Читать книгу Altstadt-Blues 2.0 - Waltraut Karls - Страница 7
ОглавлениеHundemüde, brennende Füße und der stechende Schmerz im Nacken. Hoffentlich kein Vorbote für einen steifen Hals, ihren alten Bekannten aus heiterem Himmel, den sie in den nächsten drei Wochen wirklich nicht brauchen kann. Aber fünfundsiebzig Parksünder hat sie am heutigen Sam stagabend des Johannisfestes im MDE, im mobilen Datenerfassungsgerät, registrieren können. Damit ist sie vollauf zufrieden. Ein ordentlicher Schnitt für den letzten Arbeitstag vor dem Urlaub. Nur, dass sie, Gerda Buchdruck, das gesamte Equipment der neuen Partnerin Kathrin, zusätzlich neben ihrem eigenen, nach Hause und morgen ins Amt transportieren soll, stinkt ihr gewaltig. Doch wie hätte sie dem Betteln der jungdynamischen Neuen widerstehen sollen?
»Du bist die beste, die Beste von allen Kolleginnen! Bitte, bitte, bitte…!« Erst seit zwei Monaten gehört diese Kathrin zum Team und wollte es heute Nacht »…mal so richtig krachen lassen!«, wegen ihres dreißigsten Geburtstags.
Nach Mitternacht wollte sie unbedingt darauf anstoßen und hatte Gerda, nach Ende der gemeinsamen Sonderschicht, überredet zum Besuch dieser merkwürdigen Kaschemme, welche die erfahrene Politesse normalerweise niemals betreten hätte. Kathrin ist die Erste, die lange mit der Einsatzleitung um die Ausnahme gerungen hatte, dass sie beide die Arbeitsgeräte nicht wie üblich nach Feierabend abliefern müssten. Morgen früh, so lautet ihr Deal, soll eine von ihnen zur Dienststelle in der Kaiserstraße kommen, um die erfassten Parkverstöße dieser Nacht ablesen zu lassen. An Gerdas Gürtel baumeln jetzt also zwei MDEs – neben der Tasche mit den übriggebliebenen, druckfrischen Strafzetteln und der Digitalkamera – und über ihrer Schulter schlenkern zwei ausgeschaltete Funkgeräte. Wie üblich hat sie den Schwarzen Peter gezogen und ärgert sich über sich selbst, dass sie sich wieder einmal zu etwas breitschlagen ließ, was sie eigentlich so nicht wollte. Vor der Kneipe atmet die zierliche Frau erst einmal tief durch, bevor sie so bepackt, den Abstieg zur Gaugasse beginnt. Unten angelangt torkelt ihr auf der begrenzten Verkehrsinsel inmitten der Gabelung der Straßenbahnschienen, im Durchgang zwischen den Robinien und dem dreistöckigen, skurrilen Schottenhof, ein Pärchen mittleren Alters entgegen. Es stützt sich mühsam schwankend immer wieder gegenseitig, kippt rechts und links auf die parkenden Autos am Straßenrand, um beim dritten Anlauf die Treppe zum Kästrich zu erklimmen, die sie gerade heruntergestiegen ist.
Gerda schaut ihnen hinterher, verharrt kurz, dann blickt sie skeptisch zur beeindruckenden Kulisse der Stephanskirche, die sich hundert Meter weiter vor ihr in den Nachthimmel reckt. Mit dunklen Schlagschatten, dem verhangenen Mond und so in Dämmerlicht gehüllt, präsentiert sich die eigentlich vertraute Szenerie beklemmend unheimlich, was sie unwillkürlich erschauern lässt. Seit dem schweren Schicksalsschlag vor einem Jahr quälen Gerda sehr ambivalente Gefühle über ihr einstiges Urvertrauen zu Gott und den tiefen Glauben, den sie jetzt nicht mehr aufzubringen vermag. Sobald sie mit sich alleine ist, hadert sie mit dem unbarmherzigen Schicksal, das ihr alles nahm. Sie zweifelt immer wieder am Katholizismus und den streng gläubigen Familienbanden, in denen sie seit ihrer Kindheit so tief verwurzelt war.
Diesen Gott, der ihren Lebensweg wie ein roter Faden begleitete, der als unerschütterlicher Halt stets an ihrer Seite war, ihn stellt sie jetzt infrage, weil sie seine Anwesenheit nicht mehr zu spüren vermag. Gerda streift sich fest über die Stirn, als wolle sie die trüben Gedanken hinweg wischen. Den verkürzenden, aber diffus beleuchteten Durchgang entlang der Kirchenmauern wird sie heute nicht nehmen, auch nicht die unzähligen Treppenstufen nach unten, die gleich dahinter zu Ball- und Bischofsplatz führen. Dort müsste sie so behängt quer durch die Feiernden und dümmliche Sprüche wären vorprogrammiert. Nach Überquerung der Schienenstränge entscheidet sie sich zu einer letzten Anstrengung am Finale des heutigen Abends. Zu den hundert Metern Anstieg bis zum Gautor, wo sie nach Linksbiegung über die Zitadelle nur noch bergab der Straße folgen muss, um so das Fest zu umgehen. Funkgeräte und Digitalkamera lasten schwer auf Gerdas müden Gliedern, als sie sich Schritt vor Schritt den Berg hinauf in Bewegung setzt. Das Ecklokal hat geschlossen und in der Gasse grölt eine Gruppe Betrunkener. Mit einem kleinen Umweg über den Südbahnhof kann sie dann unbehelligt zu ihrer Wohnung in der Uferstraße gelangen. Ausgelaugt und zerschlagen sehnt sie sich unbändig nach den eigenen vier Wänden. Hunger verspürt sie nicht, war doch das üppig belegte Mettbrötchen der einzige Lichtblick in jener verrauchten Pinte. Zuerst wird sie ausgiebig duschen, sich ein Gläschen vom süffigen Dornfelder kredenzen und die müden Füße hochlegen. Morgen beginnt endlich der verdiente Urlaub, drei unglaubliche Wochen lang. Vielleicht gelingt es ihr in dieser Zeit, die aufkeimende Freundschaft mit dem neuen Nachbarn zu vertiefen …? Seit über einem Jahr hat kein männliches Wesen sie mehr richtig geküsst. Niemand durfte ihre intimsten Stellen berühren, niemanden hat sie näher als einen halben Meter an sich herangelassen. Doch dieser stattliche Mann mit den sanften Augen, den gepflegten Händen und dem ansehnlichen Körper, der ihr vor zwei Wochen so intensiv und verständnisvoll zuhörte, der zärtlich und beruhigend über ihren Rücken streichelte … Ihre nervösen Hände behutsam in seinen auffing, als sie ihm in einem schwachen Moment ihre leidvolle Geschichte anvertraute.
Nach jedem Treffen spürt sie mehr und mehr, dass sein ausgeprägtes Interesse an allen Facetten ihrer Person, ohne sie je zu bedrängen, ein beachtliches Stück ihrer alten Kraft und Power wieder aufleben lässt. Auch die für immer verloschen geglaubte Flamme von Lust auf Berührungen, auf körperliche Nähe und Beziehung, hat wieder leise zu glimmen begonnen. Zunehmend gelingt es ihr auch, verschüttete Emotionen zuzulassen und dieser unverhoffte Umstand… erfreut sie sehr. Gleich nach dem Frühstück wird sie die Arbeitsutensilien zum Ordnungsamt bringen, und sich anschließend zu der Jugendstilvilla in die Nerotalstraße begeben. Endlich konnte sie sich dazu durchringen, wenn auch mit sehr bangem Bauchgefühl. Seit dem Tod ihres Vaters vor einem halben Jahr hat sie es nicht übers Herz gebracht, das vertraute Interieur ihres Familienerbes alleine zu betreten. Wen hätte sie auch bitten sollen, sie zu begleiten, sie zu unterstützen, sie zu stützen? Ihren Ex? Diesen Dreckskerl … Die Villa in Gonsenheim ist ihr Elternhaus. Alles, was ihr von ihrer Familie geblieben ist. Auch wenn der Zahn der Zeit die Bausubstanz nicht verschont hat. Vom Keller bis zum Dach wartet ihre übervolle Geburtsstätte mit Erinnerungen auf, mit guten und weniger guten. Dort wurde immer alles aufbewahrt und gehortet. Zeugen ihrer behüteten Kindheit und der unbeschwerten Jugend, aber auch bewegende Nachklänge dieser bleischweren Zeit, als ihr Vater und sie, die viel zu früh dahin siechende, vorher so stolze Mutter zu Hause gepflegt hatten. Der schmerzliche Verlust der geliebten Mutter und Ehefrau hatte sie beide verändert. Hatte die Leichtigkeit aus ihrem Leben verbannt. Die destruktive Trauer ihres so veränderten, freudlosen Vaters konnte sie irgendwann nicht mehr ertragen. Sie flüchtete aus dem großen Haus in die Innenstadt, allein in eine Wohnung am Rheinufer. Erst als Hajo in ihr Leben trat, schöpfte sie wieder neue Hoffnung. Die ständigen, insistierenden Argumente ihres Vaters gegen Gerdas schnelle Hochzeit mit Hans-Joachim, seine Vorahnungen über eine vermeintliche Schürzen- oder Mitgiftjägertendenz beim zukünftigen Schwiegersohn, die sie nicht hören wollte.
Doch nicht ihr Liebster …
Die zähen Kämpfe, in die sich Vater und die einzige Tochter immer wieder verstrickten und schließlich der Bruch. Wie recht er doch hatte mit seiner Menschenkenntnis. Wenigstens auf dem Sterbebett konnte sie sich wieder mit ihm versöhnen, bevor er friedlich entschlafen war. Zum Glück hatte sie bei der Hochzeit darauf bestanden, ihren Mädchennamen beizubehalten, denn Frau Trippers, ähnlich wie eine Geschlechtskrankheit, wollte sie wahrhaftig nicht heißen. Sie bleibt einen Moment stehen und schaut hinauf in den getrübten Nachthimmel. Ob ihre Eltern jetzt wieder in Liebe vereint waren und sie von oben sehen konnten?
*
Aus der Altstadt dringen undeutliche Klangmischungen zu ihr hinauf, als sie sich langsam vorwärts bewegt. Die Musik in dieser Kneipe! Diese einst so vertraute Musik, die die dunklen Schatten der Vergangenheit wieder herauf beschwört hat. Die Musik, die sie nie mehr hören wollte… Der vermaledeite Song, zweimal in einer Stunde, nahezu seelische Folter.
Auf dem Absatz umdrehen und flüchten wäre das Beste gewesen für ihren schwer erkämpften Seelenfrieden. So weit fort, wie ihre Füße sie getragen hätten. Gerdas Wangen glühen jetzt, ihr Kopf schmerzt und innerlich fühlt sie sich heillos aufgewühlt. ›Klaus Hoffmanns, Tanze Gerda, tanze… tanz die ganze Nacht!‹
Das Lied ihrer großen Liebe, die sie verloren hat. Tief drinnen empfindet Gerda wieder den brennenden Schmerz von damals. Fast zerbrochen wäre sie daran. Morgen jährt sich der Tag, an dem das schreckliche Unglück über sie hereinbrach, und ihren gesamten Lebensentwurf in einen Scherbenhaufen verwandelte. Durch seine Schuld, seine alleinige Schuld. Dieser Song dort… er riss die längst verheilt geglaubte, tiefe Wunde ihres vernarbten Herzens wieder auf. Wie oft hatte der Lügner sie damit eingelullt! In die trügerische Illusion über Sicherheit und Bestand ihrer Ehe.
»Brauchst dich nicht zu fürchten…« Mit genau diesem Lied … mit ihrem gemeinsamen Lied! Passé. Vorbei! Aber nicht vergessen. Bis zu ihrem letzten Atemzug wird diese Tantalusqual in ihrem Gedächtnis verbleiben, eingebrannt für immer.
Der gemeine Betrüger. »ICH geb’ schon auf dich acht…«
Das ganze Leid nur wegen dieser billigen Schlampe!
*
Dreiundzwanzig Uhr zehn zeigt ihre Armbanduhr. Scheinbar alle zum Feiern unten in der Stadt und keine Menschenseele hier oben. Gerda war nie eine ängstliche Seele, aber etwas mulmig… ist ihr jetzt doch zumute. Sie passiert zügigen Schrittes die verwaiste Eisgrubschule und die anschließenden, schnörkellosen Häuserfassaden. Wolkenverhangene Dunkelheit über dem Volkspark, gedämpfte Musikfetzen vom Hopfengarten und plötzlich… Ein gellender Kinderschrei? Der Spielplatz…? Nichts zu sehn.
»Brauchst dich nicht zu fürchten…!«
Schneller Gerdi, schneller… SIE hat doch keine Angst. Außer Atem erklimmt sie die Anhöhe gegenüber der Goldenluftgasse. Krächzt heiser: »Hallo?« Wo zum Teufel ist ihre feste, amtliche Stimme? Zum Glück – sie kommt und sie funktioniert.
»HEY, SIE! Was treiben Sie denn da?« Eine Puppe fällt ins Gras, ein leises Wimmern, ein kurzes Rascheln. Dann erspäht sie den flatternden Schatten, den schnell der lichtlose Abhang verschluckt. Die breite, am Boden hockende Männergestalt, die ihr die freie Sicht versperrt, schaut ruckartig über die Schulter und springt auf. Der nachfolgende, funkelnde Blick aus der Dunkelheit trifft Gerda wie eine Pfeilspitze, begleitet von einem Zischen.
»Hau bloß ab, DU blöde Schlampe!« Sie denkt nicht daran, verlangt eine Klärung: »Jetzt aber mal langsam! Was war denn hier los? Was wollten Sie…?«
Bloß keine Schwäche zeigen! Mit zwei langen Sätzen ist er vor ihr, wie ein Baum in die Höhe wachsend. Ein langes Messer blinkt auf im schwachen Schein der einzigen Straßenlaterne.
»Was soll das…?« Grob packt sein eiserner Griff ihre unbehängte Schulter, verharrt kurz, wie sich besinnend, und sie erkennt ein junges Gesicht. In der leicht erhellten Schwärze kreuzt sich Gerdas angstvoller Blick flüchtig mit dem mitleidlosen Ausdruck der kalten Augen, die sie anstarren.
Aufsteigende, dumpfe Angst lähmt ihre Glieder, ihre Hände schwitzen, nur ihr Verstand arbeitet fieberhaft. Sie muss etwas tun, aber was?
Ein Funkgerät anschalten und Verstärkung rufen…
Sie versucht danach zu greifen, als der sie überragende Mann Gerda so unvermittelt und rüde zu sich reißt, dass sie taumelnd das Gleichgewicht verliert und ein Teil des Equipments zu Boden rutscht. Er fängt sie auf und umklammert sie mit eisernem Griff so fest, dass sie kaum noch Luft bekommt.
»Lassen sie mich sofort los, nein…! Hören sie auf! H i l f e!« Die große Hand presst sich brutal auf ihren fordernden Mund, will ihn verschließen, sie mundtot machen. Mit stoßweisem Atem versucht sie, den körperlich überlegenen Angreifer abzuwehren. Kämpft verzweifelt an gegen die muskulöse Gewalt des jungen Täters. Alle Geräte und ihre letzte Chance auf Hilfe schleudern in den Abhang.
Sie schreit und fleht mit allerletzter Kraft … um ihr Leben!
»Bitte… Hilfe! Ich will nicht sterben! HILFE!!!« Vergeblich!
Der gnadenlose Stich seines Messers bohrt sich tief durch ihre Eingeweide. Einmal, zweimal und wieder… bis Gerda rückwärts zu Boden sinkt. Rasselnder Atem aus blutendem Rachen… kraftloses Röcheln… ein mattes Stöhnen… ein letztes, fast lautloses Flüstern.
»Nein! Diese Schmerzen, ich verblute… Wo bist du? Gott?! Das tut so weh… Nein! OOH! GOTT?! Oh Nein!« Stille… Totenstille.
Samstagmorgen, 25. Juni
»Oh nein – wer ruft denn um diese Zeit an?«
Der Wecker zeigte sechs Uhr fünfzehn am Samstagmorgen, Johannisfest-Wochenende in Mainz. Ihr Kopf brummte. Je nach Sichtweise war es sehr spät gestern Abend oder früh heute Morgen. Und der allerletzte Winzersekt sicher verdorben! Das schwarze, schwere Pelzbündel auf ihrem Fuß namens »Troll«, hob langsam den Kopf und gähnte sie an. Ja – SIE war auch noch sehr müde. Das Telefon klingelte dreimal, ehe der museumsreife Anrufbeantworter mit lautem Geratter ansprang und die sonore Stimme eines guten Freundes, wie immer verlässlich, das Sprüchlein herunterleierte: » …ist nicht zu erreichen, sprechen Sie nach dem Piep!«
Familie und Freunde wussten, dass ihr das Wochenende heilig war. Also, keine Anrufe vor neun, besser noch zehn Uhr, wenn sie nicht absolut dringend waren. Viele legten dann auf, waren abgeschreckt, aber diesmal… Piieeep…
Die etwas mürrisch klingende Frauenstimme schnarrte laut.
