Читать книгу Die Liebhaber der Diva - Waltraud Danner - Страница 7

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2.

Die Szene des 1. Aktes deutete durch zwei gotische Fenster das Innere einer Kirche an. Im Licht, das durch die Fenster fiel, sah man Cavaradossi, alias Clark Phillips, im Kostüm eines Malers, vor einer riesigen Staffelei stehen.

In diesem Akt muss Tosca ihre Eifersucht zeigen, die sie dem Gemälde entgegenbringt, welches die Jungfrau Maria darstellen soll. Ihre Züge gleichen der Gräfin Attavanti, die oft in dieser Kirche betet. Bei dieser Gelegenheit hatte der Maler sich von ihrer Erscheinung inspirieren lassen und diese schöne Frau als Modell für sein Bild genommen.

Für eine erfolgreiche Sängerin ist es nicht schwer, sich in die Psyche der Tosca hineinzuversetzen, da sie im Grunde nur sich selbst spielen muss. Eine echte Primadonna ist sich ihres Wertes bewusst und verlangt von einem Mann absolute Liebe und Treue. Jeder Kompromiss wäre für sie billig und ihrer unwürdig. Sie verlangt Absolutheit in der Liebe, egal wohin diese führt. Darum ist es mehr als normale Eifersucht, die Tosca quält, wenn sie das Gemälde Cavaradossis sieht und die vermeintliche Rivalin erkennt. Ihr Stolz, die verletzte Eitelkeit und die Enttäuschung über den Mann, dem sie sich geöffnet hat, machen sie zur Furie.

Das Duett, in dem Cavaradossi versucht, Toscas unbegründeten Verdacht zu zerstreuen, ist die Grundlage für die weitere Handlung. Da die Sängerin nur ihre Liebe sieht, begreift sie nicht, in welcher Gefahr sich Cavaradossi befindet. Scarpia, der Polizeichef begehrt Tosca, doch das nimmt sie mit Gelassenheit. Es gehört zu ihrem Alltag, sich die Verehrer vom Hals zu halten und dabei verdrängt sie, dass Scarpia über Macht verfügt, der sie nicht gewachsen ist.

Clarissa fühlte sich heute ihrer Partie besonders seelenverwandt. Die ganze Gefühlsskala von Glück, Hoffnung, Zweifel, Angst und Sehnsucht spürte sie in jedem Nerv. Sie legte sich ins Zeug und zog bereits im ersten Akt alle Register. Heute musste sie mit ihren Kräften nicht haushalten. Sie platzte fast vor Energie und Clark wurde automatisch davon angesteckt. Auch er zeigte, was er draufhatte.

Die Reaktion des Publikums war entsprechend. Anscheinend ahnten die Zuschauer, welch besonderem Theaterabend sie beiwohnten. Alle Solisten mussten immer wieder vor den Vorhang kommen, als wäre es bereits der Schlussapplaus. Clarissa suchte den Zuschauerraum ab, doch bis jetzt konnte sie IHN nirgends entdecken. Etwas enttäuscht ging sie in ihre Garderobe, um sich umzuziehen.

Für den zweiten Akt hatte sich der Kostümbildner etwas Besonderes ausgedacht. Er nutzte die gute Figur von Clarissa und schneiderte ihr ein goldschimmerndes, hautenges Kleid, welches von der Höhe der Knie an weit wurde und in einer zwei Meter langen Schleppe endete. Sie wirkte darin fragil und königlich zugleich. Der irisierende Glanz des Stoffs verlieh ihr eine überirdische Schönheit. Die Haare trug sie hochgesteckt, um den Nacken und das große Rückendekollete freizugeben.

Dieser zentrale Akt der Oper war für Clarissa der wichtigste. Er enthielt die berühmte Arie, an der das Können einer Sängerin gemessen wurde. Außerdem forderte er auch schauspielerisch eine außergewöhnliche Leistung. Seit Maria Callas diesen Akt mit ihrer großen Ausdruckskraft unvergesslich machte, hat jede Sängerin einen gewaltigen Respekt davor. Es kam auf die richtige und glaubhafte Dosierung an, wenn man das Publikum packen wollte. Man muss die Spannung vermitteln, die zwischen Scarpia und Tosca herrscht. Das Kräftemessen mit dem Gegner, das verzweifelte Unterliegen und der Entschluss, den siegessicheren Polizeichef zu töten, brauchen viel Bühnenerfahrung, um wirklich zu überzeugen.

In ihrem Kollegen Robert Fox hatte sie einen alten Hasen zum Partner. Trotz seines fortgeschrittenen Alters war er immer noch einer der besten [Fußnote 5]Baritöne der Welt. Er hatte Clarissa viele Bühnentricks gezeigt. Sie konnte sich immer auf ihn und seine Präzision verlassen. Sein Charisma nahm jeden gefangen, der mit ihm arbeitete. Ihm ging jegliche Art von Eitelkeit und Allüren ab. Clarissa liebte es, mit ihm zu singen, denn er gab ihr Sicherheit.

Es klopfte an der Garderobentür. Ein Geschenk wurde abgegeben. Frau Kistner nahm es entgegen. Das Klingelzeichen zum zweiten Akt ertönte. Auf den Gängen drängte der Chor zur Bühne. Frau Kistner schloss die Tür und gab Clarissa das Päckchen, die es sofort aufriss. Es enthielt ein samtenes Etui, in dem sich ein goldenes, antikes, fein gearbeitetes Medaillon mit Kette befand. Sie nahm es heraus und klappte es auf. Lautlos setzte sie sich auf ihren Schminkstuhl und starrte auf den Inhalt. Das Medaillon enthielt zwei Bildkammern. In der linken befand sich, anstelle eines Fotos, nur der Text:

»Für die Person vorgesehen, die neben dem Bild an zweiter Stelle stehen darf.«

Dieses besagte Bild im rechten Teil, war ein Foto von Claddys. Auch ‚Tamino‘ hätte beim Anblick von ‚Paminas‘ Bildnis nicht verzauberter sein können, als Clarissa beim Anblick ihrer Tochter.

»Sie müssen auf die Bühne«, mahnte Frau Kistner zum zweiten Mal und berührte Clarissa an der Schulter. Wie in Trance stand sie auf und verließ die Garderobe.

Zuerst kam der Hymnus mit dem Chor auf der Hinterbühne. Er half ihr, wieder in die Rolle der Tosca zu schlüpfen und sich auf das Bühnengeschehen zu konzentrieren. Bisher war es ihr noch nie passiert, dass sie bei einer Vorstellung nicht mehr wusste, was sie tat. Aber jetzt versagte der Kontrollmechanismus. Sie spielte nicht mehr ihre Rolle, nein, sie war ‚Floria Tosca‘. Den Hass und die Abscheu gegenüber Scarpia empfand sie so unmittelbar, als beträfe es sie persönlich. Die Todesdrohung hing in der Luft. Die Trommelschläge verhallten. Es schien, als hielt das Publikum den Atem an. Absolute Stille.

Wie aus weiter Ferne ertönten, in einem unglaublichen Pianissimo, die ersten Töne des »Vissi d’arte, vissi d’amore (Nur der Schönheit weiht ich mein Leben).« Tosca kniete am Boden, unbeweglich, das Scheinwerferlicht voll auf sie gerichtet. Langsam schwoll das Orchester an. Toscas Stimme erhob sich, strömte in einem intensiven [Fußnote 6]Dolcissimo bis zu einem absoluten, runden Forte-Ausbruch, der jedem Zuhörer Schauer über den Rücken jagte, um sich im »perchè me ne rimuneri cosi? (Warum bestrafst du mich so?)« zu erschöpfen. Der Maestro hielt mit dem Orchester inne. Einen Moment stürzte man in ein totales Vakuum, bis plötzlich ein Orkan los tobte. Einzelne Theaterbesucher standen auf und riefen [Fußnote 7]»Brava«. Viele trampelten mit den Füßen. Nach und nach erhoben sich fast alle Zuschauer und applaudierten rhythmisch.

