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4 Geborgen im Hafen eines neuen Kulturprotestantismus?

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Evangelische Theologie und Kirche haben sich viel früher und entschiedener als katholische für aufklärerisches Gedankengut und modernes Denken schlechthin geöffnet. Damit standen sie vor der Herausforderung, Althergebrachtes entweder vernünftig zu verteidigen oder aber es in heutige Denkstrukturen zu übersetzen bzw. ihnen anzupassen. Ob man im Zuge entsprechender „Transformationen“ substanzielle Verluste hinnehmen musste, schien mitunter eine zweitrangige Frage zu sein. Die Vorgaben des jeweils aktuellen Weltbilds hatten dabei oft mehr Gewicht als die des überlieferten Glaubens. So kam es im Verlauf des späteren 19. Jahrhunderts im Protestantismus zu einer theologischen Entwicklung, die sich als Versuch einer konsequenten Beheimatung von Theologie und Kirche in der Kultur der Moderne beschreiben lässt. Das Bestreben, evangelische Religion in Einklang mit der allgemeinen Kulturentwicklung zu bringen, nennt man Kulturprotestantismus. Darunter versteht man heute eine zurückliegende Epoche, die sich von etwa 1860 bis hinein ins Dritte Reich erstreckte und insbesondere zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg von der sogenannten „Dialektischen Theologie“94, die sich selber als „Wort-Gottes-Theologie“ bezeichnete, bekämpft wurde.

Seinem inneren Kern nach geht der Kulturprotestantismus auf den Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant (1724–1804) zurück. Grundsätzlich betrachtete Kant es als wichtigste Angelegenheit seiner Philosophie, in Sachen Vernunft ein für alle Mal die „Quelle ihrer Irrtümer“ zu verstopfen. Seine Vernunftkritik wollte keineswegs metaphysisches und religiöses Fragen unterbinden, sondern dafür sorgen, dass dabei die Grenzen der Vernunft angemessen Beachtung finden. In diesem Sinne schrieb er sein spätes Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1794). Darin suchte er christliches Glaubensgut, darunter auch den Begriff des Reiches Gottes, religionsphilosophisch umzumünzen. Für seinen Blickwinkel ist „der sich auf ein Gesetz gründende moralische Wunsch, das höchste Gut zu befördern“, identisch geworden mit dem Versuch, „das Reich Gottes zu uns zu bringen“95. In diesem Sinn wird das neutestamentlich zum Thema gewordene Kommen des Reiches Gottes umdefiniert als innerweltlich fortschreitender Kulturprozess.

Der Königsberger Philosoph hat seine fortschrittsgläubige Auffassung vom Reich Gottes mit dem Gedanken der wahren, durchaus sichtbaren Kirche verbunden und diese mit dem rein moralisch verstandenen „Reich Gottes“ gleichgesetzt. Kein Wunder, dass vor allem Vertreter des Protestantismus dieses Kirchenverständnis aufgegriffen haben, zumal es dem römisch-katholischen zuwiderlief. An erster Stelle tat sich in dieser Hinsicht der große protestantische Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) hervor. Der dreißig Jahre nach Kant verstorbene Professor stammte aus der Herrnhuter Brüdergemeine und gilt bis heute als „Kirchenvater“ der modernen protestantischen Theologie. Der Philosophie Kants verdankte Schleiermacher recht viel, auch wenn er in einem entscheidenden Punkt über sie hinausging. Er bejahte erkenntnistheoretisch den vernunftkritischen Ansatz Kants und verankerte darum den Glauben weniger in der Reflexion und Spekulation als vielmehr im Gefühl. Deshalb lehrte er, der Glaube habe in seinem Vollzug Gott nicht nur zu postulieren, sondern er erfahre ihn – und zwar im „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“. Auf dieser Basis konnte Schleiermacher dann auch Kants Rede vom „Reich Gottes“ aufgreifen. Man hat von daher sogar gesagt, die Theologie Schleiermachers sei insgesamt als eine „Theologie des Reiches Gottes“ konzipiert96. Jedenfalls hat auf diese Weise Kants kulturphilosophischer Reich-Gottes-Gedanke an zentraler Stelle Eingang in die protestantische Theologie gefunden.

