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Singvögel müssen ihren Gesang lernen

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Sobald wir uns intensiver mit der Stimmentwicklung im Tierreich beschäftigen, fällt auf, dass den Tieren ihr Stimmrepertoire auf sehr unterschiedliche Weise von der Natur mitgegeben wurde. Extreme wie «genetisch fixiert» oder «absolut frei» kommen im Reich der höheren Wirbeltiere kaum vor, zumindest sind derartige Bezeichnungen nicht zu eng zu sehen. Fast allen Landwirbeltieren ist die Stimme angeboren. Im Umgang mit der Stimme und dem Lernen verschiedener akustischer Signale scheint es bei Affen, Elefanten und Hunden, je nach Art, einen wesentlich größeren Spielraum als bei anderen Landsäugetieren zu geben. Auch die Lautäußerungen einiger Meeressäugetiere scheinen weit über affektgebundene Laute hinauszugehen. Die akustische Unterscheidungs- und Erinnerungsfähigkeit dieser intelligenten Tiere ist erstaunlich. Sie verfügen über ein umfangreiches Stimmrepertoire, das ständig verändert oder vermehrt werden kann. Zu den vielseitigen Kommunikationsmöglichkeiten gehören auch der Chorgesang der Wale und die Imitationsfähigkeit der Delfine.

Einem sehr großen Teil der nicht zu den Singvögeln gehörenden Vogelfamilien (Nonpasseriformes), zum Beispiel Störchen, Entenvögeln, Greifvögeln, Regenpfeifern, Möwen, Hühnervögeln, Eulen und Spechten, ist das Lautinventar angeboren. Auch Singvögel (Passeriformes) haben angeborene Lautäußerungen, zum Beispiel Warnlaute, Lockrufe, Bettellaute, Stimmfühlungslaute und Flugrufe. Die Gesänge sind jedoch häufig kompliziert aufgebaute Klanggebilde, und die meisten Singvögel müssen, um ihren arttypischen Gesang zu erwerben, von älteren Artgenossen lernen.

Es gibt zwei Formen des Gesangslernens: die Nachahmung innerhalb der eigenen Art (Tradition) und die Nachahmung über die Artgrenze hinaus (Imitation). Im Folgenden sind diese Fähigkeiten, nach zunehmenden Schwierigkeitsgraden gegliedert, kurz aufgeführt:

•Die Befähigung zum arteigenen Gesang ist bei einigen Arten größtenteils angeboren und bedarf keiner großen Lernprozesse, zum Beispiel bei vielen Ammerarten.

•Teile des Gesanges sind angeboren, um sie aber zu arttypischen Strophen zu gestalten, ist ein Vorbild notwendig (etwa bei der Zaunammer). Manchmal sind aggressive Gesangsteile wie auch Tonhöhe und Klangfarbe angeboren, Rhythmus und Modulationsart müssen aber erlernt werden (zum Beispiel beim Hänfling).

•Ein Teil des Gesanges (häufig die Eingangsstrophe) ist angeboren, andere Teile (meistens die Schlusselemente) werden erlernt (so beispielsweise beim Buchfink und der Goldammer). Oder der Gesang ist zwar angeboren, die Gesangsstrophen lassen sich jedoch aufgrund von zum Teil erstaunlichen Lernfähigkeiten variieren beziehungsweise durch Nachahmung von Fremdmotiven vielfältig erweitern (das trifft auf die Mönchsgrasmücke und die Gartengrasmücke zu). Es können auch bestimmte Grundstrukturen des Gesanges genetisch angelegt sein, aber mit der Möglichkeit, mannigfaltig zu variieren (das können wir zum Beispiel bei der Singdrossel oder der Orpheusgrasmücke beobachten).

•Die musikalisch begabtesten Singvogelarten scheinen dagegen kaum Grenzen im Umgang mit Tönen zu kennen (so die Amsel, die Nachtigall, das Rotkehlchen oder die amerikanische Spottdrossel). Eine ausgeprägte Empfänglichkeit für den arteigenen Gesang bringen aber auch sie von Natur aus mit.

•Eine recht autonome Lernleistung stellt die Imitationsfähigkeit dar, die in verschiedenen Stufen von unseren besten Sängern erreicht wird.* Vertreter einiger Vogelgruppen (Kolkrabe, Rabenkrähe, Dohle, Eichelhäher, Star und Beo) können sogar die menschliche Sprache nachahmen. Wenige Vögel sind fähig, meisterhaft komplizierte Melodien beziehungsweise technische Geräusche unmittelbar, also ohne zeitlich messbaren Lernprozess, zu imitieren (die Spottdrossel und der Leierschwanz). Und die asiatische Schamadrossel, die auch über die vorgenannten Fähigkeiten verfügt, ist in Einzelfällen sogar fähig, längere Partien klassischer Musik zu erlernen und später eigenständig zu vervollkommnen.

In diesen angedeuteten Entwicklungsschritten – von der angeborenen Festlegung der Stimme bis zum vielfältigen spielerischen Stimmgebrauch – offenbaren sich im Vogelgesang verschiedene Grade von Autonomie. Es ist anzunehmen, dass sich im Verlauf der Evolution das Freiwerden von festgelegten Stimmvorgaben und das individuelle Gesangslernen wechselseitig bedingten.

Der außerordentliche Variationsreichtum im Vogelgesang hat seinen Ursprung darin, dass den jungen Männchen der meisten Singvogelarten ihre Stimme – im Vergleich zu anderen Tiergruppen – nicht angeboren ist. Fast alle Singvögel müssen ihren Gesang lernen. Das ist eine Ausnahmeregel in der Natur. Das Erlernen der stimmlichen Kommunikation kennen wir, abgesehen von einigen Land- und Meeressäugetieren, fast nur beim Menschen.