»Ihr PKW steht im absoluten Halteverbot!«
Vielleicht ein blöder Joke? Mona Blume sprang wie elektrisiert aus dem Bett, stieß gegen die halbvolle, unverschlossene Cola daneben, die sich schäumend über den Teppich ergoss. Verflixt! Diesen Spleen vom Stehen lassen der offenen Flaschen musste sie sich endlich abgewöhnen. Troll rollte widerwillig zur Seite.
»Das kann gar nicht sein«, krächzte sie heiser in den Hörer, »wer ist denn da?«
»Hier ist das Verkehrsüberwachungssamt und wenn Sie Ihren Wagen nicht gleich wegbewegen, wird er abgeschleppt!«
Doch kein Scherz! Diese Stimme, eine eiskalte Dusche könnte momentan nicht besser wirken.
»Aber machen Sie schnell!«
»Ich komme sofort«, hörte sie sich antworten und schob das Mobilteil unsanft zurück in die Basisstation. Hektisch riss sie einige saugstarke Blätter von der nahe liegenden Dick & Durstigrolle und presste sie auf den ausgedehnt, klebrigen Fleck. Troll umrundete die junge Frau jetzt schwanzwedelnd, beobachtete mit fragendem Blick, wie sie hektisch die Klamotten vom Vorabend bestieg. Jeans und T-Shirt, Sandalen.
»Nein! Keine Zeit, Troll. Später.«
Ein flüchtiger Blick in den Spiegel, zwei Bürstenstriche übers Haar, ungewaschen ging sie sonst nirgends hin, aber das schien ein Notfall zu sein! Hausschlüssel, Autoschlüssel in den Rucksack und diesen über die Schulter. Türe zu und die steile Treppe hinunter. Der Hund winselte laut hinter ihr her.
Vor ihrer Haustür – Fußgängerzone – erblickte Mona an deren-Ende, einen gelben ADAC-Abschleppwagen in Aktion und rundherum viele bunte Marktstände. Reges Treiben überall. Wieso um diese frühe Zeit? Ach ja, der Samstags-Wochenmarkt, normalerweise auf dem Domplatz, war wegen des Johannisfestes verlegt auf den Hopfengarten-Parkplatz. Mona schwante nichts Gutes und erhöhte ihre laxe Schrittfrequenz. Shit! Ihr schwarzer Golf parkte einsam inmitten zweier Marktstände, die soeben mit buntem Obst und knackigem Gemüse bestückt wurden. Die Marktleute schoben die noch halb leeren Tische freundlicherweise schon zur Seite, als Mona die peinliche Bescherung ansteuerte.
»Sorry! Und vielen Dank«, stammelte sie verlegen mit hochroten Wangen. Hinter dem Autoheck erwartete sie eine hellblond getönte Politesse mittleren Alters ganz in Zweierleiblau, die vollschlanke Figur stocksteif aufgebaut wie eine Zinnsoldatin.
»Jetzt, abba – ganz fix«, schnauzte sie mit bärbeißigem Blick, ohne ihre Pose zu verändern, als die Studentin den Schlüssel hastig ins Schloss schieben wollte. Just in diesem Moment entdeckte Mona den Strafzettel, der an der verschmutzten Windschutzscheibe prangte. Sie angelte ihn mit spitzen Fingern und wenig Begeisterung unter dem Scheibenwischer hervor. Fünfundzwanzig Euro für Parken im absoluten Halteverbot mit Behinderung. Das durfte doch nicht wahr sein! Umgehend war sie dem alarmierenden Weckruf gefolgt. Wütend drehte Mona sich um, fauchte der Matrone dieses entgegen und dass, das Parkverbot üblicherweise erst um acht Uhr begann. Die Speckrollen wogten, als sich die uniformierte Gesetzeshüterin unbeeindruckt vor ihr aufbaute. Den rechten Arm in die Diagonale gehievt, zielte der fleischige Finger auf ein astverdecktes Zusatzschild über dem Original, begleitet vom einem Hinweis mit deutlichem Unterton:
»DAS – steht schon länger! War lange genug in der Lokalpresse angekündigt.« Noch etwas verschlafen folgte Monas Blick dem Fingerzeig. Tatsächlich waren dort der heutige Samstag und der kommende Montag als Halteverbotstage ausgewiesen, ab sechs Uhr. So ein Mist! Beim gestrigen Parken in der Dämmerung war sie wieder mal so in Eile, dass sie natürlich nicht nach Änderungen Ausschau hielt, vor allem nicht in dieser Höhe hinter dichtem Geäst. Ein Zeitungsabo bezog sie nicht, die kostenlosen Wochenblätter wurden entweder nicht geliefert, verschwanden regelmäßig von der Türschwelle oder segelten windzerknüllt – quer durch die Fußgängerzone.
Doofe Nuss! Etwas mehr Kulanz gegenüber den parkmäßig stark gebeutelten Bewohnern der Altstadt könnte wahrhaft nicht schaden. Der Bewohnerausweis war die pure Geldverschwendung. Abends gab es keine freien Plätze wegen einer Flut von Berechtigungen, die die Anzahl der Plätze bei Weitem überstieg. Oder weil gerade die Straße aufgebuddelt wurde oder Fremdnutzer und Kinobesucher alles wild zuparkten. Kein Wunder, dass einem jegliche Lust verging, sich nach zwanzig Uhr motorisiert aus der Altstadt zu bewegen. Bei der Rückkehr wartete garantiert immer der nervtötende Stress einer Sisyphus-Suche!
*
Die füllige Politesse wendete sich ab, scheinbar befriedigt ob ihrer bravourös abgewickelten Dienstpflicht, wie Mona der aufgehellte Gesichtsausdruck signalisierte. Sie watschelte mit ausladenden Schritten hinüber zur brünetten Kollegin, die den Fahrer des monströsen Abschleppwagens im Kasernenton dirigierte. Dieser Tag fing ja schon gut an! Mona blickte ihr hinterher und wollte leicht verdrossen ihr Auto besteigen, als hinter dem Biolandstand ein fremdländisch wirkender Mann mit geballter Faust auftauchte, laut fluchend in unverständlicher Sprache. Ohne Zeit zu verlieren, packte er die nächststehende Blauberockte ruppig am Kragen und schüttelte sie kräftig hin und her, wie eine Katze ihr Junges beim Transport. Schleunigst war der zornige Wüterich umzingelt und vom einzigen männlichen Kollegen der Politessen gepackt. (Wie nannte man diesen eigentlich?) Die herbeigeeilten Mitstreiterinnen attackierten den Herrn aufs Heftigste, gestikulierend und laut keifend. Die Vermutung, dass sein PKW am Haken hing, drängte sich Mona auf. Da konnte sie sich wohl glücklich schätzen, dass die Politesse sie zuvor informiert hatte. Den emotionsgeladenen Job dieser wenig beliebten Damen wollte Mona nicht geschenkt haben. Ständig wüste Beschimpfungen, verbale Attacken und mehr von den »rabiaten« Autofahrern, den Melkkühen der Politik.
*
Die pausbäckige Bäuerin nickte verständnisvoll, aber sichtbar erfreut, als Monas betagter Golf sich slalommäßig den Weg aus dem begrenzten Terrain bahnte. Mona lenkte ihn nach rechts in die ehemalige Rotlichtmeile der Neutorstraße, an der Ampel rechts an Cinestar-Kino und Südbahnhof vorbei, am Radhaus den Berg links hoch und an der Ampel wieder rechts in den Eisgrubweg. Entlang der gesamten Straße, Stoßstange an Stoßstange, parkende Autos. In der Goldenluftgasse – auch nichts. Oh yeah, sie war noch so unausgeschlafen. Enerviert versendete Mona ein Stoßgebet an Christophorus, den Schutzpatron der Autofahrer, und bat um einen freien Parkplatz. Als hätte dieser ihr Flehen prompt erhört, erblickte Mona im Rückspiegel einen Typ mit Pferdeschwanz und dunkelrotem Jack-Wolfskin-Rucksack auf sie zu steuern. Er trottete breit grinsend vorbei zu einem orang efarbenen, verbeulten Polo mit Steilheck. Stieg ein, startete mit rauchigen Auspuffgasen, setzte zurück, kurbelte, zeigte ihr immer noch grinsend das Victoryzeichen und knatterte lautstark davon. Wunderbar! Schnell diesen raren Glücksfallplatz okkupieren, ehe ein anderer kam. Monas Auto parkte jetzt unterhalb des Zitadellenwegs, schräg gegenüber der frisch renovierten Burschenschafts-Villa, wie das an der Fassade befestigte Metallschild verriet. ›Katholische Deutsche Studentenverbindung Rhenania- Moguntia‹.
Hier konnte ihr treues Gefährt wohl verweilen bis zum kommenden Dienstag, wenn die Pflicht sie wieder zur Uni rief. Im Eilschritt trabte sie bergab. Vorbei an den hochherrschaftlichen Gründerzeitvillen, die Treppen am Feuerberg-Bräu hinunter (Pfui, stank es hier!), mit kleinem Schlenker zur Altstadtbäckerei, um fix einige Schrippenbrötchen zu besorgen. An den vorderen Marktständen, die bis zur Hälfte in den Bürgersteig ragten, entdeckte sie im Augenwinkel eine günstige Lücke zwischen den frühen Käuferreihen. Sie schob sich hinein und erstand ein Kilo Salatkartoffeln, fünf kleine Zwiebeln und zwei flache, weißfleischige Weinbergspfirsiche.
Die hauchdünnen Plastiktüten schlenkernd eilte sie nach Hause in der Hoffnung, dass der Hund nicht das ganze Haus geweckt hatte mit seinem Gewinsel. Er kratzte wild an der Tür, als er Mona kommen hörte, und begrüßte sie ausgelassen hochspringend, als kehrte sie zurück von einer langen Reise. Eigentlich waren sie ein eingespieltes Team und es war für ihn längst Routine, einige Stunden allein zu verbringen. Heute hatte die Studentin jedoch gegen ihr Ritual verstoßen: Ihm eine Schale vom frisch gezapften, kalkfrischen Kranenberger zu servieren, von Micha als Helau-Cocktail getauft. Das erwartete er stets vom Ersten, der morgens aus dem Bett »aufstieg«, womit Mona ihn jetzt geschwind beglücken konnte.
*
Der glänzend schwarze Troll mit weißen Pfoten und Hals war eine schöne Mischung, vermutlich aus viel Bordercollie und etwas Schäferhund. Eigentlich war er nicht Monas Hund. Sein wahrer Besitzer Michael, Monas Ex-Lebensgefährte und intimster Freund der letzten Jahre, war regelmäßig im Ausland unterwegs, meist mehrere Wochen als Kameramann auf ZDF-Tour und dann wohnte Troll bei ihr. Zurzeit war Micha sogar noch länger gebucht für die aktuelle, sehr aufwendige Reportage.
»In 90 Tagen um die Welt«, die das ZDF-Morgenmagazin täglich live via Satellit ausstrahlte. Micha und seinem Vitamin B, dem allgemein probaten Wegeebner und Sesam-öffne-dich, verdankte Mona ihr bescheidenes Haupteinkommen durch einen der begehrten Studentenjobs beim ZDF, dem Zweiten Deutschen Fernsehen oder auch dem Zentrum der Freude, wie einige Redakteure die Initialen gelegentlich schmunzelnd interpretierten. So! Nach der ganzen Aufregung benötigte sie erst mal ihren geliebten Milchkaffee. Die Espressomaschine war länger nicht benutzt worden, weil Mona in morgendlicher Hektik öfter schnellen Teebeutel-Darjeeling bevorzugte und natürlich …funktionierte die haarfeine Aufschäumdüse nicht. Vielleicht wegen der vollfetten Milch, die nicht hindurchpasste, genauso wenig wie das sprichwörtliche Kamel durchs Nadelöhr. Auch gut! Dann würde sie die Milch eben so hineinschütten. Oh nein, weißgraue Klümpchen formierten sich auf der schwarzbraunen Kaffeeoberfläche, sie war sauer und flockte aus. Shit Happens! Adieu Café au Lait! Ab mit dem Gebräu in den Ausguss und doch Schwarztee. Die Schrippe mit Quark und Omas selbstgekochter Blaubeermarmelade schmeckte köstlich. Troll schlürfte genüsslich an seinem Helau-Cocktail aus dem grauen Steinnapf, danach musste er erfahrungsgemäß immer gleich »Gassigehn«.
Die Schuhe auszuziehen, lohnte sich also nicht. Eine halbe Zigarette ging noch, dann stand Monas tierischer Logiergast, die Leine zwischen die scharfen Zähne geklemmt, auffordernd an der Wohnungstür. »Ja, ist ja gut, ich komme schon!«
Was für ein Stress am frühen Morgen!
*
Den gleichen Weg, nur die diametrale Route, der Troll instinktiv folgte, denn er verrichtete seine Geschäfte ausschließlich in den grünen Gefilden der Zitadelle. Sie passierten seitlich die ansprechend dekorierten Marktstände, wieder einmal finster und mit Argusaugen über der randlosen Brille skeptisch beäugt vom Gastwirt in blauer Halbschürze. Dieser bewachte den Bürgersteig vor seiner Bierpinte so scharf, wie wohl einst Zerberus, der dreiköpfige Höllenhund, den sagenhaften Hades. Unbarmherzig konsequent und mit erhöhter Dosis Adrenalin im Blut verscheuchte er im besonderen Radfahrer und ahnungslose Nichtkunden vom Trottoir, die den weißen Plastikstühlen zu nahe kamen.
Auf der überdachten, langgezogenen Terrasse der Privatbrauerei unterhalb der Zitadelle schwelgten schon plappernde Gäste im preiswerten 5,90 € – Frühstück&Getränke-Büfett.
Die parallel dazu aufsteigende Treppe bot stets ein zweifelhaftes Sortiment unwiderstehlicher Duftmarken für sensible Spürnasen, deswegen musste Mona ihren schnuppernden Gasthund auch stets mit sanfter Gewalt über die steinerne Hürde lotsen. Oben angekommen stürzte sich Troll – alarmstuferotmäßig – ins angenehm nahe Gestrüpp. Mona ließ sich auf den großen, leicht bemoosten Stein sinken und zündete genussvoll ihre Zigarette an. Das Unterbewusstsein ziepte wieder einmal. In letzter Zeit meldete es sich oft mahnend, einem echt ungesunden (Warnung und grässliche Ekelbilder auf der Packung!) und außerdem teuren Luxuslaster zu frönen – aufgrund Herrn Schäubles hohem Steuerbedarf. Sie hatte sich eine lederne Hülle besorgt um die unappetitlichen Fotos zu umgehen. Himmlische Ruhe herrschte über dem schönen Platz, die Sonne lachte noch verhalten und außer Rascheln und fröhlichem Vogelgezwitscher, war nichts zu vernehmen. Monas wilde Spekulationen, die »Meenzer« oder »Määnzer« hätten in grauer Vorzeit mal einen obskuren Pakt mit dem zuständigen Wettergott besiegelt, wurden aktuell wieder bekräftigt. Nahezu zu jeder Open-Air-Festivität, ob Rosenmontagszug, Rheinland-Pfalz-Tag oder dem Gutenberg-Marathon breitete sich stabiles Traumwetter aus über Mainz, selbst wenn in Wiesbaden gerade Bindfäden oder cats-and-dogs vom Himmel regneten. Nach Trolls Rückkehr an die ungeliebte Leine überquerten sie die Straße und wählten jetzt die Alternative zum Absteigen, die sich optisch im absoluten Kontrast zum unweiten Villenambiente nach unten schlängelte. Der Weg führte quer durch den gepflasterten Innenhof, der fast kreisförmig angeordneten, scheinbar auf dem Reißbrett entworfenen Häuserquadrate, die nur differenzierbar waren durch die alphabetische Nummerierung oder die üppigen, sich gegenseitig überbietenden Balkonbepflanzungen, und mündete in einer steilen Treppe zur Altstadttangente.
Auf dieser wirbelte ihnen jetzt Diva hechelnd entgegen, mit hängender Zunge und in eine kleine Staubwolke gehüllt.
»Diva« war die inzwischen mehr graubraune als braunschwarze Rauhaardackelin von Ilse Gerlach. Beide relativ klein, aber sehr lebendig.
»Meine Tragetaschenhündin«, pflegte Ilse immer zu sagen, weil sie Diva bisher überall problemlos mitnehmen konnte. Manchmal sogar im überdimensionalen Weidenkorb, in dem die jung gebliebene Rentnerin gewöhnlich Berge von Gemüse vom Wochenmarkt nach Hause transportierte. Die Leute glaubten zwar in der klein geratenen, quirligen Dackeldame stets einen süßen, zu groß geratenen Welpen zu erkennen, aber seit die Hälfte von Divas struppigem Fell die Farbe verloren hatte und falls jemand nach deren Alter fragte, antwortete Ilse mit leichtem Augenzwinkern, »Wie der Herr, so’s Gescherr!« Dabei deutete sie auf ihre eigene, graumelierte, dichte Haarpracht, die sie immer geschickt mittels Hornkämmchen zu einer Art kunstvoller Hochsteckfrisur arrangierte.
