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[8][9]1. Einleitung

Manche Autoren, die eine Einführung in das Werk Bourdieus schreiben, tun dies, indem sie seine theoretischen Konzepte nacheinander vorstellen und erörtern – so, als handele es sich um das Gerüst einer allgemein-soziologischen Kategorienlehre. Dabei wird jedoch eine grundlegende Intention von Bourdieu zu wenig berücksichtigt: Dass nämlich die Konzepte und Theoreme Werkzeuge sein sollen für die Erforschung der sozialen Wirklichkeit.

Immer wieder hat sich Bourdieu scharf gegen eine nur am Text orientierte Lektüre seiner Arbeiten gewandt: Das größte Missverständnis bestehe darin, dass die Lektüre

»ihr Ziel in sich selbst hat, daß sie sich für die Texte und für die von ihnen transportierten Theorien, Methoden oder Begriffe nicht etwa interessiert, um sie als brauchbare und zu vervollkommnende Instrumente praktisch zu nutzen, sondern um sie (gelegentlich unter epistemologischen und methodologischen Vorwänden) mit anderen Texten in Zusammenhang zu bringen und zu glossieren.« (Meditationen 1997/2001, 80)

Wissenschaftliche Schriften verstehen

»heißt, daß man von der Denkweise, die in ihnen zum Ausdruck kommt, an einem anderen Gegenstand praktischen Gebrauch macht, sie in einem neuen Produktionsakt reaktiviert, der ebenso intensiv und originär ist wie der ursprüngliche …« (Habitus und Feld 1985/1997, 65)

Zugespitzt:

»›Theorien‹ sind Forschungsprogramme, die nicht zur ›theoretischen Diskussion‹ anregen sollen, sondern zur praktischen Umsetzung, über die sie dann widerlegt oder verallgemeinert werden können.« (Gespräch Inzwischen 1988/1991, 278; ähnlich: Reflexive Anthropologie 1992/1996, 262)

Dieser Grundanspruch beeindruckt wegen seiner handwerklichen Orientierung, wegen seiner auf Produktivität statt auf Rezeptivität gerichteten Absicht. Aber ganz Recht hat Bourdieu damit nicht. Nicht alle sozialwissenschaftliche Arbeit kann aus eigener Forschung bestehen. Essays, Überblicke, Kompendien, kritische Würdigungen, Rezensionen, theoretische Zwischenbilanzen und Theorievergleiche müssen als eigene Genres wichtig bleiben. Und ihnen obliegt es nun einmal, die Denklogik eines großen soziologischen Vorschlags zu beurteilen und in die Überlieferung von ähnlich wichtigen [10]Vorschlägen kritisch einzuordnen.1 Ein Verbot, sich mit den Konzepten an sich zu befassen, wäre ein Denkverbot.

Nun könnte man aus Bourdieus Grundhaltung den Schluss ziehen, dass es nicht angemessen ist, die Arbeiten eines Soziologen als Überblick über sein Werk vorzustellen. Wäre es dem Fortschritt der Soziologie nicht dienlicher, über Forschungsprobleme und Fragen der Theoriebildung sowie über deren Lösungen zu schreiben – ganz unabhängig von großen Namen und unbeeindruckt vom Wunsch manches Autors, der Wissenschaft ein kohärentes Werk zu schenken? Wir werden diese Frage anhand von Bourdieus Haltung zu seinem eigenen Werk später diskutieren.

Die Gliederung dieser Einführung in Bourdieus Werk folgt seinen eigenen grundsätzlichen Überlegungen: Am Anfang steht die Darstellung wichtiger Forschungsarbeiten Bourdieus und erst gegen Ende werden die theoretischen und konzeptuellen Beziehungen zu anderen Autoren skizziert, um eine vorschnelle Einordnung in eine sozialwissenschaftliche Schule oder Strömung zu verhindern. Abgeschlossen wird mit einer Skizze zur Wirkung von Bourdieu in der sozialwissenschaftlichen Forschung.

Wir haben hier keine Werkgeschichte im Sinn, wollen also nicht die Entwicklung der Konzepte und Theoreme in der Lebensgeschichte des Autors nachvollziehen. Das sei den Biografen (und den Hagiografen) überlassen. Aus der Vernachlässigung der Werkgeschichte ergibt sich jedoch die Gefahr, dass die Darstellung zu flächig werden könnte, schlimmer: dass das Gedankengebäude Bourdieus in sich stimmiger erscheinen könnte, dass sich ein Eindruck von Systematisiertheit ergeben könnte, die im Werk selbst zu keinem Zeitpunkt vorhanden war. Dieser Gefahr soll dadurch begegnet werden, dass Bourdieus Forschungsarbeiten in werkgeschichtlicher Linie vorgestellt werden, wodurch sich ganz natürlich Einblicke in die Entwicklung seiner Konzepte und Instrumente ergeben.

Der Verzicht auf werkgeschichtliche Untersuchung hat – gerade bei Bourdieu – noch einen zweiten Nachteil: Sein Werk ist zu einem erheblichen Grad durch Wiederholungen gekennzeichnet. Teile von früheren Schriften werden – wenn auch meist bearbeitet – in spätere aufgenommen. Auch im Einzelnen finden sich immer wieder Argumente, Belege, Absätze, Abschnitte und Sequenzen von mehreren Seiten, die der Leser wortgleich oder in ähnlicher Formulierung schon aus früheren Schriften kennt. Nachzusehen, worin die Bearbeitung der älteren Texte im Hinblick auf spätere Zusammenfügungen bestanden hat, was Bourdieu neu hinzugedacht hat, würde eine langwierige (und langweilige) Arbeit bedeuten, die wir nicht einmal erwogen haben. [11]So bleiben unter Umständen wichtige Entwicklungsprozesse von Bourdieus Denken unbemerkt. Sollte man deshalb nicht doch der Entwicklung von Bourdieus Denken folgen, um es ganz verstehen zu können (so Mahar/Harker/Wilkes 1990, 3)? Für interessanter halten wir die Frage, wie er seine Konzepte verwendet.

Wir berücksichtigen im Folgenden Texte, die Bourdieu allein verfasst hat, gleichwertig mit solchen, die er mit anderen zusammen geschrieben hat. Bei Letzteren vernachlässigen wir die Frage, ob Bourdieu der Hauptautor oder der Initiator war, nehmen aber an, dass er die Texte seiner Koautoren autorisiert hat.

In unserer Darstellung lehnen wir uns nicht an Bourdieus Schreibweise an. Diese ist oft – abgesehen von den frühen Schriften, aber auch vom Buch »Das Elend der Welt« – durch einen überkomplexen, geradezu unübersichtlichen Satzbau (ellenlange Sätze mit mehreren ineinander geschachtelten Nebensätzen und Einschüben) gekennzeichnet. Hier folgen wir Jenkins (1992, 10 und 163), der sich in seiner Einführung in Boudieus Soziologie um eine möglichst klare Schreibweise bemüht und sicher ist, dass dies der Qualität und der Tiefe des dargestellten Werkes keinen Abbruch tut.

1 Eine andere Lösung bei Brubaker 1993, 212 ff.

Pierre Bourdieu

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