Ein gewisses Grundmuster des Gesanges scheint einigen Singvögeln angeboren zu sein; die Gesangsstrophen müssen aber erlernt werden, das heißt, ein junges Männchen muss zur vollen Entwicklung seines Gesanges eigene Artgenossen hören. In der Regel ist das der Vater, weil der Jungvogel dessen Stimme ständig in der Nähe des Nestes hört. Lieder und Motive werden entlang der männlichen Linie tradiert. Bei dem vielfältigen Vogelkonzert im Wald dringen aber unterschiedliche Gesänge und Motive an das Ohr eines jungen Vogelmännchens. Wird ein Jungvogel da nicht verwirrt? Offensichtlich nicht, denn aufgrund eines inneren Klangbildes, durch eine geheimnisvolle Lerndisposition für den arteigenen Gesang, bevorzugt der Jungvogel den Gesang seiner Art (siehe das Porträt des Buchfinks, S. 50 f.).

So wie man früher dachte, dass nur gute Sänger ihre Gesänge erlernen und weniger begabten ihre Strophen angeboren sind, so möchte man auch denken, dass die Länge der Lernphasen mit der Gesangsbegabung der einzelnen Arten korrespondiert. Das trifft teilweise zu, wenn wir an die lange Lernphase bei der Amsel oder an die kurze beim Zebrafinken denken. Eine Regel ist es aber nicht, denn vorzüglichen Sängern wie den Grasmücken ist der Gesang zum Teil angeboren. Bei Hänflingen, die im Vergleich mit Drosseln und Grasmücken eher bescheidene Musikanten sind, ist die Lernphase nicht auf das erste Lebensjahr beschränkt; sie bleiben lebenslang lernfähig. Hänflingmännchen können ebenso wie Grünfink, Stieglitz und Erlenzeisig «ihren Gesang von Jahr zu Jahr durch Hinzulernen neuer Gesangselemente erweitern und verändern beziehungsweise ihr Repertoire jenem der Nachbarn angleichen» (Glutz 14/II).

Das Lernvermögen ist von Art zu Art verschieden, und die sensiblen Phasen für das Gesangslernen der Nestlinge und Jungvögel sind unterschiedlich lang. Zahlreiche Vogelarten haben nur eine kurze, meist frühe Prägungsphase, etwa unmittelbar nach dem Ausschlüpfen bis kurz nach dem Ausfliegen der Jungen. Bei Goldhähnchen beginnt die Lernphase ab dem achten Tag. Bei der Sumpfmeise ist die Zeit des Gesangslernens ab dem Ausfliegen gut drei Wochen lang. Bei anderen erstreckt sich die sensible Phase vom zehnten bis zum siebzigsten Tag. Bei Sumpfrohrsängern ist es die sechste Lebenswoche; die Lernperiode endet mit etwa elf Monaten. Zahlreiche Spottsänger wie auch Amseln und Singdrosseln sind vermutlich langjährig oder lebenslang lernfähig; das gilt auch für Kanarengirlitze.

Auch der Grünfink ist, im Gegensatz zum Buchfink, nach Erreichen des dreizehnten Lebensmonats noch lernfähig. «Bei vielen Singvögeln prägen sich Nestlinge den Gesang ihres Vaters schon kurze Zeit nach dem Schlüpfen ein, produzieren ihn aber erst viel später, vorbildgetreu, auch wenn sie ihn zwischendurch nicht mehr gehört haben. Ebenso lernen nestjunge Singvogelweibchen den Gesang des Vaters kennen und wählen danach ihren späteren Partner, ohne dass sie selbst je singen» (Wickler 1986). Wenn aber einem Buchfink zur prägsamen Zeit ein Vorsänger fehlt und der Jungvogel stattdessen zum Beispiel einen Baumpieper hört, so lernt er dessen Strophe.

Ebenso wie die Lernphasen der Singvogelmännchen verschieden lang sind, so ist auch die jeweilige Gesangsaktivität der Vögel von unterschiedlicher Dauer. Das sollten wir im Frühjahr bei unseren Vogelstimmenwanderungen beachten:

Einige Männchen singen fast ganzjährig, etwa Rotkehlchen und Zaunkönig; andere singen von Februar bis Juli, zum Beispiel Amsel, Buchfink und Grünfink. Fast alle Zugvögel beginnen meistens unmittelbar nach ihrer Ankunft im Brutgebiet zu singen. Einige von ihnen singen während der ganzen Brutperiode recht ausdauernd, etwa die Mönchsgrasmücke. Manche singen bis nach dem Ausfliegen der Jungvögel, und wenige, wie die Rohrsänger, hören schon bald nach Beginn der Brut auf. Und andere haben bis zur Eiablage des Weibchens eine ausgeprägte Gesangsaktivität, werden dann stiller, um kurz nach dem Schlüpfen der Jungen eine zweite Singphase anzuschließen (etwa die Singdrossel).

Zahlreiche unserer guten Sänger haben eine ausgeprägte melodische Komponente, beispielsweise Fitis, Rotkehlchen, Mönchs- und Gartengrasmücke, Baumpieper, Gartenrotschwanz, Trauerschnäpper oder Pirol; die Gesangsstrophen der Meisen haben dagegen rhythmischen Charakter.

Da «das Gefühlsleben der Vögel eine verhältnismäßig hohe Stufe der Entwicklung erreicht hat und da sie nur in Tönen ausdrücken, was sie bewegt, können die Triebfedern ihres Singens nicht zu einseitig veranschlagt werden» (Tiessen 1989).

*Zu den erstaunlichen Imitationsfähigkeiten der Singvögel siehe W. Streffer (2009), Klangsphären. Motive der Autonomie im Gesang der Vögel. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart, S. 159-237.

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