Ilse Gerlach (Monas mütterliche Freundin)
Ilse lebte seit vielen Jahren als bekennende Vegetarierin, resultierend aus der festen Überzeugung, dass es gesünder sei, für Körper und Geist und aus großer Leidenschaft:
»… für alles, was Augen hat!« Früher schon selten Fleisch verzehrt, erfolgte die Initialzündung für den endgültigen Verzicht umgehend nach ihrem Einzug in der Altstadt. Damals, als die nichts ahnende Großstädterin Ilse erschreckt die Anlieferung einer Ladung aufgeschlitzter, mittig auseinandergeklappter, ganzer Schweine beobachtete, die im Morgengrauen mittels einer quietschenden Winde aus einem Transporter nach unten gelassen, in benachbarter Metzgerei verschwanden.
Das zwangsläufig folgende Mark&Bein-durchdringende Kreischen einer Kreissäge im Hinterhof, welches vom Zerstückeln der armen Säue zeugte, vergällte Ilse langfristig den Appetit auf den geliebten Frühstücksspeck, da sich die gruselige Vorstellung regelmäßig und unausweichlich wiederholte. Lange Zeit verlegte die Neubürgerin ihr Frühstück ins Wohnzimmer, um den nervtötenden Geräuschen der unteren Nachbargefilde zu entgehen. Sie schloss das Küchenfenster wegen des aufsteigenden, weißen Dampfes, der ihre Fensterscheiben beschlug, und vermied zukünftig den Blick auf die sehr frühe Leere der Fußgängerzone, weil das Quietschen des Seilzugs sie stets an das Quieken lebendiger Schweine erinnerte.
Zum Glück war die Ausbeinerwerkstatt vor einigen Jahren deutlich besser isoliert worden, sodass Ilse sich von der schweinischen Verarbeitung nicht mehr belästigt fühlte. Auch die sehr frühen Zeiten für die wöchentliche Anlieferung und den Abtransport der abgenagten Knochen samt Müllbox waren ihr schleunigst so hinlänglich bekannt, dass sie diese Aktionen bewusst ignorieren konnte. Ilse bewohnte seit fast dreißig Jahren ihre kleine, aber sehr charmante Wohnung mit schiefen Wänden im zweiten Stock eines vierhundertjährigen Hauses mit überputztem Fachwerk in der Augustinerstraße. Anfangs noch mit Sohn Henrik, der inzwischen erwachsen war, und im Ausland lebte. Auch Mona hatte auf Anhieb ihre Studentenbude hier gefunden, allerdings in einem jüngeren Wohnhaus, auf der sogenannten Beletage im ersten Stock und zweihundert Meter weiter Richtung Dom. Die Bischofsstadt, insbesondere die verwinkelte Altstadt, war inzwischen zu Ilses Heimat aufgestiegen, wo sie sich sehr wohl fühlte. Trotz ihrer mittelgroßen Adaptionsprobleme an die »Schunkelmentalität« der Urmainzer – treffend ausgedrückt im Fastnachtsmotto: »Mainz, wie es singt und lacht!«, oder in der Realität der Altstadt manchmal eher… stank und krachte!
Anfangs unvorstellbar, als es Ilse samt Nachwuchs aus dem hohen Norden ins Rhein-Main-Gebiet verschlagen hatte und festkleben ließ. Sie kannte zahlreiche Geschichten aus der langen Zeit,
»…über das schwarz-weiße und manchmal grellbunte Treiben in der Altstadt, als sich noch metallene Straßenbahnschienen wie große Adern durch die inzwischen gepflasterte Fußgängerzone zogen und heiße Öfen von Motorrädern oder röhrende Auspuffrohre von lautstarken Autos ihre stinkenden Abgase – fast blau – in den engen Häuserschluchten stehen ließen, ehe sie zum Himmel entweichen konnten.« Aus dieser prallen, imaginären Schatzkiste bewegten Altstadtlebens kramte die sympathische Seniorin des Öfteren, autobiografisch gefärbte Anekdoten und offenbarte diese schmunzelnd der Kunststudentin Mona. Die, immer auf der Suche nach lohnenden Karikaturmotiven, sog sie begeistert auf. Wie jene vom kleinwüchsigen, verhärmten Italiener im zweiten Stock der gegenüberliegenden Straßenfront.
Jedes Mal, sobald Ilse es wagte sich mit Freundinnen am Fenster zu zeigen, fühlte sich dieser Kretin scheinbar zu halböffentlichem, wildem Onanieren animiert, die markante Region zusätzlich beleuchtet durch einem verbeulten Spotstrahler. Was stets so lange reibungslos, bzw., eher reibungsvoll bei ihm ablief, bis ein rohes Ei an seinen verwitterten Fensterflügeln zerbarst und mit klebriger Schleimspur zerfloss. Gezielt platziert von Ilses studentischem Nachbar im dritten Stock, untermalt durch lautes Beifall-Geklatsche eines Konzertmitschnitts aus seiner Anlage, welche er zur Untermalung der kostenlosen Peepshow so lange erdröhnen ließ, bis die wohlgenährte, italienische Mama wutschnaubend aus dem Nachbarzimmer der engen Wohnung emportauchte. Sie zerrte ihren ‚Onani’ hastig von der Bildfläche und verschloss Fenster und Gardinen blickdicht.
Oder die von zwei feministisch angehauchten Studentinnen im gleichen Haus, die Ilses dreizehnjährigen Sohn samt Freund eines Abends mit anstachelnden Sprüchen quer über die Straße in ihre Wohnung lockten, um den Teenies eine Metallreibe vom Flohmarkt in die Hände zu drücken mit den Worten,
»Macht’s euch selber, Männer«: Umgehend schickten sie dann die verdutzten Jungs samt Reibe zurück. Wohl eine Reaktion auf deren neugierige und pubertäre Blicke in die gut einsehbaren, gardinenlosen Fenster, unter denen sich die Mädels anschließend lachend auf der Matratze kugelten.
Ebenso diverse Storys über den quirligen, italienischen Familienclan, der sich Jahr um Jahr zahlenmäßig vergrößerte und das enge, nachbarliche Hinterhaus bevölkerte, welches im Zweimeter Abstand zum Haupthaus errichtet war. Im Winter kühlten sie ihre Vorräte in aufgeschnittenen Plastikkanistern auf der Fensterbank und im Sommer kurbelten »la Madre« und »la Nonna« abwechselnd und tagtäglich die Wäsche mittels einer abenteuerlichen, mechanischen Rollenkonstruktion zum übernächsten Hinterhof. Dort hauste mehr als wohnte scheinbar ihre Verwandtschaft, wie man den lebhaften, fast maschinengewehrartigen Unterhaltungssalven entnehmen konnte, die, zumindest die Hälfte des Tages, quer über den Hinterhof schallten. Durch die plastische Schilderung der pittoresken Altstadtarchitektur und ihrer Bewohner in den siebziger Jahren vermittelte Ilse immerzu einen Hauch ihres ganz persönlichen Mainz-Eindrucks an Mona, die jedes Detail begeistert aufsog. Die Studentin verklärte die überlieferten Momentaufnahmen schwärmerisch zu einem Fin de siècle-Flair, welches sie bedauerlicherweise nicht mehr hatte erleben dürfen aufgrund der umfassenden Altstadtsanierung.
Das anheimelnd nostalgische Bild, welches ihr Ilse irgendwann beschrieben hatte, » …als über viele Jahre aus dem Rundbogenrahmen der Dachluke im unbewohnten Hinterhaus, ein dickwangiger, barock vergoldeter Putto, seinen Blick verträumt in mein Küchenfenster richtete«, konnte sie bereits zu einer zart pastellfarbenen Illustration verarbeiten. Mona mochte Ilse und deren häufig poetische Ausdrucksweise gefiel ihr sehr. Obwohl die ungleichen Freundinnen bei Unterhaltungen regelmäßig befremdliche Blicke und Tuscheln der Nachbarn ernteten. Besonders auffällig vor dem italienischen Eiscafé am Leichhof zwischen den eng gestellten Tischen, wo sie sich öfter zu Latte macchiato oder Gelati multicolore verabredeten. Vermutlich zielte das pikierte Gebaren mancher Mitmenschen darauf, Ilses Redefluss zu stoppen oder auf normalbürgerlichen Level herabzusenken, doch es bewirkte eher das Gegenteil. Je nach Stimmung regte es Ilse zu lyrischen Höhenflügen an, mit promptem Echo im Umkreis, über das sie beide später herzhaft lachen konnten. Ilses vieljährige Tätigkeit als Lektorin eines Frankfurter Verlages, wo sie auch Gedichte redigieren durfte, hatte mit Sicherheit auf sie abgefärbt, wie sie gerne einräumte.
*
»Der Wochenmarkt ist schlichtweg ein Traum. Von mir aus könnte der immer am Hopfengarten seine Zelte aufschlagen«, rief sie ihnen leicht keuchend zu, weil sie versucht hatte ihrer Diva zu folgen, die trotz kurzkrummer Dackelbeine sehr flink war. Mit,
»Hallo, ihr zwei! Schon so früh unterwegs am Samstag?«, blieb Ilse vor ihnen stehen, während die freilaufende Diva den angeleinten Troll schnuppernd umkreiste.
Inzwischen war es halb zehn geworden. So früh waren sie sich samstags noch nie begegnet. Mona schilderte leicht verstimmt ihren frühmorgendlichen Ärger mit der Politesse und dem Strafzettel, während bleierne Müdigkeit langsam ihre Glieder hochkroch und ihr den viel zu früh abgebrochenen Schönheitsschlaf in Erinnerung rief. Ilse nickte zwar verständnisvoll, aber da sie kein eigenes Auto besaß, kannte sie die katastrophale Parksituation der stark frequentierten Altstadt nur vom Hörensagen. Sie meinte beschwichtigend:
»Aber Mona, die tun doch auch nur ihre Arbeit. Sonst würde ja überall das Chaos ausbrechen.«
»Ja, aber klar.« Niemand verstand Mona heute Morgen, darum verabschiedete sie sich schnell. »Ciao, Ciao! Wir sehen uns bestimmt später noch.«
Mit schweren Beinen und Troll im Schlepptau stapfte sie die Stufen hinunter, vorbei am bunten Marktgetümmel, um die Ecke in die enge Fußgängerzone, wo wieder einmal reger Lieferwagenverkehr sich wagemutig an vollgehängten Kleiderständern, Angebotsschildern und ausladenden Markisen vorbeiquälte. Hupend bemühten sie sich, sich gegenseitig im Schneckentempo, Millimeter für Millimeter, zu überholen, was alle Passanten mehrmals zu lästigem Stop-and-go zwangen.
Werktag für Werktag, das gleiche lästige Spiel, so unnötig wie ein Kropf! Warum schafften es die Anrainer-Geschäftsleute nicht, ihre Werbeutensilien bis elf Uhr im Laden zu lassen bis die tägliche Ladezone für die Zulieferer beendet war und diese niemanden mehr störten? Verflixt, beim Ausweichen an eine Hauswand war Mona voll in einen stinkigen Hundehaufen getreten. Brr, igitt! Sonst achtete sie immer penibel auf solche Tretminen. Eigentlich war der Samstag Monas Lieblingstag der Woche, aber in letzter Zeit erschienen ihr die Samstage eher wie aneinandergereihte Montage, in denen Murphys Gesetz zu Monas unliebsamen Begleiter wurde. Genau dieses grüßte gerade wieder einmal leise aus der Ferne.
Sie streifte ihre rechte Sandale am nächsten höher stehenden Pflasterstein ab, der sich bot. Leider waren nicht alle Hunde so reinlich wie Troll, der niemals seine Ausscheidungen auf der Straße absonderte. Den rettenden Hausflur erreicht, die Treppe hoch, rutschte Mona mit ihrem restkot-behafteten Blockabsatz blitzschnell und mit viel Druck, über die borstige, spruchgeschmückte Fußmatte des Hausmeister-Ehepaares der gegenüberliegenden Wohnung. Genauso, wie sie es einmal bei zugehöriger Dame auf der Matte der Mieter vom Erdgeschoss beobachtet hatte. Immerhin war hier zu lesen, ›Tritt rein, bring Glück hinein!‹ Sei’s drum! Endlich zu Hause. Die Schuhe vorsichtig aus und auf die Werbeprospekte gepackt, die für die Papiertonne bereitlagen. Klamotten herunter, schnell noch das Handy auf zwölf Uhr »Wecken« gestellt.
»Leg dich hin, Troll, guter Hund.« Die elastischen, gelben Ohrenstopfen in die Ohren gedrückt, zog Mona die Bettdecke über den Kopf und mit den Gedanken, falls jetzt noch mal einer stört, den höre ich hoffentlich nicht oder ich erwürge ihn, schlief sie ganz schnell ein. Tief und fest.
*
Handyklingeln weckte sie. Vierzehnuhrzehn – verflixt, sie hatte verschlafen. »Jaa?«
»Hallo Süße.« Ihre beste Freundin Simone versuchte schnell zu eruieren, welches Outfit Mona gewählt hatte für ihr Date um halb drei. Außerdem wollte sie ihr mitteilen, dass das »Buchdruckergautschen« erst um vier stattfand, nicht um drei, wie sie zuvor gesimst hatte. Die zuverlässige Sonne malte safrangelbe Muster durch die blau-metallischen Jalousien auf der weißen Raufasertapete des Schlafzimmers.
»Das trifft sich gut. Treffen wir uns dann um drei, vielleicht vor dem Café am Ballplatz?«
»Okay, und was ziehst du an? Etwa das schicke Shirt aus der Boutique Diehl am Leichhof aus der letzten, verkaufsoffenen »Nacht der Sinne«?«
»Das im Kaufrausch erstandene heiße Teil? Nein, zu offenherzig für heute. Ich denke, das schwarzweiße Kleid und die kurze Jeansjacke nehme ich mit. Aber jetzt muss ich dringend unter die Dusche. Bis gleich.«
»Ciao, Bella!«
Troll, ebenfalls staksig erhoben, schnuffte an dem halb vollen Pott, bevor er mit spitzen, gelblichen Zähnen ein paar Happen ins Maul bugsierte. Das heiße Wasser tat Mona gut und langsam wechselte ihr Befinden von so-lala-wach zu hellwach. Noch ganz kurz nach Kneipp – eiskalt abgeduscht, fertig.
Wo hatte sich nur das angedachte Kleid versteckt? Mona durchforstete den bunten Klamottenberg, der sich auf dem platzbietenden Rattanschaukelstuhl türmte.
»Ordnung ist das halbe Leben…«; hörte sie im Geiste ihren korrekten Vater dozieren und ihre lässige Mutter vermitteln:
»Wer Ordnung hält, isch nur zu faul zum suche!« Sie nicht! Da war es schon und absolut tragbar. Ein heftiges »Danke« an die Erfinder knitterfreien Materials. Wimperntusche in Intense Black, einen Klacks des genialen Consealers auf den rosa aufblühenden Pickel an der Nase und der zartrote Gloss-Lippenstift. Perfekt. Ungeschminkt in Naturpur-Look wie heute Morgen verließ Mona fast nie das Haus. Der Hund lag bequem in seiner Kuscheldecke vergraben, augenscheinlich wunschlos glücklich.
»Pass schön auf die Wohnung auf. Ich komme bald zurück«, trug sie ihm auf, während sie noch kurz seine Lieblingsstelle am Hals kraulte. »Mach mir keine Schande, bis nachher, Troll!«
*
Quer durch die Fußgängerzone wuselte es ameisenhaft. Samstags Normalzustand und heute bei strahlendem Wetter und wegen des Johannisfestes entsprechend mehr. Mona schob sich durch die Massen bis zum fachwerkgeschmückten Weinhaus auf der Ecke zur Heiliggrabgasse, die zum Bischofsplatz führte. In dieser lauschigen Weinstube pflegten wohl einige Rentner ihren Zeitwohnsitz. Zu Anfang ihrer Mainzzeit, beim fünften Anlauf darin einen Platz zu ergattern, waren Micha und sie endlich fündig geworden. Doch statt des Kellners, der ihnen die Speisekarte offerierte, erschien ein rechts und links grüßendes, sehr reifes, gemischtes Dreiergespann und behauptete empört, die Studenten blockierten ihre gewohnheitsrechtlichen, langjährigen Stammplätze, die umgehend zu ihren Gunsten zu räumen wären. Danach hatte es sie beide nie wieder gereizt, einen weiteren Versuch zu starten.
In der etwas ruhigeren Gasse, vis à vis von Sparkasse und dem edlen Weinladen, vor dem alljährlich gleich platzierten Toilettenwagen, thronte die Toilettenfrau auf ihrem Hocker, traumverloren in einer zerfledderten Vogue blätternd. Neben sich einen antiquarischen Pinkelpott aus Porzellan deponiert, mit kleinen Blümchen darauf und einigen Münzen darin, harrte sie geduldig des Ansturms notdürftiger Kundschaft, der unausweichlich später erfolgen würde. Um die bronzene Bischofsskulptur waren die vielen Stände bereits stark frequentiert von durstigen Gästen. Die aufgebaute Bühne für die spätere Live-Musik lag verlassen, nur ein Konservensong, der angeblich niedlichsten Versuchung, seit es Blondinen gab, der Australierin Kylie Minogue, schallte über den lauschigen Platz mit dem efeuüberwucherten Parkhaus. Geradeaus, durch die Gasse zwischen Paxbank und Bereitschaftspolizei hindurch, eilte Mona schnellen Schrittes zum Ballplatz, wo gerade ein Zauberer im blau beleuchteten Szenario, Eltern, Großeltern und Kindern mit Magischem verzauberte. Der Johannis-Büchermarkt, täglich von zehn bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet und von Leseratten jeden Alters umlagert, lief bereits auf Hochtouren. Monas Blick schweifte suchend über die besetzten Tische des Cafés, als Simone ihr zuwinkte, lachend aufstand und stehen blieb, bis sie durch die knappen Abstände zu ihr hinlangte.
