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1. Kapitel.
Die Kreide-Nullen.

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Harald Harst und ich waren vor drei Tagen nach Berlin zurückgekehrt. Unsere Versuche, in der Umgebung von Schloß Gnir in Schottland irgendeine Spur von Lionel Barring, diesem so äußerst gefürchteten und vielseitigen Verbrecher, zu entdecken, hatten keinerlei Erfolg gehabt. Barring, der ja eigentlich ganz anders hieß, war es geglückt, seine und seiner drei Komplicen Fährte so gründlich zu verwischen, daß wir schließlich die Jagd auf ihn aufgaben. Mochte sich die englische Polizei weiter um diese vier Leute kümmern. Wir hatten Sehnsucht nach unserem behaglichen Heim in der Blücherstraße 10 in Berlin-Schmargendorf. – Der Leser und Freund der Harald Harst-Abenteuer wird diese Sehnsucht begreifen. Das, was wir in Schloß Gnir erlebt hatten, war wirklich für unsere trainierten Nerven etwas viel gewesen. Im vorigen Band, Das Geheimnis der Tokkara-Höhlen, kann sich jeder selbst davon überzeugen.

Nun also wieder daheim – endlich wieder! – Ich atmete auf, als Harald mir in Gegenwart seiner Mutter erklärte, er würde jetzt eine volle Woche faulenzen und keinerlei Aufträge annehmen, mochte selbst der Maharadscha von Haidarabad, oder besser Seine Hoheit der Nizam, ihn mit einer Untersuchung eines »Falles« beehren.

Allerdings – derartigen halben Schwüren Haralds ist nie recht zu trauen. Nie! Kommt dann jemand und trägt ihm eine Geschichte vor, die einige Überraschungen verspricht, so hat er seine selbstgewährten Ferien zumeist schnell gestrichen! –

Das Wetter in diesen Tagen war scheußlich. Der Winter wußte nicht so recht, ob er sich schon verabschieden oder nochmals die Berliner Straßen mit Schnee bedecken sollte, der ja leider infolge der Salzstreuung der Straßenbahnen gewöhnlich recht rasch zu einem lieblichen gelbgrauen Brei wird, vor dem kein Schuhwerk schützt.

So vergingen also wirklich drei Tage völligen Nichtstuns. Wir erholten uns nach Kräften. Ich nahm unheimlich an Gewicht und Umfang zu. – Am dritten Abend saßen wir in Haralds Arbeitszimmer und studierten die Zeitungen. Harst gähnte – gähnte in einem fort, reckte sich, warf halb aufgerauchte Zigaretten in die Aschenschale und benahm sich ganz so wie jemand, der sich sträflich langweilt.

Ich bekam es mit der Angst, denn – diese Anzeichen kenne ich! Ich wußte: er hatte die Ferien satt! Seine wieder ausgeruhten Nerven sehnten sich nach unserer Art von Morphium oder Kokain: nach hetzendem, wildem Erleben, nach Geistesarbeit, nach dunklen Zusammenhängen, in die nur sein Genie Licht bringen konnte. –

Ich hörte die treue alte Köchin Mathilde heimkehren. Sie schmetterte die Haustür offenbar wütend ins Schloß, stampfte den Flur entlang und verließ nach einiger Zeit abermals das Haus, kehrte wieder zurück, klopfte bei uns an und trat mit einem Scheuerlappen bewaffnet ein. Der Lappen tropfte. Die Tropfen fielen auf den roten Afghanteppich. Und Mathilde knurrte:

»Da schmiert uns jetzt jemand immer die Zaunlatten neben der Pforte mit so ne Kullers (sie meinte Kreise) mit weißer Kreide voll! Wenn ich die Bengels mal kriege, dann geht’s ihnen gut! Sie könnten doch eijentlich auch so’n bißchen aufpassen, Herr Schraut!«

»Das werde ich, liebe Mathilde,« versicherte ich, zumal ich ja selbst schon heute vormittag diese »Kullers« bemerkt hatte.

Harald legte plötzlich die Zeitung weg.

»Also Kreise waren’s, Mathilde?« fragte er.

