – unvermittelt ruft der Student: „Heil allen schönen, frischen Kameradinnen, die mit uns Seite an Seite über dem Motor streiten! Der Himmel bewahre eure weissen Hände vor Öl und Maschinenschmutz – er sende euch zur rechten Zeit einen guten Kameraden, der euch bei der Panne hilft – er bewahre eure zarten Glieder vor Sturz und Bruch. Allen braven Motorfahrerinnen trinke ich zum Wohl!“
Er setzt den Pokal zu einem langen Schluck an die Lippen. Als nächster empfängt Ernst Kossack seine Medaille; viel eleganter ist er gekleidet als der jüngere Freund, doch mit Ingrimm sieht Kossack das schöne Siegesstück in die Hand des anderen übergehen. „Was soll ich sagen? Nicht Benzin treibt den ehernen Motor – unser Herzblut treibt ihn! Ich trinke auf das Motorrad – auf unsern eisernen Kameraden, um den wir nicht vergeblich werben, wenn uns nur das rechte Motorherz in der Brust schlägt. Also hinaus in die Welt, sonst ist das Leben nichts nütze –“
Abermals hat das Dreigestirn der besten Fahrer den Sieg an sich gerissen: für zwei, drei Jahre behaupten die Dauersieger ihren Platz, dann stürmen neue und junge herauf und verdrängen die früheren Sieger. Dritte ist Thora Moebius.
Mit der gleichen Anmut und Sicherheit, von der sie draufgängerisch und verwegen im Sattel der Maschine vorwärtsgetragen wird, steht sie jetzt in einem weissen Spitzenkleid. Jeder, der sie sieht, hält sie für ein junges, ungewöhnlich sportgestähltes Mädchen – aber Thora macht kein Hehl aus ihren dreissig Jahren. Auf den Spruch des Freundes antwortet sie mit einem Gruss an die Kameraden: „Der Himmel bewahre eure wilden Seelen. Geht nicht auf die Rennbahn, begnügt euch mit der Weite zwischen Wäldern und unter Wolken! Ihr Soldaten der Schnelligkeit – fahrt in Ehren überall dort, wo gute Strassen durch die schöne Welt eilen!“
Schweigend und sinnend steht der Präses am Treppengeländer. Viele Gesichter sah er im Klub kommen und gehen. Was nach dem Kriege sich hier vereinte, ist meist treugeblieben. Aber was früher hier dem Motor huldigte – in jener Zeit, als man noch alle zehn Kilometer aus mitgeführten Flaschen Öl ins glühende Kurbelgehäuse giessen musste – die Kameraden jener Zeit sind fast alle verschollen und zersprengt: die einen sind grau geworden, haben Familie und Arterienverkalkung bekommen – die anderen liegen unter den Schlachtfeldern Europas und träumen dem Traum von der deutschen Freiheit nach ... Von Gulbrow gründete vor fast zwei Jahrzehnten den Deutschen Motorrad-Club – und zwar mit einem Regimentskameraden, Leutnant Gebhard, der während des Krieges im Luftkampf fiel. Dieser war das einzige Kind eines schwerreichen Industriekapitäns – und zum Gedächtnis des toten Sohnes wurde die wundervolle Villa im Grunewald dem D. M. C. testamentarisch als Klubheim übergeben ...