»Hi, Mona!« Küsschen rechts und Küsschen links.
»Hi! Wartest du schon lange?«
»Nein, gerade gekommen und noch nichts bestellt. Gut siehst du aus.« Kaum hatten sie Platz genommen, erschien die Bedienung und Simone bestellte: »Zweimal Latte macchiato, bitte.«
»Gerne! Die Latte, mild oder würzig, typisch italienisch oder sortenrein?«, fragte das Mädel.
»Wusste nicht, dass es solche Unterschiede gibt, aber ich denke, sortenrein hört sich gut an, oder?«
Simone blickte fragend zur Freundin, die zustimmend nickte.
»Okay, aber mit viel Zucker, bitte«, rief Mona der Serviererin noch hinterher, die zum nächsten Tisch weiter gegangen war.
»Du Zuckerschnute! Wohl immer noch nicht süß genug?« Zuerst die Zigaretten und die Handys auf den Tisch, dann ihr kleines Ritual bei jedem Treffen. Simone gab Mona Feuer und umgekehrt. Simone bevorzugte Menthol-Zigaretten, die Mona immer Kopfschmerzen bescherten, sie selber war leicht süchtig nach den schlanken Caprice, fast genauso süchtig wie nach glibberig, grüner Götterspeise. »Und? Wie ist es dir ergangen?«
Simone Gebert (Monas beste Freundin)
Letzte Woche hatten sich die Freundinnen nicht gesehen. Die Freundin bezeichnete sich als zufriedene Inhaberin eines raren Halbtagsjobs, als PR-Frau im Amt für Öffentlichkeitsarbeit der Stadt; recherchierte viel und schrieb hauptsächlich Texte für deren Internetauftritte. Ihr Ehemann Holger hatte eine leitende Position inne, als Polizeibeamter im gehobenen Dienst des Bundeskriminalamts in Wiesbaden, aber was genau er dort machte, wusste Mona nicht. Die jungen Frauen hatten sich vor einem Jahr in der Uniklinik angefreundet, als Leidensgenossinnen eines geteilten Doppelzimmers. Dessen traute Gemeinschaft durften sie auch nach fünf Tagen gemeinsam verlassen, allerdings ohne den überflüssigen Wurmfortsatz, üblicherweise auch als Blinddarm bezeichnet. Diese Ausnahmesituation, wo völlig fremde ihre Privatsphäre dem zufälligen Zimmergenossen manchmal so öffneten wie selten im normalen Leben, erwies sich für sie beide als Glücksfall. Denn sie wurde zum Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Monas allererste, abschreckende Klinikerfahrung im Frühjahr gleichen Jahres wurde dadurch glücklicherweise amortisiert. Der fürchterliche und nervige Aufenthalt neben einer quengeligen Bettnachbarin, der dauerschwitzenden und vollschlanken Frau Speck. Im März hatte sie sich einen schmerzhaften Abszess an der Pobacke erritten, der stationär behandelt und exzidiert werden musste. Dieser war die unerwünschte Folge eines Schnupperkurses für Reitanfänger im Wiesbadener ›Adamsthal‹, welcher zur Vorbereitung für Reiterferien in Andalusien dienen sollte. Micha hatte diese spanische Region zum gemeinsamen Urlaubsziel des Sommers erkoren und letztendlich alleine genossen – drei Monate nach ihrer Trennung. Von dieser Frau Speck wurde Mona bereits am ersten Abend als »Eule« eingestuft und nebenher noch, gebetsmühlenartig, über deren sämtliche Wehwehchen informiert.
Allmorgendlich um halb fünf weckte sie die Studentin unsanft durch Klopfen aufs Fußteil und ein lautes »Gudemorjen,« nachdem sie nachts die Heizung abgedreht und alle Fenster klimakteriumsbedingt weit aufgerissen hatte. Als Krönung pochte diese »Lerche« tagtäglich nach der Tagesschau auf ihr Ruherecht als Schwerstkranke, aufgrund höllisch brennender Hämorrhoiden oder wuchernder Divertikel. Danach folgte immer das herrische Verlangen nach »AUS!« von Licht und Fernseher, um sofort fürchterlich sägend in einen todesähnlichen Tiefschlaf zu versinken. Vier endlos erscheinende Tage und Nächte inklusive zahlreicher Versionen der »speckigen Krankheitschronik« und stets identischer Telefonate der Nachbarin mit verschiedenen, scheinbar Schwerhörigen schleppten sich dahin – bis zu Monas Entlassung. Die Studentin hatte die nörgelnde Matrone inbrünstig und von Herzen unzählige Male zum Teufel gewünscht, aber der wollte sie wohl auch nicht.
*
Der Kaffee mit aufgeschäumter Milchkrone und tatsächlich sechs Päckchen Zucker wurde prompt geliefert.
»Lecker!« Ihre Freundin erzählte vom viertägigen Besuch ihrer Schwiegermutter Ingrid, mit der sie sich, entgegen jeglicher Volksmundunkerei, gut verstand, obwohl Holger ihr einziger Sohn war. Natürlich erwartete diese immer viel Aufmerksamkeit und Unterhaltung, was für Simone dann doch zu gewissem Stress ausartete, neben ihrem Job und dem Putzmarathon vorher. Und nicht zu vergessen, die immer wiederkehrende, nervige Frage nach einem Enkelkind. Seltsamerweise glänzte Holger in dieser Zeit für die Dauer ihres Besuchs durch Abwesenheit, angeblich stets arbeitstechnisch bedingt. Auf Schwiegermamas Wunsch und ihrer gönnerhaften Einladung waren sie am letzten Mittwoch gepflegt verköstigt worden. Im Edellokal mit pompösem Ambiente und vielen Blumen, Kerzen und Kristalllüstern, welches Ingrid mit Gatte Hans-Hermann vor vielen Jahren entdeckt hatte. Das Essen war überaus schmackhaft, obwohl die salzigen Austern, die sie als ‚hors d’oeuvre’ orderte, ihr einen kurzfristigen Schüttelfrost bescherten, der aber durch den Aperitif, ein 0.1l Gläschen Winzersekt mit Pfirsichlikör im edlen Glas zu sechs Euro, schnell ausgesöhnt wurde. Weshalb sie sich auch ungeniert drei davon zu Gemüte führte.
»Ein rundherum gelungener Abend, nicht eben preiswert, aber das war er absolut wert«, hatte Ingrid abschließend auf dem Heimweg befriedigt resümiert. Dass ihre Schwiegereltern keinesfalls am Hungertuch nagten mit der Pension eines emeritierten Inhabers einer C-Professur, hatte Simone Mona bereits in der Klinik anvertraut. Ingrid verlegte ihre Abreise überraschend auf diesen Samstagmorgen, packte flink ihr Louis Vuitton-Köfferchen und fuhr nach Hause, die neueste, lindgrüne Creation aus der Hutboutique auf den grau melierten Kurzlocken. Für den Johannisfest-Trubel fehlten ihr angeblich doch die Nerven. Ursprünglich war ihr Abschied auf kommenden Dienstag datiert, weswegen Simone und Holger schweren Herzens auf das blitzschnell ausverkaufte, heutige Konzert von Meat Loaf verzichtet hatten.
*
»Zum Glück, sonst wäre dieses Treffen heute ins Wasser gefallen.« Simone lachte erleichtert.
»Und was gibt’s bei dir Neues, noch kein neuer Lover in Sicht?«
»DU hast ja gut spotten! Du mit deinem Alphamann.« Simone war seit einem halben Jahr mit Holger verheiratet und quasi noch in den Flitterwochen, wie ihr Gatte beharrlich und scherzhaft anmerkte. Zwei Jahre zuvor hatte es bei ihnen mächtig gefunkt auf dem Wochenmarkt. Beide wählten unabhängig voneinander, jedoch nebeneinander vor dem gleichen Marktstand platziert, je drei grüne Gartengurken, welche die Verkäuferin eifrig zusammen in eine Plastiktüte packen wollte. Auf Simones,
»Bitte in Extratüten!«, schüttelte die Frau den Kopf, verpackte das Gemüse in einzelne Tüten, zog aber den Betrag für sechs Gurken bei Holger ab. Nach gemeinsamem Lachen auf den verständnislosen Blick der Marktfrau lud Holger Simone zum Kaffee auf den Domplatz ein und zwei Stunden später, zum gemeinsamen Besuch aufs Rebblütenfest in Laubenheim am Abend. Quasi fast über Nacht wurden sie seitdem ein Paar und unzertrennlich bis heute. Mona erzählte von ihrem Job auf dem Lerchenberg und der Arroganz mancher Redakteure, die Studenten manchmal scheinbar mit besseren Dienstboten verwechselten. »Gibt es da keine knackigen Jungs bei den vielen Männern, die dort um dich herum arbeiten?«
»Schon. Aber entweder sind sie liiert, schwul oder ständig belagert von blutjungen, goldblondschöpfigen Assistent- oder Praktikant/innen. Diese Girlies löchern die aufgeblasenen Typen mit belanglosen Fragen, schmieren ihnen klebrigen Honig ums Maul und vermitteln ihnen ständig, wie toll sie sind, während sie ihnen mit bauchfreien T-Shirts und knappen Miniröcken fast ins Gesicht kriechen. Seufz! Doch wie sollen die geschmeichelten Herren der Schöpfung, da auch widerstehen können?«
Nach kurzer Atempause räumte Mona schnell noch ein,
»Na ja, natürlich nicht alle.«
»Du brauchst dich doch nicht zu verstecken mit deiner roten Mähne und der Figur. Sicher erntest du viel Positivresonanz, wo du auch auftauchst, oder?«
»Schon … aber die ZDFler wissen auch, dass ich mit Micha fast drei Jahre liiert war und so viel Zeit ist noch nicht vergangen seit unserer Trennung.«
»Apropos, ich hab was für dich, direkt aus Frankfurt importiert, wohin Ingrid mich zum Einkaufsbummel gezwungen hat.« Simone kramte ein schmales, rechteckiges Päckchen in buntem Geschenkpapier aus dem Rucksack und legte es vor ihr auf die Tischplatte. Gespannt riss Mona es auf. Zum Vorschein kam ein orangefarbener Karton mit der kleinen Aufschrift: »prince charming putty« und darüber in groß – Traumprinzenknete.
»Ich dachte an dich und konnte nicht widerstehen«, meinte Simone fast entschuldigend, als Mona das Mitbringsel nicht gleich kommentierte.
»Danke, du Liebe. Aber super, so was kenne ich gar nicht.« Die Freundin lachte erleichtert: »Lies doch mal die Rückseite.«
›Wünsche gehen in Erfüllung, wenn man fest an sie glaubt! Knete dir deinen Traumprinzen; hier drin findest du eine Anleitung und alles, was du brauchst, um deine Wünsche wahr werden zu lassen!‹
»Da muss ich doch gleich mal nachsehen.«
Nach vorsichtigem Öffnen kam eine etwa zehn Zentimeter lange, dünne Stange von grünem Knet zum Vorschein.
»Das reicht ja nicht mal, um ein bestes Stück nachzubauen«, bemerkte Mona grinsend.
»Dann musst du dir eben noch einige Hundert Päckchen davon besorgen und bald mit modellieren beginnen, damit das noch was wird in diesem Sommer.«
»Genauso!«
»Hab im Frankfurter Fritz-Heft auch mal die, ›Er, sucht Sie&Sie sucht Ihn‹-Rubriken für dich gecheckt.«
»Und?«
»Wie wäre es mit »Heißblütige, kaltschnäuzige, naturrothaarige Hexe als Flugbegleiterin zum Blocksberg oder sonst wohin gesucht! Könnte doch passen, oder?«
»Vielleicht hat diese Bibi noch einen Termin frei. Wesentlich spannender ist es, zufällig auf jemanden zu treffen, natürlich beidseitig hin&weg und dazu noch frei zu sein. Wie im Film immer. Die Liebe auf den ersten Blick mit dem oft zitierten Märchenprinz eben! Dann muss es nur noch klappen mit dem zermürbenden Alltagsgrau. Da, wo die Filme meistens enden. Ist doch kinderleicht, ha, ha!«
»Aha, Galgenhumor, Mona? Dazu bist DU doch noch viel zu jung. Viele sind beruflich so engagiert, dass sie die Zeit für dieses hollywoodreife Finden einfach nicht haben, schau dir mal die Datingseiten im Web an. Ein Versuch wäre es doch wert.«
»Notstand hab ich noch nicht. Ich lass mir Zeit, auch wenn es Jahre dauert. So etwas Lauwarmes, nein danke, da bleibe ich lieber Single. Wenn, dann möchte ich mich wieder so richtig verlieben! Das volle Programm mit den tanzenden Schmetterlingen im Bauch, Wochenenden und endlose Nächte voller Lust und Leidenschaft, Traumschlösser in den Wolken oder Frühstück bei Tiffanys und vielleicht auch irgendwann… Liebe? Ist das etwa zu viel verlangt?«
»Nö, ach was. Verlieben ist toll, alles ist so neu und interessant und jeder Joke ist witzig. Und manchmal geht es wirklich rasend schnell, Amor zielt einmal haarscharf und der Pfeil – landet mitten im Herz. Glaube einer wunschlos glücklichen Ehefrau.«
»Vielleicht verirrt sich ja eine Sternschnuppe, die Wünsche erfüllen kann, direkt zu mir!«
»Du Kindskopf! Apropos, ‘ne witzige Anzeige von einer älteren Frau hab ich entdeckt, darauf meldet sich bestimmt einer.«
»Echt? Lass mal hören.«
Simone blätterte zur markierten Seite und las vor: Verrückte, mollige Hexe (50) will zum letzten Mal, dem Zauber der Liebe erliegen. Lass uns gemeinsam den Kessel zum Kochen bringen, für den Rest unseres Daseins. Mickrige, knauserige und verknöcherte Möchtegernzauberer werden auf der Stelle in Kakerlaken verwandelt, zauberhafte Zuschriften mit Konterfei garantiert beantwortet!
»Klasse, oder? Als Singlemann im passenden Alter würde ich sofort antworten.«
»Doch wirklich, sehr originell! Sogar lästige Zeitgenossen geschickt im Text ausgebremst.« Mona berichtete von der Uni, wo kurz vor den Semesterferien nicht mehr viel lief; von Troll, der wieder bei ihr einquartiert war; vom Abend vorher beim feuchtfröhlichen Absturz mit Kommilitonen in die Eröffnung des Johannisfestes und vom Parkfrust frühmorgens. Diesen konnte Simone nachvollziehen aus eigener Erfahrung und selbst ihr Gatte beim BKA blieb von emsigen Politessen nicht verschont. Er musste seine zugegeben wenigen Strafzettel ebenfalls begleichen, trotz der Mitgliedschaft beim verwandten Verein.
»Vermutlich eine besondere Spezies von Weibern, die diesen Job gerne ausüben. Der überwiegende Teil sind sicher im Schnellverfahren geschulte Hausfrauen, die sich dort aufplustern können wie Kampfhennen. Nichts gegen Hausfrauen, aber von mir aus könnten diese Damen die Knöllchen verteilen, wo der Pfeffer wächst.«
*
Die Freundinnen balancierten sich relativ zügig entlang der Kaufhausfassaden und durch die wabernde Menschenmenge zum Platz der Vereine, neben Liebfrauenplatz und Gutenbergmuseum gelegen, wo die angestrebte Zeremonie des Buchdruckergautschens schon in vollem Gange war. Mona wusste zwar, dass dieser mittelalterliche Brauch nach dem Ende der Lehrzeit von Buchdruckern- und Setzern, kurz vor Aufnahme in die Handwerkerzunft, angewandt wurde.
Doch live hatte sie diese Touristen- und Einheimischen-Attraktion noch nie gesehen. Obwohl die traditionelle Taufe jedes Jahr beim Johannisfest, mit den Printnachfahren vorgeführt wurde, als Hommage an Johannes Gensfleisch zu Gutenberg, den berühmtesten Sohn der Stadt Mainz. Ursprünglich bedeutete es wohl das symbolische Abwaschen von Sünden dieser Zeit und von Bleibuchstabenstaub.