Clarissa kniete immer noch und kam erst, wie nach einer Ohnmacht, langsam zu sich. Scarpia half ihr aufzustehen. Sie kreuzte die Hände über der Brust und verbeugte sich. War dieser Applaus für sie? War sie es, die eben gesungen hatte? Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte sie, wie sie es noch nie erlebt hatte. Im Buch von einer großen Opernsängerin vergangener Tage, welche noch lange als Gesangslehrerin wirkte, hatte sie einmal gelesen: »Nicht du singst, ES singt, wenn deine Stimme, dein Geist und dein Körper eins geworden sind.« Sie erinnerte sich. Es war Lilli Lehmann, die das gesagt hatte. Ja, DAS war es wohl, was sie damit gemeint haben mochte. Clarissa sah ins Publikum und entdeckte IHN. Er blickte sie fasziniert an und als ihre Augen seinen Blick trafen, ging ein Leuchten über sein Gesicht.

Der Maestro deutete an, dass er gerne fortfahren wolle. Es trat allmählich wieder Ruhe ein und die beiden Protagonisten gingen auf ihre Position zurück. Gegen Ende des zweiten Aktes musste Tosca auf Scarpias Vorschlag eingehen, seine Geliebte zu werden, da sie nur so Cavaradossis Rettung bewirken konnte.

Als hätte es keinen Unterbruch gegeben, knüpfte Clarissa mit der gleichen Intensität an der Handlung an. Sie erstach Scarpia und riss den Geleitbrief, der Cavaradossis Freiheit bedeutete, aus der Hand des Peinigers. Die Zeit drängte, wenn sie die Hinrichtung des Geliebten aufhalten wollte. Damit endete der zweite Akt.

Endlich konnte Clarissa die Bühne verlassen. Ihre Knie zitterten. Sie musste sich unbedingt einen Moment hinlegen. »Oh, gnädige Frau, Sie sind wundervoll,« rief Frau Kistner ihr entgegen. »Danke Marie, aber ich muss mich jetzt etwas ausruhen. Es war doch ziemlich anstrengend.«

Die Garderobiere lief eilfertig zum Sofa und schüttelte das Kissen. Die Decke rollte sie zusammen und legte sie unter Clarissas Füße. »Beine hoch ist in so einem Fall immer gut,« meinte sie fürsorglich. Clarissa schloss die Augen. Es war ihr nicht möglich, Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen. Alles ging in ihrem Kopf drunter und drüber. Frau Kistner berührte Clarissa vorsichtig, um sie zu wecken. Sie war tatsächlich eingeschlafen, so sehr hatte sie dieser Akt erschöpft. »Frau von Calis, der Herr Intendant möchte Sie gerne einen Augenblick sprechen.«

»Bleiben Sie ruhig liegen, liebe Clarissa,« sagte dieser. »Ich wollte Ihnen nur sagen, wie großartig Sie sind. Außerdem möchte ich Ihnen eine Einladung übermitteln. Nach der Vorstellung sind wir, das heißt, alle Solisten, die Direktion und einige wichtige Persönlichkeiten der Stadt, zu einem Gala-Diner eingeladen. Und zwar vom argentinischen Kulturattaché. Ich habe diese Einladung erst vorhin schriftlich erhalten. Es steht auch darin, dass er sich besonders über Ihre Anwesenheit freuen würde. Bitte sagen Sie nicht nein, auch wenn ich verstehen kann, dass Sie nach dieser Leistung Ruhe brauchen.« Einen Kuss auf ihre Hand drückend, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu: »Mir zuliebe.«

»Mein lieber Freund, wenn Sie mich so sehr bitten, kann ich natürlich nicht nein sagen, obwohl dieser Abend ziemlich an meine Substanz geht.«

»Wunderbar, Sie machen mich damit sehr glücklich. Für den dritten Akt wünsche ich Ihnen nochmals toi, toi, toi. Vielen Dank für Ihre Zusage und natürlich auch für Ihre überragende künstlerische Darbietung. Bis später also, ich freue mich.«

Nachdem Frau Kistner die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stand Clarissa auf.

»Wie geht es Ihnen denn jetzt?«

»Danke Marie, das kurze Liegen hat mir gutgetan. Ich fühle mich schon wieder wie neu.« Frau Kistner war erleichtert.

»Eigentlich wollte ich ihn gar nicht hereinlassen, aber er hat so gedrängt.«

»Das ist schon in Ordnung Marie.«

Clarissa überprüfte Frisur und Schminke im Spiegel. Jetzt musste sie nur noch den dritten Akt durchstehen. Der stellte an sie keine großen Ansprüche, denn dieser Akt gehörte Cavaradossi. Seine Sternenarie war darin der musikalische Höhepunkt. Auf keinen Fall wollte Clarissa sich diese Arie entgehen lassen. Sie eilte zur Bühne und verfolgte, neben dem Inspizienten stehend, das Geschehen auf der Szene. Mario, alias Clark, setzte gerade an, diesen Opern-Hit zu intonieren. Auch er war heute außergewöhnlich gut. Seine Stimme traf direkt ins Herz. Bestimmt waren in diesem Augenblick alle weiblichen Zuschauer in ihn verliebt. Er sah verdammt gut aus und dazu noch dieser schöne, beseelte Stimmklang. So wie Clarissa ihren Freund Clark kannte, musste mehr dahinter sein als nur die Inspiration dieses gelungenen Opernabends. Vermutlich hatten seine Hormone wieder zu tanzen angefangen, weil er frisch verliebt war. Seine Andeutung im Gang ließ Clarissa darauf schließen.

Der Applaus für ihn war ähnlich wie nach Clarissas Arie. Sie klatschte ebenfalls heftig aus der Kulisse. Dann kam ihr Auftritt. Das Mordgeständnis, die Versicherung ihrer gegenseitigen Liebe, der Rettungsplan und die Erkenntnis, dass sie trotz Einsatz ihres Lebens und ihrer Ehre von Scarpia getäuscht worden war und für sie nur der Freitod blieb. Bis zum Schluss lief alles perfekt. Clark spielte so echt und intensiv wie selten. Es war für beide eine Sternstunde. Der Schlussapplaus bestätigte das. Eine halbe Stunde mussten sie immer wieder vor den Vorhang kommen.

Clark und Clarissa umarmten sich hinter der Bühne. Beide machten sich gegenseitig Komplimente für ihre großartige Leistung.

»Übrigens sehen wir uns ja nachher beim Gala-Diner,« sagte Clark.

»Mein Gott ja, das habe ich völlig vergessen. Wo findet es denn statt?«

»Soviel ich weiß, in den Vier Jahreszeiten. Jedenfalls hoffe ich, dass es dort eine Möglichkeit gibt, ungestört mit dir zu plaudern.«

»Wir werden auf jeden Fall miteinander sprechen und Geheimnisse austauschen, selbst wenn wir uns dazu als Ehepaar in einem Hotelzimmer einmieten müssten. Oder etwa nicht?« Clarissa küsste ihn ein weiteres Mal und lief zu ihrer Garderobe.

Es war klar, dass die Einladung von Carlos kam. Wahrscheinlich sprach er diese offiziell aus, um bei Clarissa nicht als aufdringlich zu gelten. So konnte er sich unverfänglich mit ihr treffen, ohne ihr das Gefühl zu geben, sie möglicherweise in eine ungewollte Situation zu bringen. Sie kannten sich noch zu wenig. Er hätte womöglich mit einem Korb rechnen müssen, wenn er sie zu einem Abendessen zu zweit eingeladen hätte. Geld schien er zumindest zu haben, wenn er ein großes Essen in den Vier Jahreszeiten veranstalten konnte. Dieser Mann wurde ihr fast unheimlich, denn sie wusste so gut wie nichts über ihn und er kannte anscheinend ihr größtes Geheimnis, von dem selbst ihre besten Freunde nichts ahnten.

Wie Carlos zu dem Foto ihrer Tochter Claddys gekommen ist, welche in England lebte und noch nie einen Fuß nach München gesetzt hatte, war ihr ein unerklärliches Rätsel. Sie musste unbedingt in Erfahrung bringen, was es damit auf sich hatte.

»Marie, was soll ich denn jetzt anziehen? Es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, dass ich heute noch so groß ausgehen würde. Ich habe doch nur das rote Kleid dabei. Das kann ich zu solch einem Anlass unmöglich anziehen.«

»Kein Problem, Frau von Calis. Ich habe vorhin mit Kurt telefoniert, als Sie auf der Bühne waren. Er hat mit Ihrem Reserveschlüssel, den Sie mir anvertraut haben, ein Abendkleid aus ihrem Kleiderschrank geholt. Ich habe es ihm genau beschrieben. Es ist das Schwarze, welches Ihnen so gutsteht.« »Super, genau das hätte ich auch genommen. Marie, Sie sind ein Schatz. Was würde ich nur ohne Sie tun.«

Frau Kistner half Clarissa beim Umkleiden. Nach dem Abschminken legte sie nur ein wenig Rouge auf. Sie wollte ihre Haut nicht zu sehr strapazieren. Etwas Lippenstift zusätzlich genügte. Ihr Haar bürstete sie durch und ließ es offen nach hinten fallen.