Als ein typischer Kulturprotestant, ja pointiert als „Vater des Kulturprotestantismus“97 gilt in der modernen Theologiegeschichte sodann Albrecht Ritschl. Der 1889 verstorbene Göttinger Systematiker argumentiert deutlich erkennbar auf der Linie von Kant und Schleiermacher. In deren Sinn greift er den moralisch gemeinten Leitbegriff des „Reiches Gottes“ auf. Die „Kirche“ versteht er somit als Inbegriff und Avantgarde einer vergeistigten Menschheit unter Christus als dem Haupt. Dem einzelnen Christen ist diese Kirche als sittliche Gemeinschaftsgröße vorgeordnet. Auf sie als ideale Größe im Ganzen bezieht sich deshalb bei Ritschl die Erlösungslehre: Nur wer der „Mutter Kirche“ zugehöre, könne der Gnade teilhaftig und mit Gott versöhnt werden.

Ritschls bekanntester Schüler war der 1930 verstorbene Adolf von Harnack98. Durchaus in Anlehnung an Kants Religionsphilosophie konnte er als liberaler Theologe nicht nur Dogmenkritik üben, sondern auf seine Weise fromm formulieren, dass wir als Menschen so wie Jesus „nicht in die Zeit gehören, sondern in die Ewigkeit: wir sollen das werden, was er war und ist, ein Mensch der Ewigkeit, dessen inneres Leben Gott ist“99. Von Harnack hielt also alle Menschen ihrer Bestimmung nach für ebenso göttlich wie den Nazarener. Die „Seele“ sah der große Berliner Kirchenhistoriker – wiederum in Anlehnung an Kants Autonomiekonzept – als derart geadelt an, dass sie sich selbst mit Gott als ihrem Vater zusammenzuschließen vermag. Freilich befinde sie sich noch allemal in der Entwicklung, im „Fortschritt“ wachsender Heiligkeit, wie ebenfalls im Sinne Kants gesagt wurde. Mit Freunden gründete er den Evangelisch-Sozialen Kongress als politische Bewegung, die für ihn die Konsequenz aus seinem kantianischen Reich-Gottes-Verständnis und der Botschaft Jesu war. So sehr erwies er sich als Kulturprotestant, dass er 1914 einen Kriegsaufruf für den Kaiser verfasste, wonach die deutsche Kultur gegen die „Halbkultur“ des Gegners „bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigt werden sollte100.

Kulturprotestanten waren als selbstbewusste Repräsentanten des Bürgertums bildungsbeflissen und betonten die Zusammengehörigkeit von Protestantismus und bürgerlicher Gesellschaftsordnung – mit dem zeitweiligen Ziel, die gesamte Nation als Einheit nach kulturprotestantischen Vorstellungen zu entwickeln101. In dieser Form ist der Kulturprotestantismus eine Epoche der Vergangenheit. Doch hinsichtlich seines Strebens nach Erneuerung der evangelischen Kirche im liberal-theologischen Sinn102 strahlt er bis in unsere Zeit hinein aus. Mehr noch: Er blüht im Horizont des gesamtgesellschaftlich gebotenen und sich zunehmend ausformenden religiösen Pluralismus längst wieder in neuer Gestalt auf – ob man ihn nun so nennen mag oder nicht. Friedrich Wilhelm Graf etwa empfiehlt, das große Reformationsjubiläum gerade deshalb zu feiern, weil der Protestantismus sich in der Neuzeit zu einer höchst vielfältig dekodierten Religionskultur entwickelt habe103.

