Читать книгу In den Meyerschen nahm alles seinen Anfang - Werner Hetzschold - Страница 5
DIE BLAUE BLUME
ОглавлениеAls Jan ein kleiner Junge war, durfte er seine Mutter oft auf ihren Spaziergängen begleiten. Gewöhnlich führte sie ihr Weg am Bahndamm entlang, der die Grenze bildete zwischen dem Areal der Deutschen Reichsbahn und den Meyerschen Häusern. Ein breiter, asphaltierter Fußweg, auf dem auch Lastkraftwagen im Schritt-Tempo fahren durften, trennte den Bahndamm von den Häusern. Zwischen Bahndamm und Fußweg befanden sich winzige Gärten, wie auf einer Perlenschnur an einander gereiht. In jedem Garten stand eine solide Holzlaube und ein alter Apfelbaum. Zu dem Zeitpunkt war diese Siedlung bereits älter als sechzig Jahre.
Seine Mutter ergriff seine Hand. Gemeinsam folgten sie dem Weg bis zum Ende der Siedlung. Immer wieder blieb seine Mutter stehen, machte ihn auf die wenigen bunten Blumen aufmerksam, auf das viele unterschiedliche Gemüse und die Beerensträucher. Manche der Gartenbesitzer waren Eisenbahner. Sie hatten von der Deutschen Reichsbahn die Erlaubnis bekommen, einen schmalen Streifen des unmittelbar auf ihren Garten sich anschließenden Bahn-Geländes nutzen und einzäunen zu dürfen. Auf diesem eingefriedeten Reichsbahngelände tummelten sich Hühner, Tauben, mitunter auch Enten. Die Holzlauben waren mit Kaninchenställen vollgestopft. Besonders in der warmen Jahreszeit bot dieses Areal ein friedliches, harmonisches und abwechslungsreiches Bild, das ein Bisschen an Ferien auf dem Bauernhof erinnerte. Vielleicht förderten die vorbei fahrenden Personenzüge diesen Eindruck von dieser heilen Welt. Mutter blieb in regelmäßigen Abständen stehen, klatschte verzückt in die Hände und rief laut und euphorisch aus: „Jan, mein Junge, das ist das Paradies auf Erden! Schau dir diesen blauen Himmel an! Kein Wölkchen ist zu sehen. Die Sonne strahlt. Das ist das Paradies! Alles grünt und blüht! Schau dir einmal diese blauen Blumen an. Ich kenne ihren Namen nicht, aber sie sind wunderhübsch. Dieses Blau könnte nicht schöner sein! Warum in die weite Welt reisen, wenn die Schönheit der Natur sich unmittelbar vor der eigenen Haustür entfaltet!“
Jan warf einen flüchtigen Blick auf die blauen Blumen, die in seinen Augen Unkraut waren, weil sie nicht die Bedeutung und den Bekanntheitsgrad von Tulpen und Rosen hatten. Sie waren einfach nur da. Waren nutzlos wie Unkraut! Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen.
Hatten Mutter und Sohn das Meyersche Viertel hinter sich gelassen, folgten sie dem Weg bis zur Bus-Endstation. Dort, wo früher Wohnhäuser gestanden hatten, die während des Krieges dem Erdboden gleichgemacht worden waren, breiteten sich jetzt Gärten aus. Jede noch so kleine Fläche wurde als Grabe-Land genutzt. Kein Land blieb brach liegen. Jedes Stückchen Erde wurde um und um gewendet, kultiviert, verwandelte sich in ein grünes Paradies. Damals gab es noch viele Pferdegespanne. Die Brauerei und die Müll-Abfuhr besaßen einen Fuhrpark, bestehend nur aus Pferdegespannen. Lastkraftwagen konnte sich noch nicht jeder Unternehmer leisten. Die anfallenden Pferdeäpfel waren äußerst begehrt. Dünger war knapp. Nichts wurde weggeworfen. Alles wurde verwendet, verwertet, fand einen Abnehmer.
Mutter wählte den Weg zum Ost-Friedhof. Wie der Südfriedhof erinnerte auch der Ostfriedhof Jan an einen weiträumigen Park mit vielen bunten Blumen, Wiesen und Hecken, in denen ungestört viele Vögel brüteten. Die Gräber fielen zwischen dem vielen Grün gar nicht auf, weil sie meist auch grün waren. Auf dem Weg zum Ost-Friedhof pflückte Mutter Blumen von den Wiesen rechts und links der Straße, die dort wild wuchsen, ursprünglich aber einmal Gartenblumen gewesen waren. Der Gartenbesitzer wollte sie nicht länger auf seinem Grundstück dulden, hatten die Zwiebeln ausgegraben, fand keinen Käufer für sie, entsorgte sie heimlich auf den Wiesen. Jetzt blühten viele unterschiedliche bunte Blumen dort im Frühling, im Sommer und im Herbst. Die Winter waren kalt und blumenlos. Mutters Blumensträuße erregten immer wieder die Aufmerksamkeit, weil sie so schön bunt waren. Auch dufteten sie angenehm. Sie waren eine richtige Augenweide, ein Vergnügen, ein Genuss für die Sinne. Mit diesem Blumenschmuck verschwanden Mutter und Sohn hinter dem Friedhofstor. Mutter kannte den Weg. Jan folgte ihr. Auch er kannte den Weg, war ihn schon viele Male gegangen. Mutter wählte jedes Mal andere Weg. Der Weg zum Friedhof sollte ein Spaziergang sein, kein Pflichtprogramm, kein Gang auf dem schnellsten Wege.
Wiederholt sagte sie: „Jan, hier sind wir inmitten der Natur. Alles grünt und blüht. Kein Lärm! Ungestört kannst du dem Gesang der Vögel lauschen. Hier kannst du abschalten! Der Friedhof ist eine Oase der Ruhe, der Besinnung, des zu-sich-Findens, des sich selbst Findens.“ Bei diesen Worten drückte sie ihn fest an sich.
Sie standen vor einem Grab mit einem kleinen Holzkreuz, auf dem zwei Namen vermerkt waren. Noch konnte Jan nicht lesen, kannte aber die Namen der Verstorbenen vom Hören-Sagen. Die Angehörigen der Toten hatten die Gegend verlassen, waren nach Kriegsende nach Hause zurück gekehrt. Seine Mutter wollte nicht über diese Leute sprechen, Jan keine Auskunft über sie geben. Deshalb hatte er sich an seinen Vater gewandt, ihn über die Leute befragt. Sein Vater erzählte. Viel hatte er zu erzählen. Wie ein altes Waschweib, sagte gewöhnlich seine Mutter, wenn sie auf die Bericht-Erstattung ihres Mannes zu sprechen kam.
Über die Leute in dem Grab hatte Jan seinen Vater befragt, als er allein mit ihm zu Hause war. Er setzte sich neben ihn auf das Sofa, um keine Unruhe zu verbreiten. Erst als Jan saß, begann der Vater: „Sicher hast du es schon längst bemerkt, dass für deine Mutter fremde Tote wichtiger sind als die eigenen. Bestimmt ist dir auf dem Ost-Friedhof die kleine Blautanne am Grab der Österreicher aufgefallen. Die hat deine Mutter von unserem Gelde gekauft und neben das uns fremde Grab gepflanzt. Den Friedhof, den Nordfriedhof, sucht deine Mutter nie auf. Oder bist du schon dort mit ihr einmal gewesen?“
Jan verneinte, fügte aber rasch hinzu: „Dorthin müssen wir mit der Straßenbahn fahren. Das kostet Geld. Den Ost- und den Südfriedhof können wir zu Fuß erreichen. Sie sehen auch aus wie ein Park. Da sind nicht nur Grabsteine …“
„Jan, du hast mich nach den Leuten in dem Grab befragt. Ich will dir sagen, wer sie sind! Oder was ich über sie weiß! Ich finde, das ist korrekter, denn eigentlich kenne ich sie nicht, nur so flüchtig, von Zufallsbegegnungen im Treppenhaus. Deine Mutter kennt sie viel besser. Sie wohnten damals neben uns. Sie hatten eine größere Wohnung als wir, die sie sich mit der Eigentümerin, deren Tochter und Schwiegersohn teilen mussten. Unsere Wohnung war nicht so groß, deshalb hatten wir sie allein. Nebenan gab es oft Streit. Die Deutschen waren die Hauptmieter. Die Österreicher die Untermieter. Woher die Österreicher kamen, wusste niemand. Es wurde gemunkelt, dass sie aus Galizien kämen, aus Lemberg. Heute gehört Lemberg zur Sowjetunion, bis zum Ersten Weltkrieg zur Donau-Monarchie, zu Österreich-Ungarn. Österreich-Ungarn, diese Doppelmonarchie, war ein Vielvölker-Staat. Wie sie als Familie während des Zweiten Weltkrieges hierher kamen, weiß auch niemand. Deine Mutter verstand sich ausgezeichnet mit ihnen, besonders mit der Frau, die in ihrem Alter war. Die alten Leute starben hier, erst die Frau, dann der Mann. In fremder Erde wurden sie begraben. Der Rest der Familie wollte nicht in Deutschland bleiben. Nach Lemberg wollten sie, konnten aber nicht zurück. Ich glaube, sie sind nach Linz gegangen. Deine Mutter kann es dir bestimmt genau sagen. Als diese Familie Ost-Deutschland verließ, versprach deine Mutter, die Pflege des Grabes zu übernehmen. Und sie pflegt es noch heute, obwohl diese Leute nicht mit uns verwandt sind. An den Gräbern unserer Leute lässt sich deine Mutter nicht sehen …“
Jan war mit dieser Auskunft zufrieden.
