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Unter den gesellschaftlichen Funktionen des Films ist die wichtigste, das Gleichgewicht zwischen dem Menschen und der Apparatur herzustellen. Diese Aufgabe löst der Film durchaus nicht nur auf die Art, wie der Mensch sich der Aufnahmeapparatur, sondern wie er mit deren Hilfe die Umwelt sich darstellt. Indem der Film durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern. Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man »ohnehin« undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, sowenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, »die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken.«835 So wird handgreiflich, daß es eine andere Natur ist, die zu der Kamera, als die zum Auge spricht. Anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft ablegt, so weiß er bestimmt nichts von ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Ist uns schon im groben der Griff geläufig, den wir nach dem Feuerzeug oder dem Löffel tun, so wissen wir doch kaum von dem, was sich zwischen Hand und Metall dabei eigentlich abspielt, geschweige wie das mit den verschiedenen Verfassungen schwankt, in denen wir uns befinden. Hier greift die Kamera mit ihren Hilfsmitteln, ihrem Stürzen und Steigen, ihrem Unterbrechen und Isolieren, ihrem Dehnen und Raffen des Ablaufs, ihrem Vergrößern und ihrem Verkleinern ein. Vom Optisch-Unbewußten erfahren wir erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.

Im übrigen bestehen zwischen beiden Arten des Unbewußten die engsten Zusammenhänge. Denn die mannigfachen Aspekte, die die Aufnahmeapparatur der Wirklichkeit abgewinnen kann, liegen zum großen Teil nur außerhalb eines normalen Spektrums der Sinneswahrnehmungen. Viele der Deformationen und Stereotypien, der Verwandlungen und Katastrophen, die die Welt der Optik in den Filmen betreffen können, betreffen sie in der Tat in Psychosen, in Halluzinationen, in Träumen. Und so sind jene Verfahrungsweisen der Kamera ebensoviele Prozeduren, dank deren sich die Kollektivwahrnehmung die individuellen Wahrnehmungsweisen des Psychotikers oder des Träumenden zu eigen zu machen vermag. In die alte heraklitische Wahrheit – die Wachenden haben ihre Welt gemeinsam, die Schlafenden jeder eine für sich – hat der Film eine Bresche geschlagen. Und zwar viel weniger mit Darstellungen der Traumwelt als mit der Schöpfung von Figuren des Kollektivtraums wie der erdumkreisenden Micky-Maus.

Wenn man sich davon Rechenschaft gibt, welche gefährlichen Spannungen die Technisierung mit ihren Folgen in den großen Massen erzeugt hat – Spannungen, die in kritischen Stadien einen psychotischen Charakter annehmen – so wird man zu der Erkenntnis kommen, daß diese selbe Technisierung gegen solche Massenpsychosen sich die Möglichkeit psychischer Impfung durch gewisse Filme geschaffen hat, in denen eine forcierte Entwicklung sadistischer Phantasien oder masochistischer Wahnvorstellungen deren natürliches und gefährliches Reifen in den Massen verhindern kann. Den vorzeitigen und heilsamen Ausbruch derartiger Massenpsychosen stellt das kollektive Gelächter dar. Die gewaltigen Mengen grotesken Geschehens, die im Film konsumiert werden, sind ein drastisches Anzeichen der Gefahren, die der Menschheit aus den Verdrängungen drohen, die die Zivilisation mit sich bringt. Die amerikanischen Groteskfilme und die Filme Disneys bewirken eine therapeutische Sprengung des Unbewußten.836 Ihr Vorgänger ist der Excentrik gewesen. In den neuen Spielräumen, die durch den Film entstanden, war er als erster zu Hause: ihr Trockenwohner. In diesem Zusammenhang hat Chaplin als historische Figur seinen Platz.

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Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke

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