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Eva-Maria

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Kein Ziel? Wo kommen Sie denn her? Aus Bayern? Und was suchen Sie ausgerechnet hier? Bayern, das ist von hier aus gesehen doch ein ganz anderer Kontinent.

Ja, von Bayern aus wandert man nach Rom. Oder den Jacobsweg entlang nach Santiago de Compostela. Oder man fährt mit dem Radl nach Wien. „Ich wollte was ganz, ganz anderes machen. Kein Mainstream, wie man das nennt!“

„M a i n s t r e a m?“ Sie lässt das Wort wie Brei auf der Zunge zerlaufen. „Und wo kommen Sie heute her?“

„Von Elsbeth. Eine Witwe. Eine alte Frau. Ich hatte mich nur auf die Bank vor ihrem kleinen Häuschen gesetzt. Da kam sie raus und hat mich mit ihrer Gastfreundschaft eingehüllt wie mit einer warmen Decke. Ich musste bleiben. Sie war so glücklich, jemanden zu haben, der ihr zuhört, für den sie Kaffee kochen kann und den Tisch decken. Und beim Abschied gab es Tränen.“

„Da kann ich Ihnen noch tausend Witwen nennen. Die ganze Gegend hier ist doch ein einziger Witwenwald. Die Männer sind tot oder abgehauen. Die Kinder sind im Westen, vielleicht sogar ab nach Amerika, Australien. Neuseeland ist sehr beliebt. Zurück bleiben die alten Mütterchen. Sie hüten noch das Haus, versorgen den Garten, schauen Fernsehen. Und warten auf den Tod oder einen Wanderer.“

„Und was machen Sie, wenn Sie nicht Samariterin spielen?“

„Dasselbe wie Sie! Ich bin Psychotherapeutin. Ambulant. Besuche alte oder auch junge Frauen, die in ihrer Einsamkeit glauben, verrückt zu werden. Das muss man hier. Wenn man nicht sieht, wie sie wohnen, sieht man auch nicht in ihre Seelen. In Bayern, wo Sie herkommen, hat man eine Praxis. Da kommen die Patienten hin. Angsttherapie - läuft dort gut. Auch Essstörungen. Mobbing durch den Chef oder Partner. Hier wären sie froh, wenn es jemanden gäbe, der sie wenigstens mobbt. Jemand, der zuhört. Jemand, für den sie die Sammeltassen aus dem Buffet kramen können. Besser als Sie kann ich das auch nicht machen. Aber danach fällt Elsbeth tief. Haben Sie ihre Adresse? Dann schreiben Sie Ihr. Bald. Schicken Sie ihr was, woran sie sich festhalten kann. Das stellt sie dann auf einen kleinen Altar. Ohnehin wird sie bald glauben, Jesus Christus sei bei ihr vorbei gekommen. Leibhaftig. Und was machen Sie eigentlich?“

„Ich schreibe. Journalist. Und gelegentlich ein Buch. Was mir so einfällt.“

„Über Elsbeth? Und den Witwenwald?“

„Vielleicht.“

Sie hielt vor einem zweistöckigen Haus in einem größeren, etwas ausgefransten Ort mit vergammeltem Gewerbegebiet. Flache, rostzerfressene Fabrikhallen mit eingeschlagenen Scheiben. Der Regen hatte aufgehört. „Warten Sie hier, ich fahre nur noch das Auto in die Garage.“ Warten? Nicht wandern?

„Ich kann doch hier einen Gasthof suchen!“

„Das Geld können Sie sich sparen. Wenn morgen die Sonne scheint, können Sie immer noch weiter tippeln und Witwen beglücken. Heute abend machen wir es uns gemütlich. Wann habe ich schon mal einen Schriftsteller zu Gast? Aus einen anderen Kontinent?“

„Warum erwähnen Sie immer den anderen Kontinent?“

„Ihr habt noch intakte Städte und Dörfer. Buslinien. Genügend Kinder für Schulen. Eine Kirche im Dorf, in die sogar noch jemand hineingeht. Die aber auch sonst Menschen um sich schart. Das ist wichtiger als die im Ritus erstarrte Messe. Senioren. Kindergarten. Kultur. Die Landschaft lädt ein. Hier macht sie Menschen depressiv. Die Wälder sind dunkel. Es gibt keine Hoffnung. Keine Vision. Fremdenverkehr? Geschenkt! Wir können mit keiner Region mithalten. Wir können von Glück sagen, dass Araberfamilien uns noch nicht entdeckt haben. Hier gibt es Häuser fast geschenkt. Wenn die Witwen sterben und die Erben sich nicht mehr um das alte Gemäuer kümmern wollen, verkaufen sie’s um jeden Preis. Fünfzehntausend für ein Haus mit Garten. Nur weg damit. Dann verfällt’s oder ein Rentnerpaar erliegt der Verlockung, hier einen idyllischen Lebensabend in guter Luft verbringen zu wollen. Sie renovieren – und ziehen dann bald wieder weg. Lieber schlechte Luft und Lärm, aber Leben ringsum. Wenigstens das Dach ist dann neu gedeckt; dann können die mit dem undichten Dach dorthin umsiedeln. Ich bin ja auch sowas wie eine Immobilien-Maklerin. Weil ich die Witwen kenne, weiß ich, wo bald was frei wird.“

