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Phyllis

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Am Anfang war es eine Schnapsidee - allerdings ohne Schnaps. Beide standen wir vor wichtigen Examina. Beide hätten wir dringend lernen müssen. Ungelesene Fachbücher stapelten sich auf den Klapptischen in den Wohnzellen unseres Studentenheims. Also trödelten wir lieber über einen Flohmarkt; über den größten Flohmarkt der Republik.

Da gab es wenigstens was zu lachen. Mehr noch über die Schnäppchenjäger als über den Ramsch auf den Tapeziertischen. Hochmütig lästerten wir über die Stadtleut’ und den Krempel, den sie nach Hause schleppten. Wir malten uns aus, wie es wohl bei denen in der guten Stube aussieht. Wo das Strickbild mit Watzmann, windschiefer Kate und tosendem Wasserfall vermutlich einen Ehrenplatz erhalten wird. Was wohl einer durch Omas gusseisernen Fleischwolf drehen würde. Und wie eine kunststoffgeborene Venus von Milo ab morgen den Kleingarten ziert, sofern das Kleingarten-Regelwerk solche ebenso sittlichen wie geschmacklichen Verfehlungen überhaupt erlaubt.

Da fiel unser Blick auf einen putzigen Tiger. Aus Porzellan. Cirka einen halben Meter hoch. Mit einem geradezu herausforderndem Blick. Er hatte es offenbar auf uns abgesehen. Lächerliche fünf Euro sollte das Raubtier kosten? Fünf? Nicht 50? Fünf Euro für einen imposanten Porzellan-Tiger?

Wir schlenderten weiter und diskutierten heftig über Kitsch und Kunst, über Billigproduzenten in China, ausgerechnet jenem Land, in dem das Porzellan erfunden wurde. Oder wo war das? Fünf Euro? Massenproduktion? Wir stellten uns die Fabrik vor, in der eine Million Jungtiger vom Band laufen, von Maschinen bemalt, Produktion 4.0, in menschenleeren Hallen. Denn wer könnte es tagein, tagaus ertragen, von lauter Tigern umgeben zu sein? In einem gigantischen 3-D-Thermomix würden aus diversen Silos alle Zutaten für Jungtiger hineinfallen, in rotierende Formen gepresst, durch Trockenschleusen gejagt, mit Farben besprüht, Jungtiger für Jungtiger glasiert, in Kartons verklappt, mit Luftpolster abgesichert. An der Laderampe werden gemäß eingegebener Bestellzahlen die Tigerlein in Container geschoben, mit selbststeuernder Bahn zu einem Hafen transportiert, von einem Kran (allerdings noch von einem leibhaftigen Chinesen gesteuert) in einen Schiffsbauch versenkt. Eine Million Kleintiger nehmen Kurs auf Europa, Einkaufspreis vermutlich 2 € incl. Fracht. Ist das die Zukunft der Weltwirtschaft?

Das kann doch nicht sein! Der Tiger ließ uns einfach nicht los.

Wir kehrten um. Die Spannung stieg. Ist der Tiger noch da? Noch! Aber wie lange noch? Hat uns jemand inzwischen den Tiger vor der Nase weggeschnappt? Für fünf Euro? Vielleicht hat er eine Macke? Mit Porzellankitt repariert? Nein – er war noch zu haben. Für fünf Euro. Der Verkäufer stand uns Rede und Antwort. „Nein! Absolut intakt! Aus Privathand! Bitte nicht anfassen! Wenn er kaputt geht, müssen Sie die Scherben kaufen! Und mitnehmen!“

Wie gesagt: Es war eine Schnapsidee, dieses Viech mit nach Hause zu schleppen, unter Veras Arm. Mir war es zu peinlich. Immerhin machten wir uns vor, den Porzellanhohlkörper nunmehr auch aus volks- und betriebswirtschaftlichem Interesse erworben zu haben. Damit besänftigten wir unsern Hochmut, den wir über jedem anderen Käufer ausgeschüttet hätten, der aber „so was von Kitsch“ erworben hätte. Guck’ mal den Mann mit dem blöden Tiger! Jetzt war er das Studienobjekt Produktion 4.0 für VWL und BWL! So was nennt man Cognitive Dissonanz: Man umhüllt blöde Missgriffe mit dem Mäntelchen der Vernunft. Aus einer Schnapsidee wird ein geradezu wirtschaftsethisch notwendiger Kaufakt.

Unsere Cognitive Dissonanz hielt allerdings nicht lange vor. Dann brachen wir in lautes Gelächter aus, zumal sich auch alle, die Vera mit dem Tiger unterm Arm daher kommen sahen, das Lachen nicht verkneifen konnten. Guck’ mal den Tiger!