Im neuen Kulturprotestantismus unserer Zeit wird das „Reich Gottes“ in aufgeklärter Abkehr von jeglichem endzeitlich ausgerichteten Denkmodell ersatzweise gern als eine kulturell von Kirche mehr oder weniger anzustrebende oder ansatzweise umzusetzende Größe ins Spiel gebracht. Zum Beispiel heißt es in einem neueren Textentwurf der Kommission für Weltmission und Evangelisation: „Die Kirche ist eine Gabe Gottes an die Welt, um die Welt zu verwandeln und dem Reich Gottes näherzubringen.“104 Die Kirchen wären demnach aufgerufen, „Gottes Reich der Gerechtigkeit herbeizuführen“, wie unter sachlich unhaltbarer Berufung auf Apostelgeschichte 1,6–8 weiter behauptet wird. Und an anderer Stelle wird in dem Papier gesagt, die gute Nachricht vom Reich Gottes verheiße, dass eine gerechte und inklusive Welt Wirklichkeit werde. Das ist eine Halbwahrheit, die zur Unwahrheit mutiert, wenn unterschlagen wird, dass die heile Welt des verheißenen Gottesreiches im neutestamentlichen Sinn eine transzendente, nicht innergeschichtlich zu realisierende Größe bedeutet. Diesen exegetischen Sachverhalt zu übersehen oder zu verleugnen, ist ein problematischer Versuch, die Verabschiedung der neutestamentlichen Hoffnungsperspektive kulturprotestantisch aufzufangen. Selbstverständlich will das Evangelium kirchlich und gemeindlich bereits mitten in dieser vergehenden Welt Zeichen des kommenden Gottesreiches gesetzt wissen, immer wieder ein Stück Licht in sie hineinbringen105. Aber solche gegenwärtig schon wirksam werdenden Kräfte meinen mitnichten einen kulturgeschichtlich zu erbringenden und zu beobachtenden Fortschritt im Sinne innerweltlicher Realisierung des Gottesreiches. In diese Richtung zu denken, hieße letztlich, zurückzufallen in enthusiastische, schwärmerische, ja womöglich sektiererische106 Vorstellungen.

Doch Tendenzen, das Reich Gottes so realisierbar zu deuten, nehmen im Protestantismus weiter zu. Hans-Georg Geyer warnt: „Weder macht es das Wesen christlicher Kirche aus, mitten im Wandel der Geschichte allem historischen Relativismus und Nihilismus zum Trotz ethische Prinzipien und Ideale menschlichen Existierens als unbedingte Forderung Gottes geltend zu machen, noch verbürgt die Faktizität ausdrücklich christlicher Kirchen auch schon die Substantialität ihres Anspruchs, wahre Kirche Jesu Christi zu sein.“107 Tatsächlich droht Volkskirche in der Folge „zu einem integrierten Religionsinstitut innerhalb der demokratischen Gesellschaft“108 zu mutieren. Christlichkeit kleidet sich da recht gern in „größtmögliche Toleranz gegenüber dem Außerkirchlichen, Allgemeinreligiösen, dem Menschlichen überhaupt“109. Friedrich Wilhelm Graf weiß, wovon er redet, wenn er darlegt, „daß sich das Protestantische über seine originären konfessionschristlichen Schranken hinaus entgrenzt hat zu einem vielfältig wirkmächtigen theologischen und religionsstrukturellen Ideenkomplex, der in den Symbolsprachen höchst unterschiedlicher Religionen und Glaubensrichtungen jeweils mit eigenen Elementen verschmolzen werden kann“110.

Solch neuer Kulturprotestantismus tritt kirchlich gern in Gestalt gesamtgesellschaftlich relevanter, fast ausnahmslos ethisch ausgerichteter Erklärungen, Denkschriften und Orientierungshilfen ins Rampenlicht, mit denen „Werten“ des kommenden Gottesreiches mehr Achtung in Politik und Gesellschaft verschafft werden soll111. Sicherlich ergibt sich damit eine gewisse Analogie zu den Dekreten, Verlautbarungen und päpstlichen Enzykliken von Seiten der katholischen Kirche, zumal manche Erklärungen „ökumenisch“ abgegeben werden. Doch römische Texte sind oft deutlicher mit dogmatischen Gehalten durchsetzt. Evangelischerseits scheint dafür eine etwas massivere Beeinflussung von Kultur und Politik angestrebt zu sein – verbunden mit mehr Sinnstiftung für die hoffnungsärmer gewordene Institution selbst, die sich mit Kritik an Politik und Gesellschaft doch merklich im Zaum hält112. Der Historikerin Rebekka Habermas zufolge hat der Protestantismus die Position des neutralen und objektiven Wächters über den öffentlichen Raum okkupiert und den Katholizismus wie das orthodoxe Judentum einer vormodernen Sphäre des Aberglaubens zugeschlagen113. Und Karl Richard Ziegert, einstiger Direktor der Evangelischen Akademie Speyer, moniert: „Was als Protestantismus einmal eine Glaubensgemeinschaft war, präsentiert sich nun durchgängig als von der ‚moralischen Avantgarde‘ geführte ethisch-politische Gefühlsgemeinschaft.“114 Flieht evangelische Kirche heutzutage nicht allzu gern in den bergenden Hafen eines neuen Kulturprotestantismus? „Das Schiff, das sich Gemeinde nennt, liegt oft im Hafen fest, weil sich’s in Sicherheit und Ruh bequemer leben lässt“, dichtete Martin Gotthold Schneider in seinem bekannten Lied. Insofern wird hier Kurs gehalten – aber funktioniert der Kompass richtig?