Das Garderobentelefon klingelte. Marion war am Apparat und wollte Clarissa gratulieren. Die verliebte Studentin konnte heute nicht in die Vorstellung kommen, da sie mitten im Examen stand. Sie hatte sich nach der Vorstellung aber sofort beim Pförtner erkundigt, wie es gelaufen war.

»Herzlichen Glückwunsch Clarissa. Du musst umwerfend gewesen sein, wie man mir berichtet. Schade, dass ich nicht dabei sein konnte.«

»Macht nichts mein Liebes, dein Examen ist wichtiger. Wie läuft es denn?«

»Danke, soweit prima. Hans hilft mir sehr dabei.«

»Das freut mich. Grüße ihn bitte von mir.

»Gerne, mach ich. Feiere noch schön. Ist Christian auch da?«

»Leider nein, er hatte heute auch noch viel in der Klinik zu tun, aber ich werde ihn gleich anrufen und von dir Grüße bestellen.« Nachdem Marion aufgelegt hatte, wählte sie sofort Christians Nummer. Er wartete sicher schon länger auf ihren Anruf. Christian nahm sofort ab.

»Endlich, beinahe hätte ich hier alles stehen und liegen lassen und wäre doch ins Theater gekommen. Ist etwas passiert?«

»Nein, mein Schatz. Es war nur ein ziemlicher Erfolg. Wir sind jetzt alle noch in die Vier Jahreszeiten eingeladen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es geht mir wunderbar. Übrigens lässt dich Marion schön grüßen. Ich habe gerade mit ihr telefoniert.«

Clarissa erzählte ihm noch in groben Zügen, wie die Vorstellung gelaufen war. Christian bot ihr an, sie nach der Feier vom Hotel abzuholen und nach Hause zu fahren, damit sie auch etwas Alkohol trinken konnte. Clarissa wäre das gar nicht recht gewesen, darum meinte sie, im Hotel übernachten zu wollen. Sie könne das Angebot unmöglich annehmen, da er selbst am nächsten Morgen fit sein musste und seinen Schlaf brauchte. Christian war beruhigt.

»Amüsiere dich gut und melde dich bald wieder. Ich könnte mir in den Hintern beißen, dass ich nicht bei dir sein kann. Spätestens morgen Nachmittag muss ich dich sehen. Bis dann, vergiss nicht, dass ich dich liebe.«

Clarissa legte den Hörer auf und sah auf die Uhr. Es war schon fast halb zwölf. Frau Kistner hatte inzwischen alles aufgeräumt und war bereit zu gehen. Sie nahm ihre Handtasche und den Mantel. Zusammen verließen sie die Garderobe und gingen zum Bühneneingang. Dort wartete Clark bereits auf sie.

»Was hat denn so lange gedauert?«

»Ich musste noch mit Christian telefonieren. Entschuldige.«

»Keine Ursache, ich kann es nur kaum erwarten, mit dir zu sprechen.«

Frau Kistner hatte vorausblickend eine Tasche gerichtet, in der sich das Nötigste zum Übernachten befand. Diese drückte sie Clarissa beim Abschied in die Hand. Clark, der in einem anderen Hotel untergebracht war, begleitete seine Lieblingskollegin an die Rezeption. Als Clarissa sich nach einem freien Zimmer erkundigte, gab man ihr zu verstehen, dass bereits eine Zimmerreservierung für sie vorlag. Verblüfft gab sie ihre Tasche ab, um sie ins Zimmer bringen zu lassen.

»So verantwortungsvoll kenne ich unseren Intendanten gar nicht, dass er sich sogar darum kümmert, wo und wie du heute übernachtest. Man erlebt doch immer wieder Überraschungen.«

Ihr lieber Clark war also davon überzeugt, dass nur Clarissas Chef auf diese Idee hatte kommen können. Sie ließ ihn in dem Glauben, war aber überzeugt, dass ihr Gastgeber das veranlasst hatte.

Der argentinische Kulturattaché Carlos Vargas war in jeder Beziehung ein aufregender Mann. Für einen Südländer war er ungewöhnlich groß und von schlanker, durchtrainierter Gestalt. Er hatte dichte, schwarz gelockte Haare, die sein edles, schmales Gesicht weicher machten. Das Faszinierendste an ihm waren seine Augen, die Clarissa schon bei ihrer ersten Begegnung gefangen nahmen. Seine Erscheinung erinnerte etwas an den jungen ‚Omar Sharif‘, oder an das berühmte Bild des ‚Che Guevara‘. Er bewegte sich geschmeidig wie ein Panther. Wenn Clarissa ihn ansah, bekam sie sofort Schmetterlinge im Bauch und ihr Unterleib meldete sich sehnsüchtig.

Genau das passierte, als sie mit Clark den Raum betrat und ihn neben dem Intendanten stehen sah. Dieser erblickte Clarissa sofort, kam auf sie zu, führte ihre Hand zum Mund und hauchte einen Kuss darauf.

»Clarissa, darf ich Ihnen unseren Gastgeber, Herrn Vargas, vorstellen?« Der Intendant rief diese Worte fast, da er den Vorsprung von Carlos damit wettmachen wollte.

»Wir kennen uns bereits,« antwortete Clarissa.

»Vor etwa sechs Wochen hatte ich die Ehre und das Vergnügen, Frau von Calis nach einer ‚Tannhäuser‘–Aufführung in Zürich kennenzulernen,« ergänzte Carlos.

»Ach, darum legten Sie so großen Wert auf ihr Erscheinen«, meinte süffisant der Herr des Theaters.

»Geschätzter Freund, Sie müssen zugeben, dass Ihr Star eine bezaubernde Frau ist und jeder Mann in ihrer Gesellschaft glücklich wäre, auch wenn Clarissa von Calis nicht über ein solch überragendes künstlerisches Format verfügen würde. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich diesen einmaligen Opernabend versäumt hätte. Gnädige Frau, es fehlen mir die Worte, um ausdrücken zu können, wie Ihre Darbietung mich berührt hat. Übrigens«, damit wandte er sich an Clark, »hat mich Ihr Partner ebenfalls zutiefst beeindruckt.«

Er sagte dem Tenor noch einige detaillierte Komplimente, die dieser mit hochrotem Kopf entgegennahm. Offensichtlich war Clark von Carlos männlicher Schönheit so angetan, dass mal wieder seine feminine Seite zum Vorschein kam. Allerdings war er sensibel genug, um zu spüren, dass zwischen Clarissa und Vargas mehr war, als das höfliche Geplauder vermuten ließ. Geschickt verwickelte er den Intendanten in ein Gespräch und entfernte sich mit diesem ein Stück, damit die beiden ungestörter miteinander reden konnten.

»Sie werden mir immer unheimlicher,« fing Clarissa leise an zu sprechen. »Ich weiß noch fast nichts über Sie, wogegen meine Person anscheinend ein offenes Buch für Sie ist. Das macht mich sehr unsicher und zugleich neugierig.«

»Liebste Clarissa, ich wollte Sie mit meinem Geschenk nicht erschrecken. Allerdings hat das Schicksal es gewollt, dass ich etwas erfahren habe, was Ihr Geheimnis zu sein scheint. Ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen und erklären, wie ich zu diesem Wissen gekommen bin. Es wird möglicherweise ein längeres Gespräch werden, welches wir nicht mehr heute Nacht führen können. Darum bitte ich um die Gelegenheit, dies an einem der nächsten Tage tun zu dürfen, falls Sie etwas Zeit für mich erübrigen könnten. Und bitte verzeihen Sie, dass ich hier ein Zimmer für Sie gebucht habe. Es sind keinerlei unmoralische Absichten damit verbunden. Es ging mir rein um Ihre Bequemlichkeit. Wenn ich darf, erlaube ich mir, Sie morgen anzurufen, um ein Rendezvous auszumachen. Einverstanden?« Carlos sprach schnell. Er verbarg seine Nervosität hinter seinen heraussprudelnden Worten, hielt Clarissas Hand fest und schaute dabei tief in ihre Augen.

