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Einleitung

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Steht in der Bundesrepublik Deutschland die Verfolgung und Ahndung der NS-Verbrechen zur Diskussion, ist immer auch vom Versagen der Justiz die Rede. Doch nicht nur die Justiz hat versagt, sondern auch der Gesetzgeber, die Strafrechtswissenschaft, die Zeitgeschichtsforschung und die bundesdeutsche Gesellschaft. Insofern ist es geboten, die Unterlassungen und Versäumnisse zu erforschen. Ein guter Anlass ist der 50. Todestag des Juristen, dessen Name wie kein anderer mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen verbunden ist: Fritz Bauer (1903 – 1968). Die Untersuchung der sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963 – 1981) und von ausgewählten Ermittlungsverfahren zeigt, welch weitreichende Folgen das im August 1965 verkündete Urteil in der »Strafsache gegen Mulka u.a.« für die späteren Verfahren gegen Auschwitz-Personal hatte. Die Frankfurter Bilanz sieht nicht gut aus. Hinsichtlich der geleisteten Sachverhaltsaufklärung kann auch der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965) nicht als gelungen gelten. So stellte das Schwurgericht in seinem Urteil das Vernichtungsgeschehen in Auschwitz unzureichend dar und kam deshalb auch zu falschen rechtlichen Wertungen.

Das Vorhaben des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, durch die Aufklärung von Verbrechenskomplexen die Deutschen mit der NS-Vergangenheit zu konfrontieren, kann nicht als erfolgreich bezeichnet werden. Die Mehrheit der Bundesdeutschen nahm den 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess und auch andere vergleichbare Strafverfahren gegen Personal der Todeslager kaum zur Kenntnis. Bauer war ebenso wie viele kritische Juristen und Zeitgenossen über die Rechtsprechung in NS-Prozessen wenig glücklich. So sprach er im Frühjahr 1966 von der »Tragödie«1 der Verfahren.

Die Gründe für diese negative Einschätzung sollen hier am Beispiel der Frankfurter Auschwitz-Prozesse und auch der letzten Verfahren gegen greise Angeklagte, die in den vergangenen Jahren sich vor Gericht verantworten mussten, aufgezeigt werden.

Die deutsche Gerichtsbarkeit hatte nach 1945 aufgrund der alliierten Gesetzgebung zunächst nur begrenzte Möglichkeiten, die nationalsozialistischen Verbrechen aufzuklären und zu ahnden. Sie erstreckte sich auf Verbrechen von Deutschen an Deutschen und an Staatenlosen. Die Besatzungsbehörden konnten jedoch deutsche Gerichte in einzelnen Fällen, in denen Deutsche Verbrechen an Bürgern der überfallenen Staaten begangen hatten, für zuständig erklären.2 Erst nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland war es der bundesdeutschen Justiz gemäß Gesetz Nr. 13 des Alliierten Hohen Kontrollrats (1.1.1950) ohne Einschränkung möglich, auch die NS-Untaten zu verfolgen, deren Opfer Angehörige der im Zweiten Weltkrieg von Nazi-Deutschland unterworfenen Länder waren. Anzuwenden war das zur Tatzeit geltende deutsche Strafrecht.

Von 1950 an bis zur Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen (ZSt) im Oktober 1958 haben deutsche Staatsanwaltschaften von Amts wegen jedoch bloß in wenigen Fällen gegen NS-Täter ermittelt. Lagen keine Anzeigen von Geschädigten und Verfolgten vor, blieben die Strafverfolger weitgehend untätig.3 Die hier aus den Gerichtsakten detailliert rekonstruierte Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses ist ein Beleg für diesen Befund. Die bundesdeutschen Verhältnisse Anfang der fünfziger Jahre4 waren für eine von Einzelnen durchaus geforderte justizielle Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht günstig. Die Entnazifizierung war abgeschlossen, aus ihren Ämtern entfernte Angehörige des öffentlichen Dienstes wurden gemäß dem »Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen«5 reintegriert. Die in Nürnberg verurteilten sogenannten Kriegsverbrecher waren infolge des ausgebrochenen »Gnadenfiebers«6 und auf deutschen Druck hin von den Alliierten vorzeitig aus der Haft entlassen worden. Nach Ansicht vieler Deutscher war endlich die Zeit gekommen, einen »Schlussstrich« unter die jüngste Vergangenheit zu ziehen, zumal sich die Bundesrepublik Deutschland als willkommenes Mitglied der »freien Welt« ganz anderen Aufgaben zu stellen hatte.

Der Prozess gegen Martin Sommer vor dem Landgericht Bayreuth (11.6.1958 – 3.7.1958)7, die Flucht des ehemaligen KZ-Arztes Hans Eisele sowie das Verfahren vor dem Schwurgericht Ulm/Donau gegen zehn ehemalige Angehörige der Geheimen Staatspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) Tilsit (28.4.1958 – 29.8.1958)8 verdeutlichten den Verantwortlichen in Bonn, der westdeutschen Justiz und der Öffentlichkeit, dass die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht länger zu verdrängen waren9, und die Ahndung durch die Prozesse der Alliierten und die wenigen Verfahren vor deutschen Gerichten10 noch längst nicht abgeschlossen war.