»Nee, so mehr längliche Kreise – so mit Haken oben rechts, wie man so in der Schule ne Null schreiben lernt, Herr Harald.«

»Und wieviel Nullen waren’s?«

»Vier. Eine große, und dann auf den nächsten drei Zaunlatten drei kleine.«

»Das stimmt,« bestätigte ich ahnungslos. »Ich habe diese Zaunverzierung heute vormittag ebenfalls bemerkt, als ich den Brief an Lord John Gnirable in den Kasten trug.«

»Gut, Mathilde,« nickte Harst da. »Wir werden uns der Sache annehmen.«

Und die dicke Köchin schob mit dem Scheuerlappen ab, den sie doch offenbar zur Reinigung des Zaunes benutzt hatte.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich ins Schloß gezogen, als Harald zu mir sagte:

»Weiß Gott, mein Alter, ich bewundere Dich!«

Das war Ironie – beißende Ironie!

Und er fügte hinzu: »Hast Du denn Schloß Gnir in diesen Tagen schon so vollständig vergessen?! Denkst Du gar nicht mehr daran, daß Lionel Barring seine Verbrechergesellschaft »Die große Null« getauft hatte, daß er und … drei seiner Vertrauten entkommen sind?! Er und drei … kleine Nullen!! Begreifst Du?! Die Malerei auf dem Zaun kann doch kein Zufall sein. Nein – das ist eine Kampfansage, eine …«

Im Flur hatte die Glocke geschellt.

Und gleichzeitig begann die Standuhr dort rechts an der Wand mit ihrem tiefen Gongton neun zu schlagen – neun Uhr abends … –

Wir lauschten.

Ein später Gast … Wer mochte es sein?

Mathilde schlurfte durch den Flur …

Wir hörten sprechen. Mathildes Stimme schwoll an:

»Und ich sage Ihnen, Herr Harst ist nicht zu Hause! Der is noch in Schottland.«

Wir lächelten: Mathilde, die unsere Ferien verteidigte.

Und – Mathilde siegte.

Die Haustür klappte zu. Die Sperrkette rasselte. Dann brachte die brave Alte einen Zettel.

»Da war eben ’n altes Männchen da,« erklärte sie. »Er gab mir den Zettel. Er hat schnell was raufgeschrieben.«

Und sie verschwand wieder. –

Kritzliche Bleistiftzeilen:

Geehrter Herr H.! Die große Null hat sich bei mir gemeldet. –

Ernst Wogitsch, Modelleur, Berlin C., Brückengang 6, 2 Treppen.

Harald warf den Zettel hin und lief hinaus – lief in den Vorgarten …

Ich ihm nach. Wir stürmten der eine nach rechts, der andere nach links die Blücherstraße hinab, riefen wiederholt:

»Herr Wogitsch — Herr Wogitsch!!«

Ich hatte, durch Haralds jähe Lebendigkeit angesteckt, gar nicht mehr an unsere Ferien gedacht.

Ich dachte nur noch an den Modelleur Wogitsch, bei dem die große Null sich gemeldet hatte. Ich wollte Wogitsch kennenlernen! Er würde uns mitteilen, wie sich die große Null gemeldet hatte!

Zum vierten Male brüllte ich:

»Herr Wogitsch — Herr Wogitsch!!«

Alles umsonst …

Und dabei konnte das alte Männchen sich doch noch gar nicht so weit entfernt haben.

Ein paar Leute schauten mir nach. Ein paar junge Burschen gröhlten spottend: »Wo — gitsch! Wo — gitsch!«

Schließlich kehrte ich um.

An der Pforte unseres Vorgartens traf ich mit Harald zusammen. Er war genau so außer Atem wie ich.

»Ich begreife nicht, wo er geblieben sein kann,« meinte Harst keuchend. »Wenn Mathilde unser Haus nicht so energisch gegen diesen Besuch geschützt hätte, säße Wogitsch jetzt dort im Zimmer und wir könnten feststellen, was an ihm und seiner Meldung daran ist. So aber müssen wir nun nach dem Brückengang, übrigens ein uraltes Gäßchen am Berliner Rathaus. – Vorwärts. Machen wir uns fertig. Wenn wir ein Auto nehmen, sind wir vor Wogitsch dort und fassen ihn vor der Haustür ab.«

In drei Minuten waren wir bereit. – »Vergiß das Handwerkszeug nicht,« sagte Harald noch, der jetzt offenbar keine Langeweile mehr verspürte.

