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§ 8 Geist und Migration, Reden an die Deutschen (New York, 1933–1945)
ОглавлениеAm 1. November 1933 landeten Paul und Hannah Tillich mit ihrer Tochter Erdmuthe in New York. Dass er für mehrere Jahre oder gar für immer in den USA bleiben würde, konnte er sich damals wohl noch nicht vorstellen. Er hoffte noch immer auf eine Wende zum Besseren in Deutschland, sogar noch auf eine Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit. Im Jahre 1934 freilich zeichnete sich ab, dass die Lage in Deutschland schlimmer wurde und dass er sich wohl für längere Zeit in den USA würde aufhalten müssen.
In einem „Offenen Brief“, im Jahre 1934 in den „Theologischen Blättern“ veröffentlicht, warf Tillich seinem alten Freund Emanuel Hirsch vor, die prophetisch-eschatologisch gedachte Kairos-Lehre in die „priesterlich-sakramentale Weihe eines gegenwärtigen Geschehens“ zu verkehren.17 Hirsch kenne nur ein „Obligatum“ für Volk, Staat, Kultur und Gesellschaft. Ein „Reservatum“ billige er nur dem Einzelnen und seinem persönlichen Verhältnis zu Gott zu, nicht aber der Kirche, der er einen „selbständigen geschichtlichen Ort“ bestreite. „Damit aber hebst Du sie auf, machst sie ohnmächtig gegenüber den Weltanschauungen oder Mythen, die den totalen Staat tragen.“ (E VI, 174)
Die Gastprofessur wurde um ein weiteres Jahr verlängert. Aus dem Gastprofessor wurde allmählich ein Emigrant. In seinem Vortrag über „Mind and Migration“, im Jahre 1937 vor der „New School for Social Research“ in New York gehalten (dt.: G XIII, 191–200), redet er nicht nur von Emigration, sondern von Abschiednehmen, Wandern, Pilgerschaft. Der Mensch, so Tillich, ist ein wanderndes Wesen, erst in der Fremde entdeckt er sich selbst. Schöpferischen Austausch verschiedener Kulturen und gegenseitige kulturelle Befruchtung gibt es nur durch ein „Zueinanderwandern“, durch Gegenseitigkeit und Gemeinschaft, das Erlebnis des Fremden auf beiden Seiten.
In seinem Aufsatz „What is wrong with the ‘Dialectical’ Theology“ von 1935 (dt.: G VII, 247–262) gibt er dem theologischen Publikum in Amerika Auskunft über sein Verhältnis zur Dialektischen Theologie Karl Barths. Tillich differenziert: Barth habe durch seine machtvolle Verkündigung der Gottheit Gottes die evangelische Kirche in Deutschland vor der Paganisierung gerettet. Dieses Positive sei wichtiger als alles Negative. „Das Negative aber ist, daß er – obwohl dialektischer Theologe genannt – nicht dialektisch denkt, sondern supranatural, und damit seinem eigenen Prinzip die volle Entfaltungsmöglichkeit nimmt.“ (G VII, 262) Barths Supranaturalismus mache die Offenbarung zu einem Fremdkörper. Er verkenne die Dialektik von Gegenwart und Nichtgegenwart des Reiches Gottes. „Dialektisch ist es, in der Religionsgeschichte Antworten, Irrtümer und Fragen zu finden, die auf die endgültige Antwort hinführen und ohne die die endgültige Antwort ein Ungefragtes, Unverstandenes und Fremdes bleiben müßte.“ (G VII, 257)
Seine erste selbständige Veröffentlichung in der Emigration ist eine unter dem Titel „The Interpretation of History“ 1936 erschienene Sammlung von Aufsätzen aus der Zeit vor 1933, die ins Englische übersetzt wurden. Ausgewählt wurden z.B. „Das Dämonische“ und „Christologie und Geschichtsdeutung“, aber kein Aufsatz mit religiös-sozialistischer Thematik. Die Sammlung wird durch eine 1935 geschriebene autobiographische Abhandlung „On the Boundary“ (dt.: G XII, 13–57) eingeleitet, eine Deutung seiner Existenz „auf der Grenze“ zwischen Gegensätzen. Der Begriff der Grenze, so führt er aus, sei geeignet, Symbol für seine persönliche und geistige Entwicklung zu sein. Fast auf jedem Gebiet sei es sein Schicksal gewesen, „zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine eine endgültige Entscheidung zu treffen“ (G XII, 13). So fruchtbar diese Haltung für das Denken sei („weil Denken Offenheit für neue Möglichkeiten voraussetzt“), so schwierig und gefährlich sei sie für das Leben, das ja ständig eindeutige Entscheidungen fordere. In der Tat gibt Tillich hier eine zutreffende Deutung seines Denkens und Lebens. Denn die Grenze ist ja einerseits eine Grenzlinie, die begrenzt, d.h. trennt. Sie ist aber auch die Linie, die verbindet, die Gegensätze und Widersprüche zusammenführt. Tillich sieht immer auch die Spannungen und die Gegensätze, aber das Entscheidende ist für ihn die unter der Oberfläche verborgene Synthese, also nicht das Entweder-Oder Kierkegaards.
