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Ein Gang durch die Gesellschaft

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Walter Rupp SJ

Exkursionen in die Gegenwart

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Hans Graw

Unser Exkursionsleiter, Dr. Wüst, Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschehen und Gegenwartskunde, begann die Exkursion durch die Gesellschaft mit der Feststellung: Die Gegenwart sei weithin ein unerforschtes Gebiet. Eine intensive Beobachtung sei ausgeschlossen, weil sie von Tag zu Tag ihr Aussehen ändert. Man könne immer nur Momentaufnahmen machen. Tragisch sei, dass die Alten in ihrer Vergangenheit lebten und sich von ihren Erinnerungen nicht trennen können, und die Jugend von einer Zukunft träume, die es nicht geben kann.

Da die Zeit nicht stehen bleibt, sagte Dr. Wüst, kann ich Ihnen leider nicht die ganze Gegenwart zeigen, sondern nur die auffallendsten Zeiterscheinungen. Sehen Sie diese Häuser, Parkanlagen und Plätze. Sie möchten gern in unsere Gegenwart und wüssten, weil sie viel erlebten, viel zu berichten: Wer hier wohnte, wer hier vorüberging und was sich da ereignete, wenn wir es nur nicht so eilig hätten. Die Deckengemälde unserer Kirchen würden den Besuchern gern die biblischen Geschichten erzählen, und die Buchstaben unserer Bücher, die uns stumm anzustarren scheinen, würden uns gern auf andere Gedanken bringen, aber wir lassen uns nur selten auf sie ein. Das ist ein Charakteristikum der Gegenwart: Die Zeitgenossen haben keine Zeit. Keine Zeit…? protestierte ich, die Zeit war doch zu allen Zeiten gleich lang: Ein Tag hatte immer vierundzwanzig Stunden, eine Stunde immer sechzig Minuten und eine Minute immer sechzig Sekunden.

Dr. Wüst dozierte, ohne darauf einzugehen, weiter: Die Menschen fliehen vor den vielen Straßen, die in so verschiedene Richtungen führen; vor den Mitmenschen, bei denen man nicht weiß, was man von ihnen halten soll; und vor der pluralistischen Gesellschaft, die sich nie für ein gemeinsames Ziel entscheiden kann. Nur wenige schaffen es, die Zeit anzuhalten und stundenlang im Augenblick zu verharren. Ein weiteres Charakteristikum der Gegenwart sei, erklärte der Gegenwartskundler, dass alle im Widerspruch leben, aber Mühe mit dem Widersprechen haben, und nichts unwidersprochen lassen sollten. Schon die Lehrer und Erzieher redeten pausenlos auf wehrlose Kinder ein, Politiker auf ihre Wähler und Medienleute wie im Trancezustand auf ihre Leser oder Hörer.

Ich kann von mir sagen, sagte ich, dass ich in meinem fünften Lebensjahr das erste Mal dachte: „Ich bin doch ich“! „Ich habe einen eigenen Willen und muss nicht wollen, was andere von mir wollen!“ Dann begann ich, laut Nein zu schreien. So brachte ich schon als Kind meine Umwelt in Verlegenheit. Ein Psychologe gab mir Recht: Es sei erstaunlich, was man durch beharrliches Schreien erreichen kann, mehr als mit Argumenten. Man muss nur beharrlich und laut schreien. Und er fügte hinzu: Erwachsene erliegen dem Irrtum, man sei erwachsen, wenn man sich lautlos einfügt und nicht mehr trotzt. Aber jede Gesellschaft braucht nicht nur normale und ordnungsliebende Bürger, davon haben wir genug. Sie sollte sich auch ein paar 'Verrückte' leisten, die sich nicht so leicht einordnen und an den gewohnten Vorstellungen und Verhaltensweisen rütteln. Denn es gibt immer etwas zu verrücken.

Das Zusammenleben, sagte ich, ist heute vor allem nach einer nicht in Gesetzen festgeschriebenen Hackordnung geregelt. Meist bestimmen die, die ihre Ellenbogen zu gebrauchen wissen. Man gestattet zwar jedem gleichberechtigt mitzureden, aber mehr denen, die eine laute Stimme haben. Kennzeichnend für die Gegenwart, erklärte Dr. Wüst, sei die Neuentdeckung der Willkommenskultur. Kritik an der Migration sei unangebracht. Schon die Germanen hätten sich auf ihrer Völkerwanderung mit den Ureinwohnern, den Kelten, vermischt. Es sei nicht auszuschließen, dass sich in der langen Reihe unserer Vorfahren ein Steinzeitmann in eine Neandertalerin verliebte oder eine Steinzeitfrau mit einem noch nicht humanisierten Gorilla ein Techtelmechtel hatte. Deutsche ohne Migrationshintergrund gab es nie.