Wir fanden ein Auto, fuhren die Berliner Straße, die Motzstraße entlang, – kamen in die Potsdamer, in die Leipziger.

Harald rauchte die dritte Mirakulum, pfiff hin und wieder die bekannten Takte aus Carmen:

»Auf – in den – Kampf – Torrero …«

Ich pfiff nicht. Nein, dazu hatte ich auch nicht die allergeringste Veranlassung. Lionel Barring ist kein Gegner, den man mit Operntakten begrüßt. Mir fiel die Szene in den Tokkara-Höhlen ein, wie die Boa mit dem Weiberkopf aus dem Dunkel hervorkroch, – Barrings Werk, Barrings Erfindung!

Ich pfiff nicht … Ich fühlte nur nach der Schlüsseltasche der Beinkleider, in der keine Schlüssel, sondern so ein kleines schwarzes, matt glänzendes Ding steckte. –

Das Auto hielt an der Jungfernbrücke.

Die letzte Strecke wollten wir zu Fuß gehen. Harald machte hier den Führer. Er kennt Berlin wie seine Westentasche.

Wieder kamen wir über eine schmale, alte, schlecht beleuchtete Holzbrücke – mehr ein Fußgängerbrücklein.

Dann der Brückengang. Am Hause links ein Warnungsschild »Einfahren verboten!«

Allerdings – hier in diesem Gäßchen mit dem kaum meterbreiten Bürgersteig konnten zwei Wagen einander nicht ausweichen.

Alt-Berlin …

Ja – das älteste Berlin umgab uns hier: Häuschen mit winzigen Fenstern und Türen, mit Dächern von den wunderlichsten Formen …

Totenstill war’s in dem Gäßchen.

Unheimlich still …

So, als müßten jeden Augenblick aus den uralten verwitterten Haustüren Männer in der Tracht aus den Zeiten des alten Fritz heraustreten und uns mit klappernden Skelettkiefern und mit einer Geste fleischloser Skeletthände begrüßen.

Nur ein Hund, ein gelbes, langhaariges Zufallsprodukt der Liebe eines Pudels und eines Teckels, stand versonnen mitten auf dem holprigen Fahrdamm und schien auf jemand zu warten.

Auch wir warteten vor Nr. 6, schlenderten auf und ab und beschauten uns immer wieder das engbrüstige, zweistöckige Häuschen, dessen Erdgeschoßfenster kaum ein Viertel Meter über dem Boden lagen und durch Holzladen von außen gesichert waren, – nur zwei Fensterlein, daneben die Haustür. Durch die Spalten der Laden drang Lichtschein und ein dumpfes Klopfen. Ein Blechschild über der Tür verhieß allen kranken Stiefeln baldige Heilung durch Schuhmachermeister Emil Rehbein.

Der Hund wartete und wir warteten.

Es wurde später und später. Der Hund gab das Warten auf und trollte mißmutig von dannen. Harst meinte, er habe über die Hundesteuererhöhung nachgegrübelt, die wieder die Zahl der ahnungslosen Hundefleischesser vermehren würde.

Harst war bei Laune und meine Uhr bei drei Viertel zehn.

Dann klopfte Harst an einen der Fensterladen. Jemand rief drinnen:

»Bist Du’s, Wogitsch?«

»Nein. Aber ich möchte Herrn Wogitsch dringend sprechen,« erwiderte Harald recht laut.

Herr Emil Rehbein schloß die Haustür auf und beleuchtete uns mit seiner Schusterlampe.

Wir sahen einen kleinen, dürren, stark buckligen Mann mit einem verkniffenen, grämlichen Gesicht vor uns. Unter buschigen grauen Augenbrauen schillerten ein Paar schlaue mißtrauische Mauseäuglein.

»Wogitsch ist ausgegangen,« sagte er. »Soll ich ihm etwas bestellen?«

»Nein. – Wissen Sie, wen Wogitsch besuchen wollte?«

»Ja. Herrn Harst, den Privatdetektiv.«

»Mein Name ist Harst, Herr Rehbein. Das da ist mein Freund Schraut.«

Der Bucklige machte sofort Platz. »Wollen die Herren nicht nähertreten? Bitte … Sie können ja bei mir warten. Bitte …«

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Die große Null

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