Mit den zwei Einweckgläsern, die Mutter zwischen dem Efeu aufbewahrte, goss sie das Grab, entfernte den Strauß mit den verwelkten Blumen, setzte den mitgebrachten, bunten Strauß in die Vase mit dem frischen Wasser, zupfte Unkraut, brachte alles zum Abfallkorb. Nach getaner Arbeit ergriff sie Jans Hand, suchte gemeinsam mit ihm die nächst gelegene Bank in unmittelbarer Nähe des Grabes auf. Sie setzten sich. Mutter sagte: „Ist es hier nicht wunderschön. Diese Stille. Diese Ruhe. Kein lautes, kein böses Wort. Um uns herum Frieden. Nach dem wir uns so lange gesehnt haben. Jan, sind dir diese blauen Blumen aufgefallen? Die Kleinen da sind Veilchen, die anderen heißen Vergissmeinnicht, dann kenne ich noch die Kornblume und die blaue Schwertlilie. Die Schwertlilien gedeihen in der Nähe von Teichen, Seen, Flüssen; die Veilchen und Vergissmeinnicht auf Wiesen. Und die Kornblumen, das verrät bereits der Name, entfalten ihre Schönheit dort, wo die Getreidefelder gelb in der Sommersonne leuchten.“ Mutter erwartete keine Antwort. Nach einer kurzen Pause fuhr sie nachdenklich fort: „In der Schule habe ich damals ein Gedicht gelernt. Es hieß „Die blaue Blume“, geschrieben hatte es der Dichter Joseph von Eichendorff. Es ist ein wunderschönes, romantisches Gedicht. Wir mussten es lernen und auswendig aufsagen. Ich liebte Gedichte, besonders dieses Gedicht. Drei Strophen hat das Gedicht. Die erste Strophe … Einen Augenblick bitte. Mir fällt der Text gleich wieder ein. Jetzt ist er mir wieder gegenwärtig.“
Mutter sagte ihn auf. Richtig mit Betonung und Herz.
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.
„Das Gedicht hast du ganz toll aufgesagt“, meldete sich Jan zu Wort. „So richtig schön hast du es betont. So wie es sein muss. Bestimmt hast du dafür eine Eins bekommen.“
Seine Mutter lächelte nachdenklich, sah sich in Gedanken vor der Klasse stehen, sagte das Gedicht „Die blaue Blume“ auf. Ihre Mitschülerinnen applaudierten. Der Lehrer lobte sie, trug ihr zwei Mal die Note Eins ins Klassenbuch ein. Deutsch war das Lieblingsfach seiner Mutter, sie die Musterschülerin. Sie konnte keine höhere Schule besuchen. Der Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Nach der achten Klasse musste sie die Schule verlassen, arbeitete künftig an einer Textilmaschine in der Wollspinnerei. Diesen Teil aus dem Leben seiner Mutter kannte bereits Jan aus früheren Erzählungen.
„In vielen Gedichten begegnest du der blauen Blume“, setzte seine Mutter ihre Rede fort. „Diese Zeit, in der die Blaue Blume ihren großen Auftritt hat, heißt Romantik. Und die Dichter, die sich mit der Blauen Blume beschäftigen, nennen sich Romantiker. Später in der Schule wirst du sie alle kennen lernen. Ich habe mir noch die Namen von Joseph von Eichendorff gemerkt, von Heinrich Heine und von Clemens Brentano. Es gibt auch viele Bilder mit der Blauen Blume und auch viele Geschichten. Eine meiner Lieblingsfarben ist das Blau. Und was ist deine Lieblingsfarbe, Jan?“
„Ich finde alle Farben schön“, sagte er. „Wir müssen jetzt gehen“, sprach die Mutter mehr zu sich selbst als zu ihm. Gemeinsam verließen sie den Friedhof.
In seinen Erinnerungen sieht Jan das Wäldchen vor sich. Es liegt am Rande des Vorortes der großen Stadt. Noch vor dem Krieg war dieser Ort eine selbständige Gemeinde, ein Dorf gewesen mit Gehöften, umgeben von Wiesen und Feldern. Nach dem Krieg wurde der Ort eingemeindet, verlor seine Selbstständigkeit als Dorf. Jetzt endete die Straßenbahn dort. Die Stadt wurde zusehends größer. Nicht nur einst selbstständige Dörfer verschmolzen mit ihr, es entstanden neue Stadtteile mit Bus-Anschluss, es verschwanden Wälder, Felder, Dörfer. Und mit ihnen verschwanden viele Tiere, denen Jan in seinen frühen Kindertagen begegnet war. Die Rauch- und die Mehlschwalbe mit der weißen Brust, die Rebhühner und der Jagdfasan. Und die vielen Hasen! Einmal entdeckte er eine Rebhuhn-Henne mit Küken in der wärmenden Sonne am Feldrain. Jetzt ist er keinen Rebhühnern mehr begegnet. Und der Jagdfasan ist untergetaucht. Wahrscheinlich für alle Ewigkeit. Haussperlinge fühlten sich in der Meyerschen Siedlung noch wohl, aber die Feldsperlinge waren ausgewandert. Der Tagebau, einst nur mit der Deutschen Reichsbahn zu erreichen, rückte näher und näher an die Stadt heran. Es wurde gemunkelt, dass bald ganze Stadtbezirke der großen Stadt verschwinden, weil unmittelbar unter ihnen wuchtige Kohlenflöze lagern. Es dauerte nicht lange, dann war die Rede davon, dass die Stadt komplett verschwindet, weil im Zentrum der Stadt, ihrem historisch betrachtet ältesten Teil, Kohleflöze fast bis an die Oberfläche stoßen. Es existierten Gerüchte, dass während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges Bürger der Altstadt auf dem Alten Johannisfriedhof, der nunmehr ein verwunschener Park ist und unter Denkmalschutz steht, heimlich, im Verborgenen, Braunkohle ausgegraben hätten.
Die Stadt befand sich im Umbruch. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sie sich in eine sozialistische Großstadt verwandeln. In ihr sollte der Kommunismus Einzug halten, so hatten es die Apparatschiks vorgesehen und geplant, wollten diese Zielstellung zum Wohle ihrer Bürger realisieren, sie in die lichte Zukunft eines real existierenden Sozialismus führen, nur sollte es dazu nicht kommen. Jan sieht diese Welt von einst vor sich, wie sie sich ihm über die Jahrzehnte unveränderlich eingeprägt hat. Damals waren die Winter viel kälter als heute. Überall lag Schnee. Hoher Schnee. Viele Arbeitskräfte wurden benötigt für die Beseitigung der weißen Pracht. Damals gab es kaum Schneepflüge oder andere motorisierte Technik. Alle anfallenden Arbeiten verrichtete der Mensch mit Schaufel, Schneeschieber und Schlitten oder Pferdefuhrwerken zum Abtransport des vielen Schnees. Um diese Jahreszeit gehörte das Wäldchen nicht weit vom Ost-Friedhof entfernt Jan und seiner Mutter alleine. Besonders häufig gingen sie dort während der Sommermonate spazieren, manchmal in Begleitung von Kindern aus dem Wohnviertel, die sich ihnen anschlossen. Ihre Eltern waren berufstätig, von vielen auch die Mütter, sehr oft sogar nur die Mütter, weil die Väter gefallen oder vermisst waren oder aus anderen Gründen nach dem Krieg den Weg nicht nach Hause gefunden hatten. Die Mütter und Väter dieser Kinder waren froh, dass sich Jans Mutter um deren Töchter und Söhne kümmerte, weil sie jetzt wussten, dass ihr Nachwuchs beaufsichtigt wird. Unmittelbar nach dem Krieg existierten nur wenige Kindergärten und längst nicht alle Kinder erhielten einen Kindergartenplatz, obwohl er ihnen zustand, weil sie ohne Vater aufwuchsen und die Mutter Geld verdienen musste.