So war es, so begann es. Der Grübelnde schaut über die fröhlichen Gesichter der Jugend. Auch ihr werdet graue Haare bekommen, aber solange ihr euch zum wilden Heer der Schnelligkeit bekennt, so lange wird Herz und Körper jung bleiben – ! Der Präses ergreift den Pokal und spricht seinen Trinkspruch: „Wir sammeln die wagemutige Jugend, die sich zu unseren Vorbildern bekennt. Vaterlandsliebe, sportliche und ehrenhafte Gesinnung treiben wir aus Liebe zur Sache – und wer recht in diesem Boden wurzelt, der wird seinen Mann im Leben stehen.“
Dann ist der offizielle Teil vorbei. Im Speisezimmer rollen eifrige Hände den Teppich zusammen, ein Kamerad setzt sich ans Klavier, schon schleifen Sohlen zum Takt. Dicht beieinander auf dem glatten Parkett schweben Detlev Themals und Ilse Jakobys Füsse. Der Geheimrat steht behaglich mit einigen Herren in der Tür des Rauchzimmers und blickt verliebt zu seiner Einzigen. Seinen jungen, wortkargen Assistenten schätzt er sehr hoch – nur etwas unheimlich ist ihm, wenn er dies glatte, kalte, kluge Gesicht mit der Mensurnarbe auf der Stirn so nah an Ilses hellem Köpfchen sieht. Aber dem Mann ist eine bedeutende Zukunft sicher – Jakoby kennt diesen Menschenschlag: diese zähe, rücksichtslose, jeden Widerstand aus dem Wege räumende Energie, diesen eisernen Fleiss. Es bleibt ein kleiner Neid in der Brust, ein kühles Wissen: in zwanzig Jahren steht Der an meinem Platz – und wo bin ich dann? In der kühlen Erde? Emeritiert?
Flüsternde Musik – schwebende Schritte – „Also fahren kann ich jetzt, lieber Doktor! Fehlt bloss noch Führerschein und eigene Maschine ...“
„Sie sind ja ein ganz schneidiges Mädelchen! Aber was wird Ihr Vater dazu sagen?“
Sechs Schritte – Verharren. „Mein Vater? Den bekomme ich schon herum! Der muss alles tun, wie ich es kommandiere. Ich will mich dann im Oktober an der zehntägigen Deutschlandfahrt beteiligen, von der Sie mir so viel Schönes erzählt haben ...“
Detlev Themal bleibt mitten im Tanze stehen und misst das zierliche Fräulein erstaunt lachend mit den Augen. „Sie? Täglich dreihundert Kilometer? Das wird der Klub niemals erlauben. Und Ihr Vater schon gar nicht.“
„Tanzen Sie doch!“
Wieder legt Detlev entzückt den Arm um ihre schmale Hüfte. Leicht wiegen Knie, leicht wiegen Füsse. Ilse sagt: „Was meinen Vater anbetrifft, so hab’ ich Ihnen ja schon gesagt, Herr Themal: der wird nicht gefragt. Der muss, und wenn ihm das nicht passt, muss er müssen.“
Detlev Themal quietscht vor Vergnügen. So also sieht der Geheimrat in Filzpantoffeln aus: der Gefürchtete der chirurgischen Klinik, der an schlechten Tagen die ganze Welt wie ein ungnädiger Gott behandelt – den die Patienten fürchten, den die Schwestern und Assistenten hassen! Detlev hasst ihn nicht – Doktor Themal ist nicht der Mann, der sich Schikanen gefallen lässt. Und dies süsse Püppchen führt den Bären am Nasenring ... Sie lacht hell auf: „Und der Klub? Könnte der mir die Teilnahme verbieten?“
„Das nicht. Soviel ich weiss, wird die Deutschlandfahrt für alle Fahrer freigegeben, die dem uns übergeordneten Verband oder dem Automobilklub angehören. Ich werde mich beim Major erkundigen. Aber das ist ja barer Unfug, dass Sie dabei mitmachen wollen. Es würde mir allerdings höchst imponieren.“
Die Musik schweigt. Sacht, fast liebkosend gleitet Ilses Arm von Detlevs Schulter. „Ich weiss! Mein Vater sagt, Sie betrachten ein im Jugendübermut gebrochenes Genick als wertvoll für die Menschheit. So schlimm wollen wir’s aber nicht treiben! In den Universitätsferien muss Ihr Brüderchen eifrig mit mir trainieren –“
Detlev flüstert: „Das wird ihm ein Vergnügen sein –“
Die Majorin von Gulbrow – kurz und bündig genannt: die Klubmutter – kommt ins Tanzzimmer und bittet um Schweigen. Wer Lust hat, soll in einen anderen Gesellschaftsraum kommen, wo ein grosser Flügel steht – dort werden Frau Moebius und der junge Themal musizieren.