Ein Kellner kam vorbei und reichte Champagner. Er deutete dem Diplomaten an, dass die Küche so weit sei. Carlos Vargas klopfte an sein Glas, womit sich die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf ihn richtete. Er bat die Gäste, sich zu setzen, da das Diner beginnen könne. Der Intendant und Maestro Cavalli ließen es sich nicht nehmen, die Plätze neben Carlos zu belegen. Er schaute bedauernd auf Clarissa, welche sich lächelnd bei Clark einhängte und mit ihm gegenüber vom Gastgeber Platz nahm. Als alle saßen, stand Carlos auf und hielt eine kurze Ansprache, in der er mehrmals die Außer Ordentlichkeit des Abends betonte. Er versprach, alles ihm Mögliche zu tun, um die ganze Produktion nach ‚Buenos Aires‘ einzuladen. Seine Landsleute sollten ebenfalls in den Genuss eines solchen Kulturerlebnisses kommen. Dieses Angebot wurde mit begeisterter Zustimmung kommentiert.

Nach dem Servieren der Vorspeise beugte sich jeder über seinen Teller, denn inzwischen hatten alle einen gehörigen Appetit. Clark stieß unter dem Tisch mit seinem Knie an Clarissas Bein.

»Stimmt es, was ich denke?«

»Woher soll ich wissen, was du denkst?«

»Na, da läuft doch was zwischen dir und dem Attaché.«

»Aber Cark, sei doch nicht so indiskret direkt.«

»Darling, du weißt, dass ich mich für solche Sachen wahnsinnig interessiere.«

»Na schön, du hast scharf beobachtet und vorhin toll reagiert. Es ist zwischen unserem Gastgeber und mir noch nicht viel passiert, aber die Zeichen stehen günstig, dass sich das bald ändern wird. Wie gefällt er dir?«

»Du bist zu beneiden. Er würde mir auch sehr gefallen, aber ich weiß, dass ich in diesem Fall keine Chancen hätte. Außerdem darf ich mich nicht beklagen.«

»So, so, mein Süßer, hast du mal wieder einen neuen Lover?«

»Du hast es erraten, Clarissa. Er ist endlich meine große Liebe.«

»Es scheint so. Du hast heute wundervoll gesungen und gespielt. Es war eine große Freude, mit dir auf der Bühne zu stehen. Ich habe mich schon gefragt, was mit dir passiert ist.«

»Mir ging es ähnlich, als ich bei deiner Arie zuhörte. Sie ist verliebt, habe ich sofort vermutet. Wir waren aus dem gleichen Grund heute Abend so gut in Form.«

»Da siehst du mal, was die Liebe bewirken kann. Aber erzähle mir, wer ist es?«

[Fußnote 8]»It’s a black man, wow. His name is Jim. Ich habe ihn vor ungefähr einem Monat in Paris kennengelernt. Nach einer Aufführung der ‚Neunten‘ von Beethoven bin ich noch in eine Disco gegangen. Du weißt, dass ich nach so ernsten, erhabenen Werken, etwas Aufmunterung brauche. Keiner von den Solisten wollte mitkommen, aber ein süßer Mann aus dem Chor hat mir gesagt, dass er eine besondere Disco kennt. Mit ihm habe ich mich dann ins Pariser Nachtleben gestürzt.«

»Das hört sich alles sehr aufregend an. Ich kann mir vorstellen, dass du dich ganz schön ausgetobt hast. Aber du achtest doch hoffentlich auf deine Gesundheit?«

»Sure mummy, I do it always safely.«

»Dann bin ich ja beruhigt. Du hast eine Verantwortung gegenüber deinem Publikum und mir.«

»I know, don’t be afraid. Übrigens haben wir beide einen Test machen lassen. Es ist alles Okay.«

»Du weißt, dass die Inkubationszeit drei Monate beträgt und du dann den Test wiederholen musst. Aber ich will kein Spielverderber sein. Erzähle mir mehr von ihm.«

»Oh, he is great. Er arbeitet bei einer der berühmten ‚Haut Couture‘–Häuser in Paris. Seine eigenen Entwürfe sind so gut, dass sein berühmter Chef ihm bereits zusagte, dass er eine eigene Kollektion entwerfen könne, die dann bei der nächsten Präsentation vorgeführt würde. Vielleicht macht er bald eine große Karriere als Modeschöpfer. Du wärst die erste Frau, der ich sofort ein von ihm entworfenes Kleid schenken würde.«

»Das ließe ich mir gern gefallen. Aber sag, soviel ich gelesen habe, ist der Chef von Jim auch schwul. Meinst du nicht, dass zwischen den beiden mehr sein könnte als der Beruf. Vielleicht ist er auch privat mit ihm zusammen und möchte ihn deshalb fördern.«

»Du schreckliche Miesmacherin. Willst du, dass ich aus dem Fenster springe? Jim ist mir treu, das weiß ich. Außerdem hatte er, seit ich ihn kenne, keine Gelegenheit, einen anderen Mann anzuschauen. Wir waren immer zusammen. Er ist sogar mit nach Chicago geflogen, als ich diese Woche dort Vorstellung hatte. Nur hierher konnte er nicht mitkommen, da er so viel zu tun hatte. Morgen fliege ich sofort wieder nach Paris. Bis nächsten Sonntag habe ich dann Zeit, die ich mit ihm verbringen möchte. Du weißt, nächsten Sonntag singen wir zusammen [Fußnote 9]‘Walküre‘ in Stuttgart. Da habe ich dann Gelegenheit, dir noch mehr zu erzählen. Aber sag, was machst du denn inzwischen?«

»Ich habe auch bis zu dieser Vorstellung frei. Allerdings muss ich den [Fußnote 10]‘Rosenkavalier‘ auswendig lernen. Übernächste Woche beginnen die Proben und ich habe die [Fußnote 11]Marschallin‘ noch nicht ganz drauf.«

»Das machst du doch mit links, so schnell wie du auswendig lernst.«

»Mein Kopf ist auch nicht mehr der Jüngste. Auch mein Körper braucht mal wieder neue Kraftreserven. Darum werde ich wahrscheinlich ein paar Tage in die Berge fahren, um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden.«

»Und deine neue Liebe? Er schaut immer zu uns, auch wenn er so tut, als würde er sich angeregt mit den Herren unterhalten.«

»Nächsten Sonntag erzähle ich dir, was daraus geworden ist. Außerdem weißt du, dass ich eine treue Frau bin und mich nicht so leicht auf Abenteuer einlasse. Mein Herz habe ich doch seit Jahren Christian geschenkt.«

»Klar, das respektiere ich. Aber immerhin bist du ihm keine Rechenschaft schuldig, denn er ist nicht mit dir verheiratet. Er lässt dich viel zu oft allein. Bei einer Frau mit deinen Vorzügen ist das unverzeihlich.«

»Aber du weißt doch, dass er einen anstrengenden Beruf hat und obendrein noch Familie.«

»Genau das ist es ja, was ich meine. Du brauchst ihm gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn du deine Freiheit nutzt. Das Leben ist viel zu schnell vorbei, als dass man Gelegenheiten, sich zu amüsieren, ohne spätere Reue vorbeiziehen lässt. Du wirst bald einsehen, dass ich recht habe. Also riskiere diesen Ausflug in die Erotik. Er verschlingt dich geradezu mit seinen Augen.«

Carlos sah tatsächlich so unverwandt auf Clarissa, dass es langsam auch dem Intendanten auffiel. Der hatte allerdings inzwischen so viel getrunken, dass er ebenfalls anfing, mit Clarissa zu flirten. Das vertrauliche Plaudern mit Clark war ein gutes Ventil, sich vor der Anziehungskraft von Carlos Blicken zu schützen. Jedes Mal, wenn sie zu ihm hinüberschaute, wäre sie am liebsten aufgesprungen und hätte sich in seine Arme geworfen. Sie war froh, dass der Tisch zwischen ihnen stand und sie so Haltung bewahren konnte.

Die Zeit lief davon und Clarissa spürte allmählich die Müdigkeit. Viele der Gäste waren schon gegangen. Auch Clark wollte langsam aufbrechen, da er noch mit dem Taxi in sein Hotel fahren musste. Als Carlos mitbekam, dass die beiden gehen wollten, stand er sofort auf und kam um den Tisch herum.

»Wir sind beide sehr müde,« sagte Clarissa.

