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Die Tote an der Rosenbank

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Um diese Jahreszeit stieg ausgesprochen selten jemand zum Etschbergsattel auf. Unten im Tal ließen es sich die letzten Herbst-Touristen beim Törggelen gut gehen. Die Weinlese war vorbei, die Äpfel waren eingelagert, die gerösteten Maronen in den kleinen Tütchen wärmten Hände und Mägen. Die Invasion der Deutschen, insbesondere der Bayern, die Südtirol eigentlich als ihren widerrechtlich abgesprengten Regierungsbezirk empfinden, in dem man sich an der Sonnenseite der Alpen so richtig wohl fühlen kann, war beendet, die Mehrzahl der Touristen war wieder heim „ins Reich“ zurückgekehrt. Zahlreiche Hotels hatten schon zu und bereiteten sich auf die Wintersaison vor.

Die Lifte fuhren nur noch spärlich. Letzte warme Tage lockten vor allem Pilzsucher nach oben und allzu Sonnenhungrige, weil hier oben in günstigen Lagen noch Sonnenstrahlen das Herbstlaub zum Glühen bringen, wenn drunten im Tal in den Häusern schon die ersten erleuchteten Fenster sichtbar werden.

In der Übergangszeit vom Spätherbst zum Winter, in der nach Föhntagen immer mal wieder Berge und Almen mit einer zunächst noch flüchtigen Schneedecke überzogen wurden, in diesen Tagen muss es gewesen sein.

Der Haller Jakob war nochmal aufgestiegen, um an seinen Geheimplätzen späte Pfifferlinge, vielleicht auch den einen oder anderen Steinpilz zu finden. Außerdem schätzte er gerade jetzt die einsame, die ruhige Zeit, ohne Touristen und vor allem ohne Mountain-Biker, die krachend, quietschend und scheppernd durch Wälder und Almen brechen, die Wanderer auseinander scheuchen und die Wege ruinieren. Jetzt konnte man auch Rehe beobachten. Gämsen hatte er schon lange nicht mehr gesichtet.

Jakob musste sich sputen, denn der Abstieg vom Sattel war steil und steinig und lag auf der Schattseite, war also viel früher in gefährliches Dunkel gehüllt. Noch bei Dämmerlicht musste er den Almweg erreicht haben. Ab da konnte er es langsam angehen lassen.

Der Sattel, das war der westliche Übergang von Ausläufern der Seiser Alm zum Etschtal. Dort stand neben der Felswand zur Linken eine einfache Bank, roh zusammengezimmert, ein ausgewittertes, fast silbergraues Brett auf zwei Pfosten, unweit vom Wegweiser, der sternenförmig auf die vielen Bergpfade deutet, die hier zusammen laufen. Auf Wanderwege, früher auch Schmugglerpfade. Im dramatischen ersten Weltkrieg waren es Versorgungswege, Saumpfade für die Esel und Maultiere, die hier Fourage, Waffen und Munition hinüber transportieren mussten.

Als Jakob aus den niederen, windgeduckten Fichten und Kusseln hinaustrat auf das Wiesenstück, das die Bank umgibt, erschrak er nicht schlecht. Da hatte sich doch tatsächlich eine Frau, eine Städterin offenbar, noch längelang auf dem dürren Gras in der Sonne ausgestreckt. Ihr Rucksack war von der Bank runtergefallen und hatte seinen Inhalt zum Teil auf dem Weg verstreut.

„Holla!“ rief er. „Jetzt wird’s aber Zeit, Madl! Wenn du nicht hier übernachten willst, dann mach dich auf die Socken. In zwanzig Minuten findst du den Weg nimmermehr!“

Aber die Frau reagierte nicht. Überhaupt nicht. So laut Jakob sich auch bemerkbar machen wollte.

„Holla!“ rief er nochmal, so laut er konnte, und es gab weithin ein ziemliches Echo.

Erst als er näher trat, die Frau mit seinem Bergstock anstupste, da stutzte er, dann schrie er laut auf. Da wo mal die Augen dieser Frau mit dem krausen rotblonden Haar gewesen waren, hatten Vögel sie bereits rausgepickt. Ameisen liefen über das Gesicht. Eine Tote! Eine Tote! Hier! Jakob fasste sich an den Kopf, er bekreuzigte sich und versuchte, ein Vaterunser zusammen zu stammeln. Kraftlos und verzweifelt sackte er auf der Bank zusammen. Er versuchte wegzuschauen, als ob er das Gesehene damit auslöschen könnte. Er zitterte. Sicher, jetzt, nach den letzten Sonnenstrahlen floss die Kälte vom Berg; aber deshalb kein Zittern und Beben. Angst überfiel ihn. Er allein mit einer Leiche auf dieser Passhöhe! Ja, wenn er jetzt ein Handy dabei hätte, so wie die Stadtleut’ und seine Kinder. Aber er, wozu sollte er ein Handy haben? Mit diesen kleinen Tasten? Da würde er mit seinen Bauernpratzen immer gleich auf drei drücken.