Anfang Oktober 1958 berieten auf einer Konferenz in Bad Harzburg die Justizminister und -senatoren der deutschen Bundesländer11 über notwendige rechtspolitische Schritte, die NS-Verbrechen umfassend aufzuklären. Der vorherrschenden Meinung in der Bevölkerung zuwider, die die Verfolgung und Bestrafung der Täter, die größtenteils unter ihr als unauffällige, anerkannte und geschätzte Bürger lebten, ablehnte, von »Nestbeschmutzung« sprach und die Vergangenheit für erledigt hielt, schlossen die zuständigen Minister und Senatoren eine Verwaltungsvereinbarung über die Errichtung der Zentralen Stelle, die 1958 in Ludwigsburg eingerichtet wurde. Von den Ländern abgeordnete Richter und Staatsanwälte sollten von Amts wegen die von den nationalsozialistischen Gewaltherrschern im Ausland in den Jahren 1939 bis 1945 begangenen Verbrechen restlos erfassen.12 Sobald die Vorermittlungen hinreichende Ergebnisse erbracht hatten, waren die Verfahren an die jeweils zuständigen Staatsanwaltschaften zur weiteren Durchführung der Strafverfolgung und zur Anklageerhebung abzugeben. Die Zentrale Stelle begann ihre Arbeit am 1. Dezember 1958 und stellte nach den Worten ihres ersten Leiters, Oberstaatsanwalt (fortan: OStA) Erwin Schüle (1913 – 1993), »ein absolutes Novum in der deutschen Rechtsgeschichte«13 dar.

Die bereits im Frühjahr 1958 beginnende Vorgeschichte des 1. Frankfurter Auschwitz-Prozesses belegt eindringlich, dass ohne die unermüdliche Initiative von überlebenden Opfern und ohne das Engagement streitbarer Juristen die strafrechtliche Sühne der NS-Verbrechen durch die bundesdeutsche Justiz nicht in Gang gekommen wäre. Überlebende meldeten sich, forschten nach dem Verbleib von Tätern, trugen Namen und Anschriften zusammen, tauschten Informationen aus und sammelten Belastungsmaterial. Beherzte Juristen, dem Recht und der Gerechtigkeit verpflichtet, schufen in Zusammenarbeit mit Politikern, die sich ihrer historischen Verantwortung bewusst waren, die rechtspolitischen Voraussetzungen und leiteten umfassende Ermittlungen ein, um bislang unerforschte Tatkomplexe aufzuklären und die strafrechtliche Schuld der an Massenverbrechen Beteiligten zu beweisen. Den Initiatoren der Verfahren war es ein wichtiges Anliegen, im Rahmen von Strafprozessen gegen NS-Täter Aufklärung über die Vergangenheit zu betreiben und damit auch einen Beitrag zur politischen Bildung und zum Geschichtsverständnis zu erbringen. Durch die NS-Verfahren in den 1960er Jahren klärte die deutsche Strafjustiz über den Mord an den europäischen Juden auf. Das geschah in Form der Anklageschriften und der Schwurgerichtsurteile, die allesamt ausführliche, quellengestützte allgemeine, historische Darstellungen enthielten, und durch in Auftrag gegebene historische Gutachten.14 So leistete sie aufgrund der in der Beweisaufnahme erbrachten Erkenntnisse eine umfassende Aufklärung, die die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland versäumt hatte.

Bei der Darstellung der sechs Frankfurter Auschwitz-Prozesse sowie weiterer wichtiger Ermittlungsverfahren bleibt die umfangreiche Ermittlungssache gegen den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, die erst mit der amtlichen Feststellung seines Todes (1979) in den 1980er Jahren eingestellt worden war, unberücksichtigt.

Die Ermittlungen der Frankfurter Justiz gegen Auschwitz-Täter begannen Ende der fünfziger Jahre.15 Der große Frankfurter Auschwitz-Prozess gegen 20 Angeklagte und die fünf kleinen Nachfolgeprozesse gegen insgesamt zehn Angeklagte zeigen deutlich, dass trotz aller Anstrengungen der Staatsanwaltschaft die Überführung der Angeklagten nicht immer möglich war. Die Gründe für das partielle Scheitern der Justiz, die NS-Verbrechen viele Jahre nach dem Tatgeschehen angemessen zu sühnen, werden in diesem Buch aufgezeigt.