»Das ist nur zu verständlich,« meinte Carlos. »Sie haben beide erstaunlich lange durchgehalten. Anscheinend war ihr Gespräch sehr anregend. Schade, dass wir so wenig Gelegenheit hatten, uns miteinander zu unterhalten. Liebe Clarissa, darf ich Sie noch auf Ihr Zimmer bringen?«

»Nicht nötig, mein Freund Clark übernimmt das bereits.« Carlos sah seinen potenziellen Nebenbuhler misstrauisch lächelnd an und meinte:

»Morgen,« er sah auf die Uhr, »beziehungsweise heute Nachmittag werde ich Sie anrufen und mich nach Ihrem Befinden erkundigen, darf ich?«

»Selbstverständlich, aber bitte nicht vor 15 Uhr.« Carlos küsste ihr die Hand und drückte die von Clark. Er sah ihnen nach, bis sie den Saal verlassen hatten.

An der Rezeption verlangte Clark den Zimmerschlüssel und bestellte für sich ein Taxi.

»Soll ich dich noch hinaufbringen?«

»Aber nein, den Weg finde ich schon. Warte du nur auf dein Taxi.«

»Habe ich dir vorhin etwas vermasselt, ich meine, wegen dem schönen Attaché?«

»Quatsch, für heute habe ich genug. Ich will nur noch schlafen. Wir sehen uns nächsten Sonntag. Pass gut auf dich auf.«

»Ebenfalls. Ich wünsche dir eine wundervolle Woche. Mal sehen, wer mehr zu erzählen hat, wenn wir uns wiedersehen.« Sie küssten sich freundschaftlich. Die Lifttür ging auf, Clarissa sprang hinein und winkte Clark nochmals.

Als Clarissa in ihrem Zimmer war, nahm sie zuerst das Samt Etui aus ihrer Tasche und holte das goldene Medaillon heraus. Sie war gespannt, welche Erklärung ihr Carlos bieten würde. Jetzt war sie zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie zog sich nackt aus und nach der nötigsten Reinigung schlüpfte sie in das wunderbar bequeme Bett, in dem sie sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen wachte sie gegen zehn Uhr erfrischt und ausgeschlafen wieder auf. Sie ließ sich das Frühstück aufs Zimmer bringen, da sie keine Lust hatte, sich groß schön zu machen. Der Weg bis zur Tiefgarage war nicht weit. Es nieselte zwar leicht und sie hatte keinen Schirm dabei, aber ein Kopftuch musste bis zum Auto genügen. So machte sie sich gut gelaunt daran, ihren Wagen zu holen.

Der Alfa Romeo stand allein in der sonst leeren Tiefgarage, die tagsüber geschlossen blieb. Mit ihrer Codekarte konnte sie die Tür öffnen. Während der Heimfahrt nach Grünwald machte Clarissa das Autoradio an und stellte einen Sender ein, in dem klassische Jazzmusik ertönte. Dazu improvisierte sie fröhlich und trat aufs Gaspedal.

Wie ein grüner Frosch, der einen zu großen Happen im Maul hat, sah Clarissas runder, freistehender Briefkasten aus, als sie nach Hause kam. Zunächst zog sie die Zeitung heraus, öffnete ihn dann mit dem Schlüssel und klemmte sich den Packen Briefe unter den Arm. In der Wohnung pflanzte sie Mantel und Taschen auf das Sofa und sich selbst in ihren Lieblingssessel. Zeitung und Briefe deponierte sie auf ihrem Schoß. Ein paar Rechnungen, Fanpost, Ansichtskarten und ein Brief von ihrem Vater waren darunter. Diesen Brief wollte sie zuerst lesen, aber vorher noch einen Blick in die Zeitung werfen. Im Lokalteil stach ihr ein großer Titel ins Auge.

»Sternstunde der Oper

Über dem Artikel selbst befand sich ein Szenenfoto der gestrigen Tosca–Vorstellung und ein Bild des Ministerpräsidenten, wie er strahlend mit seiner Frau das Theater verlässt. Der Artikel enthielt ein überschwängliches Statement des Politikers. Er sei stolz auf die Oper in unserem Lande. Es wurden noch einige Persönlichkeiten erwähnt, die bei der Festvorstellung anwesend waren, unter anderem auch der Name von Carlos. Eine kurze Beschreibung der Inszenierung folgte und die Namen der agierenden Sänger, wobei Clarissa von Calis, die einzige Deutsche des Ensembles, besonders enthusiastisch hervorgehoben wurde.

Clarissa legte die Zeitung beiseite und öffnete den Brief ihres Vaters. Das Briefpapier war mit dem Calis’schen Wappen versehen. Ihr Vater schrieb immer von Hand. Bei seiner schönen, gut leserlichen Schrift konnte er sich das leisten. Schreibmaschinen waren ihm verhasst, außer bei Geschäftsbriefen. Die schrieb aber sowieso seine Sekretärin, die gute Frau Bühler. Diese hatte inzwischen zwar ihren Schreibberuf gegen den einer Pflegerin für ihn getauscht, denn ihr Chef war seit fünf Jahren im Frühruhestand, wegen seiner instabilen Wirbelsäule. Carl von Calis war auf einen Rollstuhl angewiesen und bedurfte der ständigen Betreuung. Als Witwer bestand für ihn nur die Möglichkeit, für sich eine Pflegeperson zu engagieren, die er in seiner ehemaligen Sekretärin zur vollen Zufriedenheit fand. Ob hinter dieser Zweckgemeinschaft noch mehr stand, hatte Clarissa bis heute nicht herausfinden können, denn ihr Vater sprach nie über persönliche Gefühle.

Er stammte aus einer sehr strengen, stockkatholischen Beamtenfamilie und hatte es fertiggebracht, in wenigen Jahren, mit der dort üblichen Schaffigkeit, in Oberschwaben eine kleine Papierfabrik aufzubauen. Da er sich seinerzeit voll der Arbeit widmete, blieb ihm kaum Zeit für die Familie. Seine Frau erlag einem Herzleiden, als Clarissa gerade zwölf Jahre alt war. Danach vertiefte er sich noch mehr in sein Geschäft. Seine Sekretärin war der einzige Mensch, der ständig um ihn war. Ein Leben ohne diese, ihm treu ergebene Seele, schien ihm unvorstellbar. Darum war es für ihn selbstverständlich, dass sie jetzt in seinem Haus lebte.

Aus heutiger Sicht konnte Clarissa ihren Vater besser verstehen, aber als junges Mädchen war sie oft enttäuscht über seine mangelnde Zuwendung. Besonders nach dem Tod ihrer Mutter hätte sie seine Liebe und Nähe gebraucht. Er verbarg seine Gefühle vor seiner Tochter und setzte dafür Strenge ein. Clarissa wusste, dass er von Natur aus, ein sehr weichherziger Mann war, aber bei seiner eigenen Erziehung musste er lernen, dass ein Mann diszipliniert und kompromisslos zu handeln hatte, um ernst genommen zu werden. Jetzt, auf seine alten Tage, brachte er den Mut auf, sein wahres Ich mehr zu zeigen. Er war stolz auf seine Tochter, welche die Stärke hatte, gegen seinen Willen, ihren Berufswunsch durchzusetzen und damit erfolgreich zu sein.

Da ihm seit seiner Pensionierung auch die nötige Zeit zu Verfügung stand, konnte er es sich leisten, so oft wie möglich ins Theater zu gehen, auch wenn seine Tochter nicht mitwirkte. Er tat das mit demselben Elan, wie er seinerzeit sein Geschäft aufgebaut hatte. Wenn Clarissa ihn besuchte, endete das meistens in einem heftigen Operndiskurs, da er es liebte, seine Tochter zu provozieren und das moderne Regietheater anzugreifen. Er hatte allerdings ein gutes Gespür dafür, zu unterscheiden, was aufgesetzte Gags und was wirklich gute künstlerische Arbeiten waren. Ihre Meinung über Regisseure, Dirigenten und Sänger-Kollegen interessierte ihn brennend.

In dem Brief fragte nun Clarissas Vater an, ob er und Frau Bühler zwei Theaterkarten für die Walküren–Vorstellung haben könnten, die am nächsten Sonntag in Stuttgart stattfand. Clarissa freute sich, ihren alten Herrn bei der Gelegenheit wiederzusehen und nahm sich vor, die Reservierung umgehend zu veranlassen. Dann wollte sie ihn anrufen, da sie sich nicht aufraffen konnte, ihm schriftlich zu antworten. Das hätte viel Zeit erfordert, denn er legte Wert auf gute Formulierungen und Stil. Wie kleine Kunstwerke behandelte und sammelte er Clarissas Briefe. Darum konnte sie es sich nicht leisten, einfach schnell etwas aufs Papier zu hauen. Da war das Telefon schon praktischer.