Jans Mutter hatte eine schöne Stimme. Sie las den Kindern Geschichten vor, Märchen und Sagen oder manchmal sang sie auch Lieder, allein oder gemeinsam mit den Kindern. In der kalten Jahreszeit in der Stube, in der warmen vor dem Haus auf der Wiese oder im Amsel-Park. Das Lied „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle“ kannten alle Kinder. Dieses Lied wurde im Kindergarten gesungen, aber auch in den unteren Klassen in der Schule im Musikunterricht.
Als kleiner Junge hinterfragte Jan noch nicht den Text. Das kam erst später, als er älter war, nicht mehr so oft mit seiner Mutter auf den Friedhof ging. Als er seiner Mutter die Frage stellte, ob in der Zeit, als sie ein kleines Mädchen war, alle Vögel, auch die, die jetzt während der Wintermonate hier bleiben, in den Süden geflogen sind, war seine Mutter über diese Fragestellung erstaunt und sagte: „Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.“ Und dann wollte sie von Jan wissen, warum er jetzt solche Fragen stellt. Auch dürfe er nicht sie fragen, sondern er müsste den Dichter um Auskunft bitten, nur sei der schon lange tot. Jan erklärte ihr: „In dem Lied schreibt der Dichter, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar wünschen dir ein frohes Jahr, lauter Heil und Segen. Deshalb nimmt er an, dass diese Vögel nicht im Winter hier geblieben sind, sondern fortzogen. Vielleicht waren damals die Winter noch kälter. Wegen des vielen Schnees und der großen Kälte waren die Amsel, die Drossel, der Fink und der Star damals Zugvögel. Sicherlich änderte sich häufig das Klima. Vielleicht gab es mal warme und mal kalte Winter, mal kühle und mal heiße Sommer, mal trockene Jahreszeiten und mal welche mit viel Regen, Hochwasser und Überschwemmungen.“
Bis zum Rande des Wäldchen erstreckten sich die Wiesen und Weiden der Bauernhöfe. In den Sommermonaten zogen sie Jan magisch an. Auf dem Gelände hielten sich viele Haustiere auf, Kühe und Schweine, dazwischen viel Geflügel: Hühner, Tauben, Truthühner, Enten, Gänse. Mancher Bauer hielt sich auf seinem Hof Perlhühner, die Jan äußerst interessant fand. Sie verhielten sich anders als die normalen Hühner. Ein nahendes Gewitter kündigten sie an. Dann flogen sie lärmend auf die Bäume, waren aufgeregt und nervös. Bis ins Dorf waren sie zu hören. Jan schwärmte von einem Leben auf dem Bauernhof, träumte davon. Saß er im Wohnzimmer vor dem großen Tisch mit seinem Spielzeug, gestaltete er Szenen aus der Landwirtschaft nach, denen er bei Wanderungen gemeinsam mit den Eltern am Wochenende begegnet war. Er imitierte sämtliche Haustiere. Er bellte, miaute, grunzte, meckerte, wieherte. Bei offenem Fenster war er weithin im Viertel zu hören. Die Nachbarn blieben stehen, lauschten seinem vielstimmigen Konzert, schmunzelten, äußerten sich anerkennend über seine rege Fantasie, viele nannten ihn auch einen bloßen Spinner. Alles ahmte er nach: Wind, Sturm, Gewitter, Regen.
Im Wäldchen war es nie langweilig. Viele Vögel gab es dort, auch die Vögel, die er aus den Liedern kannte. Selbst der Bussard brütete dort und zog seinen Nachwuchs auf. Turmfalken errichteten ihren Horst nicht nur in den Kirchtürmen, sondern unter den Dächern hoher Häuser. Verwilderte Haus-Tauben, manchen war noch die einstige Rasse-Taube anzusehen, fanden Unterschlupf in den vielen Ruinen der Stadt. Der Sperber bevorzugte das Wäldchen als Brutplatz. Und dann tauchte eines Tages in den vornehmen Wohnvierteln eine Taube auf, kleiner und zierlicher als die Haus-Tauben. Jan machte sich kundig, was das für eine Taube sei, weil er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er erfuhr, ihr Name sei Türken-Taube und sie sei nach Europa eingewandert. Ihr Herkunftsland sei Kleinasien. Im Atlas schaute Jan nach, wo sich dieses Kleinasien befindet. Er konnte es nicht verstehen, dass diese Taube sich in Richtung Norden ausbreitete, in eine Region, in der die Winter kalt sind, mitunter sehr kalt. Dort, woher sie kam, war es warm, die Sonne schien, der Himmel war blau, vielleicht sogar leuchtend blau. Irgendwo hatte er von einem azur-blauen Himmel gehört.
In seiner Fantasie erblickte er dieses Kleinasien vor sich, das Land aus Tausend und einer Nacht. Es war das Land der vielen Zauberberge, in deren Innerem es verzauberte und verwunschene Städte gab aus längst vergangenen Zeiten. Eines seiner vielen Ziele war es, sobald er groß ist, einmal dorthin zu reisen, sich alles mit eigenen Augen anzusehen, vielleicht sogar für immer dort zu bleiben. Nicht überall auf der Erde gibt es so viel Sonnenschein und einen so blauen ungetrübten Himmel. Die Mutter hatte ihm Geschichten vorgelesen, in denen geschrieben stand, dass dort die Blaue Blume zu Hause ist. Wenn er einmal groß ist, das hat er sich fest vorgenommen, wird er dorthin reisen, um auch die Blaue Blume zu suchen. Er wird sie finden. Davon ist er überzeugt. Seine Mutter kannte Gedichte, viele Gedichte, manche sogar auswendig, die der Blauen Blume gewidmet waren. Er hat sich Texte gemerkt, sie nicht vergessen. Er sagte einen Text auf.
Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au`n,
Ob nirgends in der Runde
Die Blaue Blume zu schaun.
Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blume geschaut.
Seine Mutter nannte diese Gedichte „Die Blaue Blume der Romantik“. Die Blaue Blume verkörpert die Romantik, die Sehnsucht des Menschen nach dem Unerreichbaren, nach dem ewig Fernen, nach dem Verborgenen und Geheimnisvollen, nach der ewigen Schönheit. Du musst nur fest an die Blaue Blume glauben, ihrer Wunderkraft vertrauen. In der Schule war Mutter gelehrt worden, dass die Blaue Blume ein Zeichen sei für die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Das Gedicht „Ich wandre schon seit lange, Hab lang gehofft, vertraut, Doch ach, noch nirgends hab ich Die blaue Blume geschaut.“ bringt diese innige Verbundenheit treffend zum Ausdruck. Die Blaue Blume ist auch das Symbol der Wanderschaft. Ach, diese Blaue Blume hat so viele Bedeutungen, dass ich nicht alle diese Zeichen im Kopf behalten konnte.“
Für Jan war das Fach Deutsch das Lieblingsfach. Ihm wurde das Lesen und Schreiben beigebracht. Für ihn war es der absolute Höhepunkt, als er in der Lage war Bücher selbst zu lesen und Texte selbst zu schreiben. Jetzt war der Zeitpunkt für ihn und seine Mutter gekommen, ihn in der Stadtbibliothek als künftiges Mitglied anzumelden und er ein eigenes Leseheft auf seinen Namen ausgehändigt bekam. Richtig stolz war Jan, jetzt ein eigenes Leseheft zu besitzen, in das nun die Titel der Bücher eingetragen wurden, die er sich ausgeliehen hatte. Wie seine Mutter nahm er jedes Mal viele Bücher mit nach Hause. Seine Mutter wählte nicht nur Romane von Flaubert, Maupassant, Balzac, Stendal, Zola, Gorki, Nexö, sondern auch Bildbände, in denen die Abbildungen von berühmten Gemälden zu bewundern waren. Ihr Lieblingsautor zu dieser Zeit hieß Helmut Drechsler. Er war Fotograf und Schriftsteller, gebürtiger Colditzer. Mutter nannte ihn den begnadeten Tierfotografen. Unter den vielen Büchern, die sie aus der Stadtbücherei mitbrachte, befand sich immer ein Bildband von Helmut Drechsler. Mutter erlaubte mir diese Bildbände zu bewundern, nachdem sie mich mehrere Male und jedes Mal von Neuem ermahnt hatte, sehr sorgsam und pfleglich mit diesen Büchern umzugehen.
