Читать книгу Alexander von Humboldts Messtechnik - Werner Richter Manfred Engshuber - Страница 8
1. Einführung 1.1. Wissenschaft und Technik um 1800
ОглавлениеDer Zeitraum ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis weit in das neunzehnte Jahrhundert hinein war geprägt von Veränderungen in der Gesellschaft, deren Abfolge und Wirkungsbreite im wahren Wortsinne nachhaltig gewesen ist. Solche Veränderungen werden berechtigt als Revolutionen bezeichnet, seien es die Französische Revolution, die bürgerlichen Revolutionen in anderen Ländern oder die Industrielle Revolution. Derart große gesellschaftliche Umwälzungen blieben verständlicherweise nicht ohne Auswirkungen auf Wissenschaft und Technik. So befand sich die Produktion materieller Güter ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenfalls in einer revolutionären Umbruchphase. Der Übergang von der überwiegend manuellen Fertigung in Manufakturen, die in Handarbeit Luxus- und Konsumgüter (Gobelins, Porzellan, Glaswaren, Nähnadeln, Lederwaren, Waffen) herstellten, hin zur maschinengestützten Serienproduktion ist ein wesentliches Kennzeichen der Industriellen Revolution. Weitere und nicht weniger bedeutende Aspekte sind neben der Umwälzung der sozialen Verhältnisse die radikalen Veränderungen der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumgebungen in bis dahin nicht bekanntem Umfang.
Mechanische Energie aus dem Betrieb von Wasser- und Windmühlen wurde zwar genutzt, war aber standortgebunden, und die Dauerleistung von Menschen und Tieren als mobil einsetzbare animalische Energielieferanten hatte enge Grenzen. Langzeitig kann der Mensch mechanisch nur etwa 100 Watt leisten1. In den englischen Kohlegruben z. B. dienten unter Tage Pferde als Zugtiere zum Kohletransport. Pferde können etwa die fünffache Menge an Arbeit des Menschen verrichten, benötigen dazu aber auch etwa die fünffache Menge an Nahrungsenergie2. Bei steigender Kohleförderung wäre also bald die gesamte verfügbare landwirtschaftliche Nutzfläche nötig gewesen, nur um die eingesetzten Zugtiere ernähren und damit die Kohleförderung steigern zu können. Die Umwandlung eines vorhandenen fossilen Energieträgers (Steinkohle und auch Holz) in mechanische Energie war also eine Art Zwangsbedingung für eine quantitative und qualitative materielle Entwicklung. Erst die Verbrennung von Kohle zur Dampferzeugung und deren Umsetzung in mechanische Arbeit mit Hilfe der Dampfmaschine ermöglichte eine maschinelle Großproduktion3. Zusätzlich begünstigt wurde das durch Transportmöglichkeiten größerer Massen auf dem Wasserweg, was eine rein ortsgebundene Nutzung von Energie weitgehend ersetzen konnte.
Diese durch eine neu erschlossene Energiequelle provozierten Wandlungsprozesse fanden schnell ihren Niederschlag in den Naturwissenschaften, in der Philosophie und in der Ökonomie. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden mit der industriellen Entwicklung neue Erkenntnisfelder, neue Theorien und neue Berufsgruppen. Eine großtechnisch betriebene Energieumwandlung erforderte Fachkenntnisse über thermische Umwandlungsprozesse und eine verlässliche Berechenbarkeit von Konstruktionsteilen. Beide Bereiche bedingten einander, denn tragische Unfälle bei Dampfkessel-Explosionen erforderten eine theoretische Durchdringung der Ursachen und Auswirkungen, und durch verbesserte Theorien wuchsen zugleich die Effizienz von Prozessen und die Sicherheit von Produkten.
Die einsetzende industrielle Produktion benötigte also Fachleute, die eine Verbindung von mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnissen beherrschten und diese anwenden konnten. Solche Ingenieure4 wurde erstmalig in Frankreich an der École polytechnique ausgebildet. Dort lehrten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts berühmte Wissenschaftler wie Pierre-Simon Laplace, Joseph-louis Lagrange, Siméon Denis Poisson und Augustin-louise Cauchy, mit deren Namen viele für den Ingenieur selbstverständliche Gesetzmäßigkeiten und Formeln verknüpft sind. Ein typisches Beispiel dafür ist die sog. Laplace-Transformation, mit der reelle Funktionen aus dem Zeitbereich in den komplexen Frequenzbereich überführt und auf diese Weise elegant lösbar gemacht werden. Die rein statische Betrachtungsweise technischer Vorgänge ließ sich also mit Hilfe der Infinitesimalrechnung auf zeitabhängige Größen ausdehnen. Die Ingenieurwissenschaften erlangten durch die Verbindung von Theorie und Praxis ihre zunehmende Selbstständigkeit5.