„Und die Männer?“

Eva-Maria K., die Psychofrau mit Immobilien hatte einen Merlot 2008 entkorkt. Der Rucksack lag unter der Garderobe, neben den Wanderschuhen. Der nasse Umhang trocknete im Bad. Eine Sitzgruppe aus hellbeigen Ledersesseln und eine dazu passende Couch. Glastischchen mit einer Schale aus Nussbaumholz. Salzmandeln.

„Die Männer hocken zusammen. In der Kneipe, im Sportvereinshaus, an der Tankstelle. Da vor allem. Alles rund ums Motorrad. Motorrad ist männlich. Das ist wichtig für die. Alles, was männlich ist. Lederkluft. Tätowieren. Bloß keine Weiber - höchstens eine scharfe Schnalle als Statussymbol. Auto ist weiblich. Die richtige Familie gibt es ja nicht mehr. Keine Kinder - keine Familie. Das Motorrad ist heute, was früher der Tresen war: Da versickert das Geld. Versickern? Wie heißt die Steigerung von Versickern? Eigentlich muss es eine Harley sein. Oder wenigstens kurz darunter. Auch wenn man sich verschuldet. Jedes Wochenende eine weite Tour. Kurz mal nach Bayern und retour. Manchmal auch im Leichenwagen. Die riskieren zuviel.“

„Und du? Kein Mann? Keine Kinder? Hier ganz allein?“ Er schaute sie an. Jetzt erst bewusst. Ihre etwas strubbeligen blonden, blondierten Haare. Ihre dunkelbraunen Augen und die schmalen blassen Lippen. Rollpullover, eierschalenfarben. Dünnes Goldkettchen. Mit einem E dran.

„Otto hat sich umgebracht. Er hat das alles nicht verkraftet. SED-Kreisleiter, Kombinats-Direktor. Wiedervereinigung. Bude zu. Hämische Blicke von allen Seiten. Arbeitslos. Mit einer Intellektuellen verheiratet, die in gewisser Hinsicht den Dreck zusammenkehren muss, den die DDR zurückgelassen hat - und den der Westen noch darüber angehäuft hat. Es war ja nicht alles schlecht, bis man den Verlockungen der BRD erlag.“

„Und jetzt?“

„Wir wissen es nicht. Keiner weiß es. Fremdenverkehr? Konzentriert sich auf ganz wenige Städte. Die saugen das Wenige auf. Draußen ist die Infrastruktur kaputt. Gasthöfe - dünn gesät, mit versifften Tapeten. Lohnt auch nicht. Kannst mich morgen begleiten. Dann zeige ich dir was vom Thüringer Wald, der einmal das Ferienparadies der Berliner war, als Hitler die erste Autobahn von Berlin nach München gebaut hatte. Und jetzt? Freie Fahrt zum Mittelmeer!“

Sie gingen zum Chinesen, weil Eva-Maria zu wenig im Kühlschrank hatte. Chinese - der ist gut. Der kommt klar. Die Familie hilft mit oder wer auch immer zur Familie gehört. Ist nicht ganz durchsichtig. Aber immer freundlich und preiswert. Die Einrichtung? Plastik aus dem Reich der Mitte. Noch eine Flasche Wein? Aber bitte!

Mit zwei Flaschen Wein intus, weiß und rot, gestaltet sich der Heimweg ganz schön lustig. Die Zungen lösen sich, per Arm schwankt es sich wie auf einem Schiffchen im Sturm. Zuhause, bei ihr zuhause landet man auf der Couch, bei den Salzmandeln.

„Sag’ mal, wie kommst du dazu, ohne Ziel zu wandern, einfach so drauflos und dann noch in die falsche Richtung? Ziellos und in die falsche Richtung, ist da was?“

Eva-Maria rutschte in ihre psychotherapeutische Schiene. Sprachlosigkeit könnte leicht in nonverbale Spielchen ausarten – zumal sie jetzt beide mit leichtem Kontrollverlust. Da versuchte sie, mit Fachjargon wieder auf festes Terrain zu gelangen. Ziellos?