Sie sagte: „Ich muss sie für dich ausleihen, denn dir werden sie nicht ausgehändigt werden, da bin ich mir sicher. An Kinder werden nicht so kostbare Bücher ausgeliehen. Schnell sind sie verdorben, weisen Fettflecken auf.“ Mutter vergötterte diesen Drechsler, diesen Tierfotografen. Sehr gut wusste sie über ihn Bescheid. Jan war überzeugt, dass sie von ihm alle Bücher kannte, gelesen, studiert hatte. Sein erster Farbbildband „Kleine Welt am Wegesrand“ erschien 1948 im Brockhaus-Verlag in vielen Auflagen. Dieser Bildband vermittelt einen Eindruck in die unmittelbare Umgebung seiner Heimatstadt. Der Bildband „Zigeuner, Stiere und Flamingos“ faszinierte Mutter. Nur in ihrer Gegenwart durfte Jan das Buch in die Hände nehmen, darin vorsichtig blättern, sich die Bilder ansehen, nachdem er sich nochmals die Hände gewaschen hatte.
Mutter ließ ihn die Fotos betrachten, solange er wollte, erklärte: „Er ist noch ein sehr junger Mann. Soviel ich weiß, ist er noch keine dreißig Jahre alt. Und so tüchtig. Ständig verbesserte er seine Arbeitstechniken. Die Qualität der Bilder nahm zu. Sein Ruhm nahm zu, nicht nur in seiner Heimatstadt, nicht nur in Sachsen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Obwohl er immer unterwegs war, ließ er sich ein Haus bauen auf dem Hartenstein, in dem er mit seiner Frau wohnte, wenn er sich zu Hause aufhielt. Meist war er unterwegs, fotografierte und fotografierte.“
Jahre später! Jan erinnert sich. Anfang 1960 muss es gewesen. Von der Schule kam er nach Hause, betrat die elterliche Wohnung, findet seine Mutter im Wohnzimmer vor, in Tränen gebadet.
„Ist jemand gestorben?“, fragt er besorgt.
„Der Helmut Drechsler ist tot!“ Die Trauer, der Schmerz, der Kummer vereinen sich in ihrer Stimme, in ihrem Gesicht. Hier lies! Das ist der Text, den die Zeitung schreibt. Im Rundfunk haben sie es auch gebracht. Es kann also kein Irrtum sein! Man sagt, von seiner letzten Reise nach Zentralafrika sei er nicht mehr zurückgekehrt. In der Nacht vom 3. zum 4. Februar sei er tödlich verunglückt. Er sei vom Steilufer in einen Fluss abgestürzt. Die Unfallursache sei ungeklärt.“
Noch immer Tränen in den Augen breitete Mutter Bücher auf dem Tisch aus.
„Die habe ich alle antiquarisch kaufen können. Da waren sie preisgünstiger. Billig ist dafür nicht das richtige Wort.“
Vorsichtig reichte sie Jan ein Buch. Er las „Kamerajagd auf Schmetterlinge“. Jan betrachtete sich die auf dem Tisch liegenden Bücher näher, las „Vom Atlantik zum Mittelmeer“, „Vom Karst zu den Karpaten“. Diese Bücher sahen geschmackvoller aus als viele, viele Bücher, die es in den Buchhandlungen zu erwerben gab.
„Du musst Vater nichts von diesen Büchern sagen“, flüsterte Mutter. „Er hätte dafür kein Verständnis. Ich habe sie gut versteckt. Wie dir bekannt ist, hat Vater auch seine Verstecke für Bücher, die mir verborgen bleiben sollen.“
Ausgiebig sah Jan sich jedes Exemplar an, Seite für Seite. Ihm gefiel die Gestaltung der Bücher. Sie machten etwas her, eigneten sich hervorragend als Geschenk.
Inzwischen waren viele Jahre seit Drechslers Tod vergangen. Bis jetzt ist der Unfall nicht aufgeklärt. Viele Vermutungen wurden angestellt, aber keine endgültige Lösung gefunden. Bis heute ist der Fall nicht aufgeklärt worden. Im Traum verfolgt Jan dieses Geschehen. Er sieht den Mann vor sich, wie er, Jan, ihn sieht. Auf diesem Foto ist er mit freiem Oberkörper abgebildet, kurz vor seinem Tod. Braun gebrannt, auf dem Kopf einen Hut ähnlich den Kopfbedeckungen der Soldaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den ehemaligen deutschen Kolonien, sportlich, durchtrainiert, Waschbrettbauch, eine gut aussehende, auf Wirkung und Ausstrahlung bedachte Persönlichkeit, die sicher auch Feinde hat bei dem Erfolg, den sie auf vielen Gebieten erzielt hatte. Dieses Foto wird gewiss eines der letzten gewesen sein, die von ihm unmittelbar vor seinem Tod angefertigt wurden. Der Traum versetzt Jan in die Nacht vom 3. zum 4. Februar 1960. Drechsler steht am Steilufer des Flusses, lässt das Ambiente auf sich wirken, ist zu tiefst beeindruckt von der tiefen Stille der Nacht. Kein Laut! Nur eine in sich ruhende Natur. Ein Hauch von Ewigkeit. Eine Bewegung, ein falscher Schritt! Der Körper gleitet in die Tiefe, den die Umgebung als Sturz wahrnimmt. Der Tod holt ihn, noch bevor er sich als Individuum mit seinen vielseitigen Talenten voll entfalten konnte. Den letzte Kartengruß an seine Frau hatten dunkle Vorahnungen diktiert. Im Krankenhausbericht vom achten Februar1960 hieß es lakonisch, dass „die Umstände und die Stunde des Sturzes nicht präzisiert werden können.“ Bis heute ist Helmut Drechsler unvergessen geblieben, wird es auch bleiben, solange sein Nachlass existiert in Form von Publikationen, Druckerzeugnissen, Fotografien, Kalendern, Bildern. Ein Mensch ist erst tot, wenn ihn die Nachwelt vergessen hat. Solange es Menschen gibt, die ihn nicht vergessen haben, lebt er in der Erinnerung fort. Gedenksteine, Namen von Straßen und Wegen, sie tragen seinen Namen.
Jan hat schon öfters darüber nachgedacht, was für eine außerordentliche Persönlichkeit dieser Helmut Drechsler war. Aus bescheidenen Verhältnissen kam er, wuchs ohne Vater auf, da dieser früh verstorben war. Schwer war es für die Mutter, drei kleine Kinder zu versorgen. Der Direktor der Schule erkannte die Begabungen des Jungen, förderte ihn, schickte ihn auf das Lehrerbildungsseminar. Nach bestandenem Examen nahm er keine Position als Lehrer an, sondern machte sein Hobby zum Beruf. Vielseitig begabt wie er war, war er vielseitig einsetzbar, war Fotograf und Schriftsteller, war ein begnadeter Redner, füllte Säle, war ein blendender Organisator, wurde von den Wissenschaftlern geschätzt. In jungen Jahren verfügte er über die finanziellen Mittel, um sich in Colditz in herrlichster Lage ein Haus bauen zu lassen. Er führte ein Leben, das nur wenigen vorbehalten ist. Jan beneidete ihn. Nur wenige sind auserwählt, aber noch weniger sind berufen, so ein erfolgreiches, abenteuerliches Leben führen zu dürfen. Er war eine starke Persönlichkeit, von seiner Kompetenz, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten und seinem Wert überzeugt.