Weniger beeinflusst von großtechnischen Prozessen blieb ein eher elitärer Berufszweig. Nur in wenigen Orten in Europa gab es Werkstätten, die in der Lage waren, Messinstrumente für die naturwissenschaftliche Forschung herzustellen. Meistens standen sie in direkter oder indirekter Verbindung mit universitären Laboratorien oder privaten Forschern. Bedurfte es schon erheblicher technologischer Kenntnisse und handwerklicher Fertigkeiten, um Behausungen, Bekleidung, Werkzeuge und Waffen und nicht zuletzt Schmuck für die Obrigkeiten herzustellen, so erforderte die Herstellung von Geräten zur Zeitbestimmung, der Gestirnbeobachtung und für den Warenaustausch materieller Güter spezielle Materialkenntnisse und vor allem ganz spezielle Fertigkeiten6. Dafür eingesetzte Materialien waren neben Glas und Silber vorwiegend Messing. Dessen Korrosionsbeständigkeit und die gegenüber Eisen leichtere mechanische Bearbeitung waren entscheidende Gründe für seine Verwendbarkeit.
Historisch betrachtet ist ein solcher Berufszweig „Instrumentenbauer“ aber uralt: bereits 6000 B.C. beherrschten die Sumerer das Löten bei der Fertigung von Goldschmuck, und die Archäologie kennt aus der Vorzeit eine Fülle von Werkzeug-Fundstücken zum Sägen, Schleifen oder Bohren von Knochen, Holz oder Stein und wenig später auch von Kupfer, Bronze und Eisen. Gleichermaßen erforderte die Beobachtung der Gestirne und von anderen Naturerscheinungen Gerätschaften zur Bestimmung von Zeiten, Längen und Winkeln7. Ohne solche Hilfsmittel wären etwa Claudius Ptolemäus oder Eratosthenes von Kyrene nicht zu ihren Erkenntnissen gekommen.
Wie kurz skizziert, waren weittragende Umwälzungen in Wissenschaft und Gesellschaft die wesentlichen Kennzeichen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Physik war so weit fortgeschritten, dass ein mechanistisches Menschenbild (siehe Abschnitt 5.1) kursieren konnte, und die Astronomie hatte ihrerseits das heliozentrische Weltbild gefestigt. Die wissenschaftlich-empirische Chemie hatte ihr alchimistisches Image teilweise abgestreift und war praktizierter Alltag in jedem Laboratorium. Zur Beschreibung von chemischen Umsetzungen dominierten aber noch Fluidums-Theorien verschiedenster Art. Weit verbreitet war die Vorstellung, dass bei der Verbrennung ein hypothetisches Fluidum, das Caloricum (Wärmestoff) oder Phlogiston8, entweichen und bei Abkühlung wieder in die Substanz eindringen könne. Ähnlich dazu gab es viele Vorstellungen, dass irgendein Fluidum für Stoffänderungen oder Phasenübergänge verantwortlich sei, welches nur noch nicht zu bestimmen war. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die langjährige Beschäftigung des Schweizer Meteorologen und Glaziologen Jean-André Deluc mit dem Schmelzen von Gletschern, der Regenbildung und der Entstehung von Gewittern, für die ein „fortleitendes“ und ein „elektrisches“ Fluidum maßgebend seien (siehe Abschnitt 6.1). Andere Forscher postulierten für die Gravitation ein „schweremachendes“ Fluidum.
Derartige Unsicherheiten in der Bewertung von Stoffänderungen bei thermischen Einflüssen reichen bis weit in das 19. Jahrhundert und wurden erst durch einen umfassenden Energiebegriff beseitigt. Ausgehend vom Pendel hatten sich zwar schon viele Denker mit mechanischer Energie, so dem Zusammenhang zwischen potentieller und kinetischer Energie, befasst (Wilhelm Leibniz: „Erhaltung der Kraft“), aber noch 1800 sprach Thomas Young nur von mechanischer Energie – andere energetische Phänomene waren für ihn ohne Bezug dazu. Das also war das Umfeld9, und Brandt schreibt in [2, Seite 15], dass sich Humboldt erst spät in seinem großen Werk Kosmos sehr zögerlich und nur kurz damit befasst hatte.