Großes Halligalli und Geklatsche rund um die SWR4-Bühne, die Massen hörbar begeistert. Sechs kräftige Zunftkollegen tunkten die jungen, weiblichen und männlichen Mediengestalter nacheinander in hohem Bogen mehrfach in einer Bütte mit eiskaltem Wasser nach unten. Mit viel lokalkoloriertem Witz kommentiert von einem graubärtigen Mann, als Gevatter Gutenberg täuschend echt in Originaltracht verkleidet. Zum Glück war es sehr heiß draußen, weil die nassen, fast transparenten Shirts beim Aussteigen aus der Bütte gesetzmäßig, hochgerutscht am Körper klebten. Wenn dabei als Nebeneffekt und Augenschmaus, ein Stück nackter Haut, ein brauner Bauch oder gar ein paar spitze Brustwarzen der weiblichen Täuflinge aufblitzten, regnete es verstärkt »Standing Ovations« und anfeuernde Rufe:
»Zugabe! Zugabe!«
*
Eine Weile verfolgten die Freundinnen das Spektakel auf der Bühne, bis Simone Mona anschubste:
»Ich könnt’ jetzt was essen, wie sieht’s bei dir aus?« Auf dem Domplatz und entlang der Ludwigstraße bot sich alles, was das Herz begehrte. Die beliebten Thüringer, Rinds-, Brat- oder Currywürste, Spießbraten mit Röstzwiebeln, Champignons in Rahm, frittierte Blumenkohlröschen, massige Pizzen, Maiskolben mit Knobibutter, Fischbrötchen mit Echt- oder Ersatzlachs, fettknusprige Reibekuchen mit Apfelmus und, und, und… und natürlich noch klebrige Kalorienbomben wie gebrannte Mandeln, Popcorn&Co. Sie entschieden sich für gegrillten Prager Schinken mit Kraut und ließen sich mit den dick belegten Brötchen auf den verfügbaren Holzbänken nieder.
»Da kriegt man ja Maulsperre!«
»Aber tierisch lecker – besonders die knackige Kruste«, murmelte Mona mit vollem Mund, während Simone die Schinkenstücke aus dem Brötchen fingerte und genüsslich in den Mund schob. Das angestrengte Kauen bis zum letzten Krümel verhinderte jegliche Unterhaltung.
»Jetzt hab ich Durst, und du? Cola?«
Mona nickte, während sie die letzten Bissen herunterschluckte. Simone besorgte am Nachbarstand zwei eisgekühlte Coca Colas mit Strohhalmen und stellte sie vor ihnen ab.
Ein langer gieriger Schluck und…
»Jetzt ‘ne Zigarette. Geht es uns wieder gut heute.«
Ein Blick in den ovalen Taschenspiegel bestätigte Monas Vermutung, am Mundwinkel klebte Senf und der Lipgloss musste erneuert werden. Ein braun gescheckter Hund, plötzlich am Tisch aufgetaucht, schob schnuppernd seine feucht glänzende Nase neben die fettigen Servietten, was Mona mit schlechtem Gewissen, Troll ins Gedächtnis rief.
»Ich muss unbedingt mal nach Hause. Troll ist sicher schon am Kneifen.«
»Okay, ich komme mit, danach können wir ja noch mal los.«
Es war nicht leicht, sich vorwärts zu bewegen zwischen den vielen Menschen und wie erwartet, stand er schon kläffend an der Tür, als Mona aufsperrte.
»Scheint dringend, also stürmen wir die Zitadelle.«
Zu dritt quetschten sie sich durch die Fußgängerzone, umrundeten die klatschende Passantentraube, die sich hingerissen um einen kleinen Jungen und sein wildes, ohrenbetäubendes Bongogetrommel vor einem CD-Laden gescharrt hatte. Die lang andauernde, monotone Penetranz genau dieser Vorführung war Mona bereits ein Begriff durch Ilse, die eigentlich sehr nachsichtig war. Aber genau über jenen Dschungelsound hatte sie sich des Öfteren mächtig echoviert, was Mona schlagartig absolut nachvollziehen konnte.
*
»Super idyllisch hier oben. Wie lange existiert diese Holzpyramide mit dem klappernden Windrad denn schon?«
Simone war länger nicht dort gewesen.
»Null Ahnung, aber angeblich stand vor über hundert Jahren, hier schon mal eine Windmühle und daran soll das neue Bauwerk erinnern. Der unförmige Silberschlauch, an dem die Kids herumturnen, ist eine Rutschbahn.«
»Cool! Überhaupt, hier gibt’s wirklich viele Möglichkeiten zum Toben, auch sonst ist einiges bewegt worden von meinem Brötchengeber. Wusste ich gar nicht.«
»Tja, wenn der von Schwiegermama Ingrid SO heiß herbei gesehnte Enkel endlich da ist, dann könnt ihr euch ja in einer der tollen Villen gegenüber einmieten. Hier oben ist die Welt nämlich noch in Ordnung.«
»Unbedingt! Ha, ha, wohl einen Clown gefrühstückt?«
»Nö. Aber gestern hab ich über eine aufschlussreiche, angeblich wissenschaftliche Studie gelesen. Bei dringlichem Nachwuchswunsch soll man jeden Tag Sex praktizieren, weil häufiger Verkehr die Spermien stärkt, nicht wie früher angenommen, sexuelle Enthaltsamkeit.”
»Von wegen dringlich! Hast du das aus dem »Playboy«? Hat sicher ein Redakteur verfasst, um die Dauerlüsternheit mancher Kandidaten zu legitimieren.”
»Nein, ich glaube aus der Brigitte.”
»Okay, dann geb ich das weiter an Holger, wenn er völlig groggy aus dem Büro kommt”, lachte Simone,
»Oder an Ingrid, damit sie uns bei der nächsten Visite, nicht wieder unsere Intimsphäre vermiest.”
Zuhause schob Mona einen getrockneten Knabberschuh aus Rinderhaut vor Trolls pelzige Pfoten.
»Hmh, lecker. Für den braven Hund. Bis nachher, Süßer.«
Sie tauchten wieder ein in den Trubel Richtung Weindorf am Leichhof, wo Simone einen Ex-Kollegen der netteren Art entdeckte, welcher dort einen Stand betrieb und ihnen zuwinkte.
»Hallo ihr Hübschen, womit kann ich die Damen denn verwöhnen?« Ein gegenseitiger Blick genügte.
»Ein Gläschen Sekt wäre nicht zu verachten.« Es wurden zwei/ drei/vier Gläschen daraus, die Stimmung stieg, der Blutdruck auch. Holger, von Simone zwischendrin informiert, war kurze Zeit später in Begleitung einiger Kollegen samt Anhang gut gelaunt zu ihnen vorgedrungen. Anfangs gestaltete es sich sehr lustig mit der zusammengewürfelten Truppe. Es wurde viel gelacht und flotte Sprüche wechselten die Seiten, doch mit stetigem Alkoholkonsum schmusten sich die Pärchen immer mehr auf Tuchfühlung. Mona fühlte sich zunehmend isoliert als einzige Singlefrau und ihrem pfundigen Standnachbarn ausgeliefert, der in Karohose und Lederblouson gequetscht, immer scheinbar beiläufig ihren nackten Arm tätschelte mit schweißiger Hand. Und dem Wirt dazu wieder einen zwei- bis dreideutigen Joke zum Besten gab. Um halb zwei Uhr reichte es ihr.
»Ich mach mich los, bin ziemlich K.o. Wir telefonieren morgen.« Das Übliche, »Bleib doch noch, ist grade soo gemütlich.«
»Nö – keinen Bock mehr.« Küsschen rechts und links – von Holger auch, die anderen winkten, »CIAO!«
Knutschende Pärchen, grölende Teenies, überall scheinbar glückliche Menschen in ausgelassener Stimmung. Monas Laune rutschte schlagartig in den Keller und sie sehnte sich nur nach ihrem Bett. Troll winselte ihr herzerweichend entgegen.
»Nein, bitte nicht schon wieder, du Nervensäge.« Er kaute auf seiner Leine und guckte flehend. So sehr wie sie Troll mochte, doch gerade wünschte Mona nichts sehnlicher, als dass Micha da wäre und sich um sie beide kümmern würde. Und sie vielleicht tröstend in den Arm nähme… Sie tat sich selber so leid, aber es half nichts. Lustlos hängte sie ihren Rucksack an die Stuhllehne und ergriff den Haustürschlüssel.
»Na los, komm, du haariges Monster.«
*
Entlang der Straße und der kleinen Gärten der Villen war es ruhig, dunkel und seltsam unheimlich heute Nacht. Vielleicht entstammte das mulmige Gefühl in ihrem Bauch, ihrer bleiernen Müdigkeit oder ihrer momentanen Souterrain-Stimmung? Unten tobte noch immer der Bär. Hier oben zeigte sich keine Menschenseele, nicht einmal ein übrig gebliebener Fan vom Meat Loaf-Konzert. Kurz vor Monas Golf sprang Troll unvermittelt und unbändig hoch, zerrte wie besessen an der Leine, fast bis zur Selbststrangulation, und bellte. Was wollte er denn nur?
SO benahm er sich nie, wenn es noch so heftig drückte. Er zog sie mit all seiner Kraft bis ans Auto und streckte den schwarzen Kopf weit unter die Kühlerhaube. Vermutlich wieder so ein junger Igel, dachte Mona, wie der letzthin im Volkspark unter dem hellgrünen Ginkgo Baum, welcher kurioserweise zur Gattung der Nadelbäume gehört und als Glückssymbol in China gilt, weil er angeblich unbeschadet den Atomkrieg in Hiroshima überlebt hat. Oder doch ‘ne fette Stadtratte, die überall nachts durch die Altstadt huschen, aber eine von den echten Nagern und keine Taube, die manchmal so tituliert werden. Sie blickte nach unten, wo der Hund gerade rückwärts hervor robbte, mit einer Art Band im Maul, an dem scheinbar etwas Schweres dran hing, das über den Boden schleifte. In der Dunkelheit konnte Mona nicht sehen, was er gefunden hatte, weil er mit der Nase darüber gebeugt, schnüffelte. Sie schob ihn zur Seite, so gut es ging, sah etwas aufblinken und erkannte im schwachen Mondlicht schemenhaft die Umrisse eines Fotoapparates. Wer warf denn so ein Teil weg? Vielleicht defekt? Oder gestohlen und hierher entsorgt. Beherzt entwand sie die Kamera Trolls Gebiss und hängte sie mit dem Gurt über ihre Schulter.
»Du guckst zu viele Krimis, Mona«, sprach sie sich halblaut selber Mut zu und wollte den Hund, der erneut nach oben zog, gerade von der Leine lassen, als es oberhalb hinter den Büschen deutlich raschelte. Atmete da einer? War da jemand?
*
Troll stand jetzt völlig regungslos, die Ohren aufgestellt und schaute fragend zu ihr. Eine Gänsehaut kroch Mona die Arme hinauf bis in den Nacken. Sie traute sich kaum zu schnaufen und das flaue Bauchgefühl wurde jetzt so übermächtig, dass keine zehn Pferde sie mehr zu halten vermochten. Bloß weg von hier! Sie zerrte mit Mühe an Trolls Halsband, der jetzt wieder knurrend und heftig in Richtung Zitadelle zog, und schleifte ihn fast ein Stück der Straße. Dann rannten sie im Laufschritt hinab wie von imaginären Furien gehetzt. Die Kamera schleuderte wild über Monas Schulter, bis sie endlich die Plätze erreichten, wo die Menschen feierten. Keiner beachtete sie, alle waren mehr oder weniger wein- oder bierselig. Noch immer außer Atem schloss Mona die Haustür auf und drückte den Schalter der Treppenhausbeleuchtung. Sie beugte sich nach unten, um den Hund von der Leine zu klinken, als ihre Entdeckung sie erstarren ließ. Die weißen Muster an ihrem schwarzen Kleid schillerten rund um die rechte Taillenseite, rot – blutigrot!
Verdammt, das konnte nur von Trolls Fundstück stammen. Tatsächlich! An der verkratzten Digitalkamera (wie Mona gerade registrierte, war es eine!) klebten noch verschmierte Reste von leicht verkrustetem Blut. Angeekelt und mit leichter Übelkeit in der Magengegend, aufgrund ihrer Aversion gegen den Anblick von Blut, nahm Mona das Band vorsichtig von der Schulter und transportierte die Kamera an zwei Fingern des ausgestreckten Arms pendelnd die restliche Treppe hinauf. Am liebsten würde sie den blutigen Apparat durchs offene Fenster auf die grölenden Heimkehrer werfen, dann könnten die sich damit befassen. Heute war wirklich kein Glückstag. Eigentlich müsste sie jetzt noch bei der Polizei anrufen, ihren Namen nennen und ALLES erklären… Was tun? Sie hatte so gar keinen Nerv mehr dafür, fühlte sich hundemüde und völlig erschlagen.
›Verschieben wir’s auf morgen!‹
Dieses Motto von Scarlett O’Hara in, ›Vom Winde verweht‹, hatte Mona von klein auf fasziniert und genauso – würde sie dieses kleine Problemchen jetzt auch händeln.
Samstagnacht, drei Uhr dreißig.
Völlig verschwitzt erwacht, fühlte Mona sich bleischwer wie ein feuchter Zementsack. Schlagartig überfiel sie der Gedanke an die Kamera, die sie auf dem Papierberg an der Eingangstür deponiert hatte, direkt neben den schmutzigen Turnschuhen vom verregneten Spaziergang am Rhein. Sie sollte mit jemandem darüber reden. Vielleicht hätte sie doch besser noch angerufen. Womöglich hatte der Dieb noch hinter den Büschen gehockt, nachdem er einen Mann oder eine Frau beraubt hatte. Bei Simone konnte sie eigentlich zu jeder Uhrzeit durchrufen. Aber die lag entweder sektselig schlummernd neben ihrem Holger im Bett oder sie liebten sich gerade unbefangen und hemmungslos in der ersten Nacht, wo die Schwiegermutter abgereist war und nicht vom Nebenzimmer, die Rhabarberohren ausklappte zum großen Lauschangriff. Wen könnte Mona sonst noch…?
Micha fiel ihr ein, doch der war in weiter Ferne und sicherlich mit spannenderen Dingen beschäftigt bei seiner aktuellen Weltreise. Eine große Ehre, als Kameramann beim Dreh dabei zu sein am Fuße des Himalaja Massivs im kleinen, angeblich so glücklichen Königreich Bhutan, zwischen Indien und China gelegen. Die ZDF-Crew war das erste ausländische Fernsehteam, dem der Zutritt vom König gestattet wurde, wie er ihr voller Stolz gemailt hatte. Keine Ahnung, wie es dort mit einer Zeitverschiebung aussah, oder ob er noch wach war? Egal, falls er keine Störung wünschte, würde sich die Mailbox melden. Ihn durfte sie jedenfalls immer anbimmeln mit diesem Tribandhandy fürs Telefonieren nach Übersee. Eh ein Geschenk von ihm und natürlich mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis.
»Michael Berens. Hallo?«
»Micha? Gott sei Dank! Du schläfst noch nicht? Hier ist Mona.«
»Hallo Prinzessin, (SO nannte er sie immer noch!) wo brennt es denn? Ist etwas mit Troll?«
Wegen der beträchtlichen Gebühren bei Auslandsgesprächen spulte Mona die Geschichte hastig herunter.
»Den Notruf – die 110 – kannst du jederzeit anrufen. Mach’s am besten gleich, nicht so lange überlegen, dann hast du es hinter dir. Unangenehme Dinge sollte man nicht auf die lange Bank schieben, vielleicht gibt es eine ganz simple Erklärung dafür«, riet er ihr. Sein Pragmatismus war wirklich manchmal sehr hilfreich, obwohl er sie in ihrer Beziehung oft damit genervt hatte. Sicherlich entsprach es einer Tatsache, dass Mona sich immer zu viele Gedanken machte.
»Meinst du wirklich? Na gut, ich halte dich auf dem Laufenden. Wie läuft’s denn bei euch? Alles okay?«
»Alles paletti! Super, traumhaft gigantisch und ein bisschen hinterm Mond hier. Ich werde dir ausführlich berichten, wenn wir zurück sind. Was treibt Troll, benimmt er sich?«
»Klar, wie immer. Viele Grüße von ihm. Danke für deinen Rat und bis bald. Ciao.«
»Ciao Bella und viel Glück beim Anrufen.«
Oh yeah! Derart aufgekratzt und die Superlative überschlugen sich ja fast, dachte sie verwundert, war es wirklich so toll dieses Land? Troll blickte sie an, als wollte er sagen:
›Mach nicht so einen Bohai mitten in der Nacht, es ist schließlich Schlafenszeit!‹
*
Etwas nervös drückte Mona die Tasten des Telefons.
»Notruf hier. Wer spricht?«, meldete sich eine sonore Stimme.
»Hier ist Mona Blume und ich habe heute Abend eine blutige Digitalkamera gefunden, als ich mit dem Hund Gassi war.«
Sie sprach zwar sehr schnell, aber der Mann hatte alles verstanden.
»Geben sie mir bitte ihre Anschrift und beschreiben sie den Ort, wo und wann sie das Fundstück entdeckt haben. Moment, ich habe hier eine Monika Blume, Augustinerstraße 29. Sind sie das?«
»Ja, klar. Entschuldigung, aber alle nennen mich nur Mona.«
Die Studentin beschrieb detailliert den Platz nahe der Zitadelle, den Part des Hundes und die Uhrzeit. Sogleich folgte die nächste Frage.