Jan wollte Förster werden. Er liebte die Natur: die Tiere, Pflanzen, Seen, Flüsse, Berge, Wiesen, Weiden. Ständig beobachtete er seine Umwelt, verfolgte das Geschehen mit offenen Augen, registrierte jede Bewegung, jede Veränderung. Viel hielt er sich draußen an der frischen Luft auf, zu allen Jahreszeiten, brauchte seine Bewegung. Zu seinem zehnten Geburtstag erhielt Jan ein Fahrrad. Es war kein neues Fahrrad. Viele aus seiner Klasse hatten Fahrräder zu den Geburtstagen oder zu Weihnachten von den Eltern geschenkt bekommen. Das waren alles neue Fahrräder, in allen Farben gespritzt. Sein Fahrrad war eine Rarität, setzte sich aus Bauteilen unterschiedlicher Fahrräder und Fahrradtypen zusammen, deshalb wirkte es kurios, höchst seltsam. Die Farbe seines Fahrrades war auch nicht aufgespritzt worden, sondern es war angestrichen worden. Der Monteur hatte ein freundliches Dunkelblau gewählt, auf dem Fahrrad-Rahmen hatte er einige Nasen hinterlassen, doch die beeinträchtigten nicht das Aussehen. Das Wichtigste war, Jan besaß ein blaues Fahrrad, das auch fuhr. Das Fahrrad hatte keine Gangschaltung, die hatten damals nur wenige. Jan probierte sein Rad aus, wählte den Auenwald zunächst als Ziel. Heiß schien die Sonne. Im Auenwald war es schwül. Die Mücken griffen an, verfolgten ihn, stachen. Sie rückten an in dichten Schwärmen, fielen erbarmungslos über ihn her. Die Haut juckte, rote Flecken bildeten sich, die anschwollen. Er wurde immer von den Mücken am meisten geplagt. Sein Vater sagte, dass die Mücken sein süßes, gesundes Blut bevorzugen, es zu sich nehmen wollen, weil es am besten schmeckt. Deshalb überfallen sie ihn scharenweise, um ihm das Blut abzuzapfen. Den Wald durchflossen viele Wasserläufe, überwuchert von vielen Pflanzen, die Jan nicht kannte. Die einzigen Pflanzen, die ihm bekannt waren und hier in üppigen Beständen sich ausbreiteten, waren die Farne und das Schilf mit den Rohrpumpen. Gern hätte Jan einige Stängel mit Kolben mit dem Taschenmesser abgeschnitten und seiner Mutter als Schmuck für die große Vase überreicht, aber die Rohrpumpen waren zu weit vom Rand des Gewässers entfernt. Die Wasserläufe endeten mitunter in kleinen Seen, auf denen sich Wasservögel tummelten.
Ein Vogel erregte seine Aufmerksamkeit. Dieser wendige, bewegliche Flieger mit langem Schnabel und kurzem Schwanz war ihm vertraut. Er liebte diesen leuchtenden, blau-grünen Diamanten, der mit schnellen Flügelschlägen dicht über der Wasseroberfläche dahin schoss. Der Eisvogel in seinem strahlend bunten Federkleid war für Jan ein Teil der exotischen Vogelwelt wie der Bienenfresser, die Blauracke, der Wiedehopf, der Pirol. Die Blauracke hat etwa die Größe eines Eichelhähers mit auffallendem Gefieder. Die Unterseite leuchtet grünlich-blau, der Rücken bräunlich. Wenn dieser Vogel fliegt, lenkt die türkis-blaue Farbe der Flügel die Aufmerksamkeit auf sich. Kopf und Hals schimmern bräunlich-grün. Die Blauracke bevorzugt ein offenes Gelände mit vereinzelt stehenden alten Bäumen an Flussufern. Der Bienenfresser hat etwa die Größe einer Amsel, ist von schlankem Körperbau, hat einen langen Schnabel und kastanienfarbenes Gefieder auf der Oberseite. Die Unterseite ist türkis-blau. Wie die Blauracke liebt dieser Vogel offenes Gelände in der Umgebung von Wasserläufen, an deren Ufern er Nistmöglichkeiten hat.
Jan ließ die Auen-Landschaft hinter sich zurück, befuhr jetzt Sand-Wege zwischen Wiesen und Feldern, über denen Turmfalken rüttelten und nach Mäusen Ausschau hielten. Hatten sie eine erspäht, stießen sie im Sturzflug herab. Sobald sie eine erbeutet hatten, strichen sie davon.
Wie den Helmut Drechsler zog es Jan hinaus ins Grüne. Während der Wintermonate beobachtete er auf den verschneiten Feldern die vielen Hasen, die jetzt verschwunden, vielleicht fast ausgestorben sind. Im extrem kalten Winter hatten es die Kaninchen sehr schwer Nahrung zu finden. Viele überlebten nicht. Sie leben in einer Vielzahl von Bauen, die mit einem Netz von Gängen miteinander verbunden sind. Blind und ohne Fell kommen sie auf die Welt, öffnen als Nesthocker nach ungefähr zehn Tagen die Augen. In strengen Wintern dringt die Kälte in ihren Bau, lässt sie erfrieren. Der Nahrungsmangel führt auch zum Tod, denn die ursprüngliche Heimat dieser Tiere ist der Mittelmeerraum. Trotzdem haben sie bis heute überlebt, die Hasen offensichtlich nicht oder nur in geringen Populationen. Die Feldhasen wurden sicher ein Opfer der Monokulturen, der auf den weiten Feldern eingesetzten Maschinen. Für die Aufzucht der Jungen gräbt der Hase keinen unterirdischen Bau, er legt zu ebener Erde eine Erdmulde oder Sasse an, die er als Ruhelager nutzt und zur Aufzucht der Jungen. Behaart und sehend werden sie geboren. Als Nestflüchter verlassen sie gleich ihre Geburtsmulde, trotzen den Gefahren des Lebens.
Jan gehörte zu den wenigen Schülern, die nach dem erfolgreichen Abschluss der Grundschule die Erweiterte Oberschule besuchen durften. Er nahm an, dass er seine Delegierung für diese Bildungseinrichtung seinem sozialen Status zu verdanken hatte, denn unter sozialem Aspekt betrachtet, gehörte er zur Arbeiterklasse und nicht wie die Eltern seiner Mitbewerber zur Intelligenz. Er war der Einzige, dessen Eltern nicht Rechtsanwälte oder Ingenieure mit und ohne Einzelvertrag oder Ärzte waren. Er hatte den Eindruck, die Schulleitung schätzte sich glücklich, dass sie ihn als ihren Schüler auf die Erweiterte Oberschule delegieren konnten, denn außer ihm verfügten sie über keinen weiteren Antragsteller mit diesem sozialen Status. Bei den vielen Bewerbern aus Akademiker-Familien erhielten längst nicht alle die Zulassung. Im September begegnete Jan vielen ehemaligen Mitschülern an der neusprachlichen Oberschule wieder, die vorher abgelehnt worden waren. Er erfuhr, dass alle Bewerber aus seiner Klasse die Zulassung für die Abitur-Ausbildung empfangen hatten. Jan fand diese Entscheidung gerecht, denn er hatte immer das Gefühl gehabt, dass diese Klassenkameraden mehr wussten als er, denn sie wussten über Dinge Bescheid, die nicht in der Schule gelehrt worden waren.
Mit Michael war Jan befreundet. Nach der Schule hielt Jan sich oft bis zum Abend bei seinem Klassenkameraden auf. Gemeinsam fertigten sie die Schularbeiten an, spielten Fußball mit anderen Jungen, die in dieser teuren und vornehmen Gegend zu Hause waren, schauten fern. Jans Eltern waren äußerst zufrieden mit dem neuen Freundeskreis ihres Sohnes.
„Endlich werden dem Jungen Manieren beigebracht!“, sagte der Vater.
„Auch wird er sehr viel Neues kennen lernen“, ergänzte die Mutter.
Jans Eltern besaßen kein Fernsehgerät. Gerade so viel Geld konnten sie aufbringen, um sich ein schlichtes, einfaches Radio kaufen zu können. Ein Radio hatte sich Mutter schon immer gewünscht. Es erlaubte ihr, die Nachrichten zu hören und dann vor allem Musik. Mutter liebte Operetten und Opern. Nun war es ihr vergönnt, diesen Kunstwerken in der Küche bei der Arbeit lauschen zu können.
„Ist diese Musik nicht ein unvergleichlicher Kunst-Genuss!“, wiederholte Mutter immer wieder. „Das ist echte Kunst, mein Junge!“
Jan nickte nur.
„Nun sag doch mal was! Schließlich hat Gott dir eine Sprache gegeben, damit du dich mitteilen kannst.“ Ihre Stimme klang verärgert.
„Es ist unsterbliche Musik“, sagte Jan, dabei benutzte er Wörter aus ihrem Wortschatz.
Sie reagierte nicht.