Das Problem protestantischer Erklärungen und offizieller kirchlicher Empfehlungen für unsere Kultur und Gesellschaft besteht darin, dass sie kaum direkt das leisten, wozu Kirche eigentlich beauftragt ist: zentral das Evangelium von Jesus Christus zu verkünden. Ihre ethischen Maßgaben lassen meist allenfalls indirekt auf dogmatischen Hintergrund schließen – und wollen gerade so weniger aufdringlich erscheinen115. Man spricht dann beispielsweise gern vom „christlichen Menschenbild“116, aber selten von Christus. Das heißt keineswegs, dass sich kirchliches Geschäft auf solche Weise restlos in gesellschaftspolitischen Stellungnahmen erschöpfen würde. „Wer es als geistliche Verarmung sieht, wenn Theologen sich als die besseren Politikkommentatoren gerieren, hat Recht“, räumt der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm ein117. Für ihn liegt der Kern „Öffentlicher Theologie“ gerade in der „untrennbaren Verbindung von geistlicher und ethischer Dimension“118. Aber die Schwachstelle ethischer Impulse aus kirchlicher Hand ist eben die, dass die oft nur indirekt anklingende geistliche Dimension als Begründungsinstanz im Hintergrund bleibt und somit als austauschbar und ersetzbar erscheinen kann. Geht es nicht oft genug um religiöse Grundwerte überhaupt, die kaum noch spezifisch christlicher Natur sind und mitunter sogar von Atheisten und Agnostikern geschätzt werden? Kirche macht sich insofern selber ungewollt überflüssig, wenn sie sich primär ethisch darstellt und empfiehlt. Gewiss, kirchliches Bekenntnis und theologische Dogmatik haben immer auch ethische Konsequenzen. Deshalb verdient Bedford-Strohm unbedingt Zustimmung für seine Aussage, dass „das leidenschaftliche Engagement für die Welt in einer vertieften Frömmigkeit gründet“119. Aber umgekehrt gilt dieser Zusammenhang kaum: Humane Ethik hat nicht notwendig ganz bestimmte „dogmatische“ Konsequenzen, sondern kann in mancherlei Gesinnungen und Überzeugungen gründen. Sofern Kirche dies verkennt, sollte sie sich über die mageren Folgen ihrer Verlautbarungspolitik nicht wundern120.

Der neue Kulturprotestantismus ist schon deshalb wenig hilfreich. Wie er wirkt, geht aus den Worten des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble hervor: Es „entsteht der Eindruck, als gehe es in der evangelischen Kirche primär um Politik, als seien politische Überzeugungen ein festeres Band als der gemeinsame Glaube“121. Schäuble bestreitet nicht, dass Religion politisch wirksam sein kann, doch müsse sie, „um politisch zu sein, erst einmal Religion sein“. So ist es, und das weiß auch Bedford-Strohm: „Was wir heute brauchen, ist eine geistliche Erneuerung, die Glaube und Frömmigkeit als Schlüssel für ein erfülltes Leben deutlich macht.“122 Bedeutet das im Blick aufs Reformationsjubiläum nicht weniger Anlass zum Jubeln als vielmehr zu Buße und Besinnung?

Wohin führt der Weg der Protestanten nach bald einem halben Jahrtausend? Wird es zu Spaltungen innerhalb der EKD kommen, weil konservative und liberale Kräfte immer mehr auseinanderdriften? Wird der neue Kulturprotestantismus die evangelische Kirche retten oder ruinieren? Ist das Ende volkskirchlicher Kultur in Sicht, von dem in der allerersten Kirchenmitgliedschaftsstudie 1974 noch keine Rede sein konnte? Oder ermöglicht die laue Mitte dem evangelischen Schiff „Kirche“ doch noch für einige Zeit ein ruhiges Fahrwasser?

Vielleicht gibt es tatsächlich noch einige Zeit ein Miteinander der verschiedenen Strömungen im Protestantismus123. Möglich dürfte das allerdings bloß dann sein, wenn der konservative, bekenntnistreue Flügel und der liberale, einem neuen Kulturprotestantismus frönende in der evangelischen Kirche stärker aufeinander zugehen. Nur wenn sie sich mehr um Dialog als um Abgrenzung bemühen, indem sie ihre jeweiligen Stärken gegenseitig mit mehr Respekt wahrnehmen und die jeweiligen Schwächen in möglichst geschwisterlichem Ton benennen, können die theologischen Differenzen angegangen und fruchtbringend aufgearbeitet werden.