Was jetzt? Die Almhütte zur Etsch hinunter war längst verlassen. Er könnte noch so laut rufen, niemand würde ihn hören.

Im letzten Licht versuchte er, die Siebensachen, die aus dem Rucksack auf den Weg gefallen waren, wieder hineinzuschieben. Alles würde er gar nicht finden. Nur damit niemand drauf tritt. Da lag auch noch ein abgebrochener Flaschenhals und Scherben .... von einer Weinflasche? Nein, von einer Champagnerflasche! Hier oben? Heidsiek stand auf dem schwarzgoldenen Etikett. Nie gehört. Er trank so ein Zeug sowieso nicht. Nie!

Inzwischen hatte er sich soweit gefasst, dass er die tote Frau mit einiger Andacht und Gebetegemurmel anschauen konnte. Wie lange mochte sie schon da liegen? Wieder und wieder schüttelte er sein Haupt und bekreuzigte sich. Kein Blut, soweit er das noch zu erkennen vermochte. Er müsse ihr das Gesicht zudecken. Aber womit? Mit seiner Jacke? Die würde er jetzt selbst dringend benötigen. Mit dem Rucksack? - nein, nein!

Jakob hastete zurück zu den Fichten und schnitt mit seinem Taschenmesser ein paar starke Zweige ab. Mit denen deckte er die Frau fast liebevoll zu, als solle sie sich darunter wärmen. Weiter konnte er nun wirklich nichts tun, als sich so schnell wie möglich - und so trittsicher wie möglich - über den kaum noch erkennbaren Bergpfad bergab zu tasten.

Am Tag wäre er vielleicht sogar juchzend die schmalen Serpentinen entlang gesprungen. Hätte er auch manche Abkürzung genommen. Nur ganz allmählich gewöhnten sich die Augen an die Finsternis. Nur einmal spürte er plötzlich, dass Wasser in seine Schuhe hineinfloss. Er hatte den Pfad mit einem kleinen Bach verwechselt. Zurück also bis auf festes Gestein. Was würde seine Frau, was würden die Kinder denken, dass der Papa noch nicht zurück ist?

Jakob brauchte fast eine Stunde, bis er das erste Gatter erreichte und damit endlich den breiten Almweg. Bei Tag .... zwanzig Minuten! Jetzt aber rannte er. Was seine Kräfte noch hergaben. Die Kräfte, die bei jedem Gedanken an die tote Frau zu erlahmen drohten.

„Heilige Maria, Mutter Gottes ....!“ keuchte er immer wieder vor sich hin, bis er endlich die ersten Lichter sah, endlich die ersten Häuser. Ja, jetzt kannte er sich wieder aus. Beim Gruber Fritz klopfte er heftig an die Tür. Ach wie lange dauerte es, wie lange? Schmerzhaft lange, bis die Steffi die Tür einen Spalt weit öffnete und erschrak:

„Du, Jakob, ja wie schaust denn du aus! Wieso kommst du denn um diese Zeit hier vorbei?“

„Da oben, da oben, da oben ....“, stammelte er keuchend. Und versuchte, ungefähr die Richtung anzuzeigen. „Da oben liegt eine tote Frau! Da oben, bei der Bank! Da liegt eine Tote! Heilige Maria, Mutter Gottes ....“

„.... bitte für uns!“ ergänzte die Steffi. Jetzt war auch der Korbi zur Tür geschlurft.

„Korbinian, der Jakob sagt, da oben bei der Bank, da läge eine tote Frau!“

„So?“ war die karge Antwort. „So? Nun da wird sie wohl abgestürzt sein. Was müssen die Weiberleut auch jetzt noch im Gebirge herumklettern! Da kann man jetzt auch nichts mehr machen. Da musst du zur Polizei gehen! Oder anrufen!“

Jakob rief zunächst seine Frau an und versuchte, ihr zu schildern, was er Grauenvolles erlebt hatte. Dann die Gendarmerie.

Auch da war zu dieser Zeit nur noch die Nachtschicht anwesend.

„Eine Tote? Da oben auf dem Sattel? Kennen Sie diese Frau? Wann waren Sie da oben? So spät noch? Gibt es irgendwelche Anzeichen? Todesursache? Abgestürzt? Eine kaputte Flasche Champagner, sagen Sie? Na, die wird wohl ein später Kurgast dort geleert haben oder ein Liebespaar. Mit Champagner kann man sich nun wirklich nicht umbringen. Haben Sie was verändert? Nur Fichtenzweige drauf? Wird die Füchse oder Marder nicht abschrecken. Also vor morgen früh, wenn’s hell genug ist, können wir da gar nichts machen. Halten Sie sich bitte bereit. Sie sind ein wichtiger Zeuge. Sie müssen noch einmal mit nach oben kommen. Dann werden wir einen Hubschrauber anfordern, der die Leiche zu Tal bringt.“