Der Vater seines Klassenkameraden war wie viele Väter Arzt. Nachmittags suchte er seine Patienten auf, nahm seinen Sohn bei diesen Visiten per Auto mit. So bot sich Jan die Gelegenheit, einen großen Teil seiner näheren Heimat kennen zu lernen, der ihm sonst verborgen geblieben wäre. Bei diesen Fahrten erlebte er den regen Verkehr auf den Autobahnen, sah Fahrzeug-Typen, die er sonst nie zu sehen bekommen hätte, weil sie die schmalen Straßen und Gassen der Städte mieden. Während der Vater des Klassenkameraden am Steuer saß, fragte er seinen Sohn in Englisch, Französisch und Latein ab, führte Gespräche mit ihm über Politik, eigentlich über alles, was so im Fernsehen an Nachrichten ausgestrahlt wurde. Der Vater stellte viele Fragen, die Jan nicht hätte beantworten können. Michael war sehr redegewandt, musste erklären, erläutern, Zusammenfassungen geben. Alle diese Themen, die hier diskutiert wurden, kannte Jan nicht, weil sie nicht in der Schule behandelt wurden. Sie gehörten nicht zum Lehrplan, sie wurden einfach übergangen, nicht zur Kenntnis genommen, wie Jan begreifen musste. Michael musste sich mit einem Lehrstoff und mit Themen beschäftigen und auseinandersetzen, die unwichtig für die Schule waren, weil nach ihnen kein Lehrer fragte, sie in keiner Prüfung als Wissen abgefordert hätte. Wenn diese Themen aber für den Unterricht keine Bedeutung hatten, warum verlangte ihre Beherrschung dann Michaels Vater? Er wird doch seinen Sohn nichts Unnützes, vielleicht sogar Falsches abfragen? Dieses Erlebnis ging Jan nicht aus dem Kopf. Fragen wollte er nicht. Er befürchtete keine richtige oder eine ausweichende Antwort zu erhalten. Er musste selbst das Rätsel lösen.
Jan erkannte, dass er die besten Ergebnisse im Fach Deutsch erzielte und dafür den geringsten Arbeitsaufwand investieren musste. Für die Bewältigung der Naturwissenschaften, er dachte an die Fächer Mathematik, Chemie, Physik, musste er viel Zeit opfern, weil er nur schwer Zugang zu ihnen fand. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er naturwissenschaftlich unbegabt sei und dass später einmal eine berufliche Entscheidung auf diesem Gebiet für ihn nicht in Frage käme. Mit dem Deutschlehrer hatte er auch ein Glückslos gezogen. Er verstand es blendend, Jan für dieses Fach zu begeistern. Im Literaturunterricht wurde auch die Epoche der Romantik behandelt. Für Jan war es ein kurzer Streifzug. Die Dichter Novalis, Brentano und Heine wurden als typische Repräsentanten erwähnt, ihre Biografie beinhaltete nicht nur das Datum ihrer Geburt und ihres Todes. Besonders von Heinrich Heine war Jan begeistert. Dessen Sprache empfand er als äußerst zeitgemäß, geradezu modern, musikalisch, voller Rhythmik. Mit der Epoche der Romantik beschäftigte er sich intensiver als eigentlich notwendig war. In dem Zusammenhang erinnerte er sich an seine Kindertage, an die Spaziergänge mit seiner Mutter, an gemeinsame Museumsbesuche. Wieder begegnete er der Blauen Blume, dem Aushängeschild der Epoche der Romantik. Er erinnerte sich, dass damals die Mutter auch die Wortgruppe Blaue Blume benutzte, als sie ihm von den Dichtern erzählte, die entsprechend ihrer Kenntnis zu diesem Dichterkreis gehörten. Als junge Frau lieh sie sich in der Stadtbibliothek Bücher aus, in der über die Liebe zwischen Novalis und seiner Verlobten die Rede war. Auch damals auf dem Ost-Friedhof schwärmte sie von der Beziehung dieser beiden jungen Menschen und sah diese Bindung, diese Verlobung verklärt und rein. Von Sex war nie die Rede, nur von geistiger Verwandtschaft.
„Stell dir vor“, sagte seine Mutter damals auf dem Friedhof und auch jetzt wieder, „wie herrlich jung diese beiden Geschöpfe waren.“
Entsprechend Jans Erfahrung war Mutter die Einzige, die für eine solche Verbindung wie zwischen Novalis und seiner Verlobten den Begriff Geschöpf gebrauchte. Für Mutter hatte das Wort Geschöpf einen sehr hohen Stellenwert. Aus den klugen Büchern erfuhr Jan, dass die künftige Verlobte zu diesem Zeitpunkt, als sie sich das erste Mal begegneten, gerade einmal zwölf Jahre alt war. Sie hieß mit vollem Namen Christiane Wilhelmine Sophie von Kühn. Mit fünfzehn Jahren verstarb sie an Tuberkulose. Diese Krankheit hieß damals Schwindsucht. Vielen Operationen hatte sich diese junge Frau unterziehen müssen, aber alle Eingriffe waren vergebens. Sie konnte diese Krankheit nicht besiegen. Als Novalis ihr Tod mitgeteilt wurde, war er zutiefst verzweifelt und bewahrte und konservierte ihr Bild in seinen Dichtungen. Auch er ist nicht alt geworden. Er war keine dreißig Jahre alt, als er starb. Er gehört zu den Dichtern, die unsterblich bleiben.“
Mutter seufzte tief, war sehr nachdenklich geworden und fügte noch immer in Gedanken verloren hinzu: „Es waren andere Zeiten damals. Die Medizin war damals noch nicht auf dem Stand, den sie heute hat. Drei Mal musste sich Sophie Operationen unterziehen. Drei Mal musste sie furchtbarste Schmerzen erleiden und erdulden. Damals gab es noch keine Betäubungsmittel. Alles musste sie bei vollem Bewusstsein ertragen. Ich habe Bilder von ihr gesehen, gemalte. Damals gab es ja noch nicht die Fotografie. Auf dem Bild, das ich mir eingeprägt habe, sieht sie nicht wie eine Fünfzehnjährige aus, sie wirkt älter und reifer, scheint eine kluge Frau zu sein, die passende Ergänzung zum Dichter. Es muss ein gewaltiger Schock für den Schöngeist gewesen sein, als seine Blaue Blume verblühte, verwelkte, aufhörte zu existieren. Sophie war für Novalis die Muse, die nicht zu ersetzen war, seine ewige unsichtbare Begleiterin. In seinen Gedichten „Hymnen an die Nacht“ ist sie allgegenwärtig, ist ihre Nähe zu spüren, beeinflusst sie Novalis als seine Muse, die ihm bis zu seinem Tod nicht von seiner Seite weicht. In jungen Jahren war ich für die Epoche der Romantik sehr empfänglich, vielleicht lag es daran, weil die Gegenwart keine Lichtblicke bot, die Romantiker aber das Geschehen ihrer Träume zur Wirklichkeit werden ließen. Sie benutzten Wörter wie Morgenröte, Abendstern, Mondschein, Sehnsucht nach der Ferne, ungeheure Sehnsucht. Sie verwendeten viele Symbole wie Tag und Nacht, Leben und Tod. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Ich verfüge nicht über so einen gefühlvollen Wortschatz wie sie, kann nicht so blumige Sätze bilden.“ Jans Mutter hält inne, blickt ihren Sohn nachdenklich an, fragt ihn völlig unvermittelt: „Was willst du nach dem Abitur tun? Vermutlich studieren? Und was willst du studieren?“
Jahre sind vergangen. Jan hat sein Abitur bestanden, auch die Aufnahmeprüfung für die Fächer Anglistik und Germanistik an der Universität. Die Romantik nimmt einen Teil der Vorlesungen in Anspruch. In den Seminaren stehen einige ihrer Repräsentanten im Mittelpunkt, über deren Werke diskutiert wird. Jan hat seine Zuneigung, seine Verehrung zu diesen Dichtern sich bewahrt, liest mehr von ihnen und mehr über sie, als er eigentlich müsste.