Die neue Technik Dampfmaschine und deren zum Betrieb erforderlichen Dampferzeuger waren aber die treibende Kraft für weitgreifende Überlegungen zu den möglichen Energieformen, deren Umwandlungsmöglichkeiten und ihrer Äquivalenz. Der deutsche Arzt Robert Mayer formulierte 1842 den Energieerhaltungssatz: „Energie kann weder erzeugt noch vernichtet, sondern nur umgewandelt werden“10, und dem englischen Bierbrauer James Prescott Joule gelang 1850 der quantitative Nachweis des mechanischen Wärmeäquivalents11. Schließlich konnte gezeigt werden, dass mechanische, chemische (Josua Gibbs 1870) und Elektroenergie (Werner von Siemens 1882) einander äquivalent sind. Das aber waren Erkenntnisse, die erst nach Humboldts Lebzeiten zu Fundamentalsätzen von Naturwissenschaft und Technik wurden.
Ähnlich kontrovers verliefen die Diskussionen über die Entstehungsgeschichte der Erde. Angeregt durch seine Studien bei Abraham Gottlob Werner in Freiberg, war Humboldt anfänglich noch Neptunist12. Erst durch seine Erkenntnisse auf der Südamerikareise schwenkte er endgültig zu den Plutonisten über [5, S. 101]. Weiter ist zu bedenken, dass man, durch den Bergbau befördert, im 18. Jahrhundert schon viele Mineralien kannte. Aber noch im Jahr 1800 waren erst 32 der 92 natürlichen Elemente nachgewiesen, und es waren noch längst nicht alle physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser Elemente bekannt. Auch die Analysemethoden dafür waren mehr Empirie als Wissenschaft, denn erst mit Martin Heinrich Klaproth (1743 – 1817) setzte sich die gravimetrische Analyse (exakte Wägung der Reaktionsprodukte) allmählich durch.
Generalisierend kann gesagt werden, dass Alexander von Humboldt in einer Epoche großer gesellschaftlicher Umwälzungen lebte und wirkte [24]. Seine beiden großen Reisen nach Südamerika und Russland finden in jener Zeit statt, und sein Interesse war vordringlich auf eine physische Weltbeschreibung, wie er es nannte, gerichtet. Technologische Umwälzungen in der produzierenden Wirtschaft gab es seinerzeit erst in wenigen Ländern, und das vor allem in der englischen Textiltechnik und im Maschinenbau. Humboldt hat diese Entwicklungen sicher zur Kenntnis genommen, Wechselwirkungen mit seiner forschenden Tätigkeit betrafen aber eher die Geologie13 und die Erkundung von Rohstoffen, ganz speziell auf seiner Russlandreise [3].
Bemerkenswert ist aus heutiger Sicht die damals offenbar noch weitgehend unkompliziert funktionierende Kommunikation zwischen Wissenschaftlern verschiedener Länder. Obwohl es weittragende kriegerische Auseinandersetzungen gab und oft das Wohlwollen der jeweiligen Territorialfürsten fördernd oder bremsend wirkte, konnte über die Grenzen hinweg kommuniziert werden und Kollegen im In- und Ausland bekamen offenbar recht schnell neue Informationen. Immerhin wurde mit den damals verfügbaren Kommunikationsmitteln eine Entdeckung von physikalisch-chemischen Zusammenhängen erstaunlich vielen Partnern innerhalb weniger Jahre bekannt. Derartige Bezüge zur damaligen naturwissenschaftlichen und technischen Welt bilden somit ein Umfeld für die „explorative Neugier“ [2] und das Wissenschaftsverständnis der Naturforschers Alexander von Humboldt einschließlich seiner ethnologischen Forschungen und zoologischen und botanischen Erkundungen14.
Es darf vermutet werden, dass eine wirtschaftliche Nutzung und der Erwerb von Schutzrechten, die damals eher von territorialer Reichweite waren, weniger im Vordergrund standen15. Vielleicht erschien auch manchem Gelehrten eine industrielle Verwertung in großem Umfang als noch sekundär oder sogar außerhalb seines Interesses16 - primär dominierten für manche wohl eher die wissenschaftlichen Fragestellungen17.
In den folgenden Kapiteln wird der historische Hintergrund der jeweiligen Fachgebiete mit einbezogen. Das gilt speziell für den Messvorgang: Der alte Lehrsatz Messen heißt Vergleichen betont zwar den Vergleichsaspekt beim Messen, beantwortet aber nicht die Fragen „wie messen?“ und „womit?“. Die Antworten sind ebenso vielgestaltig wie problembehaftet, und sie werden uns weitgehend beschäftigen. Wir folgen dabei gern der Feststellung von R.-R. Wuthenow im Vorwort zu [5]:
„(…)dass es um das(…)Faktum des exzessiven wie gewissenhaften Gebrauches geht, den der große Reisende von den damals neuesten und meist sehr teuren Instrumenten machte; die größte Genauigkeit bei Beobachtung und Messung war ihm eben nicht minder wichtig als die abenteuerliche Erfahrung der tropischen Welt des südlichen amerikanischen Halbkontinents“.