Von den Tausenden von Auschwitz-Tätern16 wurde etwa ein Zehntel strafrechtlich belangt. Hervorzuheben sind der Prozess gegen den Kommandanten Rudolf Höß vor dem Obersten Gerichtshof der Volksrepublik Polen in Warschau (11.3. – 2.4.1947) und das Verfahren gegen 40 SS-Männer und Frauen in Krakau (24.11. – 16.12.1947). Höß und 21 Angeklagte des Krakauer Prozesses wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet17. Weitere rund 600 Auschwitz-Täter verurteilten polnische Gerichte zu Freiheitsstrafen unter zehn Jahren.

Auch vor amerikanischen, britischen, französischen und sowjetischen Militärtribunalen standen vormalige Angehörige des SS-Personals von Auschwitz. Angeklagt waren sie aber meist wegen Verbrechen, die sie in anderen Lagern begangen hatten. Zu nennen ist der 1. Bergen-Belsen-Prozess vor einem britischen Militärgericht in Lüneburg (17.9. – 17.11.1945).18 Unter anderen wurden der ehemalige Auschwitz-Kommandant Josef Kramer, der Schutzhaftlagerführer Franz Hössler, der SS-Arzt Fritz Klein, die SS-Oberaufseherin Elisabeth Volkenrath und die SS-Aufseherin Irma Grese zum Tode verurteilt und hingerichtet.19 Weiter der 2. Bergen-Belsen-Prozess (16.5. – 22.5.1946), in dem gegen den vormaligen Krematoriumsleiter Walter Quakernack die Todesstrafe verhängt wurde. Im Hamburger Ravensbrück-Prozess verurteilte ein britisches Militärgericht den Kommandanten Johann Schwarzhuber zum Tode. Der Schutzhaftlagerführer von Buna/Monowitz Vinzenz Schöttl, der zeitweilige Chef der Krematorien in Auschwitz-Birkenau Otto Moll und der Lagerarzt Hellmuth Vetter wurden im 1. Dachauer-Prozess (15.11. – 13.12.1945) von einem amerikanischen Militärgericht20 zum Tode verurteilt und in Landsberg Ende Mai 1946 gehängt. Im Neuengamme-Prozess in Hamburg (18.3. – 3.5.1946) verhängte ein britisches Militärgericht gegen den vormaligen SS-Arzt Bruno Kitt die Todesstrafe. Der SS-Arzt Friedrich Entress wurde von einem amerikanischen Militärgericht im Mauthausen-Prozess im Mai 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Vor bundesdeutschen Gerichten21 standen bis zum Jahr 1963 zum Beispiel der ehemalige Rapportführer des Lagers Buna/Monowitz, SS-Hauptscharführer Bernhard Rakers (LG Osnabrück, 1952 – 1953, 1958, 1959)22, SS-Oberscharführer Johann Mirbeth (zusammen mit den ehemaligen Auschwitz-Häftlingen Helmrich Heilmann und Joseph Kierspel, LG Bremen, 1953)23, die vormaligen Auschwitz-Häftlinge Erich Tabbert (LG Osnabrück, 1953)24 und Otto Locke (LG Berlin, 1957)25 sowie Gerhard Herdel (LG Göttingen, 1953)26, SS-Obersturmführer Wilhelm Reischenbeck (LG München I, 1958)27 und der ehemalige SS-Arzt Johann Paul Kremer (LG Münster, 1960).28 Rakers wurde wegen in Sachsenhausen und Auschwitz verübten Straftaten zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, Mirbeth und Heilmann zu sechs Jahren sowie Kierspel zu lebenslangem Zuchthaus. Ihre Straftaten hatten die Angeklagten im Nebenlager Golleschau begangen. Tabbert, seit 1942 Häftling in Auschwitz, wurde vom Vorwurf des Mordes und des Mordversuchs freigesprochen. Herdel, Ende 1944 unter anderem Kommando- und Rapportführer im Lager Buna/Monowitz, erhielt wegen Totschlagversuchs in zwei Fällen ein Jahr Gefängnis. Locke, von August 1940 bis zu seiner Meldung zur SS-Einheit Dirlewanger im Juli 1944 Funktionshäftling in Auschwitz, Häftlings-Nr. 3227, wurde wegen Mordes in sieben Fällen zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Reischenbeck, seit Herbst 1944 Führer von Wachkompanien, wurde für schuldig befunden, auf Todesmärschen Beihilfe zum Totschlag geleistet zu haben. Sein Strafmaß betrug zehn Jahre Zuchthaus. Der ehemalige SS-Arzt Kremer, von Ende August 1942 bis Mitte November 1942 in Auschwitz als Lagerarzt29 tätig, wurde wegen Beihilfe zum Mord in zwei Fällen zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die erkannte Strafe galt durch die in Polen bis 1958 abgesessene Strafe als verbüßt. Kremer war im Krakauer Prozess gegen Liebehenschel u.a. zum Tode verurteilt, später aber begnadigt und 1958 entlassen worden.

Auschwitz vor Gericht

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