»Wo befindet sich die Kamera momentan?«
»Ich hab sie mitgenommen.«
»Wir kümmern uns darum, sie hören von uns.«
Ihre Bürgerpflicht war getan und den klebrigen Fotoapparat würden sie sicher morgen abholen. Damit dürfte der Fall für sie erledigt sein, dachte Mona blauäugig und kuschelte sich wieder ins noch warme Bett.
Sonntagmorgen, 26. Juni
Pustekuchen! Um sechs Uhr klingelte es Sturm. Troll sprang auf, trabte an die Tür und bellte, so laut er konnte.
»Ruhig, Troll!« Obwohl es Mona sehr recht war, wenn er bei jedem Klingeln heftigst Laut gab, denn die lästigen Zeugen Jehovas hatte er irgendwann auf diese Art nachhaltig vertrieben, scheinbar für immer.
»Ja«, grummelte sie in die Sprechanlage.
»Hier ist die Polizei. Wir haben einige dringende Fragen, öffnen sie die Tür und sperren sie den Hund weg.«
Mona eilte zum Fenster und schaute hinunter. Tatsächlich, vor dem Haus warteten zwei uniformierte Polizisten in grünen Jacken, khakifarbenen Hosen, mit weißgrünen Helmen und Funkgeräten in den Händen. Schnell wickelte sie den geblümten Kimono übers Schlafshirt und betätigte den Türöffner. Troll schob sie vorher ins Bad, wo er weiter ausgelassen kläffte, knurrend und kratzend dabei seine Krallen in der Tür verewigte, als die Beamten mit gezückten Ausweisen die Wohnung betraten.
»Wo ist die Kamera, wo genau lag sie? Was haben sie gesehen? Bitte jedes kleinste Detail angeben, auch wenn es ihnen nicht wichtig erscheint. Ist ihnen jemand begegnet? Warum haben sie uns nicht sofort verständigt…«
So viele Fragen – wegen eines ordinären Taschendiebs?
Mona versuchte alles penibel zu beantworten und erkundigte sich dann leicht echauffiert nach dem Grund dieses, in ihren Augen, maßlos übertriebenen Zwergenaufstands.
»Darüber dürfen wir keine Auskunft geben. Nur so viel, wir haben dort eine weibliche Leiche gefunden und brauchen ihre Zeugenaussage. Kommen sie heute um acht Uhr dreißig ins Polizeipräsidium am Valenciaplatz zwei. Das Beweisstück nehmen wir mit.«
OH Gott! Eine tote Frau lag da oben, wo sie nachts entlang spaziert waren. Mona lief es eiskalt den Rücken herunter. Die Beamten verabschiedeten sich und gingen mitsamt der ekligen Kamera die Treppe hinunter. Ihre vollschlanke Nachbarin, Frau Liane Liderlich, geborene Frommhold, aus einem Altmainzer Clan stammend, wie sie sich vorstellte, als Mona einzog, war leider ebenfalls schon wach. Sie blickte neugierig und verschlafen hinter der spaltbreit geöffneten Tür hervor.
»Ah Frolleinche, wat’s dann los – Bollizei?! Honn se ebbes ausgefresse?«
Sie verzog das flache Mondgesicht zu ihrem typischen, breiten Pharisäerlächeln. Die Studentin bezeichnete es so, weil die Hausmeistergattin schon einige Male erfundene Gerüchte über sie in der Nachbarschaft verbreitet hatte, ihr aber nichtsdestotrotz – stets bigott und katzenfreundlich ins Gesicht lachte. Schrappnelda! Die hatte ihr gerade noch gefehlt!
Das Hausmeisterpaar Liane und Benno Liderlich
Madame hörte, sah und wusste alles, und was sie nicht wusste, das wusste sicher ihr Göttergatte Benno, ein dürrer, meist griesgrämig dreinschauender, langer Lulatsch mit strohig zottigem Schnauzbart. Seines Zeichens Hausmeister ihres Wohnhauses, wie auch im nahe gelegenen Kolpinghaus, wo er die manchmal aufsässigen Lehrlinge dort tüchtig
» …aufmische dut und dafür noch Geld kassiere dut!«
Mit geschwellter Brust hatte Liane derart geprahlt, als sie Mona zu Anfang in die gute Stube bat, um ihr stolz die, mit winzigen Kreuzstichen in rotem Garn gestickten und gerahmten Erbbilder aus Familienbesitz an der Wand zu präsentieren, welche ihren alten Stammbaum als Rhein-Adel in der ›Vilzbach‹ belegten.
Benno Liderlich wirkte ständig unzufrieden, wahrscheinlich wusste er selber nicht so genau, warum. Vielleicht war er schlichtweg ein Frauenhasser, seine Angetraute natürlich ausgenommen. Augenscheinlich ein waschechter Misanthrop und knottriger Miesepeter, über dessen Eignung zu einem Job in dieser katholischen Einrichtung, wo der Umgang mit unterschiedlichsten, auch körperbehinderten Jugendlichen vonnöten war, konnte die Studentin nur spekulieren.
Mona Blume mochte er offensichtlich nicht, so bärbeißig, wie er in ihrer Gegenwart stets agierte. Er verkörperte für Mona, das absolute Kontrastprogramm zur aufdringlichen Leutseligkeit seiner besseren Hälfte. Sprichwörtlich flogen Gegensätze ja geradezu aufeinander, bei diesen beiden traf der Spruch scheinbar ins Schwarze. ›Dick und Doof‹ liegen wieder auf der Lauer oder ›Waldorf und Stadler‹, die zwei Balkongreise der Muppetshow, hatte Micha des Öfteren bemerkt, weil ihre Köpfe stets prompt am Fenster auftauchten, wenn er zu ungewöhnlichen Zeiten ging oder kam aufgrund seines Dienstplanes.
Du kannst mich mal, Liane!
»Nein, Frau Liderlich, sonst hätten SIE es schon gehört!« Rumms! Die Tür fiel laut ins Schloss. Heute war es Mona völlig schnuppe, falls die scheinheilige Nachbarin pikiert war. Ansonsten bemühte sie sich ja immer freundlich zu sein, auch wenn sie das zänkische Albtraumpaar eigentlich nicht ausstehen konnte. Warum musste man in einem Mietshaus zwangsläufig auf irgendeine Weise und meist noch hautnah, am Leben anderer Bewohner teilnehmen? Ob man wollte oder nicht! Mona befreite erst Troll aus seinem gekachelten Gefängnis. Ihre Knie waren butterweich, die Beine gaben nach und sie musste sich erst einmal hinsetzen. Augenblicklich war ihr die Situation der letzten Nacht, so richtig bewusst geworden. Ein gemeiner Mord im katholischen Mainz und sie unmittelbar in der Nähe des Tatorts. Die knackenden Geräusche im Gebüsch. Vielleicht hatte der Mörder sie beobachtet…? Er hätte sie ja auch…!
Deswegen war der Hund kaum zu bändigen. Simone hatte Mona mal gefragt, ob sie keine Angst hätte, wenn Troll nachts noch raus musste. Bislang hatte sie das stets verneint, obwohl ihr bekannt war, dass dieser im Ernstfall keine große Hilfe wäre, weil er nicht schussfest war, wie es beispielsweise für Polizeihunde Vorschrift war. Michas Hund litt an einer Art Knalltrauma, seit er als Welpe einen Unfallcrash im Auto miterlebte, wo er von der Rückbank zur Windschutzscheibe geschleudert wurde. Seit jener Zeit erfasste den relativ großen Kerl eine panische Angst bei lautstarken Geräuschen und er verkroch sich schutzsuchend unterm Tisch oder besprang den nächsten, erreichbaren Schoß. Sie musste sich anziehen. Der Hund schlabberte währenddessen laut seine Schale leer, danach richtete er die braunen Knopfaugen auf Mona.
»Ja, ich weiß schon, die volle Blase drückt! Bloß wohin?«
Der gewohnte Platz auf der Zitadelle war ihr gründlich verleidet, aber am Rheinufer, hinter dem Malakoffkomplex, wuchsen auch grüne Büsche. Die Straße lag noch menschenleer. Durch die Holzstraße, an der Fachhochschule vorbei, unter dem Sandsteintor hindurch… Weiter kamen sie nicht, Troll hatte bereits eine geeignete Ecke zum Pieseln gefunden. Schnell retour, um halb neun sollte Mona bei der Polizei antreten, obwohl heute Sonntag war. Vielleicht gab es einen Kriminaldauerdienst für Mordfälle?
*
Die Studentin hatte das hochgeschlossene Kleid gewählt, um einen seriösen Eindruck zu hinterlassen. Sie zog die Jacke darüber, es war noch ziemlich frisch draußen und ging los. Was die dort noch von ihr wollten, sie hatte doch schon alles erzählt.
Gedankenverloren steuerte sie ihr Auto an, bestieg gewohnheitsmäßig die Treppe zur Weissliliengasse. STOPP! Sperrschilder quer vor dem Stufenende bis an die Ampel. Alles war weiträumig abgesperrt und überall agierten grüngekleidete Polizeibeamte mit Schäferhunden. Ihren fahrbaren Untersatz konnte sie wohl die nächsten Tage vergessen. Normalerweise erledigte sie alles Erreichbare zu Fuß, nur bei größeren Entfernungen nahm sie das Auto. Obwohl sie auch das Semesterticket der Uni hätte nutzen könnte, das im gesamten Rhein-Main-Verbund Gültigkeit besaß. Mona drehte auf dem Absatz um und lief zurück. Wo gab es einen Bus zum Valenciaplatz am Sonntagmorgen? Jetzt bedauerte sie, sich im Netz der Stadtwerke nicht auszukennen. Egal, am Höfchen befanden sich einige Haltestellen, da würde schon einer dabei sein.
Im ersten der gläsernen Wartehäuschen hatte sich das altstadtbekannte, obdachlose Männerpaar auf dem fleckigen Schlafsack häuslich eingerichtet mit zahlreichen Bierflaschen. Daneben war ein Einkaufswagen geparkt, vollgepackt mit der armseligen Habe. Sie belallten sich gegenseitig höchst unflätig wie immer, sonst war niemand zu sehen. Leider auch kein Bus, denn alle Stationen der rechten Seite waren verlegt wegen des Stadtfestes.
Als Mona die Ersatzhaltestelle, Ecke Quintinsstraße erreichte, war die richtige Linie gerade losgetuckert, wie ihr der Fahrplan verriet, und die nächste kam erst in einer halben Stunde. Shit! Keine Muße dort zu warten, also ‚per pedes’ quer durch die Stadt. Auf den letzten Metern vorm Präsidium überholte sie der Stadtbus, spärlich besetzt mit zwei Männern und dem Fahrer.
Sonnenklar, dass sie mit ihm zur gleichen Zeit eingetroffen wäre. Ihr Fuß schmerzte jetzt aufs Übelste, denn sie hatte sich zwei Blasen erlaufen an Ferse und dickem Zeh von den schicken Riemchensandalen, deren maximale Laufweite nur für einen Hin- und Rückweg zum Taxi, Theater oder Restaurant angelegt waren. So hinkte sie etwas, als sich die Glastür öffnete.
»Sind sie Monika Blume?«, fragte der uniformierte junge Polizist mit den lustigen Sommersprossen, der dahinter postiert war.
»Sie werden schon erwartet.«
Zügig ging er voraus und Mona folgte ihm langsam und fußlädiert in den ersten Stock. Am zweiten Zimmer links klopfte er kurz.
»Herein«, ertönte es kraftvoll von drinnen. Er öffnete die Tür, verkündete hinein:
»Frau Blume wäre jetzt da.«, und dirigierte sie mit einer kurzen Handbewegung ins Zimmer, dann schloss er sie hinter ihr. Zwei intensiv kornblumenblaue Augen taxierten Mona von Kopf bis Fuß. Bevor sie überhaupt einen Ton herausbrachte, stellte der dazu gehörige Mann oberlehrerhaft fest:
»Sie sind eine halbe Stunde zu spät! Ist Ihnen das klar?«
Klar war ihr das klar! Sonnenklar! Blödmann! Konnte sie etwas dafür, wenn seine Kollegen ihr Auto blockierten und der Bus vor ihrer Nase davonfuhr.
»Ich weiß und es tut mir auch echt leid, aber der Stadtbus…« Er ließ sie nicht ausreden.
»Nun gut, jetzt sind Sie ja endlich eingetroffen! Nehmen Sie dort Platz, wir haben unsere Zeit nicht gestohlen. Und nun geben Sie mir Ihren Personalausweis. BITTE!«
Sie konnte sich wahrhaft etwas Schöneres vorstellen, als den Sonntagmorgen hier zu verbringen. Falls er Stress hatte mit der Liebsten, musste er es nicht an ihr auslassen.
*
»Ihre Personalien haben wir, 1989 in Bonn geboren, fünfundzwanzig Jahre alt, ledig, wohnhaft Augustinerstraße 29 und Studentin an der Johannes-Gutenberg-Universität. Seit fünf Jahren mit Erstwohnsitz in Mainz gemeldet. Korrekt so?«
Sie sagte nichts, sondern nickte nur zustimmend. Jawohl, Herr Lehrer und Körpergröße einssiebzig, einundsechzig Kilo und neunzig-sechzig-neunzig, haha!
»Welches Fach?«, schob er noch hinterher.
»Kunst«, antwortete sie nur knapp. Damit kannst DU sicher nicht so viel anfangen. Warum fühlte sie sich von diesem maskulinen Typ nur so provoziert? Vielleicht, weil sie nicht mit solch einem jungen und attraktiven Kommissar gerechnet hatte. Normalerweise stellte sich jeder einen solchen Mann doch so vor, wie damals dieser ›Derrick‹ oder ›Inspektor Barnaby‹, oder?
ER war schätzungsweise dreißig bis fünfunddreißig, vielleicht einsachtzig groß (er saß), schlank, dunkelhaarig und dann diese blauen Augen… eigentlich optisch ein richtiger Traumtyp, aber eben ein Bulle und momentan wohl nicht in blendendster Stimmung.
»Was hatten Sie an der Zitadelle zu suchen? Um diese Uhrzeit? Waren Sie alleine? Wo genau haben Sie die Kamera gefunden? Warum haben Sie das Beweisstück nicht dort belassen und uns gleich verständigt?! Haben Sie am Tatort irgendjemand gesehen oder etwas gehört? War Ihnen nicht klar, dass Sie eventuell wichtige Fingerabdrücke verwischen könnten, durch Ihr unüberlegtes Handeln, indem Sie die Kamera einfach mit nach Hause nahmen?«
Ein Stakkato von Fragen prasselte auf Mona nieder und riss sie aus ihren Gedanken. Sie fühlte sich so gemaßregelt, wie damals in der Teeniephase, als ihre Mutter sie öfter ins Gebet nahm, wegen der quer durchs Zimmer verteilten, schmutzigen Wäschestücke. Trotzdem beantwortete sie alles in chronologischer Reihenfolge und begründete ihre spontane Aktion damit, dass sie das Teil am Montag im Fundbüro abgeben wollte. Auch, dass sie das Blut erst später entdeckt hatte und natürlich nicht im Traum daran dachte, dass so etwas passiert sein könnte. Langsam hellte sich seine Miene etwas auf und er wirkte gleich viel sympathischer. Das verlieh Mona den Mut nach der toten Frau zu fragen und wie sie zu Tode kam. Er zögerte einen kurzen Moment, dann meinte er:
»Sie können darüber morgen in der Zeitung lesen. Nur so viel, es handelt sich quasi um eine Kollegin von uns. Eine Politesse, die dort ihren Dienst ausübte, und sie ist erstochen worden.«
»OH Gott«, entfuhr es Mona, »das ist ja furchtbar! Weiß man denn schon etwas über den Täter?«
»Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, aber wir sind jetzt fertig für heute. Falls wir noch etwas von Ihnen brauchen, wissen wir ja, wo wir Sie finden. Sie haben nicht vor, in den nächsten Wochen ins Ausland zu reisen?« Er wollte ihr nichts sagen, außerdem erschien ihr seine letzte Frage total überzogen.
»Wieso nicht verreisen? Verdächtigen Sie mich etwa, Herr Kommissar? Total absurd.«
»Ich bin erst Kommissars-Anwärter und ansonsten müssen wir jeder noch so kleinen Spur nachgehen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch zu tun.«
Ein echter Rausschmiss in amtlichem Tonfall. Prima! Sie erhob sich vom Stuhl, ergriff ihren Rucksack vom frisch poliert wirkenden Boden und ging zur Tür.
»Auf Wiedersehen.«
»Wiedersehen«, antwortete er, ohne noch einmal von seinem Schreibtisch aufzusehen, als Mona sie schloss.