Inzwischen hatten wir uns etwas Hunger angelaufen. Und Durst. Wir könnten uns ja unmöglich mit knurrendem Magen auf unsere Examina vorbereiten. Also nichts wie rein zu McDonalds, zumal dort eine Kommilitonin an der Theke ihre Finanzen aufbesserte.

Tiger auf den Tisch – und schon waren wir Mittelpunkt beim Burgerbrater. Scharen von Kindern liefen herbei. Huh ein Löwe! Beißt der? Darf ich den streicheln? Oh wie süß! Nein, das ist ein Gepard, du Doofkopp! Stau! Mütter zerrten ihre tierlieben Blagen aus dem BicMac-Verkehrsweg. Jeder Neuankömmling stoppte bei Vera, dem Tiger und glotzte sie mit wechselnden Blicken an. Was so ein Fünf-Euro-Tiger alles vermag. Phyllis, unsere Kommilitonin mit dem aparten Vornamen frotzelte „Brauchst du für den noch ne Extraportion? Wie heißt denn das Vieh?“ Allzu schlagfertig meine Antwort: „Natürlich Phyllis!“ „Ist es denn ein Weiberl?“ Danach hatten wir noch nicht geguckt.

Immerhin hatte das Tigerlein jetzt seinen Namen weg. Phyllis! Phyllis wurde mit Cola light getauft. Mei, hat das einen Spaß gemacht.

Vera meinte, jetzt müsse ich mal die Phyllis unter den Arm klemmen. Wir näherten uns mit Angst einflößender Geschwindigkeit unserem Studentenheim und damit unweigerlich auch der akademischen Zwangsarbeit. Wäre da nicht noch eine Studentenkneipe mit Straßenausschank zu umrunden gewesen. Kein barbusiges Femen-Mädchen hätte soviel Gejohle auslösen können wie unser Tiger! Mannomann, was mussten wir unser Schnäppchen verteidigen. Und natürlich unseren Ruf. Das Argument, es sei ein Studienobjekt für Produktion 4.0 aus China löste nur Gelächter aus. Auch als Kunst aus dem 3-D-Drucker konnte Phyllis nicht reüssieren. Immerhin könne man das Biest gut als Drogenversteck verwenden, meinte einer. Vera verdrückte sich auf Französisch. Sie müsse noch arbeiten.

Als ich später nachkam und an ihrer Bude klopfte, rief sie zaghaft Herein. Die „Arbeit“ war ihr indes schon aus den Händen geglitten. Sie lag bereits im Bett und rückte ein Stück zur Seite. Klar, um diese Zeit hätte Studieren jetzt auch keinen Sinn mehr gemacht. Kuscheln umso mehr. Aber wohin mit Phyllis? Fürs Regal war sie zu groß. Auf dem Schrank lagen die Koffer. Die Fensterbank zu schmal. Der Klapptisch eingeklappt, weil sonst das Bett nicht ausgeklappt werden kann. Also auf den Boden.

„Der guckt so!“ Vera unterbrach unser Vorspiel. „Der guckt wirklich so! Da kann ich nicht!“ „Der ist doch nur aus Porzellan!“ „Das ist mir egal, der guckt so. Vielleicht sind da Chips drin! In den Augen!“ „Dann dreh’ ich den einfach um!“ „Das ist mir egal. Irgendwie machte mir der Kerl, der uns dies Mistvieh verkauft hat, gleich so einen schmierigen Eindruck. Wenn er uns nicht sieht, dann hört er uns! Guck dir bloß die Augen an! Das hat schon seinen Grund, weshalb der nur einen Fünfer gekostet hat. Schaff’ mir bloß das Vieh aus meiner Bude!“ „Ist doch Quatsch. Die Augen sind genau so aus Porzellan wie der ganze Tiger!“ „Die Chinesen sind so raffiniert. Die Augen sehen nur so aus. Und wir haben noch gar nicht untersucht, was sonst noch in dem Tiger ist!“ „Da ist nichts drin!“ „Das glaubst du nur! Fünf Euro, das hat doch einen Haken! Vielleicht sind die Farben giftig und dünsten aus! Der Vorbesitzer wird schon wissen, warum er den so billig hergibt!“

Ich nahm Phyllis, ging in meine Zelle. Stellte sie auf meinen Tisch und begann zu arbeiten. Denn Phyllis richtete einen so drohenden Blick auf mich, dass ich mich nicht traute, mein Lesepensum auf den morgigen Tag zu verschieben. Mit Vera war es aus. Sie schob meinen Lerneifer auf eine Wesensveränderung durch feinstoffliche Emissionen , die dem Tiger entströmen. Ich die Trennung auf Eifersucht. Auf die richtige Phyllis.

Liebestöter

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