Er sieht sich z.B. auf der Grenze von Theorie und Praxis, von Heteronomie und Autonomie, von Religion und Kultur, von Kirche und Gesellschaft, von Luthertum und Sozialismus, von Idealismus und Marxismus, von Heimat und Fremde. Auch Philosophie und Theologie, so unterschiedlich sie sind, berühren sich auf der Grenze, auf der er steht, ohne dass jeweils die eine in die andere aufgelöst wird.
Den Kollegen an der Columbia University erschien Tillich als „zu theologisch“, den Theologen am Union Theological Seminary umgekehrt als „zu philosophisch“. Gegen eine Berufung zum ordentlichen Professor für Philosophische Theologie am Union Theological Seminary hatten konservative Kollegen starke Bedenken. So wurde er erst im September 1940 zum Professor für Philosophische Theologie berufen. In seiner Antrittsvorlesung erläuterte er Begriff und Aufgabe philosophischer Theologie an einem theologischen Seminar (vgl. G V, 110–121). Voraussetzung der philosophischen Theologie ist der Gedanke, dass der Logos des Seins in Jesus dem Christus erschienen ist – gemäß dem Satz „Das Wort ward Fleisch“ (Joh. 1,14). Philosophische Theologie ist, wie Tillich betont, „eine ständig währende Arbeit, die von Jahrhundert zu Jahrhundert weitergeht, wie die Philosophie weitergeht und das Leben der Kirche weitergeht“. Das Ende dieser Art Theologie, dies ist seine Überzeugung, „würde das Ende des universalen Anspruchs der christlichen Kirche sein, das Ende der Botschaft, daß Jesus der Christus ist. Was als unser letztes existentielles Anliegen erschienen ist, ist zugleich als der Logos des Seins erschienen.“ (G V, 121)
Auf einer Protestversammlung gegen Hitlers Judenverfolgung („Reichspogromnacht“) in New York im Madison Square Garden am 21. November 1938 hielt Tillich eine Rede.18 Das Bemühen des Nationalsozialismus, „das Judentum auszurotten“, sei, so Tillich, im tiefsten Sinn auf die Vernichtung des Christentums gerichtet. Es handle sich hier um ein religiöses Problem, um einen „dämonischen Kampf gegen den Gott Abrahams und der Propheten“, der auch der Gott Jesu sei. Die lutherischen Kirchen in Deutschland rief er zu einer eindeutigen „Entscheidung im Geiste Martin Luthers“ auf. Dieser Geist lebe heute nicht in denen, die immer nur Kompromisse schließen, sondern in einem so kompromisslosen Mann wie Martin Niemöller.
Vom März 1942 bis zum Mai 1944 wandte sich Tillich in 109 Rundfunkreden über die Voice of America an die Deutschen.19 Seines „Vorgängers“ Fichte und dessen Berliner „Reden an die Deutsche Nation“ war er sich sicher bewusst. „Meine deutschen Freunde!“, so sprach er seine Hörer an, verbindlicher als Thomas Mann, der in seinen zwischen 1940 und 1945 über den BBC London ausgestrahlten Reden die distanzierte Anrede „Deutsche Hörer!“ wählte. Thomas Manns Reden sind voller Verachtung und Hass, die Sprache ist scharf, prägnant und kalt. Tillich spricht von einem Deutschland, das „nie weniger deutsch“ gewesen sei als heute, „wo ihm auf blutigen Altären Anbetung und Opfer gebracht werden“. Es könne keine „deutsche Zukunft“ geben, so heißt es weiter, „wenn Deutschland nicht zu sich selbst zurückfindet, wenn es nicht das Verzerrte, Undeutsche, Unmenschliche des Nationalsozialismus ausstößt, wie wenn ein gesunder Leib verderbliche Fremdkörper ausstößt“ (E III, 168). Der Nationalsozialismus – ein „Fremdkörper“, Verkörperung des Undeutschen!
Tillichs Vorstellungen über Deutschlands Zukunft im Rahmen einer neuen europäischen Ordnung begegnen wir in dem „Council for a Democratic Germany“.20 Als immer mehr Tatsachen über die Konzentrationslager der Nazis in der Welt bekannt wurden und die Niederlage Hitlers sich abzeichnete, sprach man von bedingungsloser Kapitulation Deutschlands, von Gebietsabtretungen und Zerstückelung und von der Demontage seiner Industrie. Tillich und andere Emigranten fürchteten, dass solche Stimmen des Hasses und der Rache einen gerechten und dauerhaften Frieden für Deutschland und einen Wiederaufbau Europas verhindern. Das führte zur Gründung eines Ausschusses deutscher Emigranten verschiedener politischer Richtungen.21 Der Wunschkandidat aller für den Vorsitz war Thomas Mann. Doch dieser lehnte ab, verweigerte seine Mitarbeit und sprach von „Emigrantenpatriotismus“ und „patriotischer Mode unter den deutschen Links-Sozialisten“. Er hielt es nicht für angebracht, Amerika Ratschläge zu erteilen, wie es das erst noch niederzuwerfende Deutschland später behandeln sollte, und darauf zu bestehen, dass Deutschland „nichts geschehen“ dürfe.