Der Haller Jakob konnte trotz aller Erschöpfung keine Ruhe finden. Zudem klingelte ständig das Telefon. Die Nachricht von einer Toten auf dem Sattel machte in Windeseile die Runde. „Eine Leiche dort oben? Heiliger Gottseibeiuns, heilige Maria!“ - „Ist sie hübsch?“ - „Eine Deutsche meinst du? Die müsste ja hier in irgendeinem Hotel vermisst werden!“

Für eine Rundfrage bei den Hotels und Pensionen war es allerdings noch viel zu früh; denn viele Gäste saßen ja noch beim jungen Wein, beim Speckbrot, beim Törggelen halt. Und würden erst gegen Mitternacht zurück in ihre Hotels torkeln. Vielleicht noch später, wenn sie aus Bozen oder Meran den Weg über die Serpentinen zurück gefunden hatten.

Um 8 Uhr früh schon stand der Haller Jakob vor der Gendarmerie. Mit dem Geländewagen ging’s schnell bis ins hinterste Eck, von wo auch für jedes geländegängige Fahrzeug kein Fortkommen ist. Mit schwerem Gepäck, mit Lampen, Fotoausrüstung, mit Messgeräten ging es im Gänsemarsch den steinigen Pfad bergauf. Die Gräser, die kleinen Büsche, alles war nass vom Tau. Kalt war’s. Die Sonne hatte so früh einfach keine Kraft.

Dann war der Trupp oben bei der Toten, bei der Bank. Alle bekreuzigten sich, als sie die Fichtenzweige vom Körper der Frau weggezogen hatten.

„Hat sich was verändert gegenüber gestern Abend, Jakob?“

Jakob zuckte mit den Schultern. Dann, als er sich umsah, hauchte er plötzlich:

„Ja, da liegt eine rote Rose unter der Bank! Die habe ich gestern noch nicht gesehen, aber vielleicht habe ich sie auch übersehen. Ist schon eigenartig, nicht wahr?“

Alles wurde fotografiert, Messbänder wurden ausgelegt. Ein paar Trittspuren, die sich im angetrockneten Matsch abgebildet hatten, wurden mit Gips ausgefüllt. Auch Fahrspuren von Mountain-Bikes. Alles, was man finden konnte, natürlich auch die Scherben der Champagnerflasche, wurde sorgfältig mit Vinyl-Handschuhen geborgen. Schließlich hörte man das Brummen des Hubschraubers, der aber wegen der Felswand nicht sehr nah landen konnte. Zwei Rettungskräfte seilten sich samt einer Tragbahre ab. Die erstarrte Leiche wurde vorsichtig auf die Bahre gehoben, mit einer glänzenden Folie zugedeckt. Dann wurde sie zusammen mit den beiden Männern wieder hochgehievt.

„Also abgestürzt ist die hier nicht! Das steht schon mal fest! Dann hätte sie hier nicht längelang neben der Bank gelegen. Ihre Kleider wären irgendwie zerfetzt. Es gäbe Blutspuren, Abschürfungen!“ stellten die Beamten fest.

„Aber jemand hat alle ihre Papiere mitgenommen! Jakob, hast du irgendwas mitgenommen?“

„Nie und nimmer! Ich habe nur das verstreute Zeug wieder in den Rucksack geworfen. Der lag ja offen auf dem Weg. Der war von der Bank runtergefallen.“

„Kein Pass, kein Ausweis, kein Portemonnaie, kein Führerschein! Nichts, was uns die Identifizierung erleichtern könnte. Ist aber schon eigenartig, dass hier eine Frau unterwegs war ohne Geld und ohne jegliche Papiere!“

„Und ohne Proviant, ohne Wasserflasche. Sie wird ja wohl diesen Schampus nicht für den Durst getrunken haben! Ich nehme an, da war ein Rosenkavalier mit seiner Susi hier oben und hat seine Eroberung gefeiert. Lange bevor die Frau hier zu Tode kam. So eine Rose, die hält sich bei der Kälte lange frisch.“

„Wahrscheinlich ein Herzkaschperl! Zu schnell raufgerannt, oder schon was mit dem Kreislauf und zack, aus ist’s! Na ja, das werden die Pathologen in Bozen schon rausfinden. Gehn’mer, Buben!“

Im Hotel „Enzian“ wurde Frau Corinna Uhlen vermisst. Das erfuhren die Beamten per Handy beim Abstieg. Gepäck ist noch im Zimmer. Ihr Auto in der Tiefgarage. Kein Abschiedsbrief. Sie sei eigentlich immer sehr fröhlich gewesen und viel unterwegs. Vor cirka vier Wochen sei sie schon mal im Haus zu Gast gewesen, zusammen mit einem Herrn Gunter Terborg. Aber getrennte Zimmer.

Die Tote an der Rosenbank

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