Aus seinen frühesten Kindertagen ist ihm Joseph von Eichendorff ein vertrauter Bekannter. Auf dem Ostfriedhof stellte ihm seine Mutter den Dichter vor. Das war in der Zeit, als seine Mutter das Grab der Österreicher pflegte, das jetzt verschwunden ist wie sie selbst seit einer Ewigkeit. Soweit Jan informiert ist, haben sie sich nie gemeldet. Er kennt die Gründe dafür nicht. Vielleicht liegt es daran, dass seine Eltern in eine andere Gegend gezogen sind oder die Österreicher und sich somit aus den Augen verloren haben. Die Zeit nach dem Krieg war eine bewegte Zeit, in der sich viele fanden und sich viele verloren. Joseph von Eichendorff wurde auf Schloss Lubowitz Ende des 18. Jahrhunderts in Oberschlesien geboren. Gern würde Jan nach Oberschlesien reisen, um die Gegend kennen zu lernen, in der der Dichter aufgewachsen ist, aber er kann und darf nicht in diese Region reisen; ihm fehlen die finanziellen Mittel, und dann erlaubt es die Politik nicht oder sieht es zumindest höchst ungern. Der Eiserne Vorhang teilt zwei Imperien, deren Grenze Deutschland in zwei Teile aufspaltet. In den Bücherregalen seines Vaters schlummern Bücher über alle Wissensgebiete aus allen Zeiträumen. Und es werden immer mehr. Jans Vater lebte in einem Deutschland, das vor mehr als einhundert Jahren existierte. „Die nach dem Krieg existierenden Grenzen sind das Werk der obersten Entscheidungsträger dieser heutigen Welt“, behauptete Vater, „aber nicht die Grenzen der innerhalb dieser willkürlich gezogenen Grenzen lebenden Völker. Diese Völker wissen genau, wem welches Land gehört.“
Aus der Biografie Eichendorffs geht hervor, wo er überall gelebt und seine Spuren hinterlassen hat. Viele Namen stürmen auf Jan ein, viele Landschaften werden namentlich genannt, die in der europäischen Geschichte von Bedeutung sind. In Breslau war er Schüler des katholischen Gymnasiums, in Halle und Heidelberg studierte er Jura. An der Universität in Heidelberg wurde sein literarisches Talent von den Dichtern Arnim und Brentano erkannt. Im Befreiungskrieg gegen Napoleon schloss er sich dem Lützowschen Freikorps an. Weitere Stationen seines Lebensweges sind Danzig und Königsberg, es folgen Berlin, Wien und Dresden. Zuletzt nahm er seinen Aufenthalt in Neiße bei der Familie seiner Tochter. Eichendorff hat ein bewegtes Leben geführt, musste Jan dem Dichter zugestehen. Bei dem Namen Neiße wurde er an die Oder-Neiße-Friedensgrenze erinnert. Von ihr wird nicht mehr gesprochen. In Vergessenheit ist sie geraten. Für ihn sind noch immer einige Gedichte Eichendorffs abrufbereit, noch immer kann er sie auswendig aufsagen.
Der frohe Wandersmann
Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt.
Dem wird er seine Wunder weisen
In Berg und Tal und Strom und Feld.
Er hält inne. Obwohl heute kein Dichter für seine Schöpfungen solche Worte, solche Sprachmelodie wählen würde, sind diese Verse ihm noch immer höchst vertraut, rufen längst vergangene Zeiten wehmütig in ihm wach, wecken Erinnerungen, schwören Gesichter herauf, die sich bereits in seinen Kindertagen für immer von ihm verabschiedet haben. Er hört ihre Stimme, ihre Lieder, ihre Gedichte von den Dichtern, die er auch heute noch mag. Er liebt diese Sprache, in der die lyrische Stimmung wirkungsvoll sich entfaltet. Ihm fällt die Erzählung „Aus dem Leben eines Taugenichts“ ein, die die Sehnsucht nach der unbekannten Ferne weckt. Jan spürt diese Sehnsucht, diese Sucht nach der Ferne auch in sich. Als er jung war, fühlte er sich als Kosmopolit und bekannte sich vehement zu diesem sozialen Status. Heftig wurde er dafür kritisiert.
„Kein Mensch kann zwischen Stühlen sitzen.“, wurde er zurecht gewiesen.
Während seines Studiums ist Jan gar nicht bewusst geworden, dass Joseph von Eichendorff zu den viel gereisten Dichtern gehörte. Er hat sehr viel von Europa kennen gelernt, war Augenzeuge vieler intereuropäischer politischer Veränderungen in Form von Kriegen, Revolutionen.
Mit der Epoche der Romantik und deren Vertretern in der Literatur, der bildenden Kunst, der Malerei, der Musik setzt sich Jan noch immer intensiv auseinander. Das Buch „Die blaue Blume“ von der Schriftstellerin Penelope Fitzgerald hatte ihm ein guter Bekannter empfohlen. „Die Blaue Blume“ war ihr letzter Roman. In ihm gibt die Schriftstellerin den Abschnitt aus dem auch recht kurzen Leben des Dichters Friedrich von Hardenberg wieder. Der 22-jährige Dichter, der sich Novalis nannte, hatte sich in die zehn Jahre jüngere Sophie von Kühn verliebt, sich mit ihr verlobt, sie zwei Jahre später verloren. Seine blaue Blume stirbt mit fünfzehn Jahren. Die englische Kritik ist von dem Buch begeistert.
Jan entsinnt sich. Damals als kleiner Junge wurde er von der Mutter gefragt, welche Farbe seine Lieblingsfarbe sei. Er legte sich nicht fest, gab zu, jede Farbe sei schön, schön auf ihre Weise. Jede Farbe braucht die anderen Farben, um schön zu sein. Seine Mutter gestand, dass sie Blau sehr mag. Und sie fügte noch hinzu, welche Bedeutung für sie die Farbe Blau hat und welche Wirkung sie ausstrahlt.
„Blau wirkt entspannend und beruhigend auf mich“, offenbarte ihm seine Mutter. „Zu den kalten Farben gehören die Blautöne. Kühl wirken sie, vermitteln Sachlichkeit, schaffen Distanz“
Jan hatte im Deutsch-Seminar gelehrt bekommen, dass die Blaue Blume das wichtigste Symbol für die Romantiker darstellt. Sie drückt die romantische Sehnsucht nach dem Unerreichbaren aus, nach der Unendlichkeit. Die Blaue Blume wird als Verbindung von Mensch und Natur interpretiert. Sie ist das Symbol der Wanderschaft. Das Vorbild für dieses Symbol war die Kornblume oder die Wegwarte, behaupteten einige, erblickten in diesen Blumen ein Sinnbild der Sehnsucht nach der Ferne und ein Zeichen der Wanderschaft. Die Blaue Blume wird von heimischen blau blühenden Pflanzen repräsentiert.
Jan interessierten die Farben schon immer. Als Kind gefielen ihm die Farben, die die Aufmerksamkeit erregten, die weithin sichtbar waren, die Leuchtkraft hatten. Ihm gefielen bei der Auswahl und Zusammenstellung der Kleidungsstücke Farben, die kontrastreich waren. Seine Farbzusammenstellung bei der Auswahl seiner Kleidung korrigierte immer seine Mutter, weil sie eine rote Mütze, einen braunen Schal, eine blaue Jacke, eine grüne Hose in dieser Zusammenstellung nicht akzeptierte. Sie drehte und wendete ihren Jungen vor dem Spiegel, bis er mitunter völlig genervt, ihr zustimmte. Immer wieder erinnert er sich an die Szenen seiner Kindheit, als die Mutter ihm Märchen, Fabeln, Sagen, Geschichten aus der großen und weiten Welt vorlas und er sie später, nachdem er Schreiben und Lesen erlernt hatte, sich selbst mit ihnen beschäftigte, sich mit einer geheimnisvollen, abenteuerlichen und zauberhaften Welt voller Mythen und Geheimnisse umgab, ein Teil dieser Märchenwelten wurde.
Seine Mutter erklärte ihm immer wieder, dass die Farbe Blau auf sie beruhigend und entspannend wirkt, der Inbegriff für Frieden ist, für ihren inneren, aber auch für ihren äußeren Frieden. Diese Farbe verbindet sie mit der Farbe des Meeres und des Himmels. Sie stimmt sie zufrieden, versetzt sie in einen ruhigen Zustand. Ein blauer Himmel im Sommer ist ein immenser Genuss für ihre Seele, nimmt zu, je älter sie wird. Jan hat die Worte der Mutter nicht vergessen. Während des Studiums befasste er sich im Zusammenhang mit der Romantik auch mit der Farbenlehre, speziell mit der Bedeutung der Farbe Blau in den verschiedenen Kulturen und Religionen. Im alten Orient kam die Sitte auf, männliche Säuglinge in blaue Tücher einzuwickeln, weil sie im Patriarchat einen höheren Stellenwert haben als die Mädchen. Er muss an die Gleichberechtigung denken, die noch heute die Gemüter erhitzt, weil sie ein Fernziel ist, noch unerreicht, obwohl seit Jahrzehnten Thema für heftig geführte Diskussionen.