„Wieso falsche Richtung? Was meinst du?“

„Wenn du nach Osten gepilgert wärest, wäre es nicht ganz so trist wie hier. Schöner halt. An der Orla entlang. Müheloser. Nicht so bergauf bergab. Was wolltest du dir antun? Dich mal wieder gruseln im dunklen, moorigen, verkrauteten Wald? Witwen können ja nicht dein Ziel gewesen sein - und jetzt hockst du schon wieder bei einer. Kontrastprogramm zu deinen Kollegen?“

„Wenn ich mir ein Ziel ausgewählt hätte, Gotha, Weimar oder Rudolstadt beispielsweise, hätte ich ja so ungefähr gewusst, was auf mich zu kommt. Genau das wollte ich nicht. Ich wollte es einfach mal drauf ankommen lassen. Das Ergebnis finde ich toll. Elsbeth zum Beispiel. Wann lernt man schon mal solche Menschen kennen? Und jetzt dich - super. Diese Hilfsbereitschaft! Und dann mit dir hier die halbe Nacht verplaudern. Ziellos kann ein wunderbares Ziel sein! So locker vom Hocker!“

„Morgen könnten wir nach Orlamünde fahren. Da habe ich eine Patientin, 67. Natürlich Witwe. Jetzt auf einmal dreht die auf. Jetzt will die endlich mal ihr Leben leben. Vorher war es nur das Leben ihres Mannes und der Partei. Lehrerin war sie. Und fragt sich nun: War das alles? Da war sie nun mit dem Frauen-Kegelclub auf Sause, drei Tage, wohl ziemlich viel Alkohol. Hat sich in einen jungen Kerl verliebt von der Kegelbahn oder vom Hotel. Sie sei noch nie so glücklich gewesen in ihrem ganzen Leben. Weiß der Teufel, was der mit ihr angestellt hat und ob überhaupt! Nun ist sie völlig von der Rolle, weil der nichts von ihr wissen will. Liebeskummer mit 67! Mannomann!“

„Und was kann man da tun? Auf einer Vorgartenbank sitzen? Wäre ja höchst gefährlich!“

„Nein, nein! Die jippert in Wirklichkeit einem Schüler nach, mit dem sie es heimlich in ihrer Schulzeit getrieben hat. Endete in einer Katastrophe. Den hat sie nie vergessen und projiziert jetzt alles in den armen Kegelbuben. Ihr Schüler-Lover ist gleich nach der Wende ab in den Westen. Muss man behutsam aufarbeiten .... und was musst du aufarbeiten bei deiner Witwenwanderung?“

„Eigentlich nichts. Nur mal eine Woche nicht erreichbar sein, kein Handy, kein Telefon, keine Adresse. Kein Fotoapparat, nur Skizzenblock. Mal frei rumlaufen. Und bei dir auf der Couch landen. Lachen. Wein trinken.“

„Und wenn ich mich jetzt in dich verliebe? Weil du so bist, wie du bist?“

„Verlieben kann man nicht verhindern. Das passiert einfach so. Ist ja auch ganz schön. Aber passieren darf halt nichts. Das ist wie eine wunderschöne Seifenblase, bunt schillernd dreht sie sich, spiegelt alle unsere Sehnsüchte. Aber wenn du sie packen willst, dann platzt sie. Noch heute sehe ich in jeder Seifenblase meine Sehnsucht von damals. Es war die schönste Seifenblase meines Lebens. Wie gern hätte ich sie erhalten wollen. Ich habe mich nicht einmal getraut, sie zu berühren. Sie ist dennoch geplatzt.“

„Und wie hieß sie?“

„Ingrid!“

Am nächsten Vormittag schlenderten sie noch durch Orlamünde. Eigentlich wollten sie dort Abschied nehmen. Aber nach der verknallten Lehrerin trafen sie sich wieder. Er kam von der Burg. Dann aßen sie noch gemütlich zu Mittag. Schließlich brachte er sie zum Auto. Die Trennung fiel schwer. Auf einmal saß er wieder neben ihr.

Ich bringe dich noch bis Rudolstadt an den Bahnhof, hatte sie gesagt. Aber auf halber Strecke bat er sie anzuhalten. Er küsste sie, nahm seinen Rucksack und verschwand schnell in einem Wald. Lange stand sie da, verblüfft, und hoffte, er käme vielleicht zurück. Aber dann wäre vielleicht die Seifenblase geplatzt.

Der Witwenwanderer

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