Die übrige Post sortierte sie, legte die Rechnungen auf einen Haufen, ging dann endlich ins Schlafzimmer, zog sich etwas Bequemeres an, machte sich in der Küche einen Espresso und setzte sich damit in den geheizten Wintergarten. Der Blick auf ihre schönen Pflanzen und die Vorboten des Frühlings mit seiner sprießenden Vegetation draußen, stimmten sie heiter.

Sie sollte eigentlich noch Verschiedenes einkaufen, aber ein Blick auf ihre Uhr sagte, dass die Geschäfte und Banken um die Mittagszeit geschlossen hatten. Also machte sie es sich so gut wie möglich bequem und hing ihren Gedanken nach.

Wenn sie noch Besorgungen machen wollte, musste sie es so einrichten, spätestens um 15 Uhr wieder zu Hause zu sein. Sie durfte Carlos Anruf auf keinen Fall verpassen, obwohl sie ihn nicht merken lassen wollte, wie ungeduldig sie sich nach seiner Stimme sehnte. Er sollte nicht das Gefühl bekommen, dass sie leicht zu haben war und dass er sie ohne große Anstrengungen ins Bett bekommen konnte. Aber genau das war es, an was Clarissa unaufhörlich dachte. Sie stellte sich seinen nackten Körper vor. Dabei wurde ihr heiß und sie berührte unwillkürlich ihren Schoß, der durch ihre Fantasiebilder bereits feucht war. Da klingelte das Telefon. Sie ging ziemlich erregt ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab

»Hallo,« hauchte sie in den Apparat.

»Liebes, ich bin es. Herzlichen Glückwunsch für gestern Abend. Die Lobeshymnen für dich sind ja überwältigend, wie ich der Zeitung entnehme. Hoffentlich hast du den Erfolg auch entsprechend gefeiert.«

»Aber klar doch. Gegen morgen bin ich erst ins Bett gekommen, darum klinge ich auch noch so matt.«

»Na hoffentlich warst du auch alleine im Bett.«

»Wie kannst du daran zweifeln, lieber Christian. In Hotels schlafe ich immer allein! Das weißt du doch! Sag, wie lief es heute bei dir?«

»Ausgezeichnet, denn ich war ja gut ausgeschlafen, obwohl du ständig durch meine Träume gegeistert bist. Ich kann es kaum erwarten dich zu sehen. Soviel ich weiß, hast du doch jetzt ein paar Tage keine Vorstellung. Leider kann ich mich nur stundenweise freimachen. Hast du etwas Bestimmtes vor?«

»Ich wollte drei, vier Tage nach Garmisch fahren, um mich dort gesundheitlich und mental wieder auf Trab zu bringen. Außerdem muss ich noch die Marschallin fertig studieren.«

»Klar, ich verstehe. Kann ich dich vielleicht in Garmisch besuchen?«

»Wenn dir das zeitlich möglich ist, sicher.«

»Du hast recht, mein Terminkalender ist randvoll. Kann ich wenigstens heute kurz bei dir vorbeischauen?«

»Ich muss nachher noch Besorgungen machen, aber gegen Abend bin ich sicher zu Hause. Komm ruhig vorbei.«

»Danke, das werde ich machen. Irgendwie klingst du anders. Ist etwas mit dir, oder liegt es nur an der durchfeierten Nacht?«

»Es ist alles in Ordnung. Das liegt nur am Schlafmangel. Tschüss Christian, bis heute Abend.«

Aus ihren Tagträumen herausgerissen, überfiel Clarissa plötzlich ein Betätigungsdrang. Sie räumte die hingeschmissenen Sachen auf, legte das Medaillon in ihr Schmuckkästchen und fing an, die Küche zu putzen. Bei einem Blick in den Kühlschrank überlegte sie, was sie noch einkaufen musste, falls Christian bei ihr zu Abend essen wollte.

Das Telefon klingelte wieder.

»Oh Gott, das wird er sein.« Es war genau drei Uhr. Sie ließ es viermal klingeln, bevor sie den Hörer abnahm.

»Von Calis,« meldete sie sich. Ihr Herz klopfte wie vor einem wichtigen Vorsingen.

»Liebste Clarissa, hoffentlich störe ich Sie nicht. Hier spricht Carlos Vargas.«

»Aber nein, Sie hatten Ihren Anruf ja angekündigt. Besten Dank nochmals für den schönen Abend und das Hotelzimmer. Ich habe herrlich geschlafen. Seit drei Stunden bin ich wieder zu Hause.« »Es beruhigt mich, dass es Ihnen gut geht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich fürchtete, Ihnen zu viel zugemutet zu haben. Anscheinend sind Opernsänger wesentlich belastbarer als normale Sterbliche.«

»Jetzt übertreiben Sie aber,« lachte Clarissa ins Telefon.

»Da wir diesen Punkt nun geklärt haben, darf ich bitte auf meine Frage von gestern Abend zurück kommen. Wann und wo kann ich Sie wiedersehen?«

»Nun, da kann ich mich auch nach Ihren Möglichkeiten richten. Zum Glück habe ich bis zum nächsten Sonntag keine bindenden beruflichen Termine, außer dem Studieren einer neuen Partie. Machen Sie einen Vorschlag.«

»Da Sie mir ein so verlockendes Angebot machen, habe ich den Mut, Ihnen eine andere Frage zu stellen. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber würden Sie gerne ein paar Ferientage an der Côte d’Azur mit mir verbringen?«

»Wie meine Sie das?« Clarissas Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, er könne es hören.

»Vielleicht wissen Sie, dass ich ein kleines Privatflugzeug habe. Mit diesem bin ich gestern nach München gekommen, sonst hätte ich die Vorstellung verpasst. Wir könnten damit nach Monaco fliegen. Vielleicht würde Ihnen der Tapetenwechsel gefallen und für mich wäre es leichter, dort das bewusste Gespräch mit Ihnen zu führen. Ich möchte Sie nicht drängen Überlegen Sie nur in Ruhe.«

»Das ist leichter gesagt als getan. Ich hatte schon geplant, meine freien Tage zur Erholung zu nutzen. Nur wollte ich eigentlich in die Berge fahren. Allerdings hat der Frühling am Meer auch seinen Reiz. An welche Zeitspanne haben Sie denn dabei gedacht? Ihre Arbeit muss doch auch getan werden.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Einfühlungsvermögen. Es spielen bei meinem Vorschlag tatsächlich mehrere Faktoren eine Rolle. Meine beruflichen Verpflichtungen verlangen, dass ich in den nächsten Tagen in Monaco bin. Allerdings wollte ich auf keinen Fall die Chance verpassen, mit Ihnen zusammen zu sein. Ich hoffe nur, dass meine Offenheit Sie nicht beleidigt, wenn ich versuche, meine Wünsche mit dem Notwendigen zu verbinden.«

»Ganz im Gegenteil, es imponiert mir, dass Sie nicht versuchen, mir etwas vorzumachen. Wenn Sie auch weiterhin so ehrlich sind, werden wir sicher gut miteinander auskommen. Nun, Ihr Vorschlag ist wirklich sehr verlockend. Wenn Sie mir garantieren können, dass ich rechtzeitig wieder zurück bin, würde ich mich auf dieses Abenteuer einlassen. Ich bin noch nie in einem Privatflugzeug geflogen. Bei dem Gedanken daran, wird mir etwas flau im Magen.«

»Dazu besteht wirklich kein Grund. Ich versichere Ihnen, dass ich ein geübter Pilot bin und niemals einen so kostbaren Passagier wie Sie, in Gefahr bringen würde. Auch werden Sie zu jedem gewünschten Zeitpunkt wieder nach München gebracht.«

»Nun gut. Wann gedenken Sie denn abzufliegen?«

»Wie wäre es mit heute Abend?«

»So bald? Das geht leider nicht. Ich habe heute noch eine Verabredung und auch sonst noch einiges zu erledigen.«

»Aber natürlich, bitte entschuldigen Sie meine Ungeduld. Wann könnten Sie denn frühestens fliegen?«

»Wie wäre es morgen. Am frühen Nachmittag?«

»Wunderbar, das wäre auch für mich ein guter Zeitpunkt. Ich lasse Sie um 13 Uhr von einem Taxi abholen, dass Sie zum Flughafen bringt. Leider kann ich Sie nicht persönlich abholen, da ich mich um die Maschine kümmern muss. Ist Ihnen das recht?«