Bert Brecht versuchte, Tillich als Vorsitzenden des Komitees zu gewinnen. Tillich schien die politische „Balance“ zu garantieren. Er ließ sich von Brecht überreden und übernahm die Leitung des Komitees, das sich am 3. Mai 1944 als „Council for a Democratic Germany“ mit einer von Tillich formulierten Deklaration der Öffentlichkeit vorstellte (vgl. M III, 507–512). In ihr wurde eine gerechte Lösung der deutschen Frage im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems gefordert. Eine „Versklavung Deutschlands“ wurde abgelehnt.
Der Council konnte sich jedoch auf kein gemeinsames Ziel einigen. Nach heftigen Auseinandersetzungen über die Abkommen von Jalta und Potsdam brach er auseinander, im Herbst 1945 löste er sich auf. Die amerikanische Regierung hatte ihn von vornherein nicht ernst genommen. Die Forderung der Alliierten nach einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands schloss Verhandlungen mit dem „anderen Deutschland“ aus. Enttäuschend war für Tillich auch ein Gespräch mit Präsident Roosevelt im Jahre 1944. Zwar konnte er seine Ansichten über den Neuaufbau Deutschlands vortragen. Roosevelt jedoch erwiderte ihm, dass die USA anders als nach dem Ersten Weltkrieg die Sache in der Hand behalten würden und dass Deutschland sich dem Diktat der Sieger unterwerfen müsse. Die Arbeit des Council war also von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Für ein politisches Engagement für Deutschland gab es keine Basis.
Seit 1933 hat sich Tillichs philosophisches und theologisches Denken mehr und mehr vom (religiösen) Sozialismus auf die Anthropologie und Philosophie der Existenz verlagert. In Sozialismus und Philosophie der Existenz sieht er Bewegungen, die gemeinsam gegen die Verdinglichung des Menschen und die Rationalität der westlichen Industriegesellschaft kämpfen. Dem amerikanischen Publikum, das weder für den Sozialismus noch für die deutsche Existenzphilosophie Sympathien hatte, stellte er im Jahre 1944 in dem Aufsatz „Existential Philosophy“ (vgl. M I, 353–380, dt.: G IV, 145–173) eine Zusammenschau beider Bewegungen vor. Thomas Mann, dem er den Aufsatz als „Beitrag zur tragischen Geschichte des deutschen Geistes“ zusandte, erhob in seiner Antwort an Tillich22 heftigen Protest gegen dessen Würdigung der Existenzphilosophie, insbesondere Heideggers. Er konnte in ihr nur Fortschrittsfeindlichkeit und Irrationalismus sehen und verwies dabei auf seinen Deutschlandroman „Doktor Faustus“, an dem er gerade arbeitete.
17 „Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage“ (E VI, 142–175). Der Offene Brief ist eine Antwort auf Emanuel Hirschs Schrift „Die gegenwärtige geistige Lage im Spiegel philosophischer und theologischer Besinnung. Akademische Vorlesungen zum Verständnis des deutschen Jahres 1933“, Göttingen 1934.
18 German Americans Take Stand For Democracy Against Nazis, in: Deutsches Volksecho – German People’s Echo, New York, Vol. 2, No. 48, 1938, 1–2, überarbeitet unter dem Titel: The Meaning of Antisemitism, in: Radical Religion, Vol. 4, 1938, 34–36, dt.: Die Bedeutung des Antisemitismus, in: G XIII, 216–220.
19 Vgl. E III: An meine deutschen Freunde. Politische Reden Paul Tillichs während des Zweiten Weltkrieges über die „Stimme Amerikas“, hg. von K. Schäfer-Kretzler, Stuttgart 1973. Vgl. dazu M.Wolbold, Reden über Deutschland. Die Rundfunkreden Thomas Manns, Paul Tillichs und Sir Robert Vansittarts aus dem Zweiten Weltkrieg (= Tillich-Studien, hg. von W. Schüßler u. E. Sturm, Bd. 17), Münster 2005.
20 Vgl. P. Liebner, Paul Tillich und der Council for a Democratic Germany (1933 bis 1945), Frankfurt/M. 2001.
21 Herbert Lehnert, Bert Brecht und Thomas Mann im Streit über Deutschland, in: J. M. Spalek/J. Strelka (Hg.), Deutsche Exilliteratur seit 1933, Bd. 1: Kalifornien. Teil I, Bern/München 1976, 62–88; E. Bahr, Paul Tillich und das Problem einer deutschen Exilregierung in den Vereinigten Staaten, in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 3, München 1985, 31–42.
22 Thomas Mann an Paul Tillich, 13. 4. 1944, erstmals veröffentl. in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. 6. 2002, S. 45. Vgl. dazu E. Sturm., Schrecklicher Heidegger! Zwei unbekannte Briefe Thomas Manns an Paul Tillich, ebd.