Hilfreich dürfte dabei eine Orientierung an der von dem großen evangelischen Theologen und Religionsphilosophen Paul Tillich entworfenen „Methode der Korrelation“ sein. Sie „erklärt die Inhalte des christlichen Glaubens durch existenzielles Fragen und theologisches Antworten in wechselseitiger Abhängigkeit“124. Das heißt: Es gilt auf Fragen, die die Situation stellt, in der Macht der ewigen Botschaft und mit den begrifflichen Mitteln, die die Situation liefert, zu antworten. In der evangelischen Kirche stehen die Liberalen wohl eher für das vernünftig motivierte Fragen und die Konservativen eher für das fromm motivierte Antworten. Es käme für die Arbeit an der kirchlichen Einheit darauf an, beide Flügel in bewusstere Korrelation zueinander zu bringen. Dabei gilt es freilich zu sehen, dass auch die Position des „Fragenden“ meist schon intentional von Antworterwartungen oder von bestimmten Positionen geleitet wird. Insofern muss es eigentlich um eine Korrelation nicht von Fragenden und Antwortenden, sondern von unterschiedlichen Antworten gehen, zumal beide Seiten recht genau zu wissen scheinen, was sie glauben wollen. Unbedingtes Festhalten am Überlieferten auf der einen Seite steht im Konflikt mit kritischen Anfragen der Vernunft andererseits, die als solche wiederum – das hat schon Immanuel Kant betont125 – das Fragen in religiöser Hinsicht sehr wohl in sich trägt. Hier inhaltlich und methodisch zu vermitteln, ist gewiss keine einfache Aufgabe. Erasmus von Rotterdam hat einmal Luther gegenüber bemerkt: „Unglücklich segelt der nicht, der zwischen zwei gegensätzlichen Übeln einen mittleren Kurs einhält.“126 Dialog ist angesagt – ernsthaft, verstärkt, unbedingt. Beide Flügel müssen ihre starken Wahrheiten einbringen. Diese Herausforderung lässt sich in ihrer Dringlichkeit kaum länger verkennen. Die evangelische Kirche steht im Horizont eines immer massiveren Traditionsabbruchs am Scheideweg: Entscheidungen sind sowohl kirchenpolitisch zu treffen127 als auch gemeindlich und pastoral-individuell. Sie sollten nicht auf Kosten einer „Parteiung“ fallen, sondern möglichst den Konsens anstreben, der Kirche vielfach ebenso bestimmt und getragen hat wie die Wahrheitsliebe.

Heute steht zunehmend evangelisches Kirchentum seiner Substanz nach auf dem Spiel. Hans Küng wirft die ernste Frage auf: „Hat sich die Reformation mit all dem Blut, Schweiß und Tränen, der ganzen Zerrüttung und vielfacher Verwüstung des Gemeinwesens wirklich gelohnt?“128 Das kann man insbesondere mit Blick auf den vernunftgeleiteten „Kulturprotestantismus“ fragen. Diese neu verstärkte Ausformung evangelischer Kirche dürfte für sich genommen weder befriedigend noch vielversprechend sein. Denn was liberale Religiosität angeht, so ist sie gegebenenfalls auch außerhalb des Protestantismus zu haben: auf dem Gebiet esoterischer Spiritualität, durchaus und immer mehr auch in der so weitläufigen katholischen Kirche und nicht zuletzt im Bereich der zunehmenden Kon fessionslosigkeit, in den ohnehin schon viele, primär evangelisch Getaufte ausgewandert sind. Ratsam ist indessen eine breite, demütige Besinnung auf Luthers Auslegung des 3. Glaubensartikels, in dem von der Kirche die Rede ist: „Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn glauben oder zu ihm kommen kann, sondern der Heilige Geist hat mich durchs Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten; gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten einigen Glauben […].“ Evangelische Kirche kann ihre Identität gerade dadurch neu finden, dass sie sich wieder entschiedener als spirituellen Teil der „ganzen Christenheit auf Erden“ begreift.

Evangelische Kirche - Schiff ohne Kompass?

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