Puh – Musik – ruhestörender Lärm ... Der Klubmeister Kossack und ein paar andere Böotier nehmen die Billardstöcke und die Schachfiguren in die Hand.
Doch ins Musikzimmer strömt der Kreis der Erlauchten. Thora Moebius und Thomas Themal setzen sich vor den Flügel – auswendig spielt Thora eine Einleitung. Sie beide sind in der Musik so aufeinander abgestimmt, dass der Student ohne ein Zeichen die Tasten übernimmt. Mit seiner tiefen, angenehmen Stimme beginnt er zu singen:
„Pa – Pa – Pa – Papagena – ?“
Dann spielt wieder Thora; sie singt sehr hell:
„Pa – Pa – Pa – Papageno – ?“
Und abermals greift Thomas kräftig in die Tasten. Zu Ilse Jakoby, die, ein Bild der Anmut, dicht neben dem Flügel steht, schwärmt sein huldigender Blick. Seine Stimme jubelt auf:
„Bist du mir nun ganz gegeben – ? –“
„Bitte, sagen Sie Ihrem jungen Bruder –“ flüstert Ilse Jakoby nach der Musik dem Dozenten zu, „dass er mich nicht so anschmachten soll. Mir ist das unangenehm – meinem Vater ist es auch aufgefallen.“
Pärchen schlendern unten durch den dunklen Garten. Nur die Lampions geben Licht. „So allein, Thora? Äh – wollen Sie nicht mit einem schlichten Hutfabrikanten vorlieb nehmen? Der Held des Tages ist anderweitig vergeben ...“
Stumm geht Thora mit dem Klubmeister um das Rondell des erleuchteten Rasens. Oh – Kossack weiss, was sich in diesem verschwiegenen Herzen abspielt. Er ehrt solch tiefes Gefühl – besonders da er selbst keine Macht über dies begehrte, einzig rein geliebte Herz gewinnt.
Jemand geht hastig an ihnen beiden vorbei; in der Dunkelheit erkennt Thora Moebius ungewiss den weissen Flauschmantel. „Fräulein Hillesen? – Wollen Sie denn jetzt schon fort?“
Die Studentin vergräbt ihre bebenden Fäuste in die Taschen: „Ich bin hier nicht gern gesehen. Kein Blick – nicht ein einziges Wort –“
Sie sind ein Stück zur Seite gegangen, damit der Klubmeister nichts verstehen kann. „Liebe Helga – wir mögen Sie doch alle so gern – –“
„Alle, gnädige Frau – ausser dem Einen ... Aber so ist das Herz, dass es alles vergisst, wenn es das Eine verlieren soll.“
Eine Hand streicht leicht über Helgas Wange. „Sie irren sich gewiss, Kindchen. Was sich da oben vollzieht, ist eine unbedeutende Huldigung, die Ihr Freund der Tochter seines Chefs erweist –“
Eine wildwehe Geste. „Unmöglich. Detlev huldigt keinem Menschen, von dem er nichts will. Aber ich mag nicht Zeuge sein, wenn die Freundschaft zwischen zwei Brüdern sich in Hass umkehrt. Und Detlev ist der Mächtige. Der zieht seine Gräben immer enger, immer sicherer – und Fräulein Jakoby wird alles tun müssen, wie er es verlangt. Nun lernt sie das Fahren auf dem Motorrade, obwohl sie viel zu fein und zu zimperlich für diesen kraftvollen Sport ist – und Thomas wird in die Ecke gestellt, wenn er nicht mehr nützlich sein kann. – Auf jeden Fall, Frau Moebius: Ihnen wie mir sind diese Herzen verloren ...“
„Mir – ?“ flüstert die Frau.
Zwei Schwestern küssen sich.