Vor dem Präsidium empfing sie so gleißendes Licht, dass sie schnell ihre schwarze ›RayBan‹-Sonnenbrille auf die Nase schob. Inzwischen war es halb zehn, die Sonne illuminierte die Stadt so strahlend, als wäre in der Nacht niemals etwas Schauerliches geschehen. Nur, auf einer eiskalten Pathologiebahre der Uniklinik lag eine tote Politesse, deren Mörder noch frei herumlief. Wirklich keine beruhigenden Aussichten! Wegen der inzwischen offenen Fußblasen nahm Mona sich jetzt die Zeit auf den Bus zu warten, der auch zwanzig Minuten später eintraf. In Gedanken ließ sie das Verhör noch mal Revue passieren. Dieser Kommissar in spe, mit diesen blauen Augen, hatte sie irgendwie irritiert. Gab es nicht mal ein Lied darüber? Sie glaubte, sich zu erinnern. Bei der Neuen Deutschen Welle… ›Spliff‹, oder? Ja, genau und ›Anett Humpe‹ war die Sängerin.
»Deine blauen Augen machen mich so sentimental, so blaue Augen…« Ihre ältere Schwester hatte den Song damals tagelang kratzend heruntergenudelt auf dem alten Kassettenrekorder, wegen des frechen Bäckersohnes Kurt Kälble mit den wasserblauen Augen, der Mona immer dicke Kletten in die Zöpfe gedrückt hatte. Dieser barsche Ton am Ende, absolut entbehrlich! Ob dieser Namenlose, sie konnte sich jedenfalls keiner Vorstellung erinnern, mit seinen Lieben auch so rüde umsprang?
Am Höfchen erwachte so langsam das Leben. Auf den dampfenden Holzkohlengrills der Bratwurstbuden brutzelte bereits eine Lage Rindswürste. Mona wusste aus dem städtischen Programmheft zum Fest, dass um elf Uhr die erste Veranstaltung auf der Ballplatzbühne beginnen sollte. Eine Lesung des neuen Stadtschreibers von Mainz. Vielleicht war sie das Ziel des anschwellenden Menschenauflaufs? Momentan reizte sie das Johannisfest überhaupt nicht. Man fand schließlich nicht jeden Tag, das Beweisstück für ein Verbrechen.
Zuhause träumte Troll lang hingestreckt auf seiner Decke. Wunderbar, scheinbar keinerlei Pieselalarm. Eine Mütze voller Schlaf würde auch ihr gut tun, nach dieser Nacht und dem Morgen. Ein Blick in den Spiegel und die leicht bläulichen Ringe unter den Augen bestätigten ihr Vorhaben. Also, ab in die Koje, aber dieses Mal ohne Handy oder Uhr zu stellen.
*
Fünfzehn Uhr zeigte der Radiowecker.
Mona hatte geschlagene vier Stunden durchgeschlafen und eine Menge Nonsens geträumt. Sie erinnerte sich sogar bruchstückhafter Details.
Ihr hohlwangiger Nachbar Bodo hatte seine Liane zusammen mit einem fetten Stallhasen erstochen, weil sie ständig alles in sich hineinschaufelten und für ihn nur das Nachsehen blieb. Danach hatte er beide, mittels Häcksler zerkleinert und im blauen Sack hinter den Schweinehälften der Metzgerei versteckt. Durch einen Trick gelangte er in die Werkstatt, wo er die Reste heimlich zum Verwursten unter die Zutaten der Fleischbütten mengte. Nach Auffliegen der Bluttat landete er natürlich prompt im Gefängnis, und weil dann die Wohnung zur Disposition stand, zog umgehend der grantige Polizist mit den schönen Augen, zusammen mit Verona Felsendorf-Puth und fünf rotzfrechen Kids dort ein…
Wie es weiterging oder endete, wusste sie nicht mehr. Ach du Schande, was für ein Hillbilly-Schwachsinns-Traum! Die Wohnung hatte sich so aufgeheizt, obwohl alle Fenster offen standen. Von der Straße drangen Gemurmel, Kinderlachen und Musik herauf. Mona war völlig verschwitzt, das Shirt klebte ihr auf der nackten Haut. Der hechelnde Hotdog quer über ihren Füßen machte es wahrlich nicht besser, sondern blies muffigen Schlafgeruch direkt zu ihrer empfindlichen Nase. Sie schob Troll leicht unsanft zur Seite, sie musste sofort unter die Dusche. Das lauwarme Wasser würde ihre Lebensgeister wieder auf Trab bringen. Frisch geduscht im Sessel lümmelnd fiel Mona der Künstlermarkt am Rheinufer ein, den sie sich dieses Jahr noch nicht zu Gemüte geführt hatte, und auch, wen sie deswegen anrufen könnte.
Genau! Angie. Sie teilten die Vorliebe für Flohmärkte, vielleicht verspürte sie ja Lust, sie zu begleiten. Tja!
»The person, you ‘ve called, is temporary not available«, flötete Mona sofort, ohne zu klingeln, die konservierte Frauenstimme der Mailbox ins Ohr. Pech! Das Handy war abgeschaltet. Schade. Manchmal beneidete Mona Angie ein bisschen um die federnde Leichtigkeit, das Leben so locker zu genießen. Na ja, jedenfalls mit ihr, konnte sie heute wohl nicht rechnen.
Angelika Strobel (genannt Angie, ehemalige Kommilitonin)
Eine witzige Person. Immer gut drauf, immer viel zu tun, ständig neu verliebt und irgendwelche Dates, weiblicher Hansdampf in allen Gassen und Mittelpunkt jeder Party. Gemeinsam hatten sie drei Semester lang Kunst an der Uni studiert, bevor Angie die Lust verlor und schnell Kohle verdienen wollte. Keiner verstand sie, die gesegnet war mit hohem kreativem Potential, doch sie scherte sich nicht um die Meinung anderer oder ihre künstlerische Begabung und nahm kurz entschlossen, den vakanten Job in einem exklusiven Dessousladen der Altstadt an, mit dem sie immer noch zufrieden schien. Schafften sie es mal, gemeinsam etwas zu unternehmen, war es meist sehr lustig und immer beschlossen sie beim Abschied, es baldmöglichst zu wiederholen. Dabei blieb es dann auch. Es sei denn, Mona rief an. Dabei war sie sicher, dass es kein böser Wille Angies war. Ihr letztes Treffen lag fast drei Monate zurück. Die ehemalige Studienfreundin erinnerte Mona an einen schillernden Schmetterling. Mal hier oder dort naschen und schnell wieder weiterflattern. Von klein auf, auch bei den Eltern den Part des Enfant terrible ausfüllend, machte Angie keinen Hehl aus oft wechselnden Affären. Erzählte laut und sehr offenherzig über heiße Erlebnisse mit OneNight-Stands, Quickies&Co. Zweifellos sehr amüsant zum Zuhören, aber manchmal war es Mona echt peinlich gewesen, obwohl sie rein gar nichts damit zu tun hatte. Doch Angie selber? Fehlanzeige! Besonders, wenn sie von speziellen Vorlieben des aktuellen Lovers mit dem supergroßen…
»Dingsbums oder ihren multiplen Orgasmen« schwärmte und die Leute am Nachbartisch die Ohren spitzten oder die Stirn runzelten. Entweder, weil sie es anstößig fanden oder sich nähere Details erhofften nach diesem Auftakt, und sich dann umdrehten, weiter weg oder näher heran rückten.
»Nur der Neid der Besitzlosen«, kommentierte Angie dann meist kaltschnäuzig, als Krönung auch noch halblaut, dieses Schwanken zwischen verschämter Neugierde oder empörter Pikiertheit. Durchaus möglich, dass sie gestern Abend wieder einen Typ kennengelernt hatte und heute frisch verliebt, den ganzen Tag über mit ihm Bett und Tisch auf maximale Belastbarkeit testete, wie sie es wohl des Öfteren praktizierte.
Bei Timo könnte sie vielleicht noch anklingeln. Aber leider war auch er nicht zu Hause, nur der Anrufbeantworter quakte. Sie sprach ihm zur Identifizierung,
»Viele Grüße von Mona! «, darauf, weil er es ebenso wenig mochte wie sie, wenn später beim Tüttüt-Abhören, das Rätseln um den Anrufer losging.
Timo König (Kommilitone und Studienfreund)
Timo König, ein sympathischer Kommilitone und inzwischen guter Freund, war seit acht Monaten ebenfalls Solist im Beziehungsreigen. Nach der dramatischen Trennung von Exlover Damian, der ihn im Jahr zuvor während der Love-Parade im Berliner Tiergarten, erst angerempelt und dann angetörnt hatte. Er hatte ihn Mona in bunten Farben geschildert, bevor beide kurze Zeit später, Arm-in-Arm am Rheinufer ihren Weg kreuzten.
Doch das ungleich buntere Berliner-Original mit grünlila Strähnen im Haar und in fetzige Hauptstadtklamotten gewandet, hinterließ damals bei Mona eher den Eindruck eines personifizierten Vorwurfs gegenüber Timo. Seine tief gekränkt wirkende Mimik erschien ihr absolut nicht stimmig zum schrillen Paradiesvogeloutfit. Den Grund für das endgültige Zerwürfnis vertraute ihr Timo nach Ende der Zweisamkeit dann ausführlichst, aber unter absoluter Geheimhaltungsstufe an. Mona musste sich dabei ernsthaft zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Dieser Damian hatte ihm einige heiße Dessous aus seinem siebziger Jahre Lieblingsladen ›Engelke‹ in der Berliner Kantstraße, als Geschenke offeriert. Neben einem Lederkorsett mit ausgesparter Öffnung für eventuelle Brustwarzenpiercings, auch drei, extra auf Timos Größe maßgeschneiderte, französische Ouverthöschen in Lilaviolett, Ochsenblutrot und Blauglitzerschwarz.
Jedes Mal, sobald Timo die Wohnung allein verlassen wollte, bestand Damian darauf, dass Timo eines dieser delikaten Teile auf der Haut tragen sollte, um ihm näher zu sein. Als Timo sich weigerte und auch nicht auf dessen Intimrasur- oder Piercingwünsche einging, sah Damian darin einen eklatanten Liebesverrat, der zunehmend eskalierte. Zur Rettung ihrer maroden Beziehung waren sie am Ende zusammen in Damians Heimat nach Berlin, auf seinen besonderen Wunsch hin sogar getrampt; hatten im originellen Hutladen in der Giesebrechtstraße, Kaffee getrunken; in der ›Disco 90 Grad‹ zu heißen Rhythmen getanzt und waren durch originelle Kneipen im Nikolaiviertel gezogen. Gemeinsam teilten sie sich eine riesige Schweinshaxe in der Rekonstruktion des angeblich ältesten Wirtshauses, ›Zum Nussbaum‹ (erste Version von 1507); waren dann weitergezogen zum Haus des betrunkenen Froschs, ›Zum Paddenwirt‹, und am Ende, ebenfalls volltrunken in der Kneipe, ›Zur letzten Instanz‹, gelandet, wo scheidungswillige Paare sich angeblich immer beim Bier versöhnten. Ihnen beiden war die Aussöhnung leider trotzdem nicht geglückt.
Als Timo zurück nach Mainz fuhr, war Damian in Berlin geblieben. Dort fand er auf Empfehlung eines Bekannten sofort Unterschlupf in einer Wagenburgkolonie für Aussteiger, wo jeder einhundert Euro monatlich zahlen musste, für einen Wohnwagen mit Komposttoilette auf einer Parzelle. Timo schickte seinem Exlover umgehend die Habseligkeiten, inklusive der heißen Geschenkartikel dorthin nach. Anschließend pflegten sie keinerlei Kontakt mehr bis vor einem Monat, als ihm eine Ansichtskarte von der Insel Formentera ins Haus flatterte, wo Damian inzwischen angeblich als Maler lebte. Erst nach dieser Trennung hatten Mona und ihr Kommilitone sich so richtig angefreundet.
*
Kein Wunder, bei diesem schönen Wetter hatten alle etwas geplant, nur sie nicht. Sonn- und Feiertage stellten wirklich die schlimmste Herausforderung für Singles dar. Pärchen waren mit sich beschäftigt. Verständlich. Paare mit Kids schwelgten fröhlich in happy family, manche aber auch nicht! Kinderfeste, Karussells, Schwimmbad oder gemeinsame Ausflüge, danach stand Mona wirklich nicht der Sinn. Blieben nur die Alleinstehenden und davon kannte sie nicht so viele. Ilse fiel ihr ein, gemeinsam hatten sie schon so manch einsames Wochenende totgeschlagen. Zweizwei–viervier–sechssechs, es klingelte. Bitte sei nicht unterwegs.
»Ilse Gerlach, hallo?«
»Schön, dass du zu Hause bist. Hier ist Mona. Ich hoffe, du hast Zeit für eine freudlose Singlefrau, die kurz davor steht, sich im Selbstmitleid zu ertränken.«
»Klar doch!« Ilse lachte ihr kehliges Lachen.
»Willst du vorbeikommen? Hab gerade einen Biskuit-Tortenboden gebacken für frische Erdbeeren mit Sahne. Diva freut sich auch über Gesellschaft und außerdem wollte ich dir noch etwas erzählen. Also, bis gleich!« Die treue Seele! Mona war richtig gerührt. Für ihre Hausärztin, Frau Dr. Beifuß, hatte Mona am Freitag bereits eine Minisonnenblume in tönernem Übertopf erstanden, dekorativ verpackt in hellgrünes Papier, mit Bastschleife umwickelt. Zu diesem Blutabnahme-Termin am Mittwoch hatte ihre Ärztin sie quasi genötigt wegen eines Verdachts, hinter Monas übergroßer Bereitschaft der Anziehungskraft des Bettes fast willenlos nachzugeben, könnte sich ein latenter Eisenmangel verbergen. Morgen würde sie ein neues Blümchen besorgen und dieses hier kam jetzt mit zu Ilse.
*
»Herein mit euch. Wäre doch nicht nötig gewesen, aber ich liebe Sonnenblumen. Vielen Dank.« Typisch Ilse.
»Ich auch, sehr sogar.« Der Tortenboden, belegt mit saftig roten Erdbeeren, lachte vom Küchentisch.
»Der Guss ist noch zu warm«, sagte Ilse, »und der Kaffee läuft gerade durch.« Gemütlich war es hier. So richtig Altstadt, wie man es sich vorstellte. Überall schiefe Wände und die Glasfenster von der Küche zum winzigen Flur und zum Bad hin zeugten davon, dass hier früher mal eine andere Aufteilung bestanden hatte. Der Abriss der früheren Hinterhäuser hatte Ilse einen freien Blick beschert, nur die Höfe rechts und links waren neu bebaut worden. Mona erinnerte sich spontan einer überlieferten Anekdote, welche die Freundin mal über diese Küche erzählt hatte. Ilse saß dort an ihrem zweiundvierzigsten Geburtstag im Kreis damaliger Freunde, als sich unvermittelt vor die unverbaute Aussicht des zweiten Stocks, das rotwangige Antlitz einer körperlosen Fremden neugierig vors Fenster schob. Die Unbekannte ließ ungeniert die kajalumrandeten Augen durch die Küche schweifen, ehe sie die entgeisterten Gesichter der bass erstaunten Gästeschar entdeckte. Blitzschnell zog sie ihren Kopf zurück, wie durch ein Gummiband hinweg gesurrt. Am nächsten Tag erzählte die Hausnachbarin vom Besuch ihrer Schwippschwägerin Mathilda, die kurioserweise so geschwärmt hätte, vom sehenswerten Kronleuchter an Ilses Küchendecke. Dabei hatte sie sich sogleich selber bei Ilse zum Kaffee eingeladen, um das antike Prunkstück persönlich zu begutachten.
Durch besagtes Fenster fiel der Blick auf den mächtigen Wohnturm des Hauses zum Stein (nach dem Erbauer Eberhard von Stein), das vor fünfundzwanzig Jahren noch teilweise von Studenten bewohnt wurde, als die Freundin sich hier niederließ. Den Umbau dieses hohen Bauwerks, angeblich mit romanischen Säulen des dreizehnten Jahrhunderts im Innern bestückt, hatte sie miterlebt. Interessiert beobachtete sie, wie die gesamte Steinverkleidung mit Lkws direkt aus Italien angeliefert und nachträglich vor die Originalfassade gesetzt wurde, was die jetzige Tiefe der Außenmauern von zirka einem Meter erklärte. Unten hatte zeitweise das stadthistorische Museum sein Domizil gefunden, war aber vor kurzem umgesiedelt worden zur Zitadelle, mit Eingang am Drususstein. Vor der Sanierung des angeblich ältesten Hauses von Mainz gab es dort ein Satteldach:
»… auf dessen Dachfirst sich Jahr für Jahr die Tauben, Tag für Tag, Seite an Seite aufreihten, wie Perlen an einer Kette oder stolze Apachen mit Pferden auf einem Berggipfel, kurz vor ihrem Angriff in klassischen Western!« (Originalton Ilse), welches später einem Flachdach weichen musste.
Zweifellos angenehm kühl im Sommer und immer wieder ein erhebender Anblick, dieses Domizil, auch wenn Studis sich diese Wohnungen heute kaum mehr leisten konnten. Jetzt, wo die Sonne auf die erdfarbenen Steine der dickwandigen Fassade schien und eine wohlgenährte, grau getigerte Katze aus den breiten Fensteröffnungen sehnsüchtig vorbei fliegenden Vögeln hinterher blickte, erfüllte wohl jeden Betrachter das erhebende Gefühl, in der Toskana zu sein oder in Südfrankreich.