»Ja, natürlich, das geht sehr gut. Was soll ich denn an Kleidung einpacken?«

»Nehmen Sie auf jeden Fall einen Badeanzug mit. Es kann zu dieser Jahreszeit schon recht warm dort sein.«

»In Ordnung, wird eingepackt. Sonst noch etwas?«

»Werden Sie leicht seekrank?«

»Eigentlich nicht. Nur hatte ich bisher nicht viel Gelegenheit es auszuprobieren. Was bedeutet diese Frage?«

»Lassen Sie sich überraschen. Ich verspreche, es wird Ihnen Spaß machen. Vielen Dank für Ihre Zusage. Sie haben mich damit sehr glücklich gemacht. Ich werde Ihr Vertrauen nicht enttäuschen und mich jetzt auch gleich in die Vorbereitungen stürzen. Bis morgen also.«

»Ja bis morgen. Ich freue mich sehr und vielen Dank für diese ungewöhnliche Einladung.«

Clarissa legte den Hörer auf. Jetzt musste sie sich erst einmal hinsetzen und überlegen, was zu tun sei. Nun hatte er die Fäden in der Hand. Ihr blieb nur, entsprechend zu reagieren. Es war für sie sehr ungewohnt, anderen die Entscheidungen zu überlassen, aber irgendwie gefiel ihr das. Warum sollte sie sich nicht ein paar Tage Auszeit gönnen. Ein kleines Abenteuer hat noch kaum jemandem geschadet. Außerdem hatte sie Carlos Angebot zumindest einen Tag hinausgeschoben, was ihre Bereitschaft, sich mit ihm einzulassen, relativierte. Als sie ihre Verabredung erwähnte, war er eindeutig irritiert und seine Stimme klang viel unsicherer, was sie mit Genugtuung feststellte. Er sollte auf keinen Fall glauben, dass sie es kaum erwarten konnte, mit ihm zusammen zu sein. Sie war überzeugt, bei seinem Aussehen hatte er in der Regel leichtes Spiel mit weiblichen Eroberungen, unter denen sie keine Ausnahme machte, auch wenn sie das nicht gerne zugab.

Tatsächlich waren ihre Gedanken so stark bei Carlos, dass sie nicht wusste, wie sie am Abend mit Christian umgehen sollte. Ob sie Schauspielerin genug war, sich unbefangen und liebevoll ihm gegenüber zu verhalten? Falls nicht, würde ihr schon eine glaubhafte Ausrede einfallen.

Sie öffnete den Kleiderschrank. Carlos hatte viel zu wenig verraten, in welchen Kreisen sie sich bewegen würden. Sollte sie eher sportliche oder elegante Sachen einpacken? Es wäre ihr auch peinlich, wenn sie mit einem Riesenkoffer ankäme, da es sich ja nur um einen Kurzurlaub handelte. Ein Kostüm, zwei Pullis, Hose zum Kombinieren, vielleicht noch eine Bluse. Auf jeden Fall etwas Elegantes für den Abend und natürlich Badesachen.

Jetzt war es aber Zeit noch ein paar Einkäufe zu machen, auf die Bank zu gehen und die Telefonate zu erledigen. Um halb sieben war sie mit allem fertig. Sie bereitete gerade in der Küche einen Salat vor, als es an der Tür läutete. Christian stand mit einer Flasche Champagner vor ihr.

»Komm rein«, sagte Clarissa, sich bereits wieder in Richtung Küche bewegend. Sie wurde von Christians Armen am Weitergehen gehindert und spürte seine Lippen auf ihrem Nacken.

»Nicht so schnell. Was ist mit einer anständigen Begrüßung?« Seine Stimme klang zärtlich, auch wenn ein leichter Vorwurf herauszuhören war.

»Entschuldige mein Schatz. Ich war gerade mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt.«

»Kein Grund, dem Mann deines Lebens den Begrüßungskuss zu verweigern. Aber es sei dir verziehen, wenn du versprichst mit mir dieses Fläschchen zu leeren.«

»Mit Vergnügen. Wir können den Champagner gleich zum Essen trinken. Ist er kalt genug?«

»Du kannst ihn ja noch kurz ins Eisfach legen,« meinte Christian.

»Mach ich. Schenk dir doch inzwischen einen Aperitif ein. Es dauert nicht mehr lange, bis wir essen können.« Clarissa hatte zwei schöne Steaks gekauft, die schon mariniert waren. Sie legte diese jetzt in die heiße Pfanne.

»Du könntest schon mal den Tisch decken«, rief sie ins Wohnzimmer hinüber.

»Geht klar«, kam es zurück. »Soll ich etwas Musik anmachen?«

»Ja gern, aber nichts mit Gesang und möglichst dezent«, gab sie zur Antwort. Als sie schließlich am Tisch saßen blickte Christian aufmerksam auf Clarissa, die das Glas in die Hand genommen hatte.

»Komm, lass uns anstoßen,« sagte sie. Er nahm ebenfalls sein Glas und sprach:

»Ist es nicht schön, wie ein langjähriges Ehepaar gemütlich beim Abendessen zu sitzen und vis à vis immer noch seine Traumfrau zu anschauen zu dürfen?«

»Aber Christian, lass das Süßholz-Geraspel. Du redest charmanten Unsinn,« erwiderte Clarissa lachend. »Ich will zwar zu deinen Gunsten annehmen, dass ich deine Traumfrau bin, aber davon stimmt nur der erste Teil des Wortes.«

»Lass mir doch die Illusion. Es ist schön, Tagträume zu haben.«

»Es sind aber halt nur Träume. Die Wirklichkeit sieht anders aus und es ist nicht immer leicht, damit fertig zu werden. Ich bin nach wie vor eine alleinstehende Frau. Clark hat dich gestern vermisst. Er meint auch, ich sei viel zu oft allein.«

»Wieso mischt sich diese Tunte in unser Privatleben? Ist er zurzeit wieder unbefriedigt?« sagte Christian ärgerlich.

»Erstens handelt es sich nicht um UNSER, sondern um MEIN Privatleben und deiner bösen Bemerkung zum Trotz ist er momentan sehr glücklich und wünscht sich, dass ich es genauso bin. Weil er mich wirklich mag, ohne etwas von mir zu wollen. Außerdem verbitte ich mir, in diesem Ton von meinem Lieblingskollegen zu sprechen. Ich finde das sehr taktlos.«

Clarissa hatte sich völlig aufgebracht vom Tisch erhoben.

»Entschuldige bitte, so habe ich das nicht gemeint. Sei so lieb und setze dich wieder. Du hast recht, es war eine sehr unfaire Bemerkung von mir. Aber es gibt mir jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn jemand die unangenehme Wahrheit ausspricht, zu der ich keine Lösung finden kann.«

»Mach dir keine Gedanken. Wenn ich deine Frau wäre, hätte ich auch nicht viel mehr von dir, höchstens deine schmutzige Wäsche.«

»Jetzt schlägst du aber genauso unfair zurück. Zwar hast du recht, dass ich meine Frau selten sehe, aber für die Wäsche haben wir schließlich eine Hausangestellte.«

»Wie schön für euch, dass du wenigstens einen lukrativen Job hast und dir Dienstboten leisten kannst. Ein Problem weniger.«

»Was ist eigentlich mit dir los? So kenne ich dich gar nicht. Du warst noch nie so kratzbürstig.

»Du hast schließlich angefangen. Manchmal muss man halt die Wahrheit sagen, auch wenn es weh tut.«

»Eigentlich hatte ich mir vorgestellt, heute einen schönen, romantischen Abend mit dir zu verbringen, aber dazu scheinst du ja nicht in Stimmung zu sein.«

Das Läuten der Türglocke hinderte Clarissa an einer Antwort. Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab, stand auf und öffnete die Tür. Frau Kistner stand draußen. Vollgepackt mit Tüten und Blumensträußen.

»Ich will nicht stören, wo Sie doch gerade beim Essen sind. Guten Abend Herr Dr. Bronner. Ich bringe nur die Sachen aus dem Theater. War gerade dort. Es wäre doch schade, die schönen Blumen verwelken zu lassen, liebe Frau von Calis.«

»Marie, dass wäre aber nicht nötig gewesen. Kommen Sie doch herein und legen Sie ab. Ich hatte völlig vergessen, dass es so viele Blumen sind. Wissen Sie was? Behalten Sie alle Sträuße. Ich fahre morgen für ein paar Tage weg. Da würden die Blumen ebenfalls ungesehen verwelken. So haben Sie wenigstens noch etwas davon.«

Christian war aufgestanden und nahm der Garderobiere die Tüten ab.