Zu Jans Lieblingsdichtern innerhalb der Dichtergilde des Kulturkreises der Romantik gehört Heinrich Heine. Während er an seiner Dissertation schrieb, an dem i-Tüpfelchen seiner juristischen Studien, widmete er sich der Lyrik, die er in einer zeitlosen deutschen Sprache verfasste. Zu dieser Gedichtsammlung gehört auch das Welt berühmte Gedicht „Loreley“. Mehrmals hielt sich Jan entweder auf dem Loreley-Felsen auf, oder er war auf dem Schiff, wenn es am Felsen vorbei fuhr, dass er das Lied hörte. Komponisten, weltweit bekannt, wie Schubert, Schumann oder Mendelssohn-Bartholdy, trugen dazu bei, dass Heines Gedichte, nunmehr Lieder, zu Volksgut wurden.
Während Jan sich mit seinem Lieblingsdichter beschäftigt, fällt ihm ein, dass die Angaben in Bezug auf diesen Dichter innerhalb der Sekundärliteratur höchst unterschiedlich waren. Einmal ließ ein Autor den Dichter 1797 das Licht er Welt erblicken, einmal ließ ein anderer Autor ihn 1799 auf die Welt kommen. Einmal ist die Rede davon, dass Heine während seines Jura-Studiums von seiner Dichtung hätte leben können, zumindest unmittelbar nach seiner Promotion, bei anderen Autoren heißt es, dass er zeit seines Lebens von der Unterstützung seines Onkels, einem reichen Kaufmann, finanziell abhängig war. Irgendwo hatte Jan gelesen, dass der Dichter mit seinem Text „Es waren zwei Grenadiere“ Napoleon so beeindruckt hätte, dass der französische Kaiser ihn mit einer Leibes-Rente auszeichnete. Das zu allen Zeiten bekannte, ja berühmte Loreley-Gedicht, vertont von dem Komponisten Friedrich Silcher, gehörte zum Lehrstoff des Literaturunterrichtes an den Schulen; nur während der Zeit des Faschismus wurde es aus dem Lehrplan verbannt, gemeinsam mit seinem Schöpfer ins Exil geschickt. Dieses Gedicht ist wesentlicher Bestandteil der Romantik wie die „Reisebilder“ und das „Buch der Lieder“. Auf seinen zahlreichen Reisen in viele europäische Länder fand der Dichter zahllose Anregungen für künftige Werke, die ihn in der weiten Welt berühmt machten. Heine verließ Deutschland, das sich aus vielen Kleinstaaten zusammensetzte und erwählte Paris als seine Heimat. Bei seinem letzten Aufenthalt in Paris besuchte Jan sein Grab auf dem Friedhof Montmartre. Es wird noch immer liebevoll gepflegt. In einem klugen Buch unter der Themenstellung „die Juden in Deutschland“ fand Jan neben Text auch Bildmaterial zum 50igsten Todestag von Heinrich Heine. Ein Foto vom Februar 1901 spiegelt das Geschehen am Grab von Heinrich Heine auf dem Friedhof Montmartre wider. Viele, viele Menschen lauschen einem deutschen Männerchor, der entsprechend der Angaben das Lied singt „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten …“ Der Titel zu diesem Kapitel lautet „Keinen Kaddisch wird man sagen“.
Nicht alle Künstler begeistert die Romantik. So äußert sich der Naturalist Karl Henckell, ein viel gelesener und bekannter Schriftsteller zu seinen Lebzeiten, in seinem Gedicht „romantisches Lügengewächs“ ironisch abfällig über die Blaue Blume. Es gibt noch viele Andere. Die Blaue Blume begleitet Jan ein Leben lang. Künstlern ist er in der Literatur, in der Musik, in der Malerei begegnet, die zu ihren Lebzeiten unerkannt, unbekannt, verkannt blieben, nicht als Künstler enttarnt wurden. Keines ihrer Werke konnten sie verkaufen. Ein Leben lang blieben sie Dilettanten oder Hobby-Künstler. Nur existierte damals zu ihren Lebzeiten noch nicht diese Bezeichnung. Diese Talente, die keines ihrer Schöpfungen verkaufen konnten, fühlten sich trotz dieser Misere als Künstler, als echte Künstler. Für sie war ihre Kunst Berufung und nicht nur Beruf, von dem sie leider nicht leben konnten.
In einigen seiner Gemälde verwendet der frühromantische Maler Philipp Otto Runge das Motiv der Blauen Blume. Er gehörte trotz seiner immensen Begabung zu den Künstlern, für die die von ihnen geschaffene Kunst für den Broterwerb nicht ausreichte.
Jan erinnert sich, dass in einem Seminar der Name dieses Malers genannt wurde im Zusammenhang mit der Kreation der verschiedenen Kunstgattungen in einem gemeinsamen Kunstwerk. Der junge Literaturwissenschaftler sagte, dass Runge vielen Künstlern Vorbild war mit seinen vielen Interessen und Talenten. Er wollte die Kunst erneuern.
Jan sieht den jungen Dozenten vor sich, wie er seine Studenten mit Worten begeistert. „Runge!“, verkündet er, „wollte die Dichtkunst, die Malerei und die Musik zu einer Kunstgattung zusammenführen. Viele Künstler seiner Zeit begeistert dieser Vorschlag. Goethe soll über Runge gesagt haben, dass ein Individuum, wie er selten geboren werden.“
27 Jahre nach dessen Tod nannte Brentano ihn den tiefsinnigsten Künstler der Jetzt-Zeit. Zu seinen Lebzeiten hat Runge wie Vincent van Gogh keines seiner Bilder verkaufen können. Nur wenig Erfolg als Künstler war ihm beschieden. Zeitlebens musste er die Unterstützung seines Bruders Daniel in Anspruch nehmen. Wie Vincent van Gogh!
In einem klugen Bildband fand Jan Werke des Landschaftsmalers Fritz von Wille, der in dem Zeitraum von 1860 bis 1941 lebte. Er fertigte zwischen 1906 und 1907 eine Ansicht der Kapelle am Totenmaar in der Eifel an. Im Vordergrund auf der linken Seite des Bildes erstreckt sich ein Hang, der fast vollständig bedeckt ist mit weißen und blauen Blumen, dahinter befindet sich die Kapelle auf einem sanft ansteigenden Hügel zwischen grünenden Büschen und Bäumen, die sie schützend umschließen, eine Lebendigkeit ausstrahlen, die jede Klostermauer kalt, leblos, undurchdringlich erscheinen lässt. Auf der rechten Seite bietet sich dem Betrachter eine offene Landschaft dar ohne leuchtende Farben für Blumenschmuck und Kontraste, bestehend aus kahlen Hügeln, die im Hintergrund von hohen Bergen eingerahmt werden. In der Mitte des Bildes schlängelt sich ein Pfad im Tal dahin, teilt das Bild.
Der Titel „Die Blaue Blume“ wurde dem Bild gegeben. Jan fasziniert dieses Bild.
Ohne die Existenz des Computers, des Internet könnte sich Jan ein Leben nur schwer vorstellen. Er kann es kaum glauben, dass die Techniken in Bezug auf die Übermittlung, Bearbeitung und Verarbeitung von Nachrichten auf diesem hohen heutigen Niveau entsprechend seiner Kenntnis nur wenige Jahrzehnte alt sind, innerhalb der Lebensspanne eines Menschen entwickelt worden sind. Während seines Studiums waren Stenografie und Maschinenschreiben wichtige Techniken der geistigen Arbeit, die er nicht missen wollte. Damals zeichnetet er alle Texte mittels der Stenografie auf, übertrug sie anschließend mit Hilfe der Schreibmaschine in Langschrift. Für Jan war es eine große Bereicherung, wenn er wortwörtlich besonders wichtige Passagen der Vorlesung des Professors erfassen konnte. Seine Aufzeichnungen und Mitschriften auch über die Literaturwissenschaften besitzt er nicht mehr. Auch die Biografien der Dichter der Romantik, die im Stenogramm vorlagen, die er mit der Schreibmaschine in Langschrift übertragen hatte, sind verloren gegangen, verschwunden. Er glaubt nicht daran, dass er sie wissentlich entsorgt hat. Bei den vielen Umzügen haben sie sich verabschiedet.
Heutzutage gehört die Schreibmaschine der Vergangenheit an, und nur noch wenige werden der Stenografie mächtig sein und sie effektiv anwenden können. Der Erfinder der kursiven Stenografie Franz Xaver Gabelsberger soll wiederholt gesagt haben, die Stenografie ist eine Schreibkunst, sie sei nur etwas für kluge Leute. Heute würde er die Frage stellen: „Wo sind nur geblieben, die vielen klugen Leute?“ Einen Bleistift und ein Blatt Papier kann jeder Schreiber bei sich haben, einen Computer nicht.