»Komm, wir tragen alles ins Wohnzimmer, dort sind wir mitten im Trubel und doch unter uns.«
*
Nach ausgiebigem Beschnüffeln balgten Troll und Diva um einen arg zerfetzten, gelben Tennisball, der noch von Ilses Sohn Henrik stammte. Dieser lebte jetzt in den USA und war als Anästhesist in einer Bostoner Klinik tätig. Ilse vermisste ihn sehr, klagte jedoch nie darüber. Beide pflegten eine rege Korrespondenz über ausführliche Mails und über Skype. Früher, als routinierte Schreibmaschinennutzerin, war Ilse anfangs nicht sonderlich angetan vom Laptop, das ihr Sohn ihr überlassen hatte vor seinem Abflug. Doch heute konnte sie sich das Leben kaum mehr vorstellen ohne das digitale Teufelsteil und Gottesgeschenk in einem. Mona kannte Henrik nicht, nur durch Ilses schwärmerische Erzählungen wusste sie einige Interna und wäre ihm gerne mal persönlich begegnet. Ilses Ehemann hatte früh »… bei einem grässlichen Unfall im Hamburger Elbtunnel sein junges Leben ausgehaucht«, und sie musste Henrik alleine großziehen.
»Alleinerziehend, vor dreißig Jahren war das eher die Ausnahme, nicht normal, und sehr schwer ohne die vielen staatlichen Hilfen, die es heute gibt. Die Zeiten ändern sich eben zum Glück. Heutzutage sind diese taffen Mütter schon fast die Regel. Mein Sohn war erst fünf und mir blieb nichts übrig, als die kleine Witwenrente durch meinen Verdienst aufzustocken für einen angemessenen Lebensunterhalt«, hatte Ilse der jungen Frau damals nicht ohne Stolz anvertraut, als sie sich bei einem Vortrag der Stiftung Lesen in der Staatskanzlei kennenlernten. Und dass ihr Sohn später sein Medizinstudium in Heidelberg mit ›Magna Cum Laude‹, abschließen konnte.
*
Jede zwei große Stücke von der Erdbeertorte mit viel Sahne. Mehr ging beim besten Willen nicht.
»Zum Kaffee passt jetzt gut eine Zigarette«, meinte Ilse. Sie rauchte nur ganz selten eine mit, hatte aber nichts gegen Raucher in ihrer Wohnung, wenn das Fenster geöffnet war. Der Rauch stieg in graublauen Kringeln in die Höhe und verflüchtigte sich durch das zweiflügelige Sprossenfenster über die Fußgängerzone.
»Also, was gibt’s bei dir Spannendes zu berichten?« Endlich konnte Mona loslegen mit der Schilderung der tragischen Kapriolen, die der nächtliche Samstag ihr beschert hatte. Ilse war am Ende sichtlich geschockt und schaute sie ungläubig an.
»Ein Mord auf unserer Zitadelle, wo tagtäglich so viele Kinder spielen und eigentlich immer Leute mit und ohne Hunde spazieren gehen. Ich kann’s nicht glauben! Diese Dreistigkeit des Mörders. Er musste doch damit rechnen, bei seiner Tat beobachtet zu werden. Aber warum eine Politesse? Dass der Eine oder Andere mal Wut auf die Damen hat, kann ich ja nachvollziehen, aber gleich jemandem das Lebenslicht für immer auslöschen.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das Böse lauert überall, auch wenn man sich in dieser beschaulichen Stadt in scheinbarer Sicherheit wiegt.«
Ilses poetische Ader zeigte sich auch hier wieder. Jemandem das Lebenslicht auslöschen! Was hätte dieser säuerliche Fastkommissar wohl gedacht, wenn Mona sich so ausgedrückt hätte bei ihrer Aussage. Wahrscheinlich hätte er sie blitzschnell in sein Schubladensystem sortiert unter LÜK oder TÜK, abgelegt als leicht- oder total übergeschnappte Künstlerin. Aber was juckte sie das, sie hatte eh nichts mehr am Hut mit dieser Mordsache.
*
»Diva und ich werden den Ort in Zukunft meiden. Vielleicht sollten wir auch so selbstverständlich agieren wie ein ziemlich dreister Bewohner aus der Nachbarschaft. Ein gepflegter Herr mittleren Alters im Boss-Anzug, der jeden Tag frühmorgens durch die menschenleere Augustinerstraße spaziert mit einer weißgrau, gelockten Pudelhündin, die ganz selbstverständlich und stets unter seiner Aufsicht, munter ihr Geschäft ebendort an einer wahllosen Stelle erledigt. Ganz Ehrenmann, kratzt der Herr das Häuflein anschließend penibel mittels Küchenrolle vom Kopfsteinpflaster und entsorgt es in die öffentliche Abfallbox.«
»Ist nicht möglich, oder?«
»Ich habe die beiden selber einige Male perplex beobachtet. In der besten und einzigen Metzgerei am Platze wurde sich auch bereits darüber aufgeregt.«
»Was suchst DU denn dort, du isst doch kein Fleisch?«
»Schon, aber mein Hundefräulein! Wenn ich dort die heiß geliebten Frankfurter besorge, gibt es den aktuellsten Altstadtklatsch gratis obendrauf, meist noch pikant gewürzt mit persönlichen Spekulationen diverser Tratschtanten.«
»Gratis gab es in meiner Jugend immer die obligatorische, daumendicke Scheibe Fleischwurst mit scharfem Seiteneinschnitt, zum leichteren Abpellen der Haut. Aber vielleicht ist das inzwischen démodé?« »Keine Ahnung, aber umsonst gibt es fast nirgends mehr etwas, vor allem nicht bei echten Geschäftsleuten. Nur mit knallhartem Geschäftssinn kommt man wirklich zu etwas. Weißt du, dass es früher in der Altstadt fünf Metzgereien gab? Drei allein in der Augustinerstraße, eine in der Holzstraße und eine in der Kapuzinerstraße, wovon nur eine übrig blieb. Tja, the winner takes it all! Gute Waren zu saftigen Schweinebackenpreisen, gepaart mit fleißigem Engagement, innovativen Ideen und dem Teuro, sind die Lizenz für eine Goldgrube. Im Besonderen für Metzgereien!«
»Mit der Währungsreform haben alle ihre Geschäfte gemacht. Ganz krass fällt es mir auch immer in der Gastronomie auf. Ich glaube, vor dem Euro, hätte ich mir nie eine Tasse Milchkaffee für sechs Mark neunzig geleistet und ein Päckchen Zigaretten oder eine läppische Geburtstagskarte für zehn Deutsche Mark oder mehr gekauft. Aber du wolltest mir auch etwas erzählen?«
»So dramatisch wie deine Erlebnisse zu nachtschlafender Zeit, wenn anständige Bürgerinnen vom Sandmännchen geküsst, bereits im Bette schlummern, ist’s natürlich nicht, aber …«
*
Ilse berichtete Mona mit leicht geröteten Wangen von einem Brief, der freitags irrtümlicherweise in ihrem Briefkasten landete und worauf in alter Sütterlinschrift, die Adresse mit Füllertinte vermerkt war.
›An Herrn Richard Eugen Lieser, Augustinerstraße 8, 6500 Mainz‹ – abgeschickt von einer Witwe Elisabeth Erasme, geborene Herber aus 25746 Heide an der Nordsee. Ilse vermutete eine hochbetagte Adressantin wegen der akkuraten, wie gestochen wirkende Handschrift in altdeutscher Schreibweise und der nicht mehr existenten Postleitzahl. Sie nahm an, dass der Brief vielleicht bedeutsam sein könnte und beim Nachschlagen im Telefonbuch hatte sie diesen Mann tatsächlich ausfindig machen können.
»Aber Leute, die Lieser heißen, gibt es doch bestimmt einige?«, fragte Mona.
»Ja, aber nur einen Richard E. Lieser.«
An ihn hatte Ilse den Brief weiter geleitet mit dem Vermerk, dass sie seit langem dort wohne, ihr aber kein Mieter dieses Namens bekannt sei. Er rief umgehend zurück und sie unterhielten sich auf Anhieb wie zwei alte Bekannte.
»Der Clou! Vor dreißig Jahren war er für zirka ein Jahr mein Vormieter in dieser Wohnung. Er hat eine tolle Stimme und… für morgen sind wir bereits verabredet.« Ihre Wangen glühten jetzt geradezu. »Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen!«
»Ich auch. Hört sich doch super an. Du musst mir anschließend unbedingt ausführlich Bericht erstatten.« Wie süß. Wie ein junges Mädchen mit Lampenfieber vorm ersten Date. Mona wünschte Ilse von Herzen, dass sie jemand Liebes finden würde, sie war schon so lange allein mit Diva und den Mails aus Übersee. Und für sich, wünschte Mona das natürlich auch.
*
Inzwischen war es achtzehn Uhr geworden. Die Hunde lagen eng zusammengerollt, fast wie in der bei Paaren beliebten Löffelchenposition, Troll oberhalb und Diva eng an seinen Bauch gekuschelt.
»Schau dir das an, ein Bild für die Götter. Aber ich glaube, die müssten mal raus.« Beide hatten prompt den Kopf gehoben und die Ohren gespitzt, ohne ihre Lage zu verändern.
»Sie registrieren sofort, wenn man von ihnen spricht. Na los, auf an den Rhein, ihr zwei.«
Überall Menschen, ganz Mainz schien unterwegs und sicher genauso viele Wiesbadener, Rheinhessener und Rheingauer, Großgerauer, Frankfurter… Eine Armee überwiegend weiblicher Jungteenies mit unausgeprägten Gesichtszügen und teilweise zu greller Schminke bevölkerte dicht die holzverkleideten Treppenstufen zum Rheinufer hinterm ›Hyatt‹ Hotel. Die Mehrzahl labte sich an Bier aus Megaplastikbechern oder nuckelte kichernd an süffig süßen Alcopops. Die Jungs und Mädels wirkten seltsam homogen in ihrem Look. Trotz ihrer scheinbar großer Bemühungen, sich vom Massengeschmack abzuheben. Selbst die Variationen von gefärbten Haaren, Piercings an allen möglichen und unmöglichen Körperstellen oder die teils grellbunten Tattoos vermochten nicht wirklich, ein Hervorstechen aus der anwesenden Clique zu bewirken. Genauso wenig wie der deutlich vernehmbare Wettbewerb um die coolsten, immer spleeniger piependen und surrenden Handy-Klingeltöne.
Bei ihrem Anblick bemerkte Ilse etwas wehmütig,
»Tja, süßer Vogel Jugend. Unser Schöpfer ist wohl kein Gentleman, sonst hätte er uns Frauen die Falten unter die Fußsohlen verbannt. Wie schnell wird man alt und ergraut an Stellen, die niemand wissen will, oder ist so faltig, wie diese bedauernswerten, chinesischen Zuchthunde. Falls man vorher nicht zu Tode kommt, wie die arme Frau von der Zitadelle.«
Sie hatte die Aktionen der Kidis wohlwollend und aufmerksam beobachtet und zeigte sich keineswegs abgeschreckt.
»Ich hätte so gerne ein paar Enkelkinder, möglichst in meiner Nähe. Da wird man wieder jung.«
»Aber Ilse, du bist die frischeste Ü-Sechzigjährige, die ich kenne. Man ist nur so alt, wie man sich fühlt, heißt ‘s doch immer«, raunte Mona ihr zu.
»Danke. Das geht runter wie Olivenöl, das ist manchmal auch leicht ranzig, wie morgens öfter meine Gelenkschmiere«, antwortete Ilse leise. »Aber, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist, wusste schon Bette Davis«, fügte sie noch weise lächelnd hinzu. Im Rhein war die ›Cullinarium Wasserbühne‹ aufgebaut, worüber sie ein älterer Herr informierte, der wohl schon eine Weile das hektische Treiben unten und die darüber kreisenden, kreischenden Möwen oben, beobachtet hatte. In Kürze würde dort ein musikalischer Event des Staatstheaters stattfinden.
»Da hab ich jetzt keine Lust drauf, du?«
Ilse schüttelte den Kopf,
»Ich bin irgendwie k.o.« Die Hunde hatten ihr Geschäft erledigt und tollten auf der Wiese umher.
»Hey, ihr beiden! Es geht heimwärts«, rief Mona ihnen zu.
»Sei mir nicht böse, aber ich möchte morgen fit sein, wenn dieser Herr Lieser kommt. Ich werde heute zeitig Zubettgehen und noch etwas lesen.«
»Kein Problem. Wenn ich mich beeile, kann ich noch die ›Blindenstraße‹ gucken Die einzige Kultserie, der ich einigermaßen treu bin.« Vor ihrer Haustüre drückte Ilse die junge Frau mütterlich an die üppige Brust.
»Mach keine Dummheiten, Mona. Du weißt doch, es ist noch ein obskurer Mörder unterwegs.«
»Keine Sorge, ich bin ja schon ein großes Mädchen. Viel Spaßmorgen bei deinem heißen Date. Wir hören voneinander.«
*
Als sie die Wohnung betrat, blinkte der Anrufbeantworter grün. Erst die halbe Stunde ›Lindenstraße‹, die natürlich schon auf Sendung war, als Mona einschaltete. Sie ließ sich in den pinkfarbenen Sessel fallen und warf die Schuhe in hohem Bogen von sich, denn die zweite Blase am großen Zeh schmerzte immer noch. Troll hatte sich instinktiv darunter weggeduckt. Als der Abspann lief drückte Mona die Wiedergabetaste. Zwei Anrufe. Erst ihre besorgte Mutter in leicht vorwurfsvollem Tonfall.
»Mona, wir höre ja garnischt mehr von dir! Geht’s dir auch gut? Hoffentlich? Grüße von Papa und denk an den Geburtschtag von Oma Rosa übernächste Woch. Meld disch mal! Adee!«
Dann Simone.
»Hey Mona, wo steckst du? Ruf mich bitte gleich zurück, ist dringend! Bin zu Hause. Ciao Bella.«
Okay! Simone und Holger logierten in einer traumhaften Altbauwohnung am Gartenfeldplatz in der Neustadt. Die Freundin war gleich am Telefon. »Na, endlich! Wo warst du denn?«
»Bei Ilse. War echt nett.«
»Immer deine Gluckerei mit dieser Oma! Dort findest du bestimmt keinen neuen Lover. Aber egal, ich muss dir etwas erzählen.« Sie legte los, dass etwas Schreckliches passiert sei, quasi bei Mona um die Ecke auf der Zitadelle, und dass ihr Gatte von den Mainzer Kollegen erfahren hätte, dass eine Politesse mit sieben Messerstichen ermordet wurde…
»Ich weiß schon«, antwortete Mona lapidar, »ich hab sie doch irgendwie darauf gebracht.«
»DU? Nein? Wieso, was war denn los?«
Mona wiederholte die ganze Story. Heute zum zweiten Mal.
»Nä, ne! Wie aufregend! Holger hat was von ‘ner schusseligen Studentin erzählt, die dämlicherweise die Digitalkamera der Toten mitgenommen und eventuell Spuren verwischt hätte, aber dass DU das warst… sorry. Das ist echt krass! Morgen wollen sie die gespeicherten Bilder auswerten, zwecks eventueller Rückschlüsse zum Tathergang. Falls ich was höre, meld ich mich wieder. Holger hat übrigens einen guten Draht zur Mainzer Polizei durch einen langjährigen Freund von der Polizeischule.«
Schusselig und dämlich, pah! Dieser arrogante Schnösel, der Mona sonntags verhörte, hatte das wohl genau so brühwarm an Holgers Kumpel übermittelt. Unverschämt! So ein blöder Arsch!
»Ja, gut. Macht ihr heute noch was?«
»Nein, nur gemütlich. Dolce farniente und Kuschelabend. Und du?« Süßes Nichtstun!
Mona konnte sich lebhaft vorstellen, wie das aussehen würde, und musste einen leichten Anflug von Neid unterdrücken.
»Ich hab nichts geplant.«
»Willst du vorbeikommen?«, fragte Simone halbherzig.
»Nein, danke. Ich bin k.o. und versuche mal, eine Nacht durchzuschlafen.« Kein Verlangen, als fünftes Rad am Wagen, den zwei Turteltauben zuzuschauen, obwohl sie sich ja fairerweise immer beherrschten, wenn Mona dabei war.
»Wie du möchtest. Des Menschen Wille ist sein Kuschelreich!
Dann hören wir uns bald, ja? Und schlaf gut. Ciao, Bella.«
»Ciao, Simone.”
Bonjour Tristesse! Mona sah schon wieder so einen einsamen Abend unaufhaltsam auf sich zurollen. Ihr aufmerksamer Gasthund legte demonstrativ seine dicke Pfote auf ihr Knie.
»You’re simply the best. Mein Süßer, was würde ich nur ohne dich anfangen.«
Sanft kraulte sie ihn hinter den plüschigen Ohren. »Komm, machen wir das Beste daraus, einen chilligen, relaxten Fernseh, Pflege- und Fressabend mit einer großen Schüssel Waldmeistergrütze, okay?«
Troll signalisierte vollen Herzens seine Zustimmung, indem er Mona mit seinem typischen Hundelächeln, welches ein Fremder niemals wahrnahm, zufrieden zublinzelte.