»Wollen Sie ein Glas mit uns trinken?« fragte Clarissa.

»Nein nein, auf keinen Fall. Wo Sie zwei doch sowieso wenig Zeit für einander haben. Ich gehe gerade wieder. Danke für die Blumen und nichts für ungut. Schönen Abend noch.« Schon war sie verschwunden. Clarissa machte die Tür hinter ihr zu.

»Siehst du, sogar Frau Kistner fällt auf, dass wir wenig Zeit für einander haben,« knüpfte Clarissa an das Streitgespräch davor an. Christian antwortete nicht. Er ging nur auf sie zu und nahm sie in die Arme.

»Was zählt, ist nicht die Quantität der Zeit, die man miteinander verbringt, sondern die Qualität der Liebe, die man spürt, wenn man zusammen ist. Ganz zu schweigen von der Sehnsucht, unter der man leidet, wenn man getrennt ist. Mein Leben ist nur durch dich lebenswert.«

Fast wäre Clarissa seinen Worten erlegen. Sie hatte bereits einen Kloß im Hals und war bereit loszuheulen, aber der Geist des Widerspruchs war stärker in ihr.

»Bitte lass das. Wenn du meinst, dass wir nur miteinander schlafen müssen und alles ist wieder gut, dann hast du dich getäuscht. So einfach sind wir Frauen nicht gestrickt, wie ihr Männer euch das vorstellt. Mir ist jetzt wirklich nicht danach, mit dir ins Bett zu hüpfen.« Christian sah sie entgeistert an.

»Ich verstehe nicht, was du meinst. Bekommst du deine Tage?«

»Da spricht doch gleich der Mediziner aus dir. Wenn eine Frau nicht so reagiert, wie du es erwartest, muss es wohl mit den Hormonen zu tun haben. Das ist die einfachste Erklärung und MANN ist nicht gezwungen, über sein eigenes Verhalten nachzudenken.« Clarissa steigerte sich richtig in den Streit hinein. Es machte ihr sogar Spaß, Christian ein wenig zu quälen und sein verdattertes Gesicht zu sehen.

»Du hast wahrscheinlich recht, Liebes,« sagte er ganz leise, fast wie zu sich selbst. »Aber es wäre mir lieber, die Hormone sind daran schuld, als ein anderer Mann.«

Als er das gesagt hatte, war Clarissa schlagartig klar, dass sein Instinkt funktionierte. Nicht sein Verhalten, noch die wohlbekannte Situation ihrer Beziehung, waren der Grund für ihren aggressiven Ausbruch. Sie war nicht fähig, ihm und sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Ihre Gefühle für Christian hatten keinen festen Boden mehr. Und das warf sie ihm indirekt vor. Sie hatte plötzlich Mitleid mit ihrem Freund und war nahe daran, doch mit ihm ins Bett zu gehen, nur um ihn zu trösten.

»Christian, bitte nimm mich wieder in den Arm.« Behutsam führte er sie zum Sofa. Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust, während er ihr Haar streichelte. Als sie zu ihm aufblickte, bemerkte sie Tränen in seinen Augen. Eine ganze Weile saßen sie so schweigend da. Ihr Gemüt beruhigte sich allmählich und eine innere Wärme durchströmte sie. Christian war ein Teil ihres Lebens geworden, auf den sie ungern verzichten wollte.

»Es ist besser, du gehst jetzt«, sagte sie stattdessen. »Ich rufe dich aus Garmisch an.«

Christian Bronner erhob sich langsam und schaute auf seine Fußspitzen.

»Ich wünsche dir gute Erholung. Komm bitte als die Clarissa wieder, die ich kenne.«

»Es wird sicher wieder alles, wie es war. Keine Sorge mein Schatz.«

Ohne sie richtig anzusehen, gab er ihr einen flüchtigen Kuss auf den Mund und verließ die Wohnung.

Dass Christian so empfindlich reagieren würde, damit hatte Clarissa wirklich nicht gerechnet. Sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte, aber ihr fiel doch ein Stein vom Herzen, mit ihm nicht weiter diskutieren zu müssen. Schließlich brauchte sie kein schlechtes Gewissen zu haben. Es war bisher ja noch nichts passiert, was sie Ihm hätte verschweigen müssen. Außer, dass sie ihm nicht ihr wahres Reiseziel angegeben hatte. Nun ja, schließlich war sie ihm keine Rechenschaft schuldig. Er war verheiratet und damit abhängig von seiner Familie. Sie dagegen konnte tun und lassen was sie wollte. Erstaunlich fand Clarissa allerdings, dass sie heute Abend nicht die geringste Lust verspürte, mit Christian zu schlafen. Sex mit ihm war zwar immer toll, hatte durch die jahrelange Vertrautheit aber eine neue Qualität bekommen. Auch wenn mal nicht alle Kirchturmglocken dabei läuteten, so nahm sie es gelassen. Meistens jedoch zog er das volle Programm durch, lotete immer neue Grenzen aus. Was manchmal auch schief ging und mehr einer Art Hochleistungssport glich als aufregender Erotik und Leidenschaft. Clarissas Liebhaber schien zu glauben, dass nur fantasievoller Sex die Liebe erhalten könne und setzte sich dadurch selbst unter Leistungsdruck, wodurch ein gelegentliches Versagen vorprogrammiert war. Aber genau dann liebte Clarissa ihn am meisten, denn dann konnten sie Zärtlichkeiten austauschen und über Dinge miteinander plaudern, für die ihnen sonst die gemeinsame Zeit zu schade schien.

Längst sah Clarissa ihren Liebhaber nicht mehr durch die rosarote Brille. Seine negativen Seiten kannte sie inzwischen recht gut, konnte diese aber akzeptieren und mit ihnen umgehen. Eigenschaften und Tätigkeiten, die sie nervten, waren allerdings nur erträglich, weil sie wusste, dass sie ihn nicht ständig um sich haben musste. Ihre Beziehung war an einem Punkt angekommen, die eine Veränderung notwendig machte.

Im Bett liegend, dachte sie noch eine Weile darüber nach. Einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen, verlangte einen gewissen Mut. Die nächsten Tage würden ihr sicher dabei helfen, diesen Schritt zu wagen.

Die halbe Nacht lag sie wach und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Mehrmals sah sie auf die Uhr. Endlich gab sie es auf und machte sich ein Glas warme Milch. Sie setzte sich vor den Fernseher und zappte durch die Programme. Beim Wetterbericht hörte sie mit Freude, dass Norditalien und die Côte d’Azur mit strahlendem Sonnenschein rechnen konnten. Temperaturen bis 25 Grad wurden angekündigt. Das hieß, mehr leichte Sachen mitzunehmen. Jetzt packte Clarissa so richtig das Reisefieber.

Ein neuer Versuch einzuschlafen, gelang. Sie träumte wirres Zeug. Ein Alptraum, bei dem sie mit einem Flugzeug abstürzt, ließ sie schweißgebadet aufwachen. Beim Blick auf den Wecker stellte sie fest, dass es zum Aufstehen noch viel zu früh war. Also ging sie erst mal ins Bad und duschte ausgiebig. Dann nahm sie den kleinen Koffer und begann zu packen. Sie wusste, dass der Bäcker gegenüber bereits geöffnet hatte und beschloss, sich frische Brötchen und Croissants zu besorgen. Man muss aus der Not eine Tugend machen. Der Gedanke an ein leckeres Frühstück hob ihre Laune und sie schlüpfte schnell in ihre Kleider.

Der junge Morgen, der mit einer frischen Brise ihr Haar zerzauste, begrüßte sie freundlich. Tautropfen brachten die einfallenden Sonnenstrahlen auf den Primeln und Krokussen zum Glänzen. Ein schöner neuer Tag hatte begonnen. Das bevorstehende Erlebnis versetzte sie in eine euphorische Stimmung. Clarissa scherzte mit der Verkäuferin und erzählte ihr von der Reise in den Süden und wie sie sich darauf freute.

Nach dem Frühstück meldete sich nun doch der Schlafmangel. Clarissa wollte es riskieren, noch mal ein Auge zu zumachen. Den Wecker stellte sie auf elf Uhr, legte sich aber nur aufs Sofa, um ja nicht zu verschlafen.

Die Liebhaber der Diva

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