Aber, warf ein älterer Herr ein: die Integration ist dennoch ein Problem. Während in unserer Gesellschaft, die ja aus sehr verschiedenen Charakteren besteht: Aus Schwätzern, Unsympathen, Höhergestellten, Besserverdienern oder Besserwissern, jeder seinen Papagei, sein Meerschweinchen und seine Angorakatze sehr liebevoll behandelt, und sich auf seinen Spaziergängen sehr einfühlsam mit seinem Kurzhaardackel unterhält, ja sogar exotische Tiere sich problemlos in die Familien integrieren, bereite ihm der Umgang mit Seinesgleichen große Mühe.

Die Willkommenskultur kann gelingen, sagte unser Gegenwartskundler, wenn mehr Deutsche auf ihr Bleiberecht verzichten, den Einwanderungswilligen ihre Wohnungen zur Verfügung stellen und eine Garantie für eine legale Wiedereingliederung als hochqualifizierte Fachkräfte erhalten, falls ihnen eine Rückkehr mit Hilfe von Schleusern gelingt.

Wenn der Islam, sagte ich, zu Deutschland gehört, steht die türkische Sprache gleichberechtigt neben schwäbisch, sächsisch oder bayerisch. Dann sind Kopftücher und Burkas deutsche Trachten, wie die Lederhose oder das Dirndl. Und Moscheen könnten schon längst ein abendländischer Baustil sein, hätte sich das Abendland nicht Jahrhunderte lang hartnäckig gegen die Türkenherrschaft gewehrt.

Unser Gegenwartskundler sprach die Befürchtung aus, die Zeitgenossen hätten weithin eine Gefangenenmentalität angenommen, wie sie in Haftanstalten vorkommt. Sie geben sich - so wie die Gefangenen - damit zufrieden, sagte er, wenn der Staat für sie sorgt, wenn man von Zeit zu Zeit die Zelle weißelt, ein Fernsehgerät hineinstellt, und das Essen abwechslungsreich und schmackhaft ist.

Professor Wüst lobte noch eine Errungenschaft der Gegenwart: Die Abschaffung der Sklaverei. Es gibt noch Sklaven, widersprach ich. Heute geht man wohl nicht - wie in der Antike - auf den Markt, um sich einen dienstbereiten Sklaven auszusuchen. Man schickt sie auch nicht mehr in Steinbrüche oder auf Galeeren, wo sie bis zur Erschöpfung rudern oder sich auspeitschen lassen müssen, sondern kauft sie für Millionensummen ein und verlangt von ihnen als Gegenleistung nur, dass sie sich mit ganzer Seele einer Sportart verschreiben: Tore schießen, Meisterschaften gewinnen oder auf Rennstrecken die schnellsten Runden drehen. Auf diese Weise können sie sich einen Luxus leisten, den sich kein Nicht-Sklave, ja nicht einmal ihr Herr leisten kann.

Eine Feministin wollte von unserem Gegenwartskundler wissen, ob die feministische Bewegung eine bloße Zeitgeisterscheinung sei. Er erwiderte: Die moderne Gesellschaft habe der Emanzipationsbewegung viel zu verdanken, dass zwischen den Männern und den Frauen kaum noch ein Unterschied besteht, denn viele Frauen haben problemlos das Macho-Verhalten übernommen. Die Unterschiede werden endgültig verschwunden sein, wenn die deutsche Sprache weiblicher wird, weil Frauen sehr viel besser wissen - wie jeder aus Streitgesprächen weiß - was man alles aus der Sprache machen kann. Es ist schon merkwürdig, sagte ich, dass man noch immer ‘das Mädchen‘ und ‘das Weib‘ sagt, als hätten beide kein Geschlecht, und dass man ‘der‘ Mensch sagt, obwohl die Hälfte der Menschheit weiblich ist? Beim Wort Gott, bemerkte ich, sind Theologinnen dabei herauszufinden, ob auch er weiblich ist, kommen aber mit ihren Forschungen nicht recht voran, weil die Entfernungen zwischen hier und drüben doch beträchtlich sind und das Forschen sehr erschweren.

Dr. Wüst kam noch auf eine Zeiterscheinung zu sprechen: die Freudlosigkeit, ich musste ihm aber widersprechen: Das Lächeln ist noch nicht ganz verschwunden, sagte ich, es ist nur auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt: Auf Models, Fernsehansagerinnen und Stewardessen, die manchmal sogar über ihre Dienstzeit hinaus lächeln, denn Weinen wäre ein Entlassungsgrund. Das Lächeln gehört bei ihnen so sehr zu ihrem Gesicht, dass es sich nicht mehr herausradieren lässt. Lächeln kommt nur dort nicht vor, wo die Menschen an ihrem Wohlstand leiden.

Der Gegenwartskundler beendete den Rundgang mit dem Satz. Die Gegenwart ist besser als ihr Ruf. Widerstehen Sie der Versuchung, auszusteigen! Wer vor der Gegenwart flieht, kommt doch wieder dort an.

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